Mithu Sanyal: Identitti

Wow, dachte Nivedita, also sagte sie: »Wow.«
Postkolonialismus und Identitätsflausen. Privates bleibt Hirngespinst, Politisches wird absorbiert, in die Blase eingemeindet, in Wortbrei gegossen. Die Relevanz ist natürlich innerhalb der Gemeinde hoch, ja, füllt das ganze Denken, außerhalb derer, die sich ge- und betroffen fühlen, stelle ich mir die Frage: Will ich das wissen, will ich das lesen, will ich das nicht an anderer Stelle konkreter lesen? Ist/sind die Autorin und ihr Roman-Personal nicht Teil jener Kraft, die Erkenntnis will und Verwirrung schafft?
Saraswati schenkte Nivedita ein Vokabular und eine Sprache für ihr Leben. Und nicht nur ihr. Im Kreis der von Saraswati ausgewählten Studierenden kommunizierten sie in einem fantastischen akademischen Abkürzungscode miteinander in dem ein Wort ganze gewaltige Gedankenkonzepte ersetzen konnte: desi, happa, subaltern. Imagined communities, critical race theory, Interselectionalität. Und alle nickten wissend und bei jedem dieser Worte, zwei Silben, drei Silben, ein paar Zungenbewegungen nur, entstand ein ungeheuerliches, nie gekanntes Gefühl von Gemeinsamkeit, auch wenn die meisten nur vage Vorstellungen davon hatten, was eine imagined community sein sollte und Subalterne nicht einmal erkannt hätten, wenn sie ihnen mit Petersilie garniert auf einem Tablett serviert worden wären.
Nivedita fühlt sich als Inkarnation von Kali (> Cover), der Göttin des Todes/der Zerstörung/der Erneuerung. Kali ist „Die Schwarze“. Nivedita fühlt sich nicht zuhause in ihrem „Indischsein“, sie ist Tochter einer Deutschen und eines indischen Vaters, sie lebt in Düsseldorf-Oberbilk, studiert an der Heinrich-Heine-Universität Postcolonial Studies, sie bloggt als @identitti über Gender/Rassismus/Sexualität. Sie nennt sich ‚Mixed Race-Wonder-Woman‘.
„Ich war in Düsseldorf in meinem Großwerden immer irgendwie ‚falsch‘. Wenn ich nach Indien gegangen bin, habe ich zwar die richtige Hautfarbe gehabt, aber die falsche Körpersprache. Es war immer das Gefühl, irgendwas stimmt mit mir nicht. Das ging so weit, dass wenn ich in den Spiegel geguckt habe, ich mich ja nicht als Person of Colour gesehen habe, sondern als Weiße mit irgendwie komischer Haut.“
Niveditas Sonne, ihr Gravitationszentrum ist ihre Professorin. Die Affinität zwischen Lehrerin und Studentin ist überwältigend. Saraswati (Sanskrit „die Fließende“) ist die Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit. Nivedita vergöttert vergöttinnt sie. Saraswati heißt bürgerlich Sarah Vera Thielmann. Eine „Weiße“! Ein Schock! Ein Shitstorm!
Und jetzt sollte also auch noch Saraswati weiß sein. What’s happening, Saraswati?, tippte Nivedita probeweise unter dasselbe Selfie, postete es jedoch nicht, weil bereits zu viele Twitterati ihre Wut über Saraswati auskippten. Barbara stach in ihr Ei, ließ den Dotter über die Bohnensprossen laufen und seufzte: »Ah, Soul Food!«
»Comfort Food«, korrigierte Nivedita automatisch.
»Na, was habe ich dir gesagt«, sagte Barbara zu Paul, »sogar in einer Krise ist sie noch pc.«
»Was ist un-pc an Soul Food?«, fragte Paul Barbara, und Barbara fragte Nivedita: »Richtig, was ist un-political correct an Soul Food?«
»Nichts, aber nur nichts, wenn du damit afroamerikanisches Essen und afroamerikanische Kultur meinst. Hast du Amiri Baralcas Essay über Soul Food gelesen?«
Barbara kräuselte ihren ironischen Mund zu einem noch ironischeren Lächeln: »Was denkst du?«
»Tschuldigung, ich wollte nicht …«, sagte Nivedita peinlich berührt.
»Predigen?«, schlug Barbara vor.
»Dozieren«, sagte Nivedita. »Es ist nur so, dass Soul Food eine ganz spezifische Bedeutung hat und wenn wir es einfach für alles verwenden, was lecker ist, ist das cultural appropriation …«
»Was?«, fragte Paul.
»Kulturelle Aneignung – ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht so gut Deutsch spricht«, sagte Barbara.
»Und damit wären wir zurück beim Thema!«, bemerkte Paul. »Ist die AfD schon auf den Zug aufgesprungen?«
Und ob, war sie!
Die AfD Echte Werte @DieAfDEchteWerte So weit ist es bereits gekommen: Deutsche Professorin verkleidet sich als Negerin, um Gendergaga unterrichten zu dürfen #KündigtSaraswati
Bernd Höcke @BerndHoecke Heimatzerstörung im deutschen Bildungssystem #KündigtSaraswati
Trotzki im Exil @DefendThe Indefensible Saraswati spielt Rechten in die Hände #SaraswatiShame
Jürgen Brings @Jürgen_der_Schäfer Der Islam gehört nicht zu Deutschland! #KündigtSaraswati
Diese Doppel-Entlarvung ist ein klug gesetzter Aufhänger für die komplexen identikativen Diskurse, ein Zentrum mit immer unendlicheren Verästelungen. Was aber für die Kennerinnen spannendes Wieder- oder Selbsterkennen sein wird, wird für den Unbelasteten lang und länger. „Nivedita fühlte ein Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern.“ „Die Wärme kehrte zurück in Niveditas Glieder.“ Ich mag oft den Namen Nivedita Nivedita nicht mehr hören. Der/die Eingeweihte wird/kann sich an der Ironie erfreuen (sofern er/sie die Ironie von innen her erkennt), der Nichteingeweihte hat zumindest die Gelegenheit die vielen eingeweihten Termini durchzugoogeln. (https://de.wikipedia.org/wiki/Postkolonialismus / https://de.wikipedia.org/wiki/Subalternit%C3%A4t / https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung / https://de.wikipedia.org/wiki/Rachel_Dolezal / https://de.wikipedia.org/wiki/Bell_hooks /// https://de.wiktionary.org/wiki/Debunking …)
Aber dann lässt Mithu Sanyal Saraswati wieder auf Gustav Landauer stoßen und spielt zugleich postmodern mit der Authentizität von Zitaten.
Saraswatis Lieblingssatz lautete: »Wie Gustav Landauer sagt, ist die erste revolutionäre Handlung, gut mit den Menschen, die wir lieben, umzugehen.« Nivedita hatte es nie geschafft, dieses Zitat bei Landauer zu finden. Am nächsten kam vielleicht: Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht.
Nivedita hatte das immer als Kommentar zu ihrer Beziehung mit Simon gelesen – als Aufforderung, sich einen Mann zu suchen, der sie nicht nur liebte, solange sie ihm unerreichbar war.
Wir müssen schreiben, als würden unsere Seelen und unser Geist bereits in jener besseren Welt leben, die wir herbeischreiben wollen, wenn wir die bestehenden Verhältnisse kritisieren – vor allem, wenn wir die bestehenden Verhältnisse kritisieren. Denn Veränderung ist nur möglich, wenn zumindest ein Teil von uns bereits in der Zukunft lebt und der Rest dorthin nur noch folgen muss. So zeigen wir, dass Veränderung nicht nur erstrebenswert ist, sondern möglich.
Nivedita hatte das letzte Wort unterstrichen – doppelt! -, damals, als sie dieses Buch wie komplett alle Bücher Saraswatis mit glühendem Eifer gelesen hatte, weil sie Saraswati sein wollte. So zu lesen war für sie die einzige vorstellbare Form gewesen, unter die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Aber ich habe sie dabei nicht wirklich verstanden. Zumindest nicht so, wie ich sie jetzt lese und verstehe, mit all dem Wissen um ihren Verrat. Oder handelte es sich gar nicht um Verrat, sondern um eine radikale Form von »in der Zukunft leben«? Vielleicht war Saraswati weniger transrace als beyond-race. Over-the-racebow?
Saraswati schließt Nivedita in ihrem Kokon selbstermächtigten Wohlwollens ein. Nivedita erhofft sich den ganzen langen Roman über von Saraswati Befreiung von ihrem diffusen Leidensdruck, checkt aber nicht, dass sie sich – nicht zuletzt – von Saraswati emanzipieren muss. Niveditas Cousine/Spiegel-Image Priti ist pragmatischer: „Nivedita’s got a broken heart.“ (Zwischenfrage: Ist es denkbar, dass die Ursache für gebrochene Herzen gern in der Hautfarbe gesucht wird?) Saraswati: „Dein Problem ist … dass dir … eine Grundsicherheit fehlt … weil du dich nirgends richtig zugehörig fühlst.“
„Identitti“ ist ein Postroman. Ein Roman, der locker ironisch mit seinen Themen-Hypes umgeht und sie zu beyond erklärt. Ein Roman mit einer bemüht verzweifelten „Heldin“, die noch im opfergeschwängerten Hierundjetzt steckt, die aber in der Lehrerin eine Weg-Weiserin in die transfuture findet, auch wenn sie sich den ganzen Roman über an deren fließender (flow!) Abgeklärtheit abarbeitet. Ein Roman, der in einen „Exorzismus“ mündet (Handys aus!), die Seelenstimmungen spiegeln sich auch hier in den Wolken: „Ein Windstoß erfasste Nivedita und sie bemerkte, dass die Wolken nicht mehr grau, sondern schwefelgrün waren und sichunheilvoll aufzutürmen begannen.“ Sollte das ironisch gelesen werden, passt Kali nicht herein, die Göttinnen vertragen sich nicht mit ‚Aufklärung‘, auch wenn sie weiblich und blau sind und in Indien designt wurden. Ich lese es als, ja doch, Schwulst.
Es geht gut aus. In langen Windungen schreibt Mithu Sanyal Niveditas „Heilung“ herbei und diese kann ihren unzuverlässigen Simon ablegen und sich neuen Bestimmungen und Zugehörigkeiten zuwenden. Im Nachwort erklärt Mithu Sanyal ihr Thema: „trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities“ (entlehnt von Rogers Brubaker) und erläutert das Mashup-Verfahren, das Sampeln von Stimmen, Namen, Anspielungen, Sprachen, das Spiel von Fiktionen und Wirklichkeiten. Der letzte Satz des Romans gehört Nivedita: „Let love flow like a river.“ (Kali zugeschrieben)
Gert Scobel (Diplom-Katholik) maßt sich an, das als „echte Weltliteratur“ zu dekretieren und drängt: „Unbedingt lesen! Und wenn Sie das ganze Jahr nix anderes lesen – das Buch lesen!“ Das ist hoch gegriffen. Vieles ist Mithu Sanyal aber gelungen: die Verarbeitung des vieldiskutierten Problems zu einem in Inhalt und Form zeitgemäßen Roman, die Lockerheit und Ironie, die man diesem Diskurs nicht zugetraut hätte, die umfassende Empathie, die vermittelte und stets relativierte Gelehrsamkeit. Die privaten Teile der Erzählung werden bei jüngeren Leser:innen besser ankommen.
Nachtrag: „Die ganzen Menschen sind komplett verhext von Identitätspolitik. Es ist die Hölle. Die reden nur noch über Farben, nur noch über Farben … Und da gelingt es dieser Autorin und diesem Roman nicht, auf Abstand zu gehen. … Nein. Die ganze Auseinandersetzung als solche ist der absolute Wahnsinn, das ist die Farbtheologie, die alles, was wir je an Errungenschaften hatten, rückabwickelt. Rückabwickelt.“ (Mansplainer Ijoma Mangold, outragiert im Gespräch) Er ist der Zeit voraus, aber so kann man es auch sehen.
2021 – 430 Seiten
Leseprobe und anderes beim Hanser-Verlag
Buch-Trailer und Gespräch in 3SAT Buchzeit (ab Minute 32)
Andreas Maier: Die Universität
Andreas Maier inszeniert seinen Erzähler – der auch Andreas heißt – als grüblerischen Aufschieber, der vor lauter Intro- und Extrospektive nicht ans Ziel kommt. In den Semesterferien ist der Rucksack für „Italien, näher gesagt Südtirol“ gepackt, doch „in dem Moment, als ich in der Tür des Waggons stehe, vor mir der Bahnsteig, beginne ich zu lächeln, besser: zu grinsen. Die Stimme in mir fängt an zu sprechen. Es ist meine Kommentarstimme, mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck.” Die Stimme kommt immer dazwischen und ist immer willkommen, der Kommentar überlagert – und verhindert oft – das Handeln. “Ich ließ den Zug nach Italien fahren, ging zum Schalter, kaufte mir eine Karte nach Butzbach und stieg ein. Dort arbeitete die Tochter des Buchhändlers in einer Zweigstelle der Bindernagelschen Buchhandlung.” Butzbach ist auch nicht schlecht, vielleicht besser als die Ferne. “Ich hatte mir am Butzbacher Bahnhof auch eine zweite Flasche Bier gekauft, und nun aß und trank ich und betrachtete den Park, der sich mir auflud mit allerlei Assoziationen. Jedes Blütenblatt, jeder Grashalm schien mir mit einem universalen Vollkommenheitssinn aufgeladen, als sei der Butzbacher Park just in diesem Moment die höchste Form von Welt.”
Für Andreas Maiers Protagonisten, der äußere Aktivitäten prokrastiniert, erweitert sich die Welt ständig, aber das braucht Zeit. Seine bisherigen Romane seit 2010: · Das Zimmer. · Das Haus. · Die Straße. · Der Ort. · Der Kreis. Und jetzt, 2018: · Die Universität. als Teil eines Zyklus von geplanten elf recht autobiografischen Romanen unter dem Arbeitsobertitel „Ortsumgehung“, die fest in die südhessische Geografie eingeschrieben sind.
Im letzten Kapitel von “Die Universität” geht’s aber sowas von voran:
Ich verlasse mein Zimmer, gehe hinunter auf den Parkplatz und steige in das Auto. Es handelt sich um einen alten, gebrauchten Ascona, ohne Servolenkung, kaum Elektrik. Radio ja, aber die Antenne fehlt, abgebrochen. Aschenbecher lang nicht geleert. Auf der Ablage ein angebrochenes Päckchen Senior Service, ohne Filter, wie immer. (…)
Ich fahre auf dem Parkplatz einen Bogen und dann zwischen zwei Mietshauskasernen (in einer davon wohne ich) Richtung Straße. (…)Es geht auch jetzt wieder nur im Schrittempo, aber es steht nicht. Das ist ein eminenter Unterschied: Stehen und Schrittempo! Das Schrittempo unterbindet nicht unsere Hoffnung. Bei Stehen geht nichts weiter, und wir wissen nicht, wie lange. Stehen kann man eine Ewigkeit und kommt nicht voran, Schrittempo fahren kann man auch eine Ewigkeit, aber kommt voran, zumindest doch irgendwie (…)zu jenem finalen Bild am Nordwestkreuz, dem ewig wiederholten Stillstand unserer Zielhaftigkeit, in dem wir aufgelöst werden und aufgehen in der Masse der vollkommenen Gleichheit ohne Namen, Rang, Geschichte, Herkunft, Person, Eigenschaft, Wille, Geschlecht. Und sitzen in den Autos mit unserer uns nach wie vor unauslöschlich erscheinenden Individualität.
Unserem Ich, das ein Ziel hat und für das wir unterwegs sind und vorwärts streben in unserem Automobil, hier auf dem Nordwestkreuz, A5 Richtung Wetterau.
Ja, das ist schon fein, slow driving, slow living, erfüllte Leere. Der Philosoph als Selbstvermeider. Stillstand auch beim Erzählen, aber sehr selbstreflexiv.
Ich versuchte immer wieder, einen bestimmten ten Text zu schreiben. Er handelte von einer leeren, isolierten und konturlosen Person. Meist saß sie in einem leeren Zimmer und erzählte von einem leeren, isolierten, konturlosen Tagesablauf – einem Tagesablauf ähnlich dem meinen, wie es schien. Es war eine Person ohne Historie, ohne Gegenwart, völlig in sich verschlossen und an sich selbst zurückgebunden. Sie grenzte sich durch ihre komplette Leerheit gegen alle anderen ab, war in den Zusammenhang der anderen, in deren Gesellschaftszusammenhang, in deren Berufszusammenhang, deren Liebeszusammenhang nicht integriert, entweder aus Unfähigkeit oder kraft eigenen Entschlusses, das war nie so genau zu entscheiden. Bisweilen schien sie dem Entschluß zur Leerheit einen bestimmten Sinn beizumessen.
Allerdings kam keiner dieser Texte über den Anfang hinaus, denn es gab keinen erzählerischen Gegenstand außer eben dem der Leerheit.
›Ich, das ist der Mittelteil des Wortes Nichts.‹ (Motto) Was der Erzähler vor sich hin summt, stimmt aber nicht. Es passiert schon was. Der Roman heißt ja “Die Universität” und das ist seine Welt, wie geschaffen zum Beobachten und Reflektieren. Zum Beispiel im Seminar von Karl-Otto Apel, Professor für Philosophie an der Universität Frankfurt am Main. Ein Spiel mit Formen als Inhalten und ein Spiel mit Identitätsüberlagerungen. Sprach-Virtuosität auf knappem Raum.
Descartes schaue durch Sprache »wie durch Glas! «, sagt Apel. Die sprachphilosophische Wende jedoch führe dazu, die Sprache selbst in den Blick zu nehmen, und nicht die vermeintlich in ihr mitgegebenen Gegenstände, sagt er, während der andere am Raumende mit seiner Musterung fortfährt.
Seltsam übrigens, daß er nicht bemerkt, wie ich ihn meinerseits beobachte. In meiner Mattigkeit habe ich unterdessen meinen Blick durch den Raum schweifen lassen und festgestellt, daß tatsächlich niemand den Beobachter entdeckt hat außer mir. Nur ich sehe ihn durch Blase bzw. Wolke hindurch.
Ich bin jetzt eine weitere Meta-Ebene, die Meta-Ebene zu ihm, ich bin das Bewußtsein des Bewußtseins, das er von den anderen hat, die dritte Stufe von Bewußtsein. Bin jetzt für ihn selbst umwölkt und unsichtbar. Daher spüre ich eine gewisse Überlegenheit. Er weiß gar nicht, daß er gerade mein Bewußtseinsinhalt ist. Was er zu sein glaubt, bin in Wirklichkeit ich. Ich bin das letzte unobjektiviert gebliebene Subjekt im Raum …!
Und dann wartet auf den Erzähler auch noch ein Highlight. Er wird als Mitglied einer Pflegetruppe zu einer “schwierigen” alten Frau eingeteilt, Gretel, deren Familienname seine “Aufmerksamkeit weckte”. Sie hieß Adorno und wohnte wie der verstorbene Vordenker der “Frankfurter Schule” im Kettenhofweg. Die Erlebnisse werden jetzt etwas handfester, körperlicher, erfordern noch mehr Bier. Ein kleiner Roman als Baustein des Aufbruchs, fein beobachtet, mit penetrant unaufdringlicher Ironie ziseliert erzählt, schön zu lesen – wenn man so etwas mag.
2018 145 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Das Hamsterrad der Ortsumgehung – Joachim Scholl im Gespräch mit Andreas Maier
Andreas Maier liest aus “Die Universität” – 4 Minuten auf youtube
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Zadie Smith: Von der Schönheit
Howard Belsey, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wellington, einem fiktiven Ort nahe Boston, Spezialist für Rembrandt, weiß, liberal, politisch korrekt. Er zeigt seinen Studenten einen Rembrandt, „der weder Regelverletzer war noch Originalgenie, sondern Konformist. Hatte sie aufgefordert, den Begriff »Genie« zu hinterfragen, und in der nachfolgenden Stille das bekannte Bild vom Rebellen gegen das ihm wahrscheinlichere vom guten Kunsthandwerker gesetzt, der malte, was von reichen Kunden verlangt wurde. Howard hatte sie aufgefordert, sich die Schönheit als die Maske der Macht vorzustellen und die Ästhetik als wahrhaft »erlesene« Sprache der Diskriminierung. Er versprach ihnen ein Seminar, das alle ihre Glaubenssätze von der humanen Erlösungskraft dessen, was gemeinhin als »Kunst« bezeichnet wird, infrage stellte. »Die Kunst ist der große Mythos des Abendlands«, verkündete er – etzt schon im sechsten Jahr hintereinander. »Ein Mythos, mit dem wir uns sowohl trösten als erschaffen.« Alle schrieben das mit.”
Howards Gegenspieler ist Monty (Montague) Kipps, wie Howard Rembrandt-Experte, protestantisch-britisch, konservativ-religiös. Er ist schwarz, doch er sieht keinen Anlass, die Hautfarbe als politische Kategorie einzusetzen. Wie’s Zadie Smiths Zufall will, kommt Monty Kipps für ein Jahr an die Universität Wellington, die Familie zieht in die Nachbarschaft der Belseys. In Wellington wird er als homophob und rassistisch gemobbt, hinter den Intrigen stehen aber, wie immer, persönliche Gereiztheiten. “Howard hatte Monty noch nie leiden können, was allerdings auch kein Wunder war. Montys rechtslastige Bilderstürmerei musste jedem liberal gesinnten Menschen sauer aufstoßen. Doch wirklich gehasst hatte er ihn erst, als ihm vor drei Jahren zu Ohren kam, dass Kipps ebenfalls an einem Rembrandt-Buch schrieb.” “Erst zwei Tage zuvor hatte Kipps im Wellington Herald Howards Affirmative Action Committee scharf angegriffen. Das heißt, er war nicht nur mit den Zielen des Komitees ins Gericht gegangen, sondern hatte geradezu sein Existenzrecht bestritten. Hatte Howard und »seiner Anhängerschaft« vorgeworfen, nur liberale Positionen gelten zu lassen und konservative systematisch vom Campus zu verbannen.” Die Positionen, das ist eine der Künste Zadie Smiths, sind ironisch vertauscht.
Howards Frau Kiki, eine üppige Schwarze – Howard ist auch da tolerant -, gelernte Krankenschwester, “noch mehr als Schönheit strahlte sie diese essenzielle Weiblichkeit aus”,. Kiki zweifelt an ihrer Rolle, als Howard sie hintergeht: “Im Augenblick versuche ich, mir darüber klar zu werden, wofür ich eigentlich gelebt habe und wofür ich in Zukunft leben soll. Howard wird die gleiche Frage für sich beantworten müssen. Trennen wir uns? Trennen wir uns nicht? Manchmal denke ich, es ist fast schon egal.« Kiki ist der bodenständig mütterliche Typ, als einzige Figur ohne Arg. Kiki geht auf die leptosome, kränkelnde Carlene Kipps zu. Carlene hat kein Bewusstsein als Schwarze. “»Ich frage mich nie, wofür ich lebe«, sagte Carlene entschieden. »So fragt nur ein Mann. Ich frage mich, für wen ich lebe.« »Das glaube ich dir nicht.« Doch ein Blick in ihre ernsten Augen sagte ihr, dass sie offenbar genau das glaubte, was Kiki empörte. Niemand konnte so dumm sein, das eigene Leben so zu vergeuden. »Ehrlich, Carlene, das nehme ich dir nicht ab. Ich weiß, dass ich nicht für jemanden gelebt habe. Das wirft uns alle, zumindest uns schwarze Frauen … wirft uns glatt um dreihundert Jahre zurück. «”
Die Kippsens haben zwei Kinder. Michael, Risikoanalyst bei einer Investmentgesellschaft, spielt im Roman keine große Rolle; Victoria, sie will Vee genannt werden, ist „entsetzlich hübsch“ – „rattenscharf“ übersetzt Marcus Ingendaay – hätte sich fast mit Jerome, dem Sohn der Belseys, verlobt, als dieser, wieder einer dieser Zufälle, sein Jahr als Austauschstudent in England bei den Kipps verbrachte. Später schwenkt Vee auf den Vater Belsey um, was Zadie Smith Gelegenheit gibt, ein paar Sexszenen einzufügen. Vee und Zora, Belseys Tochter, zicken sich, wie es sich für zwei Gören gehört. »Ja, tut mir Leid, aber ich mag sie nicht. Und ich kann nicht so tun, als wäre es anders, wenn es nicht so ist. Sie ist die typische oberflächliche Uni Tusse, die meint, wegen ihres Aussehens gelten die normalen Regeln für sie nicht. Sie versucht es zu verbergen, indem sie dauernd mit einem Buch von Barthes jrumläuft – ewig zitiert sie Barthes, etwas anderes kann sie gar nicht -, aber wenn’s eng wird für sie, verlässt sie sich nur noch auf ihre Schönheit, es ist ekelhaft. Und dann die Jungs, die ihr überallhin nachrennen. Ich meine, ich hab ja nichts dagegen, soll sie ruhig. Obwohl es ja schon ein bisschen arm ist, aber egal, eder hat wohl seine Methode, wie er den Tag rumkriegt … Aber das kann man auch tun, ohne ständig die Gruppendynamik mit doofen Fragen zu stören. Außerdem ist sie eitel. Echt, eitel ist sie, das glaubst du nicht.” Den Gegenschlag führt Zadie Smith selbst und entlarvt satirisch die orientierungslose Jugend, die die “Ideale” ihrer Eltern von sich weist, für sich aber auch keine anderen findet. Die Persiflage trifft wohl bevorzugt, aber nicht nur die amerikanische Universität, die klein, aber für die Beteiligten die ganze Welt, die durch Phrasen oberflächlich zusammengehalten wird. In der Tiefe brodelt’s, aber das muss verborgen werden, auch vor sich selbst. “So ziemlich jeden im Raum betrachtete Zora als enorm wichtig für ein erfolgreiches Sozialleben im kommenden Jahr.” Jeder ist für sich allein. Zora „war jemand, der nie so lange wegblieb, dass man ihn wirklich vermisste.“
Dorthin warf Zora ihre Zigarette, um sich gleich die nächste anzuzünden. Sie fand es nämlich schwierig, so allein auf eine Gruppe zu warten. Um mit ihrem Lieblingsdichter zu sprechen: Sie schuf sich ein Gesicht, um den Gesichtern zu begegnen, denen sie begegnete, ein Vorgang, der allerdings etwas Zeit brauchte. Denn wenn sie allein war, glaubte sie, überhaupt keines zu besitzen … Da half es auch wenig, dass sie auf dem College als eigenwillig und als »starke Persönlichkeit« galt. Denn leider konnte sie diesen Ruf nicht mit nach Hause nehmen, nicht einmal aus dem Seminarraum, jedenfalls nicht richtig. Irgendwie schien sie überhaupt keine echte Meinung zu haben, zumindest nicht so, wie andere eine Meinung hatten. Einmal am Ende einer Stunde fiel ihr ein, wie sie in der Diskussion genauso gut die entgegengesetzte Meinung hätte vertreten können, und das nicht weniger verbissen oder weniger erfolgreich. Jawohl, sie hätte Flaubert auch gegen Foucault verteidigen können, hätte Jane Austen retten und Adorno preisgeben können. Hatte überhaupt jemand eine eigene Meinung? Sie wusste es nicht. Und war sie die Einzige, der das merkwürdig Un-Persönliche an der akademischen Debatte aufgefallen war, oder ging es den anderen ähnlich? Täuschten die anderen auch nur eine Meinung vor? Sie vertraute darauf, dass sie dies eines Tages erfahren würde – wenn sie auf echte Menschen traf. Vorerst jedoch fühlte sie sich existenzialistisch schwerelos und suchte nervös nach möglichen Gesprächsthemen. In ihrem Kopf war wahllos alles versammelt was gewichtig klang und ihr den Anschein von Substanz verlieh. Selbst auf dieser kurzen Reise ins Szeneviertel von Wellington, eine Reise, die sie, weil sie selbst am Steuer saß, nicht lesenderweise hatte verbringen können, selbst hier schleppte sie in ihrem Rucksack drei Romane und eine kurze Abhandlung von Simone de Beauvoir mit sich herum – genug Ballast für ihre schwerelose Existenz, dass sie sich nicht gleich über die Fluten erhob und in den Nachthimmel entschwebte.
Belseys Ältester, Jerome, ist meist außer Haus, „muss seinen Eltern als glatter Reinfall erscheinen, denn er fühlt sich zu pietistischer Frömmigkeit berufen“ (Tobias Heyl, SZ). Auch Levi, der jüngere Bruder, sucht eine Identität, mit der sich von den Eltern abgrenzen könnte. Er fühlt sich zu den „Brothers“ hingezogen, aber er lebt in der falschen “hood”, “street” zu sein, ist bloß ein Wunsch. “Noch den Abgang gestaltete Levi als coolen Auftritt.” Aber die echten “Brothers”, aus Haiti etwa, durchschauen seine Attitüden, Levi hat’s nicht leicht, Zadie Smith hat fast Mitleid mit ihm, setzt ihre Satire aus.
Tobias Heyl zieht in der SZ die Essenz: „In sehr komischen Szenen zeigt dieser Roman, dass, wenn es sie denn jemals gab, die Zeiten vorbei sind, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden. Die einst sicher geglaubten Ordnungen existieren nicht mehr, vielleicht weil sie auf dem Irrtum basierten, die Gesellschaft bewege sich, wie langsam und umständlich auch immer, von Generation zu Generation auf bessere Zeiten zu“.
Der Roman bietet in wechselnder Besetzung angehäufte Dialoge zwischen den beteiligten Figuren. “Kiki suchte nach einer unverfänglichen Antwort – Doch ein Blick in die ernsten Augen dieser Frau zwang sie unwillkürlich zur Wahrheit. ! – Als sie sah, dass Carlene sie immer noch anblickte, als sei jedes Wort von entscheidender Bedeutung, hörte sie auf. – Das wiederum konnte Kiki so nicht stehen lassen. – »Nein, überhaupt nicht, ich … ich glaube, es geht darum, worauf man sich geeinigt hat«, sagte Kiki und bestrich ihre Lippen mit dem farblosen Glibber. Nun war es an Carlene, ein Lächeln anzubringen.»Habe ich dir das eigentlich schon erzählt?«, sagte Carlene, um das Schweigen zu durchbrechen. Kiki lächelte, erleichtert darüber, dass sie nicht weiter ausführen musste, wovon sie keine Ahnung hatte.” – Zadie Smith beobachtet genau und steuert die Gespräche mit ihren Kommentaren. Sie durchschaut die Mechanismen und offenbart sie dem Leser. Sie sollte aber sehen, dass es genügt, Small Talk und “Sozialgedöns” als solche zu präsentieren, die häufige Wiederholung schlägt mit zunehmender Seitenzahl in Gewöhnung, nachlassendes Interesse und Langeweile um. Zu viele Themen und Motive werden aufgefahren und überlagern die Konzentration auf die Campus-Novel, den Konflikt zwischen aufgeklärtem Liberalismus und konservativem Establishment und deren gegenseitiger Anbindung an die Hautfarbe. “Das komplette Personal der geisteswissenschaftlichen Fakultät einer Ostküsten-Uni kann man nun in ihrem Roman wiederfinden – mit allen Klischees: Da gibt es die feministisch angehauchte Dozentin für kreatives Schreiben mit dem Herz für Randgruppen aller Art, den ergebenen Assistenten und den speichelleckenden Nachwuchs. Lähmende Institutssitzungen, in denen die Anschaffung eines neuen Kopierers verhandelt wird. Und im Mittelpunkt: die Debatte darüber, ob schwarze Studenten besonders gefördert werden sollten. Oder ob, im Gegenteil, diese Förderung eine Form der Diskriminierung darstellt.“ (Andrea Ritter, Stern) „Die Zeiten sind vorbei, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden.“ (Tobias Heyl) Die Familiengeschichte ufert aus, zu viele Nebenfiguren bevölkern das Umfeld der Universität. Vieles aus dem 3. Kapitel wirkt auf mich wie Appendices, wie Geschriebenes, das die Autorin noch unterbringen wollte. “Von der Schönheit” wird oft gesprochen, Rembrandt, Mozart, Hiphop, Haitische Kunst, doch erklärt sich mir damit nicht der Titel. Auch in dieser Hinsicht hätte eine stärkere Fokussierung dem Roman gut getan.
„Von der Schönheit“ ist als Satire zu lesen, im Gehalt eher konventionell, in der Beschreibung subtil, fein komponiert mit erheblichen Redundanzen, vital geschrieben. Ihr Augenmerk legt Zadie Smith auf die Lingo, mit der sie jede Person markiert. Die Darstellung ist dezent ironisch, doppelt gebrochen, sie kennt ihre Schauplätze, sie stellt ihre Figuren aus, aber nicht bloß. Ein bisschen voyeuristisches Vergnügen kann man schon entdecken.
Kurz vor Thanksgiving passierte etwas sehr Schönes.
Zora war in Boston und kam gerade aus einem Antiquariat, in dem sie noch nie zuvor gewesen war. Es war Donnerstag, ihr freier Tag, und trotz der Unwetterwarnung war sie spontan in die Stadt gefahren. Dort hatte sie einen dünnen Band mit irischer Lyrik gekauft. Ihren Hut festhaltend, trat sie gerade aus dem Laden, als ein Überlandbus am Straßenrand hielt. Und aus dem Überlandbus stieg Jerome. Einen Tag früher wegen Thanksgiving. Er hatte niemandem mitgeteilt, wann und wie er kommen würde. Sie fielen sich um den Hals und hielten sich aneinander fest, aus Wiedersehensfreude ebenso wie auch, um nicht umzufallen, denn eine gewaltige Bö riss an ihnen, wirbelte das Laub in die Luft und warf eine Mülltonne um. Aber bevor sie noch etwas sagen konnten, hörten sie hinter sich ein lautes »Yo!«. Es war Levi, den der Wind hergetragen hatte.
»Nee, ne?«, sagte Jerome, und während sie sich umarmten und dabei den Bürgersteig blockierten, fiel auch den anderen nichts anderes ein als ebendiese beiden Wörtchen. Es war eiskalt und der Wind stark genug, um ein kleines Kind wegzupusten. Sie hätten irgendwo hingehen können, vielleicht einen Kaffee trinken, aber den Ort ihrer wundersamen Begegnung zu verlassen, hätte auch das Wunder selbst beendet, und das wollten sie noch nicht. Am liebsten hätten sie allen Leuten erzählt, was gerade passiert war. Aber wer hätte es ihnen geglaubt?
»Mann, Wahnsinn. Normalerweise komme ich gar nicht mit dem Bus, sondern mit der Bahn.«
»Krass, ey. Das ist ja gespenstisch«, sagte Levi, der gern an Verschwörungstheorien und paranormale Phänomene glaubte. Und alle zusammen schüttelten sie den Kopf, lachten und erzählten dann, wie sie an ebenjene Stelle gelangt waren, wobei sie ausdrücklich nach natürlichen Erklärungen suchten, um dem Gespenstischen daran nicht allzu viel Raum zu geben.
2005 516 Seiten
Grundthema und Handlung des Buches hat Zadie Smith E.M. Forsters »Wiedersehen in Howards End« (1910) entnommen. Ich kenne das Buch nicht und kann mich auch an den Film nicht erinnern.
Patrick Mahoney’s reading guide to the novel (mit den Bildern zum Roman)
Reading Guide Questions (Please be aware that this discussion guide may contain spoilers!)
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John Williams: Stoner
Ein Mann in den 40ern, unglücklich verheiratet, die Tochter ist 12, verliebt sich in eine Jüngere: ein Traumpaar. Zuneigung und gegenseitiges Verständnis sind grenzenlos, doch die Gesellschaft hat für das Glück keinen Platz.
Er, William Stoner, ist Dozent an der University of Missouri in Columbia im Mittleren Westen der USA. Sie, Cathrin Driscoll, sitzt in seinem Kurs und es entwickelt sich d i e Romanze. Edith, Stoners Frau, toleriert die Beziehung, um in Ruhe gelassen zu werden. Das ist John Williams’ Roman Stoner“ und er bietet die Voraussetzungen für triefenden Kitsch. Doch Williams ist meilenweit davon entfernt.
John Williams erspart William Stoner nichts. Er ist unbarmherzig, auch mit den Lesern. Er nötigt Stoner zu der Erkenntnis: „Er war er selbst.“ Er braucht ein Leben, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Der Leser lebt mit Stoner, fast möchte er auch mit ihm sterben. Weder für den Leser noch für Stoner gibt es ein Entkommen, auch wenn Stoner in zwei Parallelwelten lebt, in die er von der jeweils anderen flüchten kann. John Williams konzentriert Stoner auf diese beiden Räume, die Schilderung ist äußerst intim, was eigentlich gar nicht zu Stoner passt, sie ist gleichzeitig sehr respektvoll. Der Autor bleibt neutral und mischt sich doch ein, weil er extrem präzise und nahe bei Stoner ist, weil er ihn nie unbeobachtet lässt. Er braucht keinen Kommentar. Ob Stoner wirklich so ist, weiß man natürlich nicht, der Autor verlässt ihn nicht, hat keine Außensicht. So wird man zur Sympathie mit Stoner gedrängt, ohne es zu merken oder gar zu bedauern. Die anderen Personen zeigen sich nur so, wie Stoner sie wahrnimmt, sie haben im besten Fall Verständnis – wie „Freund“ Gordon Finch, der Dekan der Universität – im schlechtesten drangsalieren sie ihn – wie sein „Kollege“ Lomax oder seine Frau Edith. John Williams lässt den Leser ausführlich daran teilhaben.
Es gibt keine Außenwelten. Nur die beiden Weltkriege werfen ihre Schatten ins amerikanische Hinterland, die Prohibition verführt zu kleinen Schmuggeleien, Stoners Schwiegervater verliert in der Weltwirtschaftskrise Job und Geld. Stoner hat damit nichts zu tun. Er will nur Lehrer, Mann (und Vater) sein. Religion, Konsum, Politik, Verwaltung sind nicht Stoners Themen, er ist, das muss man auch sehen, ein beschränkter Mensch. Seine Herkunft erklärt dabei nicht alles.
Stoner stellt sich die Frage, ob sein Leben geglückt ist. Er beantwortet sie positiver als das der Leser tun würde. So leidet der Leser möglicherweise mehr als Stoner, möchte ihm helfen, ihn bewahren, ihn ins Herz schließen. Der Leser lässt sich rühren, kann dagegen nichts tun, so eindringlich ist John Williams‘ Stil. Die Kritiken fallen euphorisch aus: „»›Stoner‹ ist ein literarischer Schatz“, „ein Leseglück!“, „eines der besten Bücher im Jahr 2013“, „ein kleines Meisterwerk“, „Ich habe lange kein Buch gelesen, das mich emotional so bewegt hat“, ein „Meilenstein amerikanischer Literatur“. Die Kolumnen hymnischer Ausrufe beziehen sich nicht nur auf den Autor John Williams, sondern mindestens ebenso sehr auf die mitleiderregende Person des William Stoner.
“William Stoner, Anfang des 20. Jahrhunderts als Sohn armer Farmer geboren, sollte Agrarwissenschaften studieren, doch stattdessen entdeckte er seine Leidenschaft für Literatur und wurde schließlich Professor an einer Universität im Mittleren Westen der USA.” (Klappentext) Er heiratet die hübsche Bankierstochter Edith, sie haben eine Tochter, Grace. (Ein Kapitel für sich)
Stoner studiert Naturwissenschaften und Bodenanalyse, muss aber neben diesen Nutzen versprechenden Fächern auch Anglistik belegen. Ein Shakespeare-Sonett wühlt ihn auf und er wechselt das Studienfach und tritt damit in eine neue Welt und beginnt einen Beruf, der für einen wie ihn nicht vorgesehen war. Langsam findet er sich in die Tätigkeit als Lehrer, sein Spezialgebiet ist der Einfluss des Lateinischen auf die englische Literatur der Renaissance. Der Mikrokosmos der Universität bleibt ihm fremd, er findet wenig Freunde, bleibt Einzelgänger, wird von den Studenten akzeptiert und beharrt in einer Auseinandersersetzung mit dem intriganten Fachbereichsleiter auf den Prinzipien der Gerechtigkeit. Stoner ist kein Mann für den schnellen Wandel, für die neue Zeit der Oberflächlichkeit; man könnte auch sagen, er ist stur, ungesellig. Stoisch, von frugalem Ernst. Seine erste Liebe bleibt die Literatur.
Sein zweiter Lebens(t)raum sollte die Familie sein. „Scheinbar blind für nur allzu deutliche Warnsignale (Man möchte Stoner warnen, muss ihn aber in sein Unglück stolpern sehen), heiratet er die fragile Bankierstochter Edith, in deren Elternhaus der Permafrost gutbürgerlicher Sitten herrscht: «Ärger bedeutete Tage höflichen Schweigens, Liebe war ein Wort höflicher Zuneigung» – stärkere Gefühlsregungen werden ebenso eisern totgeschwiegen wie allfällige Bedürfnisse des Körpers. Krankhaft überspannt und aus ihrem Kokon behaglicher materieller Verhältnisse gerissen, wirft sich Edith in einen verzweifelten Kampf gegen die Welt ihres Ehemanns“ (Angela Schader, NZZ) Immer wieder heißt es, ihr Gesicht sei eine Maske. Sie sieht Stoner nicht an, ein Motiv, das sich durch den Roman zieht: Der Blick ins Abseits. Stoner ist hilflos, wehrlos, zu schwach, er zieht sich zurück, auch, und das spricht nicht für ihn, als ihm Edith die Tochter entzieht.
Und plötzlich, kaum hatte er die Worte gesagt, war es tatsächlich nicht weiter wichtig. Einen Moment lang spürte er, es stimmte, was er gesagt hatte, und zum ersten Mal fühlte er sich vom Gewicht einer Verzweiflung befreit, deren Schwere ihm gar nicht bewusst gewesen war. Fast schwindlig und beinahe lachend wiederholte er: »Es ist wirklich nicht weiter wichtig.«
Doch mit einem Mal waren sie verlegen und konnten sich nicht mehr so ungezwungen unterhalten, wie sie es gerade noch getan hatten. Bald darauf erhob sich Stoner, bedankte sich für den Kaffee und verabschiedete sich. Sie begleitete ihn zur Tür und klang beinahe schroff, als sie ihm eine gute Nacht wünschte.
Draußen war es dunkel und recht kühl an diesem Frühlingsabend. Tief atmete er ein und spürte, wie ihm die frische Luft einen Schauder über den Rücken schickte. Hinter den scherenschnittartigen Umrissen der Mietshäuser schimmerten die Lichter der Stadt im fahlen Dunst. An der Straßenecke wehrte sich matt eine Laterne gegen die Dunkelheit, und aus dem umgebenden Schwarz durchbrach der Widerhall eines Gelächters abrupt die Stille, hing eine Weile in der Luft und verklang. Vom Müll, der in Hinterhöfen verbrannt wurde, mischte sich Rauch in den Dunst, und während er langsam durch den Abend ging, diesen Geruch einatmete und auf der Zunge den scharfen Geschmack der Nachtluft schmeckte, war ihm, als genügte ihm dieser Augenblick, durch den er ging, als bräuchte er nicht viel mehr.
So begann seine Liebesaffäre.
(…)In seinem dreiundvierzigsten Jahr erfuhr William Stoner, was andere, oft weit jüngere Menschen vor ihm erfahren hatten: dass nämlich jene Person, die man zu Beginn liebt, nicht jene Person ist, die man am Ende liebt, und dass Liebe kein Ziel, sondern der Beginn eines Prozesses ist, durch den ein Mensch versucht, einen anderen kennenzulernen.
Sie waren beide sehr scheu und lernten einander nur langsam kennen, behutsam; sie kamen sich nah und trennten sich, berührten sich und wichen zurück, wollten beide dem anderen nicht mehrzumuten, als erverkraften konnte. Tag für Tag fielen Schutzhüllen, bis sie schließlich wie so viele, die außergewöhnlich schüchtern sind, füreinander offen waren, ungeschützt, vollkommen und gänzlich unbefangen sie selbst.
Fast jeden Nachmittag kam er nach dem Unterricht zu ihr. Sie liebten sich und redeten und liebten sich erneut wie Kinder, die in ihrem Spiel nicht müde wurden. Die Tage wurden länger, und sie freuten sich auf den Sommer.
(…) Er träumte von Vollkommenem, von Welten, in denen sie immer zusammenbleiben konnten, und halb glaubte er an die Möglichkeit des Geträumten. »Wie«, sagte er, »wäre es, wenn«, um dann eine Phantasiewelt zu schaffen, die kaum schöner als jene war, in der sie lebten. Unausgesprochen galt für sie beide, dass die möglichen Welten, die sie sich ausmalten, Liebesbeweise und eine Feier ihres jetzigen Daseins waren.
Das Leben, das sie zusammen führten, hatte sich keiner von ihnen ausgemalt. Sie steigerten sich von Leidenschaft zu Lust zu einer tiefen Sinnlichkeit, die sich von Augenblick zu Augenblick erneuerte.
»Lust und Lernen«, sagte Katherine einmal. »Mehr gibt es doch eigentlich nicht, oder?«
Und Stoner fand, sie habe absolut recht, gehörte dies doch zu dem, was er gelernt hatte.
„Stoner“ ist ein altmodisches Buch, es stellt eine vergangene Welt dar mit ihren überkommenen Konventionen, ihren langsamen Reaktionen, ihrem ruhigen Dulden und weitgehend vergessenen Prinzipien, auch mit dem „neurasthenischen“ Leiden der Frauen. „Stoner“ ist ein leises Buch, zurückhaltend, in sich vertieft wie sein Protagonist Willian Stoner.
„Stoner“ erschien erstmals 1965. „On July 5, addressing the nation on the Today programme, the novelist Ian McEwan instructed listeners to pack, along with their swimwear, the novel Stoner – the beach book for 2013.” (John Sutherland, The Telegraph)
350 Seiten. – “Stoner” war mein erster Versuch mit einem Hörbuch. Burghart Klaußner liest einfühlsam und mit angenehmer, angepasster Stimme. Der Roman bietet sich zum Hören an, da er nur eine Perspektive einnimmt, da er nicht von der Chronologie abweicht und da John Williams ruhig und innig erzählt.
Luzia Stettler stellt dasBuch im SRF vor (Audio – 9 Minuten)
The New York Review of Books : Reading Group Guide
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„Den späten Herbst kannst Du in mir besehen:
Die letzten gelben Blätter eingegangen
An Zweigen, die dem Frost kaum widerstehen,
Und Chorruinen, wo einst Vögel sangen.
In mir siehst Du den späten Tag sich neigen,
Das Dunkel in die graue Dämmrung dringen,
Die Nacht mit ihrer Schwärze langsam steigen
Und Todes Bruder, Schlaf, die Welt umschlingen.
In mir siehst Du die Glut von alten Bränden,
Gebettet auf die Asche bessrer Zeiten –
Ein Sterbelager, wo sie muss verenden,
Verzehrt vom Brennstoff eigner Lustbarkeiten.
Siehst Du all dies, wird’s Deine Liebe steigern:
Denn was Du liebst, wird Tod Dir bald verweigern.“
Ian McEwan: Solar
Ian McEwan kann’s. Er schreibt in gefälligem Stil, angenehm zu lesen, eine schöne Mischung aus Beschreibung und Dialog. Dazu die Personen: Zentral Michael Beard, Nobelpreisträger, schon leicht angejahrt, aber immer noch gut im Geschäft, kleindickkahl, doch die Frauen mögen ihn und er stellt ihnen nach. Forschung interessiert ihn nur – noch -, wenn es Geld dafür gibt, fies klaut er Ideen, schreckt auch vor Vertuschungen und Anmaßungen nicht zurück, ein Widerling eigentlich. McEwan hält aber trotzdem in schwebender Sympathie zu ihm bis zum Ende. „Während er die Arme ausbreitete, kamen ihm Zweifel, dass irgendwer ihm jetzt noch Glauben schenken würde, wollte er behaupten, es sei Liebe.” Ironie, denn sowas wie Liebe kennt Beard nicht, nur Genuss. McEwan schreibt ihm sogar die Nobelpreisrede – von Professor Nils Palsternacka (aus dem Schwedischen übersetzt) -, sodass man fast geneigt ist, ihn zu googeln. Beard ist Engländer, weitere Schauplätze sind New Mexico und Spitzbergen und überall findet sich reichlich Stoff für Anekdoten. McEwan lässt nichts aus: nicht die Geschichte vom Rivalen, der sich selbst zu Tode bringt, nicht peinliche Intimerfrierungen, auch nicht den modernen Mythos des “Diebes wider Willen”, auch hier mit der Chuzpe, das eigene Erzählen als geklaut infrage zu stellen und damit souverän zu bleiben.
Es gibt viele Romane mit Wissenschaftlern als Protagonisten und Wissenschaft als Thema. Bei Solar ist es – ganz auf der Höhe der Zeit – das Problem der Nutzung der Solarenergie, das hier gelöst wird durch die Raffinesse der technischen Adaption der Photosynthese. (Auch ein GEO-Artikel in Heft 7/11 befasst sich mit dem Thema.)
Die Kunst des Romans ist die Synthese von wissenschaftlichem Hintergrund und fiktiven Wirrnissen der Handlung. Auch Wissenschaftler sind Menschen, die Triebe gieren nach Frauen und Ruhm, nicht immer geht beides zusammen, aber lustig wirds, wenn sich Physiker und Physik in die Quere kommen. McEwan gestaltet das Grundmuster routiniert, hat gründlich recherchiert, kennt sich aus mit der Melange der Zutaten, weiß um die Wirkung des Angerichteten. Eine angenehme Lektüre, aber “Muss es wirklich eine Literatur der globalen Erwärmung geben?“ (Thomas Steinfeld, SZ)
Leseprobe des Diogenes-Verlags
Ausführliche Inhaltsangabe bei Dieter Wunderlich
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Silvia Bovenschen: Wer Weiß Was
Wann ist ein Mord ein Mord? Kann man einen Toten töten? Weshalb ist Dr. Norman Krüss ins Altersheim und seine Frau zu Pascal von Seefeld, dem Sohn von Irma von Seefeld, gezogen? Und wohin führt die Odyssee der cognacfarbenen Tasche? –
Es gibt viele Fragen, die aufgeklärt werden wollen, und deshalb kommen auch die Kriminalkommissare in die Universität und versuchen den Merkwürdigkeiten auf eine Spur zu kommen.
Im Untertitel nennt Silvia Bovenschen ihren ersten Roman „Eine deutliche Mordgeschichte“, aber auch das erweist sich als Tarnung. Bovenschen spielt mit Genres: Sie bedient sich des Krimis und unterläuft ihn gleichzeitig, sie platziert die Klischees des Campus-Romans und entlarvt die Stereotypen, die so handeln, wie man es erwartet und damit alle Rollenmuster ins Leere laufen lassen. Am Ende tritt sogar die Hauptkommissarin aus ihrer Rolle und mischt sich in die Gartenidylle der verbliebenen Frauen, die den dschungelartigen Wildwuchs des Lehrstuhls überdauert.
„In „Wer weiß was“ geht es um die Möglichkeit des Entkommens aus der Gefangenschaft von Selbstbildern, aus gesellschaftlichen Mustern, den Gewohnheiten des Ehelebens“, schreibt Friedmar Apel in der FAZ. Es sind ähnliche Themen, zu denen Silvia Bovenschen auch in ihren Sachbüchern und Essays etwas zu sagen weiß. Zuletzt und sehr erfolgreich: „Älter werden“.
Das Interessantere – was aber beim Lesen auch nerven kann – ist im Roman die Offenlegung der Methode der (De-)Konstruktion. „Wer Weiß Was“ ist auch ein Roman über einen Roman, über das Romanschreiben, über das Wissen, dass alles Schreiben fingiert ist: „Es ist die Einsamkeit des allwissenden Erzählers. Du bist wissend und zugleich als Wissender stets in der Gefahr der Unglaubwürdigkeit.“ (In den Klammern wird die Glaubwürdigkeit – wieder ironisch – behauptet.) Diese selbstreferentielle Ebene lässt sich beim Lesen ausblenden, aber damit verliert das Buch das Spielerische. Motto: „Wer Romans list, der list Lügen“
Ausgerechnet in diesem schönen Moment, in dem zur gesteigerten Friedlichkeit noch die Zuversicht kam, brach der Tumult auf dem Gang aus. (Ein barbarischer Krach.) Empörend! Eine Störung, die ihn zunächst nur ärgerte, nicht jedoch beunruhigte. (Der Herr Professor war nicht willens, dem Beachtung zu schenken.)
Aber ein solcher Lärm zu dieser Uhrzeit?
Er zog die ausgestreckten Beine heran, er richtete den Oberkörper auf, er sah auf seine Armbanduhr: 9 Uhr 36. Lange vor Vorlesungsbeginn. Bruno konnte es nicht länger vor sich verbergen: Dieser Tumult war so verschieden von aller Unruhe, die er in fünfzehnjähriger Dienstzeit kennenlernen mußte, daß er nun doch aufstand und schließlich, als das Geräusch – ein Gemisch aus erschreckten Ausrufen und trampelnden Schritten – zunehmend anschwoll, sich genötigt sah, die Lärmquelle ausfindig zu machen.
Als Bruno die Tür öffnete, schlug ihm der Krach mit zunehmend schrillen Beimischungen vehement entgegen – er glaubte ihn fast körperlich zu spüren -, und als er auf den Gang trat, lief mit voller Wucht die Institutssekretärin Laura Rudolph (1,72 m, 63 kg) in ihn hinein. Und diesen Aufprall spürte er wirklich körperlich.
Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, brüllte er (ja, erstaunlich, er brüllte) in den lärmenden Aufruhr hinein:
»Was zum Teufel ist hier los?«
Erst jetzt nahm er wahr, daß das Gesicht der Sekretärin Laura Rudolph leichenblaß (leichenblaß?) war, und er nahm zudem ihren verschreckten Blick wahr.
Viele redeten jetzt gleichzeitig auf ihn ein. (Viele?) Er schaute sich um und sah: Zwei Studenten, deren Gesichter er zwar kannte, deren Namen er jedoch nicht hätte nennen können (Helge Baumann und Miriam Mahenke), seine Hilfskraft Irene Nolte, die Doktorandin Johanna Schwarzenbach, den Bibliothekar Simon Menzel und die Institutssekretärin Laura Rudolph. Sie, die einzige, die nicht auf ihn einredete, hatte sich auf einen (irregulär!) auf dem Gang herumstehenden Stuhl sinken lassen und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Aus dem Gebrüll der anderen gipfelten einzelne Worte hervor.
»Tot.« »Klo.« »Leiche.«
Noch lange Zeit, wenn er an diese Szene zurückdachte, bildete sich als erstes diese Wortreihe: Tot. Klo. Leiche.
Ja, und dann gibt es eine weitere auktoriale Instanz, die Außerirdischen Ertzuj, Iopö, Jkln und Kurt, die den Menschen schlicht “anthropologisches Ungenügen“ attestieren:
Und, wo ihre veränderlichen Wissenschaftsbehauptungen jeweils nicht hinreichen, schaffen sie sich Bilder, denken sich alles Mögliche aus, um sich zu beruhigen. Sie beruhigen sich immer zu schnell. Sie erfinden zu ihrer Beruhigung einen bevölkerten Himmel und auch ein wenig Hölle, um sich Erklärungen herbeizuschaffen: Engel und Teufel, Götter und Dämonen. Das wimmelt nur so. Regional sehr unterschiedlich, aber immer diesem Bedürfnis entsprungen. Sie wollen sich sehen als Dirigierte. Sie wollen nicht im Freien stehen. Sie wollen seelisch nicht frieren. Lieber haben sie Angst vor den selbst erdachten Dirigenten. Die Angst jedoch treibt sie zurück in ihre Enge, in das, was sie kennen und für die einzig mögliche Wirklichkeit halten. Sie zirkeln: Die Verleugnung ihrer Endlichkeit, ohne die sie nicht sein könnten, versperrt ihnen das Denken über die Endlichkeit hinaus. Der Weg ist verstellt mit dem Gerümpel ihres schnell herbeigeholten Trostmobiliars.
Mehr als eine Mordgeschichte. Eine fingierte Geschichte mit einem Mord (einem Mord?)
2009 – 330 Seiten
Rezension von Friedmar Apel in der FAZ (buecher.de)
Portrait der Autorin von Jürgen Bräunlein