Nachrichten vom Höllenhund


Zeh
31. Juli 2021, 16:20
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Juli Zeh: Über Menschen

Dora. 36. Erfolgreich in der Werbebranche. Ihr Leben mit Robert in Berlin-Kreuzberg empfindet sie „als quasi perfekt. „Es gab nichts, was sie ändern wollte.“ „Alles ist gut, bis Dora eine „Mehrwegflasche in den Restmüll warf. Als es ihr auffiel, empfand sie ein seltsames Gefühl von Befreiung. Es fühlte sich so gut an, dass sie es wieder tat.“ Bis sich Robert als Gutmensch in Sachen Umweltrettung radikalisierte und dann vom „Klimaaktivisten zum Epidemiologen konvertierte“. „Man rief das Ende der guten alten Zeit aus. Nie wieder würde das Leben ein, wie es gewesen war. Virologen wurden zu Medienstars. Zeitungen fragten Prominente, wofür sie beteten. Das große Mitmachen wurde übermächtig. Als Robert sagte, dass das Virus in gewisser Weise auch ein Segen sei, weil es den Planeten von der Mobilität befreie, wusste Dora, dass sie gehen würde.“

Dora ist eine Frau, die die Verhältnisse reflektiert, ihre Wirkmacht durchschaut und dann auch Konsequenzen zieht. Das hat sie von ihrer Autorin Juli Zeh. Es geht um den „Kreislauf der Projekte, das Lebensrad des modernen Großstadtmenschen“.

Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt. Es gibt kein Ankommen. Streng genommen gibt es nicht mal ein Weiterkommen. Es gibt nur Kreisbahnen, auf denen sich alle bewegen, weil sie Angst vor dem Stillstand haben. Inzwischen hat fast jeder heimlich verstanden, dass das sinnlos ist. Auch wenn man ungern darüber spricht. Dora sieht es in den Augen ihrer Kollegen, im tief verunsicherten Blick. Nur Neueinsteiger glauben noch, man könne »es« schaffen. Dabei ist »es« unschaffbar, weil »es« die Gesamtheit aller denkbaren Projekte darstellt und weil in Wahrheit nicht das Eintreffen, sondern das Ausbleiben des nächsten Projekts die größte anzunehmende Katastrophe wäre. Die Schaffbarkeit von »es« ist die Grundlüge der modernen Lebens- und Arbeitswelt. Ein kollektiver Selbstbetrug, inzwischen lautlos zerplatzt.

Aber irgendwann kam Dora „nicht mehr mit, und die Idee vom Landhaus hat dem Nicht-mehr-Mitkommen ein Gehäuse gegeben. Das war letzten Herbst, und jetzt steht sie hier, inmitten ihrer Brackener Brache, und bekommt es mit der Angst zu tun. Der Kreislauf der Projekte könnte außer Kontrolle geraten. Der Anblick des Flurstücks macht das klar. Das Flurstück ist ihr nächstes verdammtes Projekt, und vielleicht ist es dieses Mal eine Nummer zu groß.“

Die Stadt entfernt sich immer weiter, gerät aus dem Blick, der Roman geht weg von der Karikatur der ‚Gutmenschen“ zu der Biederkeit der Dorfbewohner. Juli Zeh schildert akribisch Doras Tagesrhythmus im brandenburgischen Bracken (!) Körperarbeit.

Weitermachen. Nicht nachdenken.

  Dora rammt den Spaten in den Boden, zieht ihn wieder heraus, durchtrennt mit einem Hieb eine hartnäckige Wurzel und wendet das nächste Stück sandiger Erde. Dann wirft sie ihr Werkzeug beiseite und presst die Hände ins Kreuz. Rückenschmerzen. Mit — sie muss kurz rechnen — 36 Jahre. Seit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss sie immer nachrechnen, wenn es um ihr Alter geht.

  Nicht nachdenken. Weitermachen. Der schmale Streifen umgegrabener Erde taugt noch lange nicht zum Erfolgserlebnis. Wenn sie sich umsieht, wird das Gefühl existenzieller Chancenlosigkeit übermächtig. Das Grundstück ist viel zu groß. Es sieht nicht aus wie etwas, das »Garten« heißen könnte. Ein Garten ist ein Stück Rasen, auf dem ein Würfelhaus steht. Wie in dem Münsteraner Vorort, in dem Dora aufgewachsen ist. Oder vielleicht auch eine Miniaturblumenwiese auf einer Baumscheibe in Berlin-Kreuzberg, wo Dora zuletzt gewohnt hat. Der „Clash of Civilizations … zwischen Berlin und Bracken“.

Bracken heißt auch: Natur. Aber Dora hat nicht die die Selbstverständlichkeit erworben, in ihr und mit ihr zu leben. Es geht nichts ohne die Kontrolle der Gedanken. Das „Nicht nachdenken. Weitermachen.“ ist – hilflos verzweifelter – Teil der Selbstkontrolle.

Um sie herum tut der Frühling, was er muss. Zwingt jeden biologischen Organismus zu Wachstum und Fülle. Peitscht das Leben zu Höchstleistungen, nötigt alle Beteiligten zur Reproduktion. Nichts wird beurteilt, alles wird benutzt. Was stirbt, lässt sich verwerten. Verschwindet eine Art, füllt eine neue die Lücke. Tod und Geburt sind keine Dramen, sondern Scharniere der Lebensmechanik. Menschliche Aufregung spielt keine Rolle. Niemandem kann es gleichgültiger sein als einer Tannenmeise, ob die Menschheit zugrunde geht oder nicht. Außer den Virenstämmen braucht uns keiner, denkt Dora. Weil das ein trauriger Gedanke ist, verdrängt sie ihn wieder.   

In Bracken leben nicht viele Menschen. Juli Zeh hat sie weiter reduziert auf die unmittelbare Nachbarschaft zu Doras „Flurstück“. Der erste Nachbar haust direkt hinter der Gartenmauer, ein nicht nur körperlich verwahrloster Hüne, er stellt sich derb  vor als „ich bin hier der Dorf-Nazi“. Er hat eine verschwommene Jugend als Rostock-Rüpel, war der Messerstecherei angeklagt, säuft einmal abends mit zwei Kumpels unter Absingen von Nazi-Liedgut. Aber er hat sich zurückgezogen, isoliert hinter der Mauer. Nur kurz flammt die Auseinandersetzung auf, auch über die AfD, das Buch ist auf der Höhe der Zeit. doch dann wird Gote (von Gottfried!) für Dora zum Menschen. „Aber so einer ist Gote doch nicht. Er ist einer, der Betten und Stühle verschenkt.“ Der Roman verliert seine politische Brisanz und wird zum Heimatroman, zum Buch „Über Menschen“, Nazi hin oder her. Aus dem Zeitroman wird die Gartenzaun-Romanze. Die Dorfbewohner bilden eine erwartungslose Gemeinschaft, anstatt wie die Großstädter über die besten Espressomaschinen zu streiten (Julis Karikatur-Challenge mit Sahra!), bringt Zadie Saatkartoffeln, statt sich an nachhaltige Speiseregeln zu halten, sabbert Dora über die „Fleischlappen“ (Distanz!), die Gote grillt: „Die Steaks sind phantastisch, besser als alles, was Dora in letzter Zeit gekocht hat, wahrscheinlich sogar besser als das meiste, was man in Berliner Restaurants   bekommt.“

»Schon komisch,  oder?«   »Was?«, fragt Dora.    »Wir«, sagt Gote.

Vor dem Schlafengehen geht Dora ein letztes Mal zur Mauer und pfeift. Dann kommt Gote, steigt auf die Obstkiste, und sie rauchen gemeinsam, wobei sie schweigen.

Vervollkommnet wird das Glück durch Franzi, die kleine Tochter, die ihre Mutter bei Gote abgegeben hat und der er nur ein unterfürsorglicher Vater ist, und die Freundschaft geschlossen hat mit Jochen, der beigen kleinen Hündin von Dora. Unermüdlich balgen die beiden durch Haus, Garten und Wald. Gote stirbt. Er hat eine Wolfsfigurengruppe geschnitzt und dazu eine kleine Holz-Jochen.

Das ist doch genau das, was du wolltest. Du wolltest alles loswerden. Familie. Beziehungen. Verantwortung.  Nähe. Den ganzen Nervkram. Berlin.  Robert. Die Agentur. Corona. Axel und die Anekdoten aus dem Heldenleben eines Familienvaters. Freunde, Bekannte. Die Überfüllung, das Geplapper, die Bildschirme, die Geschwindigkeit und Aufgeregtheit. Den Alarmismus der Medien. Die Arroganz der Metropole. Parks mit Leinenzwang. CarSharing, Fahrrad-Sharing und Roller-Sharing. Kribbelnde Bläschen und Schlaflosigkeit. Den ganzen Scheiß. Du wolltest auch keinen Nazi hinter der Mauer und keine nervige Pflegetochter. Du wolltest das Nichts. Das hast du jetzt. Freu dich doch.

Das ist es also, was bleibt. Das ist das Ergebnis der großen Befreiung: ein trauriger kleiner Hund.

Jochen liegt auch auf dem Cover, Symbol für Treue. Für Menschlichkeit. Sie liegt mitten auf der Straße, in Brandenburg ist das gefahrlos. Die Ohren sind dreieckig wie Gotes Schnitzsignatur. Sie guckt in die Ferne, der Sonne entgegen – oder dem „Regen“, so heißt das letzte Kapitel.

Juli Zeh arbeitet präzise. Sie lässt Dora denken (später auch nachdenken), zweifeln, widersprechen, sie streut Natur ein, später auch Träume. Nicht zuletzt auch Humor: „Unabgeschlossen an einem Bahnhof zu stehen und nicht gestohlen zu werden, muss für ein Fahrrad ziemlich hart sein.“ Gefühle will Dora unter Kontrolle behalten. „Doras Nacken beginnt zu kribbeln. Das sind keine aufsteigenden Bläschen, das ist echte Angst.“ Ein durchkomponierter und -kontrollierter Roman, der geplant aus dem Ruder läuft. Ein Roman über Lifestyle, über Corona, über Neonazis, ein Roman ÜBER LIEBE.

Zwischendurch hat Dora viel nachgedacht. Zum Beispiel über Liebe. Sie hat immer geglaubt, dass das, was Filme und Romane   »Liebe« nennen, in Wahrheit nicht existiert. O der jedenfalls nicht in der beschriebenen Form. Für sie gab es das nicht: Menschen, die sich begegnen und sofort wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Die für immer zusammenbleiben.

2021 – 410 Seiten

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Lesefreundliche Darstellung



Caminito
18. Februar 2021, 16:54
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Giulia Caminito:
Ein Tag wird kommen

Nicola und Lupo. Brüder – vielleicht. Die Familienverhältnisse in Serra de’ Conti sind nicht so, dass man die Stammbäume zuverlässig zeichnen könnte. Die Not ist groß im Dorf im Hinterland der Marken, die Mutter ist fast blind, der Vater ein Tunichtgut, die Kinder sterben früh, die Bäckerei der Ceresa arbeitet am Rande der Existenz. Der Pfarrer ist nicht nur fürs Heil der Seele da, Nella, die Schwester, wird ins Kloster gesteckt – und das gewiss nicht wegen ihrer Frömmigkeit.

Nicola ist der Schwache, er lernt lieber lesen als arbeiten, fürs Leben taugt er kaum, er zieht sich in sich zurück. Lupo, der Name gebietet es, ist der Kämpfer. Serra de’ Conti ist ihm zu eng, seine Wut führt ihn zu den Anarchisten, er will die Macht der Herren, des Staates, der Kirche wegbomben, er will ein rechtes Leben für alle. Nicola und Lupo, so unterschiedlich sie in allem sind, so sehr klammern sie sich aneinander, sie schlafen in einem Bett. Unter dem Bett liegt Cane, der kleine Wolf, den Lupo aufgelesen und an sich gebunden hat.

Um vier Uhr morgens kamen sie in ein verlassenes Dorf, nach drei Stunden Fußmarsch, die Nicola wie Tage erschienen waren, noch nie in seinem Leben hatte er sich so verausgabt, doch wenn er angefangen hätte zu weinen, wenn er angefan­gen hätte zu schreien, hätten sie ihn mit Fußtritten an die Front befördert, so hatte man ihm gesagt, entweder er spurte oder er war tot. (…)Ihr seid hier für Italien, hieß es immer wieder, ihr seid hier für Kalabrien und Sizilien, Ligurien und die Basilicata, Ancona und Rom, ihr seid hier für Männer und Frauen, ihr seid hier für die Kinder, die Neugeborenen, für die, die erst noch kommen, für die Straßen, die Kirchen, Paläste und Felder, ihr seid hier für das Land, ihr seid hier für den König. (…) Nicola war vorher noch nicht einmal in Senigallia gewesen.

Der Krieg reicht bis in die Marken. Die Österreicher fliegen Angriffe, Lupo muss sich verstecken, Nicola aber wird eingezogen, der sanfte Nicola. Wie alle leidet er, wie alle gerät er ans Ende seiner geringen Kräfte. Man hatte ihnen gesagt, dass der Feind, wenn es ihnen nicht gelänge, ihn zurückzuschlagen, in die Ebene und die Täler hin­untersteigen und schließlich in ihre Dörfer gelangen würde, er würde in ihre Häuser eindringen, jeder einzelne Österreicher und jeder Deutsche würden in ihren Betten schlafen.

Alle Körper werden bestattet, sagte der Kaplan immer, alle Körper, auch die zerfetzten, denn jedes Körperteil muss gesegnet werden.
Nicola ging näher hin, er roch den Gestank von Verbranntem und schmeckte die Säure des Gebräus, das er im Magen hatte und das ihm bis zur Zunge herauf aufstieß, von den beiden waren drei Arme geblieben, ein Fuß, ein halbes Gesicht, verstreute Knochen, vor allem aber Blut und alles, was aus dem Körper nie hätte austreten dürfen, das, was ihre Mütter in neun langen Monaten in Leber, Lunge und Darm verwandelt hatten und was der Krieg jetzt über Steine und Sträucher verstreut hatte.

Nicola überlebt, kehrt vom Heimaturlaub nicht zurück an die Front, schlägt sich zu Fuß durch in sein Heimatdorf. Lupo ist nicht mehr da, die Dorfbewohner werden von der Spanischen Gripe dahingerafft. Zur sozialen Not kommt die politische, der Krieg, und dann die Pandemie. „Der Krieg ging zu Ende, aber, wie die Priester sagten: Gott war noch nicht fertig mit ihnen.”

Das Kloster bietet ein gottverschriebenes Refugium. Für Suor Clara, die dunkelhäutige Äbtissin, die aus Äthiopien in den Norden geflohen ist, für Schwester Nella, für die Dorfbewohner, denen, wenn überhaupt, nur Gott geblieben ist. Das Kloster ist, wie der Name sagt, aber auch Klause, man kommt nicht mehr heraus, auch das Verhältnis zu den Dorfbewohnern ist ambivalent. Ein archaischer Ort, ein Relikt in einer Welt, die sich am modernen Nationalismus übt und dabei im Krieg versinkt. Nella hat keine Zukunft, Nicola überlebt und weiß nicht, wozu, Lupo will seine Anarchie in Amerika weiterentwickeln und landet im Treibsand der kapitalistischen Demokratie.

Ein Land ohne König, ohne Monarchie, ohne Tyrannen, ohne Papst und mit tausend Göttern, es war riesig, es enthielt alle und alles, es konnte dich verschlingen, aber auch deine Wunden lecken, so viele schon waren aufgebrochen, und so viele brachen noch immer auf mit der Vorstellung, den Lauf ihres Lebens zu ändern, den Krankheiten zu entfliehen, den Toten, den verfallenen Häusern, den müden alten Dörfchen, die an den italienischen Berghängen klebten und das Andenken an längst begrabene Mütter bewahrten.
Die Spanische Grippe forderte weiterhin Tote, der Krieg hatte nur Luft geholt, der Faschismus würde kommen, das Große Amerika würde Unschuldige auf den elektrischen Stuhl schicken, die Anarchie würde sich verstecken müssen, schuldig, verleugnet, verpönt und erinnert nur durch Bomben und Attentate, der Glaube würde zusammenbrechen, leer, falsch, elend, denkbar nur als Zepter, Krone und Inszenierung.
Die Halbpacht dagegen würde noch lange fortbestehen, und die Felder und die Weinberge, die Nussbaumhaine und die Eicheln und das Mehl würden in den Marken noch lange herrschen.
Denn, wie man weiß: Die Erde bleibt, während die Menschen fortgehen.


Giulia Caminito kokettiert im Nachwort mit derFiktionalität, die Nähe nicht ausschließt.
Trotz gründlicher Recherchen, der Sichtung von Dokumenten, der Besuche vor Ort, gibt es in diesem Roman nicht nur einige Wahr­heiten, sondern auch viele Lügen.

Ich möchte die Leserinnen und Leser also dazu ermuntern, nicht alles zu glauben und von diesen Seiten keine verlässliche historische Zeugenschaft zu erwarten, sie haben andere Wurzeln, auch meine, durch die ich versuche, mich selbst kennenzulernen und zu wachsen; denn im Grunde bin ich Nicola Ceresa, derjenige, der Angst hat und im Kopf nicht ganz richtig ist, dem die Hände zittern und der auf Lupos schaukelnden Nacken blickt, während er die Dorfstraße hin­untergeht.

Die Erzählung beschwört die Archaik des ländlichen Italien Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie lädt ihren Roman mit gewichtigen Worten und einer ruralen  Metaphorik auf. “Das Bett war zu schmal und zu kurz geworden, Laken und Decken reichten nie aus, und um es beim Schlafen warm zu haben, mussten sie beide eng aneinandergeschmiegt schlafen wie die zwei perfekt zusammenpassenden Hälften eines nie gepflückten Apfels.

Lupo fühlte, wie sein Körper größer wurde und sich streckte, anders wurde, als er immer gewesen war, und für ihn ungewohnte Dinge tat, er ächzte wie ein mit Wasser vollgelaufenes Boot, bereit zu kentern, die Planken zu sprengen. (…) Lupos Schultern waren Gebirge geworden, der Körper hatte sich zu den Wolken gestreckt, die Arme waren mächtiger, beim Gehen riss er mit Gewalt das hohe Gras an den Wegrändern aus, und Nicola hatte Angst, er könne sich verletzen, könne anfangen zu bluten wegen all des Grolls, den er im Lauf der Jahre still eingesteckt hatte, wie man es mit reifem Weizen tut.“

Die Abschnitte bestehen aus einem Satz, kein Punkt hält den Lesefluss an, wenig Zeit, um Atem zu holen, der Leser wird hineingezogen in den Strudel der Geschichte.

Wüstes Gestrüpp umzingelt die Stadt,
auf Stufen voller Blut verfolgt der Mond
entsetzte Frauen. Heulend sind durch
das Tor die Wölfe hereingekommen

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Istituto Italiano di Cultura Berlino :
Incontro con l’autrice Giulia Caminito – Lesung (deutsch) und Gespräch (italienisch/deutsch)

2019 – 265 Seiten

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Adler
25. Dezember 2020, 16:34
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Helena Adler:
Die Infantin trägt den Scheitel links

Home Sweet Home“ (Kapitel 1). Die Hölle. Die Barbaren. „Meine Hände sind klein, babyweich wie Pfoten. Ich blicke in die Runde der Bestien. Der Vater ein Grizz­ly, die Mutter ein Greifvogel mit Frauenkopf und die Schwestern, o Gott, die Schwestern! Zum Nachtisch riecht es milchig süß und leicht nach Verderben. Ein verstörender Geruch nach Frischgeborenem und Er­würgtem.

Helena Adler holt sich Inspirationen aus dem 16. Jahrhundert: “Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun ani­mieren Sie es.” Das österreichische Dorf kann man im Renaissance-Panoptikum wiederfinden, “Kinderspiele”, eingefroren im Inferno des Zuhauses.

Die Mutter, der Vater, die etwas älteren Zwillingsschwestern. “Krallen, Klauen, Hackebeil.” “  “Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit«, sagen sie feierlich, und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich an Gott glaubte. “Im Dorf nennt man mich Satansbrut. Oder Satansbraut. Beides verstehe ich nicht.” Un dann fällt die Kerze um, das Stroh beginnt zu lodern. „Ich bemerke nicht, wie die Kerze umfällt. Das Stroh zu lodern beginnt. “Die Holzwände zu knistern. Ich suhle mich im Dreck meiner selbst diagnostizierten Sozialverwaisung, während neben mir der Stall abbrennt und mein Kinderreich rodet.”

Die Familie bietet Schutz vor Ungemach und ist deshalb ein bitter umkämpfter Platz. Das jüngste Kind ist der besonderen Obhut ausgesetzt und kann nur überleben, kann nur ein ICH werden, wenn es lernt und übt, Widerstand zu leisten. Für Mädchen gilt das doppelt. Das Dorf ist eine Gemein-Schaft und bietet Schutz vor Fremden und solchen, die nicht so sind, wie das Dorf-WIR. Man darf der Gemeinschaft aller gegen alle nicht  abhanden kommen, beschützt werden kann nur, wer beobachtet wird – und beobachtet wird jeder. Und jede erst recht. Beobachtung heißt Kontrolle, nur dabei steht das Dorf zusammen. Der “Irrgarten der Gnadenlosigkeit”. Jeder Dorfroman lässt das ahnen, verkauft sich aber in seiner “charmant idyllisierenden oder mild elegischen Ausprägung“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ) als Idylle. Die Zeit vergeht nur als Jahreszeit, die Festtage planieren alles. Sogar der Pfarrer wird erträglich ertragen.

Helena Adler preist ihre “Abscheu vor dem Dickflüssigen”. Sie macht die Verhältnisse transparent. Ein knallharter Reality-Roman, mit Lust am Dreckigen, an Infamem, der “Nachgeburt”. »Die Nachgeburt ist etwas ganz Natürli­ches, der Rest von der Geburt, so wie beim Kuchenes­sen die Brösel. Oder vom Apfel das Gehäuse. Nicht gif­tig, aber ungenießbar. Das mit dem Teufel ist wieder eine andere Sache.« Das nachgeborene Mädchen härtet sich ab, kämpft sich durch, wird cool. “Ich zeige ihnen beide Mittelfinger und wachse einen Meter.”

Ich möchte einmal Kunst studieren. Ich möchte auf einer Body Farm nackt Verwesungs­prozesse dokumentieren. Ich möchte ein Stück von meinem Bauchfett kosten. Ich möchte mit Rilke, John Steinbeck und Samuel Beckett vögeln. Nein, ich will von ihnen gevögelt werden. Ich will meinen Schwes­tern einen Testflug ins Weltall spendieren. Ohne Rückfahrticket. Ich will die Schwestern zur Ernte am Watschenbaum zwingen. Ich möchte meinen Namen auf Infantin ändern. Und den der Schwestern auf Wol­pertinger. Ich möchte unseren Stammbaum fällen, die einzelnen Äste mit der Axt zerteilen und mit fremden Ästen veredeln. (aus Kapitel 13: Die Freiheit führt das Volk)

Die Flucht gelingt, die Erinnerung bleibt. Sie bleibt böse, aber der Abstand relativiert manches. “Ich lege meine Waffen nieder. Dann trinke ich Glet­schermilch zum Frühstück und stille mein Kind. Da­bei bemerke ich, wie ich selbst zu einer Wundergläu­bigen geworden bin. Und zu einer Mutter. Wie meine Mutter.

Die Zutaten sind die gleichen, wie sich auch die Dörfer gleichen. Helena Adler würzt deftiger, haut auf die Realitäten, findet schön brutale Bilder, Vergleiche, Anspielungen, aus dem Fernsehen, aus den Märchen, aus Sagen, “Überzeichnung, Übertreibung und die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees sind Adlers liebste Stilmittel“ (Kristina Maidt-Zinke). Das hebt ihren “Dorfroman” von anderen ab, das hat sie auf die Listen des deutschen und österreichischen Buchpreises gehoben. Sie hat einen neuen Namen angenommen, lebt aber nicht weit entfernt von ihrem Geburtsort. Was authentisch ist an ihrer rustikalenVivisektion ist nebensächlich, man freut sich an ihrer auch sprachlichen Phantasie. Die Anklage ist eher existenziell als sozial oder politisch. Die Kapitel tragen die Namen bekannter Kunstwerke, meist Gemälde, manchmal auch Installationen (Beuys, Zeige deine Wunde). Dank einer Liste im Anhang sind sie leicht nachzuschauen.

»Gussi, Gussi, Hola, Hola«, hast du geschrien, wenn du die Kühe in den Stall getrieben hast, und ich habe es dir nachgemacht. Du hast nur den Vater verdro­schen, nicht aber die Kühe. Und der Vater hat dann die Kühe verdroschen, nicht aber uns. »Wen soll man auch verdreschen, wenn man lauter Mädchen hat«, fragte der Vater im Wirtshaus in die Runde und wurde von allen anderen Säufern bedauert. Mädchen durften nur von Müttern verdroschen werden. Die Mutter hat sich beklagt, während sie die Ärmel hochgekrempelt hat, »aber einer muss es ja machen, Himmel, Arsch und Zwirn!« Denn irgendwer muss auf einem Bauernhof immer verdroschen werden. Irgendwer muss sein Ge­sicht und seinen Arsch hinhalten. Und irgendwer muss Stock und Gürtel in die Hand nehmen und zu­schlagen. bis sich der Orkus öffnet.

2020 – 185 Seiten

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Helfer
1. September 2020, 17:33
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Monika Helfer: Die Bagage

Monika Helfers Ich-Erzählerin hat so ein schönes Gesicht, dass es keines weiteren Schmuckes bedarf: »Binde die Haare zusammen, bei dir braucht’s nicht auch noch eine Frisur!« Wo hat die Schönheit ihren Ursprung? Viel mehr, als dass ihre Großmutter Maria auch als gefährlich schön galt, weiß sie nicht. , “Für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr. Wenn sie so dachte, dann wusste sie, warum. Im hinthintersten Tal war es nicht günstig für eine Frau, schön zu sein. Das meinte sie. Über die Schönheit meiner Großmutter wurde hinten im Tal noch bis über ihren Tod hinaus gesprochen.” Tante Kathe hat nicht viel erzählt, wird aber im hohen Alter etwas mitteilsamer. Die Erzählerin, die der Autorin sehr nahe steht, erweitert ihre “Nachforschungen” zum Roman.

Maria und ihr Mann Josef leben abseits des Dorfes am Ende des Tales in nötigen Verhältnissen. Als 1914 der Krieg „ausbricht“ und Josef eingezogen wird, nimmt er dem Bürgermeister das Versprechen ab, gut auf die Maria aufzupassen. Der Bürgermeister ist ein Mann von Amt, aber eben auch ein Mann. “ ‚Bürgermeister‚, sagte sie, ‚ist es fein so nah an mir dran?‘ ‚Tschuldigung‘, sagte er und rückte weg.“ Und dann gibt es noch Georg, einen Hannoveraner, der Maria Aufwartungen macht. Er soll sogar am Morgen aus Marias Haus gekommen sein. Das Dorf hat viele Augen und die “Bagage” war nicht nur räumlich Außenseiter. Und dann ist Maria schwanger und der Pfarrer glotzt auf ihren Bauch.

Irgendwann stand der Pfarrer vor dem Haus von Maria und Josef hinten im hintersten Tal, genauso unangemeldet wie der Fremde, der Georg hieß. Aber der Pfarrer war nicht freundlich, wie der Frem­de freundlich war. Der Fremde war nämlich freundlich. So freundlich war er zu Maria, wie noch nie jemand freundlich zu ihr gewesen war. Nicht einmal Josef. Der konnte zärtlich sein. Wenn es dunkel war, sogar sehr zärtlich. Er war hilfsbe­reit und alles Mögliche noch. Aber freundlich war der Josef nicht. Das war einfach nicht sein Charakter. Der Fremde war freundlich, sodass kein Unterschied war zwischen Mann und Frau. Der Pfarrer aber sagte nur, grüßte nicht, sagte nur:
»Dreh dein Gesicht in die Sonne!«
Und das tat Maria. Fragte aber doch: »Und warum soll ich?«
»An diesem Gesicht kann man alles abschauen«, sagte der Pfarrer.»Was denn zum Beispiel?«, fragte sie.
»Wie lang ist dein Mann jetzt schon weg?«, fragte der Pfar­rer dagegen, aber es klang wie ein Befehl. »So lange der Krieg ist«, sagte Maria. »Und der Bauch?«
»Welcher Bauch?«
»Dein Bauch, du Luder! Wie lange schon gibt es diesen Bauch?«

Der Pfarrer muss sich mit Maria und der Parthenogenese ja auskennen. Josef kehrt erst 1918 wieder zurück und da ist ein neues Kind, Maria sagt, es heiße Margarete, werde Grete genannt. Josef war nie ein Mann der Worte und der Krieg hat ihn noch einschichtiger  gemacht. Zu Grete sagt er nie etwas, schaut sie nicht einmal an, was ihn aber nicht davon abhält, der Mutter Maria weiteren Nachwuchs anzudrehen.

Grete ist die Mutter der Erzählerin. Viel mehr erfahre ich nicht über sie. Sie warnt ihre Tochter: “»Pass auf, dass du nicht wirst wie deine Großmutter!« Inzwischen glau­be ich, meine Mutter hat das nicht als eine Drohung gemeint. Sie hat gemeint, ich soll Obacht geben, für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr.” Die Gefahr, das ist die “Lust”. Bei Georg “war es allein nur die Lust.”

Maria zitterte vor Aufregung, und als sich Georg am Nachmittag »endgültig verabschiedete«, sie lehnte mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür, und er war ganz nah bei ihr, gürtelaufwärts berührten sie einander, biss sie ihm in die Hand. Katharina hat es gesehen, sie drückte gerade von innen die Tür auf. Georg fuhr mit der verletzten Hand zum Mund. Ein kurzer Fluch. Dann küsste er Maria. Und sie ließ es. Starr und still und glücklich. Und er konnte nicht damit aufhören. Katharina schaute ihnen zu.
Hätte ich meine Tante Kathe ausgefragt, niemals würde sie etwas erzählt haben. Aber eines Tages, da war sie schon über neunzig, erzählte sie mir. Von sich aus. Mit einem Gesichts­ausdruck, als wollte sie auch das noch loswerden, bevor es mitgenommen und nie erzählt würde. Von dem großen Kuss erzählte sie. Und von dem Blut, das dem Mann in den Ärmel rann, als er das Gesicht ihrer Mutter zwischen seinen Händen hielt.

Monika und ihre Oma. Die Nähe ist da und wird gesucht. Ist die Enkelin nicht doch wie die Großmutter geworden? Nicht nur so schön, sondern auch so widerständig. “Einmal sagte sie im Beichtstuhl zur Silhouette des Pfarrers hinter dem Gitter: »Ich bin, was ich bin.« Und der Pfarrer hatte geantwortet: »Pass bloß auf dich auf!« (…) Seither hatte Maria nicht mehr gebeichtet.” Davon kann man zehren und erzählen. «Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu?« Monika Helfer stellt sich nicht in den Mittelpunkt, erzählt unprätentiös, beobachtend, zuhörend, in der Sprache der einfachen Leute. Die anderen Kinder, Onkel und Tanten der Erzählerin, sind ziemlich unterschiedlich, in Charakter, Eigenheiten, Lebensläufen. Das ist ein zweites Thema des “Romans”, aber das ist ja selbstverständlich, der Erwähnung nur wert, wenn es ihr Verhalten zur Großmutter angeht. Wichtig ist immer der private, persönliche Bezug, das spekulative Tasten in der eigenen Biographie, das Suchen in der Erinnerung. Das Springen zwischen den Zeiten. Dabei stellt sich Helfer nicht der Herkunft entgegen, forscht nicht in der sozialen Herkunft und Entwicklung wie etwa Annie Ernaux. “Die Bagage” ist nicht politisch, aber auch kein romantischer Dorfroman, dafür ist die Dorfwelt zu archaisch.

2020 – 160 Seiten


Monika Helfer liest aus „Die Bagage“ bei zehnseiten.de
(20 Minuten)



Barta
19. Juni 2020, 18:50
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Dominik Barta: Vom Land

bartavomland„Ich schreibe, seit ich ein Kind bin oder zumindest ein Schüler.“ Das ist löblich für einen Zwölfjährigen, doch leider hat sich Dominik Barta in seinem Schreibvermögen nicht merklich weiterentwickelt. Holzschnittartig im Stil und weitgehend hechelnd parataktisch bis zur Monotonie im Satzbau baut Barta seine Bilder, unter den Wörtern findet selbst die Texterkennung kaum ein unbekanntes – was sonst selten vorkommt.

An den Bäumen hingen dicke Tropfen. Auf dem Vorplatz neben den Garagen standen Lachen. Die Wiese vor dem Haus funkelte in der Dunkelheit. Theresa atmete tief ein. Wasser schoss ihr in die Augen. Die Feuchtigkeit der Luft reizte ihre Nasenflügel. Der Geruch nasser Erde weckte Erinnerungen. Sie bog um die Ecke und ging zum Teich. Die glatte Oberflä­che spiegelte den unruhigen Himmel. Theresa wollte über das ganze Tal sehen und stieg den Hügel hinauf. Die Holzpat­schen sanken im weichen Boden ein. Der Morast heftete sich schwer an die Sohlen. Auf der Anhöhe setzte sie sich auf das Bänkchen und sog die Luft ein. Die Nacht war nicht kalt. Nur Feuchtigkeit streifte ihre Wangen. Vom Wiedererwachen ih­rer Sinne überwältigt, begann Theresa zu weinen. Sie ließ den Tränen freien Lauf.

An den Feldrainen gedieh roter Klatschmohn.” Natur und Emotionen, „Barta skizziert dieses Soziotop in so groben Zügen, dass man nicht sagen kann, ob die Erzählung mit Fleiß oder versehentlich ungelenk geraten ist.“ (Marie Schmidt, SZ) Mit Fleiß? So nehmen die Dorfbewohner die Natur wahr, erleben wäre hier der falsche Ausdruck, so karg, so ungeübt wie die sprachlichen Mittel sind auch die Gefühle. Und wenn die Gefühle dennoch übermächtig werden, wird man krank. So wie Theresa. „Dass Theresa Weichselbaum sich im sechzigsten Lebensjahr erschossen hatte, während ihr Gatte mit einem Araber aufs Feld hinausgefahren war – diese Koinzidenz schrie danach, interpretiert zu werden.” Das ist kein Satz aus dem Gerede des Dorfes, das ist die Analyse des in die Stadt Geflohenen. Barta mischt die Erzählstimmen, dass nur nach und nach und bis zum Schluss nicht ganz klar wird, wer gerade erzählt oder spricht. Der Außenstehende sieht immer klarer, hat auch die Kategorien der Beschreibung bereit. Manchmal wird da Du direkt an den Hörer oder Leser gerichtet.

Wie in allen Dörfern, regierte in erster Linie die Angst vor den Nachbarn. Was würden die Nachbarn denken? Was würden sie sagen? Ich bewunderte sie. Theresa schien gewappnet.(…)
Für uns Araber ist jeder Onkel, jede Tante, jeder Cousin, jede Cousine sehr wichtig, auch wenn es manchmal schwierig ist, mit allen auszukommen! Aber wo wären wir ohne Familie?«
Daniel wollte, dass Toti keine Schuld empfand. Er war sich seiner Sache sicher: »Aber bei uns ist es umgekehrt. Aus der Familie kommen alle Probleme und nur aus der Familie.«

Das sind gültige Sätze, für früher wie, und das betont Barta, auch für heute. In diesen Strukturen gärt das Dorfleben vor sich hin, man kommt ihm nicht aus. Wer’s nicht aushält oder den Normativen nicht genügt, muss weg, in die Stadt oder er oder sie muss zumindest eine Auszeit nehmen, kurz fliehen. Da der Roman 2020 erschien, hat Barta auch die Katalysatoren, die die latenten Verwerfungen zum Ausbruch bringen: die Flüchtlinge. Auch das Dorf zeigt seine Risse.

Der Pater Heinrich gehört einge­sperrt. Was der sich an dem einen Wochenende geleistet hat, das hält man nicht für möglich. Die Kirche verhöhnt ihre ei­gene Heimat. Hat sich dieser Idiot jemals überlegt, was er uns schuldig ist? Vor vier Jahren hat meine Bank die komplette Renovierung des Deckenfreskos in der Basilika übernom­men. Dabei schwimmt der Orden im Geld, das weiß jeder. Als Dank setzt er uns zwanzig Islamisten nach St. Marien?
(…) Verstehst du nicht? Diese Halbaffen kämpfen nicht. Sie ar­beiten nichts. Sie behandeln ihre Frauen wie Dreck. Bei je­dem Furz fuchteln sie mit dem Koran. Sie handeln mit Dro­gen. Sie stechen Autoreifen auf. Sie beschmieren Wände. Aber nein! Bestraft werden wir! Man selbst wird zur Sau ge­macht, weil man sich die Einhaltung der Gesetze erbittet. Diese Null von einem Inspektor hat mich beschimpft! Die Welt ist verrückt geworden. Anders lässt sich das nicht aus­drücken. (…) Max fügt sich eben nicht in deine romantisch-literarische Welt. Ihr redet immer von Toleranz. Aber einem liberalen Pielitzer, der Unmengen an Steuern zahlt und nichts anderes möchte als seine Ruhe – dem bringt ihr wenig Verständnis entgegen. Max sehnt sich nach Ruhe. Er ist der friedliebendste Typ, den ich kenne. Das ist die Wahrheit. Du müsstest sehen, wie liebevoll er mit dem Hund umspringt. Sein Rex und er – das ist wirklich ein Bild für Göt­ter!

Barta hat aber auch das Gegenbild: Daniel, der 16-jährige Enkel der Theresa nimmt sich den gleichaltrigen Syrer Toti zum Freund. Mit ihm baut er sich ein Refugium auf den Bäumen im Wald, Daniels Großvater Erwin schließt Toti ins Herz, weil er ihm eine zuverlässige Hilfe auf dem Hof wird. Flüchtlinge, Fremdenfeindlichkeit, Sprachlosigkeit, rechter Zusammenhalt, Dominik Barta schüttet das alles in seinen österreichischen Dorftopf, ohne groß umzurühren, ohne erkennbar zu ordnen. Dennoch gibt die Mischung einen doppelten Showdown: Staatsmacht contra Persönlichkeitsrecht, Individuum gegen patriarchale Dorfgemeinschaft. Hier stört auch das Satzstakkato kaum mehr, hier passt der Hauptsatzstil. Dennoch wirkt dieser Dorfroman bekannt, seine Zutaten sind geläufig und werden in den letzten Jahren gerne verwendet. Dominik Barta pointiert nicht präziser, hat keine neuen Muster, meidet nicht das Klischee.

“Dieser Text durchbricht die Kälte unserer Zeit und legt offen, was wir in unserem Innersten sind: vom Leben, in das wir ungefragt geworfen wurden, zutiefst versehrte Wesen.“ Katja Gasser vom ORF verfällt der Jugendlichkeit des Autors. „Wenn das Zwischenmenschliche politisch wird – Dominik Barta legt ein beeindruckendes Debüt vor.“ meint Imogena Doderer in der 3sat-Kulturzeit. Viele Kritiker sind euphorisiert und verbauen damit dem bei seinem Debüt doch schon 38-jährigem Barta den Weg zur Verfeinerung.

„Theresa rang nach Luft. Es ging nicht mehr.“

2020              265 Seiten

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Scheuer
11. Februar 2020, 16:00
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Norbert Scheuer: Winterbienen

scheuerwinterbienen„Januar 1944: Egidius Arimond, ein frühzeitig aus dem Schuldienst entlassener Latein- und Geschichtslehrer, schwebt wegen seiner Frauengeschichten, seiner Epilepsie, aber vor allem wegen seiner waghalsigen Versuche, Juden in präparierten Bienenstöcken ins besetzte Belgien zu retten, in höchster Gefahr. Gleichzeitig kreisen über der Eifel britische und amerikanische Bomber. Arimonds Situation wird nahezu ausweglos, als er keine Medikamente mehr bekommt, er ein Verhältnis mit der Frau des Kreisleiters beginnt und schließlich bei der Gestapo denunziert wird.“

Der Klappentext fasst zusammen, was im Roman von Belang ist. Egidius Arimond hat alles in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen festgehalten, Norbert Scheuer musste die Blätter nur noch finden und transkribieren. „Am Tisch holte er aus einer Aktentasche ein loses Bündel Hefte, auf denen sich Bleistiftzeichnungen befanden, die er, wie er mir versicherte, beim Aufräumen seiner Scheune in einem alten Bienenstock gefunden habe. Die Dokumente erzählten, so sagte er, von einem Mann, dem er viel zu verdanken habe.“ Ein kluges Konstrukt.

Die Tageseinträge ähneln sich. Wetter, Umgebung, die blühenden Blumen, die Bienen, die Befindlichkeiten, das Tagwerk. Die Schwerpunkte variieren, was sich verändert, ist die Situation des Krieges an der „Westfront“ im Winter 1944/45. Zunehmende Zerstörung durch alliierte Bombardemants führen zu zunehmender Verstörung der Personen und ihres sozialen Gefüges. Fanatisierte Nazi-Verblendete reden sich eine Wende, eine Wunderwaffe, den Sieg ihrer Ideologie ein, sie haben ihr ganzes Leben eingesetzt, sie können, sie dürfen nicht verlieren. Alles wäre verloren. (Dass die Nazis bald wieder aus ihren Verliesen kriechen, wissen sie nicht.) Im Dorf Kall wird noch einmal der 20. April begangen, der Geburtstag Jupps.

Es regnet wieder; ich sitze im Cafe Blasius und blicke zum Marktplatz, wo Aufmärsche zu Jupps fünfundfünfzigstem Geburtstag stattfinden. Die Regale in der Bäckerei sind leer, weil kein Mehl vorhanden war, um Brot zu backen; aber es riecht zumindest immer noch ein wenig nach Sauerteig, gemahlenem Weizen- und Roggenmehl. Die Verkäuferin reicht mir einen wässrigen Ersatzkaffee aus Zichorien, der nur nach Wasser und den Bitterstoffen der gemeinen Wegwarte schmeckt. Unter der Hand bekomme ich ein kleines Stück Kuchen aus Rübenmehl, er ist ja mit meinem Honig gesüßt. Es kommt sonst keine Kundschaft, da es heute nichts zu verkaufen gibt.

Die Häuser um den kleinen Marktplatz und in der Bahnhofsfraße sind beflaggt; natürlich hängt aus der Wohnung des Apothekers auch eine Parteifahne. Jedes Mal, wenn ich zu ihm in den Laden komme, behauptet er dreist, die Preise für die Medikamente seien wieder gestiegen, aber davon ganz abgesehen, dürfe er mir gar keine Medizin geben, was ja auch stimmt; für meinesgleichen gibt es kein Recht auf Hilfe, ich muss selbst schauen, wie ich hier überleben kann.

Die kleinen Bienen geben Arimond Überlebensmut. Er hat etwas, wofür es sich zu kümmern lohnt. Er ist fasziniert von der Staatsorgansisation* der Bienen, will zu diesem Thema mit dem berühmten Bienenforscher Karl von Frisch in Kontakt treten.
Er braucht das Geld, das er für den Honig erhält, um sich Medikamente kaufen zu können (Luminal, Phenobarbital). Später muss er einen großen Teil seines Honigs als Deputat abliefern. Gleichzeitig darf er seine Epilepsie nicht offenkundig werden lassen, niemandem davon erzählen, es droht die Euthanasie. Das Leben stößt an immer mehr Grenzen, der Krieg wendet sich endlich gegen die Deutschen. Im Dezember 1944 brechen Arimons Tagebucheinträge ab.

Arimond ist kein „Gutmensch“. „Das, was ich notiere, ist nur eine Projektion meines Le­bens, es ist weniger und doch gleichzeitig mehr, als ich selbst bin, wie auch die gesprochene Sprache immer mehr ist als ihre schriftliche Wiedergabe, die aber auf der ande­ren Seite doch vielleicht eine tiefere Wirklichkeit aufzeigt, ebenso wie eine Landkarte niemals die tatsächliche Land­schaft selbst darzustellen vermag.” Er war Lehrer, er hat “Frauengeschichten”, auch mit der Frau des Nazi-Kreisleiters. (Die Zeit ist günstig für Affären, die Männer sind im Krieg.) Er präpariert seine Bienenkörbe, um darin jüdische Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien zu schmuggeln. Er steht dazu, er begibt sich in Gefahr, aber er nimmt dafür auch Geld, das er für seine Medikamente braucht. Norbert Scheuer zeigt seinen Protagonisten in dieser Ambiguität. Die Stärken des Romans sind die Vernetzungen von persönlichen Dilemmata, dörflichen Strukturen und zeitgeschichtlicher Fundierung. “Und wir können nur staunen über Norbert Scheuers Kunst: Was für ein reifes, reiches, unaufdringlich überwältigendes Buch.“ (Markus Clauer. ZEIT) Aus den zunächst betulichen Aufzeichnungen des ehemaligen Lehrers, der Hitler “Jupp” nennt und kein Nazianhänger ist, liest man seine Berührtheit, er ist aber doch letztlich unpolitisch. Aus der Kriegswelt flieht er zu seinen Bienen, trennen lassen sich die Sphären aber nicht.

Ich gehe nun täglich zur Bibliothek, um dort nach einer weiteren Nachricht zu sehen, muss wissen, wann genau die Flüchtlinge an der Übergabestelle am Malakow-Turm sein werden. Der stillgelegte Förderturm liegt inmitten des Bergschadensgebietes in der Nähe des Bleibergtrichters; es gibt nur einen befahrbaren Weg dorthin, der schließlich in einer Sackgasse am Trichter endet. Über Jahrzehnte haben Bergleute das riesige Loch mit einem Durchmesser von fünf Kilometern ausgehoben. Der Trichter führt in Terrassen bis zu einhundert Meter tief in die Erde hinein. Tausende von Arbeitern haben die bleierzhaltige Erde von einer Stufe zur nächsten im Rhythmus einer Trommel von Ebene zu Ebene nach oben geschaufelt. Im Trichter und auf den Bleisand- und Schlackenhalden gedeihen nun riesige Heidekrautfelder. Im Spätsommer ist es, als wäre das Blau des Himmels auf die Erde gefallen. Der Honig vom Heidekraut hat einen angenehmen, etwas herben Geschmack, und ich habe Kunden, die besonders diesen Honig mögen. Wenn die Bienen hier schwärmen und ins Bergschadensgebiet hinüberfliegen, um sich dort zu sammeln, muss ich sie meist verloren geben, weil die Gefahr selbst für mich viel zu groß ist, in einen der alten Stollen einzubrechen. Die Bienen suchen sich dann Nester in Baumlöchern oder Felsnischen und werden wieder zu Wildbienen.

In diesen abgeklärten Tagebuchseiten entsteht eine sich steigernde Brisanz und das macht den Roman lesenswert, auch wenn einen das Blühen der Natur und die Erstaunlichkeiten des Bienenvolkes weniger interessieren. Thea Dorn verweist (im Literarischen Quartett) auf die Problematik des “Bienenvölkischen”. * “In einigen Völkern musste ich die alte, unfruchtbare Königin töten, denn es schadet den Guten, wer die Schlechten schont.” Von Bienen, die “geschunden sind im Dienst für ihr Volk” müsse nicht erzählt werden “in einer Zeit, in der die völkische Ideologie in Deutschland für einen Massenmord gesorgt hat” (Dorn). Der Hinweis ist nicht wegzuschieben. Ich habe Arimonds Tagebuch aber nicht so gelesen. Die den Bienen einprogrammierten (Über-)Lebensaktionen können nicht auf biologistische Art auf Menschenpopulationen übertragen werden. Solchen Nazi-“Darwinismus” werfe ich Arimond und damit Scheuer nicht vor, auch wenn die Analogien, die der Autor einsetzt, bei aller Kunstfertigkeit aufmerksam gelesen sein sollen.

Eingestreut in die Tagbucheinträge sind Übertragungen aus Pergamenten aus dem 15. Jahrhundert, die von Ambrosius Arimond stammen, einem Vorfahren des Egidius. Die Methode ist kommentiert, auch Bienen kommen in den Fragmenten vor und das Herz des Nikolaus von Cues. Die Zeichnungen von Militäflugzeugen sollen von Scheuers Sohn Erasmus stammen. Das entschuldigt sie aber auch nicht.

2019           320 Seiten

Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF

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Hansen
20. Juli 2019, 19:31
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Dörte Hansen: Mittagsstunde

hansenmittagsstundeMan wird selbst zum Brinkebüller, wenn man sich durch Dörte Hansens „Mittagsstunde“ liest. Sie macht einen mit den „Dörpsminschen“ vertraut, ohne Arg, mit viel Einfühlung. Ironische Distanz kann man in den Roman hineinlesen, hervorstechen tut sie nicht. Man könnte sich auch Dörte Hansen als Brinkebüllerin vorstellen, den passenden Namen hat sie: Alle Namen enden dort auf –sen. Feddersen. Aber der Protagonist ist das Dorf und nur in ihm die Menschen.

Es war stockdunkel, wenn er freitags Richtung Brinke­büll fuhr. November auf der Geest, der Himmel stapelte die Steine auf das Land, mit Dr. Young im Auto war es auszuhal­ten. Scheibenwischer auf die höchste Stufe, Schultern runter.
Alles schien verpackt zu sein. Die großen Ballen auf den Feldern. Die Silagehügel, die wie Plastikhügelgräber aussa­hen. Schnell wieder abzubauen, mitzunehmen, wegzupacken.
Die Zeit der Bauern ging zu Ende. Man blies das Feuer aus, man brach die Zelte ab und ließ die letzten Sesshaften zurück. Bambi Bahnsen und die drei, vier anderen, die nach dem gro­ßen Dreschen übrig waren. Homo ruralis. Fast ausgestorben.
Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das. Für einen, der vom Fach war, hatte er erstaunlich lang gebraucht, das zu kapieren.
Das Dorf, das Land kam ohne ihn zurecht. Zerschramm­tes Altmoränenland, es brauchte keinen Ingwer Feddersen, es brauchte niemanden.
Der Wind war immer noch der alte. Er schliff die Steine ab und knickte Bäume, beugte Rücken. Auch diesem alten Wind war es egal, was Menschen taten, ob sie blieben oder weiterwanderten.
Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.

Der ganze Roman ist Klischee, durch und durch. Aber das heißt ja nur, dass er wahr ist.. Das Klischee ist ja das Substrat der Realität. Dörte Hansen teilt das auf in die Passagen, in denen sie zum “man” abstrahiert, so war es, so ist es, nicht nur in Brinkebüll, aber dort besonders, exemplarisch, und die Geschichten über die Personifikation des Klischees. Das ist das typische Dorfbestiarium, kleine Ausschläge bestätigen das Stereotype.

Man erfährt nichts, was man nicht schon erfahren, also gelesen oder gesehen hat. (Vorausgestzt, man hat das Alter, von dem aus man zurück- und überblicken kann.) Die Dämmerung des Dorfes und seines Inventars zur Moderne, zum Strukturwandel, zu Anpassung und Nostalgie, Geest und Plattmachung. Kultur statt Natur. Bücherbus und Abitur. Zuerst verschwinden mit der Flurbereinigung die Hecken, in denen sich Marret so gerne den Blicken entzog, dann wird die Kastanienallee planiert, der Dorfladen schließt, die Tiere werden nicht mehr gebraucht und der Dorfkrug soll in einen „Farm House Saloon“ umgewandelt werden mit Disco-Kugel und Line-Dance. Die Menschen sterben oder passen sich an oder ziehen in die Stadt. „Das Dorf beschleunigte.“ Alleswird besser – aber nichts gut. Auch das weiß man. „De Welt geiht ünner!“

Im Personal von Brinkebüll fokussiert sich Dörte Hansen auf die Feddersens. Sönke und Ella betreiben den Dorfkrug, sie sind „die Krögers“, sie werden alt und dann sehr alt. Sie verliert die Kontrolle über den Geist, er wird körperlich hinfällig, sie bleiben zusammen, obwohl ihnen das nicht vorgegeben war, stehen sie vor der Gnadenhochzeit. Tochter Marret ist ein Kuckuckskind, denn Ella hatte einen anderen, den Krischan, Sönke erträgt die Spötteleien. Marret kriegt dann selber ein Kind, der Vater ist unbekannt, Sönke und Ella ziehen Ingwer auf und er nennt sie Vadder und Mudder undpflegt sie bis zuletzt. Ingwer ist weggegangen, auf die Universität, ist Professor für Archäologie geworden. Er lebt in einer brüchigen 3er-WG, er ist auch schon 48. Zerrieben zwischen den Zeiten.

Es gibt noch mehr Personen, die Dörte Hansen um die Feddersens gruppiert. Sie springt in den Zeiten, setzt Spots auf einzelne Gruppen. Leise Ironie schwingt mit, wie soll es bei Figuren, die alle Sonderlinge sind, anders sein, doch wird die Beschreibung nie herablassend. Die Darstellung ist ausgefeilt in Sätzen und Worten und Stil.

Alles falsch! Von vorne bis hinten verkehrt! Was maßten die sich an, die da auf ihren dröhnenden Maschinen saßen? Die Flur bereinigen, als wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld! Die alten Felder, Bäche, Trampelpfade korrigieren und begradigen, Teerstraßen durch die alten Sander walzen, Findlinge beiseiteschieben, die seit der Saale-Eiszeit hier gelegen hatten. Schwedischer Granit! Man musste Gletscher sein, um das zu dürfen! Es stand ihnen nicht zu. Die Grobiane hobelten mit rohen Kräften über Altmoränenland und wussten gar nicht, was sie taten, keinerlei Verstand! Mit seinem Rucksack voll Versteinerungen stand er zwischen Tiefladern und schweren Walzen, Dorfschullehrer Steensen, Heimatforscher, Mitglied der Gesellschaft für Geschiebekunde, und schleuderte den baggernden Barbaren seinen wütenden Protest entgegen.
Das Spektakel sprach sich schnell herum im Dorf, nu komm bloß mol un kiek!

Auf jeder Seite zwei Mal stehen Sätze auf Platt, das Lehrer Steensen seinen Kindern austreiben wollte, das aber Merkmal der erinnerten „guten“ alten Zeiten ist. (Man versteht es auch als Bayer und staunt, wie nah oft der Übergang zum Englischen ist.) „Mittagsstunde“ ist ein nostalgischer Roman, voller Realität, voller Liebe zum Detail, zu den Menschen und ihren Schrullen. „Mittagsstunde“ fehlt jede Derbheit, jeder Zynismus, jede (An-)Klage. Ein leiser Roman. Zum Mitsummen hat Dörte Hansen den Kapiteln Titel von Songs gegeben. Von alten, von neuen und solchen vom Übergang. Ich schau den weißen Wolken nach, Old Man Look at my Life, Achy Breaky Heart, Neil Young, immer wieder Neil Young. Heart of Gold.

2018         320 Seiten

Leseprobe

„Mittagsstunde“ bei ARD-Druckfrisch

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Kaiser
10. April 2019, 17:34
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Vea Kaiser: Blasmusikpop

blasmusikpopDas Dorf liegt erhaben auf einem Hochplateau am Fuße des Großen Sporzer, unterhalb der Gletscherregion, über lange Zeit kaum erreichbar von der Welt abgeschnitten, doch jetzt schreibt man auch dort die 2000er-Jahre.

Im Dorf hat sich wenig geändert, man verweilt am Vorabend der Industrialisierung, man kennt und heiratet sich untereinander, fremden Menschen und Bräuchen steht man reserviert gegenüber. Man hat an sich selbst schon mehr als genug, gesprochen wird der in dieser Gegend verständliche Dialekt.

Unmittelbare Nachbarn hatten die St. Petrianer nicht. Nördlich wurde das Dorf von den Sporzer Alpen begrenzt, deren Hauptkamm aus Gletschergipfeln so unwirtlich war, dass keines der Dörfer rundum je Anspruch auf dieses Bergmassiv gestellt hatte. Westlich erhoben sich Berge, die noch von Urwald überwuchert waren und weit im Osten, fast außerhalb des Tales, lag ein Dorf namens Strotzing, mit dem die St. Petrianer seit dem Mittelalter keinen Kontakt pflegten. Der einzige Ort, dessen Gemeindegrenze direkt mit St. Peter zusammentraf, war Lenk im Angertal. Lenk hatte trotz seiner bescheidenen Einwohnerzahl den Rang einer Stadt, allerdings wusste die gesamte Alpenrepublik, dass dies nur so war, damit es in den Landkarten der Hochalpen wenigstens einen roten Punkt gab, der auf Kultur und Zivilisation hindeutete.

Die Einwohner tragen die Namen von Bergen: Rettenstein, Trogkofel, Patscherkofel, Kaunergrat, Gerlitzen, Arber. Den Pfarrer, den Wirt, die Greißlerin, die Cafébesitzerin blasmusik2Moni, den Schreiner, den Arzt, die Hebamme, die Väter (trinken) und die Mütter (tratschen und backen Kuchen), viel mehr brauchts nicht. Ein Bilderbuchdorf, vorn und hinten im Buch ist der Dorfplan abgedruckt, man findet sich leicht zurecht. Klischee, soweit der Blick reicht. Johannes A. Irrwein hält die Dörfler für unzivilisiert, er hat seinen Herodot gelesen.

Die Bergbarbaren sind Herdentiere. Das Konzept des selbstbestimm­ten Individuums ist ihnen fremd, das Kollektiv bestimmt das Leben des einzelnen. Bereits mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit schickt man die Kinder in die Jungschar, eine katholische Organisation, die zwar offizi­ell dazu da ist, den Glauben zu leben, in Wahrheit – wie ich aber berich­ten kann – bereits die Jüngsten manipuliert, so daß diese die Werte des Kollektivs annehmen. (…) Junge unverheiratete Männer müssen sich ebenso für das Gemeinwohl engagieren: Sie sind Mitglieder in der Feuerwehr, im Jägerbund, im Bauernbund, im Gemeinderat, im Pfarr­rat oder im Handwerkerkreis, denen sie bis zu ihrem Tod auf Treu und Ehr verbunden bleiben müssen. (…)Sie spielen Blasmusik, die jeglicher Harmonie entbehrt, pflegen Fußball auf einem abschüssigen Rasen, malen auf ihre Wohnhäuser alpine Blumenfresken, führen übles Volkstheater mit derbem Jargon auf und tragen traditionelle Kleider, die weltweit aus der Mode sind.

Im Dorf gibt es nur zwei „zivilisierte“, man könnte auch sagen: intellektuelle Bewohner: Johannes Gerlitzen, der „von einem Bandwurm für Welt und Wissenschaft begeistert“ das Dorf verlässt, um als studierter Arzt zurückzukommen, und dessen Ziehenkel Johannes A. Irrwein, der von seiner anfänglichen Begeisterung für Naturwissenschaften umschwenkt auf die Geschichte. Johannes darf aufs klösterliche Gymnasium im Nachbarort Lenk, schließt sich dort dem arkanen „Digamma-Club“ einiger Internatsschüler an und beschließt nach seiner Rückkehr in St. Peter am Anger Feldforschung zu betreiben. Sein Idol ist der antik-griechische Geschichtsschreiber Herodot. Sein Ziel: der Alpenherodot zu werden.

„Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ nennt Vea Kaiser ihren Roman im Untertitel – und sie lässt sich ihre „klassische“ Bildung ganz schön heraushängen und konfrontiert sie mit dem zurückgebliebenen „Bergbarbaren“. Und so beobachtet Johannes A. Irrwein das Treiben der Bewohner im Dorf und Vea Kaiser stellt es ins Zentrum des Romans. Kinderspiele, Brauchtum, das Sonnwendfeuer, der Fußballverein, das Heiraten, das Saufen, das Aufstellen des Maibaums, alles ist ein- und festgefahren. Die überaus erzählfreudige Vea Kaiser reiht ein Klischeehäppchen ans nächste. Ich wollte das Buch nach 100 Seiten beiseitelegen, über Wissenschaft war bis dahin wenig zu lesen, das Dorfgeschehen erschöpft sich in Anekdötchen, oft gelesen, Bauerntheater. „Jeder Leser kann nicht anders als schon wissen, was ihm da für neu verkauft wird.“ (Hans-Peter Kunisch, SZ) Das Buch ist definitiv zu dick, nicht der Handlungsfortschritt ist zentrales Anliegen, sondern das Spiel mit bekannten Mustern und die Liebe zum erlesenen Stil. Aber „500 Seiten voller Schwänke und Schnurren, nur unterbrochen von herodotischen Chroniken über den ewigen Krieg zwischen Zivilisierten und Wilden, wirken doch etwas ermüdend“ (Martin Halter, FAZ). Und da das Setting schon auf Ironie aufbaut, wirkt die verbissene Binnenironie schließlich sekkant.

Währenddessen stand die Pfarrersköchin Grete mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter auf der Kirchenstiege und blickte die Talstraße hinab. Sie hielt einen Rosenkranz in ihren Händen, vom Erdäpfelwasser so rau wie die unpolierten Holzperlen. Ihre Arme drückten den Wollstoff der olivfarbenen Strickjacke eng an das geblümte Kleid, als fröre sie im Sonnenschein des vorösterlichen Frühlingstages. Rund um Grete standen in kleinen Gruppen zusammengescharrt die Mitglieder der Mütterrunde. Die Männer waren des Wartens überdrüssig geworden und hatten sich im Kollektiv ins Wirts­haus begeben.
»I hab dem Subprior gestern am Telefon nu g’sagt, dass’s voi wichtig is, dass da Ersatzpfarrer vor 15:00 Uhr da is.« Grete sprach diesen Satz zum wiederholten Male, die Frau­en rundherum beschwichtigten sie.

Was „Blasmusikpop“ trotzdem „vergnüglich“ (Anderl) macht, ist das Auseinanderfallen von weitenteils banalen, ja abgenutzten Sujets und elaborierter Beschreibung. Herodot vs. Bergbarbaren. Vea Kaiser kennt sich aus – in beidem. Der Dialekt akzentuiert die Archaik des Erdverhafteten, womit nicht allein das Berglerische, sondern das Gesamtösterreichische gemeint ist. Aber er versöhnt auch: Wer so spricht, kann kein völlig schlechter Mensch sein, kein „Hochg’schissener”. Als solche “Hochg’schissene” an den Westhang von St. Peter ziehen, greift Vea Kaiser wieder zum Abklatsch. Der Architekt Nowak samt seiner Tochter Simona steigern das Geschehen zur Groteske.

»Soll i di langsam heimbringen?«, fragte er, als Maria sich beruhigt hatte.
»I mag net hoam. I bin’s leid. De nutzn mi immer aus. De­nen is des Wurscht, ob i glückli bin. De wissen oafach, dass ma mit mir ollas machn kann, dass i zu ollem Ja und Amen sog, nur um meinen Leut a Freud zum Machen.«Peppi setzte sich aufrecht hin:
»Maria, du hast halt a guates Herzal.«
Maria seufzte.
»Jo, owa des is mei Leben. Und Peppi, i woaß ja net amoi, ob da Günther da Vater is.«
Peppi erstarrte und rückte von ihr weg.
»Maria, du musst mi net anlügen. I hab di gern, a wenn des de Kinder vo an anderm sand.«

Mit ihrer Berufung aufs Klassische, auf die “Wissenschaft”, entlastet sich Vea Kaiser vom Vorwurf, bloß Plagiatorin zu sein. Wesentliches Konstruktionselement des Romans ist die Historiografie des Dorftreibens und deshalb muss dieses auch archaisch, hinterweltlich und damit exotisch bleiben. (Lediglich Handys dürfen im neuen Jahrtausend einziehen. Selbstverständlich weiß man sie nicht zu bedienen.) Vea Kaiser hat ihre Vorstudien zwar auf ein Achtel eingedampft, doch auch in dieser Kurzfassung gibt es zu viel Redundanz. Getretener Abklatsch wird Gatsch. Am Ende bekränzen sich alle mit Eppich und feiern ein donysisches Fest und wenn sie nicht.

Der Roman ist am besten zu ertragen mit einem Stamperl Adlitzbeerenschnaps und einer anschließenden Partie Pfitschigoggerln.

2012          480 Seiten

P.S. Vea Kaisers neuer Roman heißt “Rückwärtswalzer“. Wenn das mal nicht im Dampfnudelblues endet.

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Gerlof
7. März 2019, 16:45
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Kathrin Gerlof: Nenn mich November

gerlofnovemberBrüssel, die Hauptstadt, liegt auf einem anderen Planeten. Der Blick im brandenburgischen Dorf reicht gerade einmal bis zum letzten Haus, er wird begrenzt vom schier endlosen Mais, der sich hier als Energiemais ausbreitet, ausgeheckt in der fernen Hauptstadt. Hinterm Horizont geht’s weiter mit MaisMaisMais, das nächste Dorf ist außer Sicht. Das ist aber nicht weiter schlimm, weil das nächste Dorf jedem anderen gleicht. Nicht nur in der Physiognomie.

Es sind nicht viele Dörfler geblieben, die Lage könnte übersichtlich sein, doch man traut einander nicht. Auch sich selbst nicht. Der Nächste könnte missgünstig sein, man kennt das ja von sich. Selbstmitleid macht sauertöpfisch. Zäune helfen nur bedingt. Dem Dorf fehlt es an vielem: kein Laden, kein Gasthaus, keine Schule (Kinder gibt’s halt nicht.), kein Arzt, keine Intellektuellen, keine Leistungsträger*in. Prozentiges bringt Berberg mit dem „Getränkewagen, der hier sogar zweimal wöchentlich Station macht, weil es sich offensichtlich lohnt, im Dorf zu halten”. Die Dagebliebenen werfen sich ihr Dableiben sprachlos vor: Saufen, verlottern, verfetten, körperlich wie mental. Die Frauen verhüllen sich lustlos in “pastellfarbene Pullover, die manchmal mit Strass verziert sind”. Die “Anführerin” hatte für dieDorfversammlung “einen mintgrünen Pullover angezogen, auf den vorn ein riesiger, mit Strass besetzter Katzenkopf appliziert war. Ihre großen Brüste haben dem Katzengesicht einen zufriedenen, pausbäckigen Ausdruck verliehen. Vielleicht war die Applika­tion so gedacht, dass die strassfunkelnden Katzenaugen genau auf den Nippeln platziert werden, aber das hat bei der Anfüh­rerin nicht geklappt.” Kathrin Gerlof geht da durchaus ins Derbe. „Im Dorf gibt es kein Begehren. Nur die Hunde steigen aufeinander, wenn die Zeit läufig ist.“

Es gibt ein paar “Außenseiter”, den Wilderer, den Hundebesitzer, bereit für eine Handvoll Euro zu helfen, den pickeligen Robin mit seiner eingesoffenen Mutter. Zwei “Platzhirsche”* konkurrieren um Platz 1 und um Pfründe. Schulz, der die Einquartierung von Flüchtlinge in Baracken arrangiert, denn die Baracken gehören ihm, früher waren Zwangsarbeiter und FDJ-Erntehelfer untergebracht, Flüchtlinge aber sind lukrativer.Es ist sein Dorf. Nicht seine Heimat. Sein Dorf. Das ist ein Unterschied. Heimat ist was für Weicheier.“ Kontrahent Krüger, ewiger Zweiter, sieht seine Chance darin, das Dorf gegen die Flüchtlinge zu mobilisieren. „Vorgestern hatte einer von Krügers Freunden gesagt, man müsse die Straßenbeleuchtung verstärken. Mehr Lampen hinstellen, und helleres Licht müssten die geben. Im Dunkeln würde man die Schwarzen, die da kommen werden, ja gar nicht sehen. Niemand hatte gelacht.“ “Bis jetzt sind sie die Platzhirsche, auch wenn ih­nen das Fett bis zum Hals steht und ihre dicken Waden kaum in die Gummistiefel passen, die es bei Raiffeisen zu kaufen gibt. Sie können tun und walten, ihre Frauen ärgern oder sich von denen in den Wahnsinn treiben lassen. Sie können mor­gens aufstehen, in fleckigen Unterhosen in der Küche am Frühstückstisch sitzen mit Stallgeruch im Turnhemd und ge­trocknetem Schweiß unter den Achseln, der schon ein paar Tage alt ist. Der Kerl im Nachbarhaus sieht genauso aus und der zwei Häuser weiter ebenfalls.“ Eine Bürgerwehr ist rasch aufgestellt, doch die Flüchtlinge weigern sich, aggressiv zu werden. Das Dorf bleibt öde. Tot.

Manchmal konnte Frieda vom Wohnzimmerfenster aus sehen, wie eine Pflegerin durchs Dorf fuhr und mehr und mehr zu tun bekam.
Das Leben im Dorf ging an Krücken oder am Rollator. Ei­nen Kinderwagen hatte Frieda schon lange nicht mehr gese­hen. Das Dorf war ein Auslaufmodell geworden. Die Leute gingen. Fort, wenn sie jung genug waren, und unter die Erde, wenn sie nicht mehr wegkamen oder sowieso für immer blei­ben wollten. Frieda hat die Pflegerin einmal gefragt, was de­ren Dienste kosteten, käme sie einfach so zu ihr. Ohne Ver­trag. Ein Vertrag schien Frieda wie das Ende von allem.
Hinter einem Vertrag stand das Wort Pflegestufe. Und dort wollte sie nie ankommen. In einer Pflegestufe.
Aber nun wird das alles nicht nötig sein, denn vor zwei Ta­gen ist Frieda auf die Leiter gestiegen und hat den Strick am Haken befestigt. Wie ein Henkersknoten geknüpft wird, hatte sie gewusst. Ihrer sieht solide aus. Einen Tag und eine Nacht hatte sie ihn baumeln lassen. Der Garten musste noch umgegraben werden, und die Küchenschränke brauchten neues Papier.

Eines Tages ziehen die Lindenblatts* in das baufällige Haus, das einmal Frieda gehört hatte. Die Lindenblatts stehen finanziell und auch mental vor dem Abgrund. Sie haben in Berlin Insolvenz hingelegt, ihre Idee des kompostierbaren Geschirrs hat sich nicht gerechnet. Das Dorf ist die letzte Station vor dem Ende. David verstummt mehr und mehr, findet seine prekäre Ruhe schließlich auf Spaziergängen im Wald auf überwucherten Gleisen. “Die Gleise sind sein Glück. Läuft er lange genug auf ihnen entlang, wird sein Kopf leer. Sein armer Kopf, in dem es brüllt und tobt, während er immer mehr verstummt. Manchmal, wenn er auf den Gleisen läuft, denkt er an November. Mit Wehmut und einem schlechten Gewissen. Er liebt sie, aber er wird es ihr nie wieder zeigen können, so, wie sie es braucht und verdient. Sie hat Geduld mit ihm, seine Marthe.“ Marthe wird zur Projektionsfigur der Erzählerin, zur Berichterstatterin. Sie verknüpft ihre Beobachtungen mit Introspektionen. Ihr Lieblingsmonat liegt im Spätherbst. “Nenn mich November.”

Innen- und Außensicht verwickelt Kathrin Gerlof in einer eigenwilligen Erzählweise, die anfangs irritiert. Sie bricht die Außensätze ab und führt sie als Innensätze weiter. Und zurück. Ein Versuch, der nicht ganz durchhält. Auch der “Arm”, der November anfangs immer im Weg ist, verschwindet endlich.

Wie dumm ich bin. Ich kann ohne die Fotos nicht fortzie­hen. Wenn ich jetzt noch mein Hochzeitskleid hätte, könnte ich damit zur Bank gehen. Nein, das könnte ich nicht. Mein Hintern passte nicht mehr rein in das Kleid. Vielleicht ge­nügt der kirschmarmeladenrote Rock ja doch.
Aber der Bankmensch wird nur ihren schwarzen Pullover sehen. Sie werden sich gegenübersitzen, und sie wird schwit­zen.
Ich werde schwitzen, und er wird meinen Schweiß riechen. Das soll nicht sein. Schweiß ist etwas viel zu Intimes, um es einem Bankmenschen zu gönnen.
Als sie das letzte Mal Zug gefahren ist, vor einer Ewigkeit, hatte vor dem Großraumwagen, gleich neben der Toilette, ein Plakat gehangen, auf dem für Achselpads geworben wurde. Gegen Schweißgeruch. Die bräuchte sie jetzt. Diese Pads.
Die hätte ich mir kaufen sollen. Warum habe ich das nicht getan?
Auf dem Plakat hatte ein junger, gutaussehender Mann in einer Straßenbahn gestanden und sich mit der Hand an einem oberen Haltegriff festgehalten. Unter der Achsel hatte das brave hellblaue Hemd.
Button-Down, wieso tragen junge Männer diese schreck­lich seriösen Hemden? Ich könnte nie mit einem Mann ins Bett, der Button-Down-Hemden trägt. Das wäre mir.
Das wäre ihr zuwider.

Wo die Liebe zwischen David und November fragil wird, wird die Erzählung richtig poetisch zart.

Inzwischen denkt David, dass zu viel Zeit vergangen ist. Die Erklärung kann nicht stimmen. Es muss etwas anderes, Grundlegenderes sein. Ein finaler Überdruss, der sich in eine noch finalere Gelassenheit verwandelt hat. Er wünschte sich, Marthe könnte statt ihrer Verzweiflung zu seinem Zustand wechseln. Der ist viel einfacher zu ertragen als die Traurig­keit darüber, dass dieser Planet und nichts und niemand mehr zu retten ist. Er hat seine Blechkiste in der Scheune, Marthe ihre unendlich langen Worddateien mit Namen wie Klima­wandel, Meeresverschmutzung, Wasser, Hunger, Landraub, Kriege, Armut, Artensterben, Waldvernichtung. Wenn Mar­the ihren Computer anschaltet, erscheint wie auf einem Lauf­band ein Schriftzug. Die einen ertrinken im Überfluss, die anderen im Meer. Irgendeine Liedzeile irgendeiner Band, die Marthe gern hört. In Paris brennen Autos, und bei uns brennt der Kamin. Es ist ein guter Tag, der Himmel trägt sein bes­tes Grau. Manchmal wechselt November die Schriftlaufbän­der aus. Die Hoffnung stirbt zuletzt, aber sie stirbt.

Bis es soweit ist, vergeht viel Zeit. Doch im Dorf vergeht die Zeit anders, denn es gibt wenig, das sie strukturieren könnte. Kathrin Gerlof schreibt sich fest in den Aporien, führt das Dorf als Schablone vor. Aber es wird so sein. “Beim Lesen wächst die Furcht, dass diese geballte Unzufriedenheit, dass dieses offensichtliche oder nur mühevoll unterdrückte Brodeln im Inneren der Dorfgemeinschaft hierzulande in Wahrheit viel häufiger anzutreffen ist, als man in seinen kühnsten Träumen befürchtet hätte – im Osten wie im Westen.“ (Melanie Mühl, FAZ) David und November können nicht heimisch werden. Das Dorffest, das Krüger aufzieht, zeigt alle nochmal in ihrer elenden Trostlosigkeit. Mehrere Männer haben ihr Leben bereits in der Biogasanlage* verloren.

* Diese Ingredienzien findet man u.a. auch bei Juli Zehs Dorfroman “Unterleuten”. Gerlofs „Nenn mich November“ ist privater, ernsthafter, inniger.

2018     350 Seiten

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Leky
19. Februar 2018, 17:10
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Mariana Leky:
Was man von hier aus sehen kann

lekyokapi»Keiner ist alleine, solange er noch wir sagen kann«,

Selma ist die Großmutter von Luise und die Dörfler merken bald, dass sie irgendeinem Promi aus dem Fernsehen ähnlich sieht. Sie kommen aber erst spät auf Rudi Carrell. Ich habe bis Seite 190 gebraucht, bis mir einfiel, wem der Roman in seiner Struktur und Schreibweise ähnelt: Pu der Bär. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Kind gebliebener Roman. Was durchaus ein Lob ist. Luise, die Erzählerin, ist anfangs zehn, altert im dritten Teil auf die dreißig und wird dabei nicht alt. Das kindlich Naive hängt auch zusammen mit der – im positiven Sinn – Naivität der Sicht auf die Welt. Ja, der Buddhismus durchweht Personen und Geschehen. Ein unverschämt altmodisches Lesevergnügen.

Wir sind nicht im Hundertsechzig-Morgen-Wald, sondern im Westerwald, der Handlungsraum ist ebenso überschaubar und das Personal eng beschränkt, auch in den Schrullen, die sie zu Menschen machen. Nach Art der Waldbewohner im Ashdown Forest bei Winnie-the-Pooh bilden die Figuren eine verschworene Gemeinschaft. Jede(r) ist ständig auf den Beinen, um sich gegenseitig zu besuchen. (Bis auf Marlies.)

Selma deutete aus dem Fenster, wo drei beschirmte Gestalten den Hang hoch­kamen, es waren Elsbeth, der Einzelhändler und Palm.
Selma öffnete die Tür.
»Hallo«, sagte Elsbeth und hielt ihr einen Küchenmixer ent­gegen. »Ich wollte dir endlich mal den Mixer zurückbringen. Ich war zufällig gerade in der Nähe.«
»Genau, und wir haben auch Eis mitgebracht«, sagte der Ein­zelhändler hinter Elsbeth, der ein riesiges eingewickeltes Tablett auf den Armen trug.
Selma trat zur Seite, und die drei kamen hintereinander in die Küche. Ich rutschte näher an den Optiker heran und war mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich gut war, die Welt hereinzulassen. Der Optiker lächelte mich an. »Es geht im Buddhismus ja auch da­rum, jedem Erleben bedingungslos zuzustimmen«, flüsterte er.

Was geschieht, fasst Luise für ihren neuen Freund Frederik zusammen:

Und dann blieb ich stehen. Ich hielt Frederik am Ärmel seiner Kutte fest.
»Es ist folgendermaßen«, sagte ich. »Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Mein bester Freund ist gestorben, weil er sich an eine nicht richtig geschlossene Regionalzugtür gelehnt hat. Das ist erst zwölf Jahre her. Immer, wenn meine Großmutter von einem Okapi träumt, stirbt hinterher jemand. Mein Vater findet, dass man nur in der Ferne wirklich wird, deshalb ist er auf Reisen. Meine Mutter hat einen Blumenladen und ein Verhältnis mit einem Eiscafebesitzer, der Alberto heißt. Diesen Hochsitz da«, ich zeigte auf die angrenzende Wiese, »hat der Optiker angesägt, weil er den Jäger umbringen wollte. Der Optiker liebt meine Großmutter und sagt es ihr nicht. Ich mache eine Ausbildung zur Buchhändlerin.«
All das hatte ich noch nie jemandem gesagt, weil es teilweise Dinge waren, die alle, die ich kannte, wussten, und teilweise Dinge, die keiner wissen durfte. All das sagte ich zu Frederik, damit er umstandslos einsteigen konnte.
Frederik schaute über die Felder und hörte mir zu wie jemand, der versucht, sich eine Wegbeschreibung genau einzuprägen.
»Und das ist eigentlich so weit alles«, sagte ich.

Frederik lebt als buddhistischer Mönch in einem Kloster in Japan. Er passt wunderbar in die kleine Welt von Luise und ihren Freunden, in der jeder am Leben des anderen Anteil nimmt. Auch der Tod wird nicht ausgespart, aber er lässt sich ertragen, wenn man sich gegenseitig stützt. (Der Tod kündigt sich dadurch an, dass Selma von einem Okapi träumt.) Hilfe findet man daneben in der buddhistischen Leichtigkeit, der auch keine Trennung widerstehen kann.

Viele Dinge ziehen sich als running gags durch den Roman, man freut sich, wenn sie wieder auftauchen oder erwähnt werden. Das Reh etwa, das immer wieder am Waldrand steht und durch lautes Türenzuschlagen vertrieben wird. Oder Marlies, die immer sagt, es sei niemand zuhause, wenn Besuch vor der Tür steht. Mariana Leky macht das sorgfältig und liebevoll und verspielt und „zauberhaft“ (Rüdiger Safranski) und vergisst nichts. „Das ist gelegentlich ein bisschen kitschig, macht aber nichts, weil es halt die Herzen wärmt und weil es schön erzählt und gut gemacht ist.“ Man kann den Kitsch aber auch als Ironie lesen. (Jörg Magenau, SZ) Als Leser ist man nicht Außenstehender, sondern fühlt sich von Anfang an daheim und geborgen. Auch, wenn es regnet.

Frederik klappte den entkräfteten Schirm zusammen und nahm meine Hand, als habe es eine Zeitverschiebung gegeben, als seien seit gestern Nacht, als er meine Hand zum ersten Mal genommen hatte, viele Jahre vergangen und als sei es ganz selbst­verständlich, dass wir uns an den Händen hielten.
Wir rannten zurück, so wie ich nur als Kind, nur mit Martin gerannt war, wenn wir geglaubt hatten, ein Höllenhund oder sonst ein Tod, den es nicht gab, sei hinter uns her. Alaska rann­te neben uns, das war anstrengend, denn durch all den Regen in seinem Fell war er viel schwerer als sonst.

Einmal im Jahr kann man etwas so Wohlfühliges schon lesen.

2017          315 Seiten

Leseprobe bei der Büchergilde Gutenberg

Besprechung im Literarurclub des SRF (Video 11 Minuten)

 



Zeh
7. Oktober 2016, 18:42
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Juli Zeh: Unterleuten

zehunterlleutenErich Kästner sitzt im sommerlichen Eiscafé mit dem Schüler, der im Roman in der warmherzig sentimentalen Weihnachtsgeschichte „Das fliegende Klassenzimmer“ spielt. Juli Zeh alias Lucy Finkbeiner spaziert neben dem Bürgermeister durch das Dorf, das sie im Roman „Unterleuten“ nennt. Finten, die die Fiktion authentifizieren. Er kennt seine Internatsschüler, sie kennt ihre Einwohner. Alles ist echt: die Soziographie der Heimschule, die „Soziologie des Ruralen“. Nur: Juli Zeh ist nicht Erich Kästner.

Wenn man die Menschen, die man kennt, nicht mag oder nicht mit ihnen kann, sucht man sich neue. Das geht in der Stadt, wo genug andere leben und auf einen warten. Das geht nicht auf dem Dorf, wo es an Alternativen mangelt. In letzter Not kann man abwandern, verliert dann aber auch den Kontakt zu den wenigen Lieben. Wenn man ins Dorf zuwandert, wird man den Kontakt zu den Eingesessenen suchen, ihn aber nicht finden. Man will wieder weg. Das Dorf ist ein „Spinnennetz“, ein „Organismus“, eine „Maschine“, wo die Rädchen ineindergreifen müssen, damit es funktioniert, ein Kosmos, für die Bewohner der Kosmos. Von der Außenwelt droht Gefahr, zu viel Unbekanntes und deshalb Bedrohliches. Im Dorf kennt man sich und die Regeln, das gibt Sicherheiten, die nicht auszuhalten sind.Ein „Kampfplatz“ mit eingeübten Ritualen, mit vererbten Hierarchien, mit Randexistenzen und Platzhirschen. Juli Zeh liebt die Tierymbolik und setzt sie penetrant oft ein. “Das Tier von nebenan“, „Nachts sind das Tiere“, „Fallwild“ heißen die Kapitel. Der „Kampfläufer“ ist der Leitvogel.

Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war.
Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen.“ Kron kannte „das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sicht­bar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurch­schaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar struktu­riert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit.

Kathrins Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Ber­lin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte. In den Jahrzehnten der sozialisti­schen Diktatur hatten die Menschen erfahren, dass Macht im Abstrakten und Irrealen waltete. Deshalb hielten sie sich lieber an das Reale und Konkrete. Der globalen Einschüch­terung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten, und schon gar nicht von einer Kombination aus alledem. Unter der ruppigen Ober­fläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft.

Das Dorf gibt es überall, Juli Zeh hat ihre Kampfzone in das märkische Brandenburg platziert, in eine „Landschaft, die sich selbst abschafft“, als Prototyp mit einigen regionalen und historischen Spezifika. Der Untergang der DDR hat die Verhältnisse durchgeschüttelt, aber nicht verworfen. Nur die dörflichen Vertrautheiten und die Arbeitsplätze haben die Leute gehalten, jetzt gibt es keine Perspektiven mehr, die Arbeitsplätze sind prekär, nur die Zwänge haben überlebt.

Das Dorf heißt „Unterleuten“, ein schöner, ein mehrdeutiger Name. Den Plan findet man auf der Webseite „http://unterleuten.de/unterleuten.html“, auch die Bewohner  sind mit ihren „hervorstechenden Eigenschaften“ aufgelistet Im Roman lernt man sie ausführlich kennen, obwohl man sie eigentlich alle schon kennt, denn sie sind Typen. Je mehr man von ihnen erfährt, desto vertrauter werden sie einem und desto weniger mag man sie.

Um die „Kampfläufer“ gegeneinander in Stellung zu bringen, lässt Juli Zeh den Stein des Anstoßes ins Dorf fallen: Eine Windkraftanlage soll gebaut werden. Es werfen ihren Hut in die Arena der Interessen: der Umwelt- und Vogelschützer (Kampfläufer),   der an sich uninteressierte Investor, der im Dorf und im Roman selten auftaucht, der Altkommunist (Typ: Krüppel ohne Perspektive), der wendige Organisator (Typ: Koloss mit Kampfhund), der harmoniserende Bürgermeister als Anwalt der rarer werdenden Arbeitsplätze, die Alt- und die Neubürger, jede(r) mit eigenem Charakter versehen, jede(r) reibt sich am anderen wie an sich selbst.

Zeh verzögert dieses „unerhörte Ereignis“ 150 Seiten lang, wo sich bessere Bücher schon Gedanken über die Lösung des Konflikts machen. Und die Windräder geraten zunehmend zum Hintergrundrauschen am Horizont, dräuen als Profithoffnung und Ausverkauf, sind äußerlicher Katalysator, das Motiv wird aber klar überlagert von der „ruralen Soziologie“.

Zehs Verlegenheit ist es, dass sie nicht nur erzählen will, sondern vorführen. Sie ist es, die die Regeln des Kampfes versteht und erklärt. Sie ist die, die ihre Personen besser kennt, als diese sich selbst. „In Wahrheit verspürte sie Lust, alle Rollenspiele auf den Müll zu werfen und sich zu einer einfachen Formel zu be­kennen.” , „Unterleuten“ ist „lehr- und kenntnisreich zum Platzen … Die Wahrheit dieses, in vieler Hinsicht bewundernswerten, Werks ist seiner Schönheit immer voraus. Bei großer Literatur verteilen sich die Gewichte umgekehrt.“ (Ursula März, ZEIT) Der Roman liefert stets den Kommentar zur Erzählung. Das ist hilfreich, aber das tut man nicht, das ist Bevormundung des Lesers, das ist betreutes Lesen. Juli Zeh handelt die Themen der Zeit ab, in denen sich jeder Leser/jede Leserin wiederfinden kann:

Jule hatte geschworen, niemals eine dieser hysterischen Mütter zu werden, die ihren Kindern auf Berliner Spielplätzen mit Feuchttüchern und Vollkornkeksen hinterherrannten. Ger­hard wollte ein moderner Vater sein, der sich im Restaurant lautstark darüber beschwerte, dass der Wickeltisch auf der Frauentoilette stand. Arbeitsteilung und Kommunikation sollten über allem stehen. ‘Erst Paar, dann Eltern’ lautete ihr gemeinsames Motto. Schließlich gab es nichts Schlimme­res als überbesorgte Eltern, die nicht begriffen, dass Fort­pflanzung seit Tausenden von Jahren ohne Ratgeberlitera­tur, Holzspielzeug und lactosefreie Milch stattfand.” (Eltern) – “Ständig kämpften die jungen Frauen von heute darum, niemanden zu brauchen.” (Überforderte junge Frauen von heute) – “Den meisten Menschen fiel es schwer zu akzeptieren, dass das Leben eine Mischung aus alltäglicher Langeweile und sinnlosen Tra­gödien war.” (Das Leben als solches) – . “Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma.” (WirtschaftPolitikMoral) – “Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbe­griff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpasssungsfähigkeit verwandelt.” (Freiheit) – Einsichten, in den Mund gelegt.

Juli Zeh bevölkert ihr sozialpolitisches Seminar mit den alten und jungen Bürgern von Unterleuten. (Zu) viel wird hier angehäuft, (zu) viel wiederholt, zu wenig als bereits behandelt erkannt und weggelassen. Und so wächst sich der Roman zu epischer Breite an. Noch eine Situation und noch eine, vieles ist oder wird zum Klischee. Handlung steht nicht im Zentrum, auch die Bewegung der Personen ist der Idee untergeordnet. „Doch so effektiv es für die kompositorische Anlage auf den ersten Blick ist, den ländlichen Mikrokosmos als Spiegelfläche für zeitdiagnostische Thesen zu wählen, verweht der Plot bald wie märkischer Sand.“ (Sandra Kegel, FAZ) Die Spannung bleibt moderat, erhebt sich zum Schluss in den finalen Showdown der Platzhirsche Kron und Gombrowski, in pathetisch inszenierte Ersatzmythen incl .Gewitter. „Ihr Duell ist der Glutkern des Romans.“ (Ursula März, ZEIT) Ein „Thriller“ ist der Roman nicht, auch wenn das in manchen Rezensionen steht. Die vermeintlichen „Kindesentführungen“ lese ich als aufgesetztes Larifari. Natürlich ist Juli Zeh zu schlau, das ohne mitgelieferte Ironie stehen zu lassen. Deshalb kann man es auch mit gutem Gewissen lesen. Auch deshalb liest es sich leicht, weil Juli Zeh nicht auf die Seminarsprache setzt, ihre Sätze sind betont menschlich und im Reden und Denken einfach und lebendig. Leider ist „Unterleuten“ auch ein vorpolitisches Buch. „Jetzt wünscht man sich einen Band zwei herbei: Vielleicht mit einem Unterleuten, das ein Flüchtlingsheim bekommt.“ (Verena Lugert ) Ich denke an die TV-Serie.

Eigenen Reiz gewinnt „Unterleuten“ auch durch das Spiel, das Autorin und Verlag veranstalten. Da findet man Maximen des Managermotivators Manfred Gortz (der bei youtube darauf insistiert, dass es ihn wirklich gibt) als komische Leitmotive („Der eigene Schatten verschließt das Tor zum richtigen Weg.“) oder auch die Homepage von „Unterleuten“ mit – z.B. – der Speisekarte des „Märkischen Landmann“.

2016              635 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Essays und Artikel von Juli Zeh auf ihrer Homepage

Sieglinde Geisel, NZZ – Juli Zeh über ihren Roman

Juli Zeh über ihren Roman „Unterleuten“ (NZZ Standpunkte 2016) – Video

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Hansen
8. November 2015, 15:56
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Dörte Hansen: Altes Land

alteslandZwei Mal lässt Dörte Hansen Flüchtlinge einfallen ins Alte Land.

Flüchtlinge suchte man nicht aus, man lud sie auch nicht ein, sie kamen einfach angeschneit mit leeren Händen und wirren Plänen, sie brachten alles durcheinander.

In das Haus der Bäuerin Ida Eckhoff quartieren sich 1945 Flüchtlinge aus Ostpreußen ein, Hildegard von Kamcke und ihre Tochter Vera, Frauen von Adel mit Flügel, kulturellem Gehabe und nicht fürs einfache Landleben vorgesehen. Vera bleibt ihr Leben lang, ihre Beziehung zum alten Bauernhaus bleibt aber prekär. „Dit Huus is mien und doch nich mien, de no mi kummt, nennt’t ook noch sien.“ Sie wird nicht heimisch, lässt das Haus verkommen, trifft sich erst spät mit Nachbar Heinrich zum Halma spielen.

Nach 2000 wird das Alte Land von anderen Neubürgern geflutet. Stadtflüchtenden, die auf dem „Gummistiefellland“ das „echte“ Leben für sich entdecken, Land & Lecker, auch sie bringen vieles durcheinander mit ihrem romantisierenden Blick, „Landplagen“ nennt Dörte Hansen ein Kapitel. Auch Veras Enkelin Anne wird aus den Kurven ihres Lebens vom Schickimicki-Viertel Hamburgs in die Deftigkeit des Bauernlandes geschleudert, samt Sohn Leon und Kaninchen Willy. Das Alte Land stemmt sich entgegen, kraftlos, denn auch von innen drohen die Kräfte der Veränderung: Heinrich Lührs Söhne wandern ab, sie wollen nicht mehr Bauern werden. Altes Land – neue Zeit.

Dörte Hansen macht sich ihre Gedanken dazu. Sie fragt sich

… wie man so wurde. Ob es die Landschaft war, die das mit ihnen machte, die Bäume, die Elbe. Ob es daran liegen konnte, dass die Väter ihrer Väter einen Fluss bezwungen hatten, ihn in die Schranken verwiesen, in Deiche gelegt, ihre Gräben und Kanäle in sein weiches Vorland getrieben. Dass sie das Land, auf dem sie lebten, nicht einfach vorgefunden hatten, sie hatten es gemacht.
Und dann ihre riesigen Häuser gebaut, Hallenhäuser wie Kathedralen, und damit priesen sie sich selbst, Schöpfer des Marschbodens, keine Götter, keine Bauern, irgendwas dazwischen.
Vielleicht standen Männer wie Heinrich Lührs und Dirk zum Felde deshalb so vor einem, Halbgötter mit Harken und Baumscheren. Und fünfjährige Altländer Jungen stampften mit Gummistiefelgröße 29 Schädlinge in diesen Boden.
Vielleicht bekam man es vererbt, wenn man hineingeboren wurde in eine dieser Marschfamilien, wenn man Teil eines Fachwerks war von Anfang an. Man kannte seinen Platz und seinen Rang in dieser Landschaft, es ging immer nach dem Alter: Erst kam der Fluss, dann kam das Land, dann kamen Backsteine und Eichenbalken und dann die Menschen mit den alten Namen, denen das Land gehörte und die alten Häuser.
Alles, was dann noch kam, die Ausgebombten, Weggejagten, Großstadtmüden, die Landlosen und Heimatsucher, waren nur Flugsand und angespülter Schaum. Fahrendes Volk, das auf den Wegen bleiben musste.
Runter von der Leiter, weg von derAuf fahrt, ein Schädling.
Anne fragte sich, wie lange man hierbleiben musste,
um nicht mehr fremd zu sein. Ein Leben war wohl nicht genug.
»Danke für die Leiter«, sagte sie, »einfach nicht hingucken beim nächsten Mal! «

Das alte Bauernhaus legt Hansen zum Symbol für die Unbehaustheit an. Die Flucht aus Ostpreußen ist nicht Thema des Romans, nur Kontrastbild zu den aktuellen Überlagerungen der Tradition. Gern “entlarvt sie höchst pointenträchtig die Ideologie der neuen Landlust unserer Gegenwart“ (Dennis Scheck) und auch ihre karikierenden Abrechnungen mit den Szene-Familien aus Hamburg-Ottensen, der Spielplatz-Mütter, die, „wie gutmütige Familienhunde, die Schnuller und Trinkflaschen apportierten, die ihre Kleinkinder aus den Buggys warfen“, machen sich selbstständig, tragen zum klischeeerfüllten Lesevergnügen bei, fügen sich aber nur bedingt in die Konzeption zum Roman ein.

Sie kochte mit Agar-Agar, das war eben nicht so idiotensicher wie Gelierzucker. In Evas Marmeladen-Manufaktur gab es ausschließlich vegane Aufstriche, Gelees und Konfitüren.
Die Trampel vom Landfrauenverein hatten noch nicht einmal gewusst, dass es das gab! Hauten immer schön den Gelierzucker in ihre Marmeladen – und rümpften ihre Nasen über Evas Zucchini- und Kürbismarmelade. Was der Bauer nicht kennt! (…)
Am besten liefen ihre sortenreinen Apfelgelees, Eva ließ sich die alten Sorten von einem Pomologen liefern, genialer Typ, ein Quereinsteiger, der früher Orientalistik studiert hatte. Man merkte schon, dass so ein Mann einen anderen Horizont hatte als der normale Altländer Bauer. Es würde noch viel Überzeugungsarbeit nötig sein, bevor jemand wie Dirk zum Felde endlich realisierte, dass der moderne Obstbau mit seinen Überzüchtungen und Überdüngungen und seinen Monokulturen und der ganzen Gentechnologie ein Irrsinn war. Kompletter Irrsinn!
Da war er als Journalist natürlich auch gefragt, er plante ein Porträt des Pomologen für die Herbstausgabe von Land & Lecker. Und Eva hatte sich im letzten Jahr schon ein paar alte Sorten in den Garten gepflanzt, Ananasrenette, Horneburger Pfannkuchenapfel, Juwel von Kirchwerder, erst mal nur drei von jeder Sorte, aber ein Anfang.

Das „Land“ wird nicht verklärt, Dörte Hansens lakonisch präziser Stil distanziert sich auch davon, dennoch kann man es schade finden, dass es das “Alte” Land so nicht mehr gibt. Kommt gerade eine neue Flüchtlingsgeneration? Stoff für eine Fortsetzung.

2015             290 Seiten

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