Nachrichten vom Höllenhund


Melchor
4. Februar 2020, 19:07
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Fernanda Melchor:
Saison der Wirbelstürme

melchorWichser. Alle. Schwuchteln. Diejenigen, die nirgends untergekommen sind, nicht im Denken, nicht im Wissen, nicht im Job, nicht bei sich. Der kümmerliche Bodensatz: Saufen, Pillen, schlagen, ficken, morden. Perspektive: Weiter so wie bisher. Wegziehen: ein nebliger Gedanke. Männer. Natürlich auch Opfer.

Opfer dieser bestialischen Opfer: Frauen, Mädchen, Mösen. Doppelopfer, weil sie die Kinder kriegen, Fickprodukte, mehr ist nicht. Sich verkaufen für ein paar Pesos, ein bisschen Frieden in der Kirche, bei den Heiligen, das Beten als Volksdroge der Frauen.

Wenn man etwas tut, was immer man getan hat, man möchte es ungeschehen machen. Denn es führt zu: Nichts. Ein Treiben aus existenziellen Nichtigkeiten. Es gibt kein richtiges Leben im falschen Sein. Der Kreis hat keine Öffnung, jeder Versuch führt tiefer in den Sumpf der Wichser.

Fernanda Melchor taucht tief hinein, hinab in diese Sümpfe in der mexikanischen Provinz. La Metosa, nicht mal zum Überleben geeignet. Am Anfang und am Ende steht der Mord. An der Hexe, La bruja, der Heilerin, der Schwuchtel, in der man sich selbst hasste, bei der man Wertsachen vermutete. Das bekannte Muster.

Es beginnt wie es endet: Leichen, Sumpf, schwarze Schlangen

… Sirren der Steine, wenn sie direkt vor ihren Gesichtern die Luft zerschnitten, die warme Brise, in der die Geier am fast weißen Himmel kreisten und die von einem Gestank erfüllt war, der schlimmer war als eine Handvoll Sand im Gesicht, einer Ausdünstung, die einen aus­spucken ließ, um sie nicht zu schlucken, die einem jede Lust raubte, weiterzugehen. Aber der Anführer deutete auf den Rand des Schilfs, und zu fünft robbten sie über das trockene Gras, fünf Körper wie einer, von grünen Fliegen umschwärmt, und so sahen sie schließlich, was aus dem gelben Schaum des Wassers ragte: das halb verweste Gesicht eines Leichnams zwischen Schilfgras und Plastiktüten, die der Wind von der Straße herüberwehte, eine schwärzliche Maske, lächelnd in ei­nem brodelnden Gewusel schwarzer Schlangen.   …

… der Menschen, die ein hal­bes Leben unter der gnadenlosen Sonne umhergewankt sind. Dann kam dieses arme zerstückelte Mädchen; wenigstens war es nicht nackt, das arme Ding, sondern in himmelblaues Zel­lophan eingewickelt, damit seine Glieder nicht auf dem Boden des Krankenwagens herumflogen, vermutete der Alte. Dann kam das Neugeborene, das Köpfchen gerade so groß wie eine Cherimoya, das die Eltern bestimmt in irgendeiner Klinik der Gegend ausgesetzt hatten, wo es dann seinen letzten Atemzug getan hatte. Und zuletzt der schwerste und umfangreichste von allen, die Angestellten mussten ihn mit Laken halten, weil die Haut sich ablöste, wenn sie ihn an Händen oder Füßen anfassten; der würde dem alten Mann sicherlich mehr Arbeit machen als alle anderen zusammen, sogar mehr als das arme zerstückelte Ding, weil der Lump nicht nur erstochen worden, sondern zudem noch ganz war; halb verwest, aber ganz, und mit denen hatte man immer am meisten zu tun; als würden sie sich nicht in ihr Schicksal fügen wollen, als hätten sie Angst vor dem dunklen Grab. Aber das konnten die beiden Schwach­köpfe vom Leichenhaus nicht wissen. Sie wollten nur ein paar …

Fernanda Melchor hat es auf sich genommen, diesen Wust auszukotzen. 230 Seiten, fast ohne Punkt. Ohne Abschnitte durchgeschrieben, denn auch das Leben hat keine Strukturen. Fernanda Melchor verfolgt ein paar der Gebrochenen in deren Gedanken, endlosen Suaden um nichts. Sie tut das in einer solch authentischen, mitleidslosen Sprache, dass ich mich immer wieder versicherte, dass der Autor eine Frau ist. Der Realitätsgehalt? Ist das Leben in – gewissen Gegenden von – Mexiko wirklich so desaströs, so verwichst? Hat es Folgen, wenn man den sozialen Bodensatz so lebensecht zum Ausdruck bringt, hat es Folgen für den Leser?

Viele Leser fühlen sich getroffen, überfordert, wollen nicht wahrhaben, was sie lesen. Sie überlesen im Roman die Sozialreportage. „Der Roman wäre aber vermutlich kaum so beeindruckend, wenn seine Brutalität nicht so nah an der Wirklichkeit wäre.“ (Isabel Metzger, SPIEGEL) Es gibt auch Bücher über heilere Welten. Fernanda Melchor will die üble Seite zeigen, das üble Leben der Ausgebeuteten – und damit ist der Roman auch ein Statement zum Hurrikankapitalismus.

„Auffällig und ermüdend ist die Manie der Autorin, sexuelle Handlungen jeder Art, vornehmlich zwischen Männern, drastisch auszumalen. Im sechsten Kapitel wird eine Orgie im Haus der Hexe, die sich als Transvestit entpuppt, beschrieben. Hier fühlt sich der Leser wie in einen Darkroom gesperrt, in dem alle denkbaren und undenkbaren sexuellen Praktiken ausgeübt werden. Ein Kritiker schrieb, das sei keine Literatur für zartbesaitete Naturen. Andere werden sich fragen, ob das überhaupt noch Literatur ist. (…) Durch das zynische Denken und die üble Nachrede wird auch die geringste solidarische Regung im Keim erstickt. (…) Der strapazierte Leser fragt sich: Wo ist die andere Seite der Medaille? Gibt es denn neben La Matosas heilloser Trostlosigkeit nicht auch ein anderes Mexiko, das intuitiv rücksichtsvolle, einfühlsame, großherzige, sentimentale, geistreiche, innovative, revolutionäre, aus seinen indigenen Wurzeln schöpfende Mexiko? (Peter Schultze-Kraft, FAZ) „Es ist krass, geht unter die Haut und nimmt für den Moment den Glauben, dass der Mensch im Herzen gut ist.“ („Wortesammlerin“ Franziska Werum) „Die nicht leicht zu klärende Frage ist, warum Melchor für ihre Figuren keine Zuneigung aufbringt. Gerade so, als lebten in Mexiko nur Menschen ohne Herz. ‚Sie trug nichts zur Welt bei als das Kohlendioxid, das sie mit jedem Atemzug ausatmete’, sagt Brando über seine Mutter.“ (Ralph Hammerthaler, SZ)

Die Mexikanerin Fernanda Melchor erhält für ihren Roman „Saison der Wirbelstürme“ den Internationalen Literaturpreis des Berliner HKW. Auch ihre deutsche Übersetzerin wurde ausgezeichnet. „Fernanda Melchor hat den Roman der Armut im Globalkapitalismus des 21. Jahrhunderts geschrieben“, heißt es in der Begründung der Jury. Es sei ein Roman des gnadenlosen Kampfes der Schwächsten gegen noch Schwächere und gegen sich selbst, ein Roman der Zerstörung. (SPIEGEL)

… vierzehn hab ich ihn kennengelernt, war gerade nach Villa gekommen, weil ich es satt hatte, dass ich auf der Farm Zitronen pflückte und mein Vater sich das ganze Geld unter den Nagel riss, um es zu ver­saufen oder beim Hahnenkampf zu verwetten; ich hatte von der neuen Landstraße gehört, die hier gebaut wurde, um die Ölfelder mit dem Hafen zu verbinden, und irgendjemand sag­te, dass das eine Goldgrube war und es Arbeit zuhauf gab; ich hatte von nichts eine Ahnung außer Zitronenpflücken, trotz­dem kam ich her, ganz allein, und Scheiße, stell dir vor, was das für eine Überraschung war, als ich gesehen hab, dass die­ses Dorf ein noch schlimmeres Dreckskaff war als Matadepita, Scheiße, und der einzige Ort, wo ich Arbeit bekam, war die Kneipe von Dona Tina, der alten Schlange mit dem Arsch­gesicht, geizig wie sonst noch was. Ich musste das Drecksweib jedes Mal fast anbetteln, damit sie mich bezahlte, und sie warf mir vor, ich würde das Trinkgeld behalten, aber welches Trinkgeld, in dieses beschissenen Loch verirrten sich ja nicht mal die Fliegen. Aber dieses Aas hielt sich für ne feine Dame, ganz anständig und etepetete, als hätte der Heilige Geist höchstpersönlich ihr den Haufen Kinder gemacht, Scheiße; als hätte sie die Kneipe und das Grundstück nicht von der Kohle bezahlt, die sie sich auf den Schwänzen von Tagelöh­nern und Tellerwäschern verdiente, als die sich hier an der Landstraße niederließen. Das alte schwarze Drecksvieh, jetzt macht sie auf edle Heilige, dabei sind ihre beiden Töchter noch schwärzer und noch größere Schlampen als sie selbst, von den Enkelinnen ganz zu schweigen. Immer haben diese Huren über mich hergezogen, vom ersten Tag an haben sie mich behandelt wie das letzte Stück Dreck, und erst recht, als sie dahinterkamen, dass ich was mit Maurilio hatte; ja, da ha­ben sie sich wer weiß was für Geschichten ausgedacht, dass ich dieses Aidszeug hätte und keine Ahnung wie viele Lastwa­genfahrer der gleichen Firma auf dem Gewissen, so widerliche Scheißgerüchte, aus purem Neid haben sie sich das aus den Fingern gesaugt. Und der verdammte Maurilio hat mich nie vor ihnen in Schutz genommen, dieses schnorrende Weichei. Ich weiß wirklich nicht, wie ich so idiotisch sein konnte, mir von dem Arschloch ein Kind machen zu lassen; bevor ich schwanger wurde, war ich ein heißer Feger, ich zeig dir …

2017          230 Seiten

Ausführliche Inhaltsangabe mit vielen Zitaten bei Dieter Wunderlich

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Diome
8. August 2017, 15:46
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Fatou Diome: Der Bauch des Ozeans

diomebauchGeorge Weah kam aus dem westafrikanischen Liberia zum AC Milan und wurde Weltfußballer des Jahres 1995. (Zweiter wurde Paolo Maldini.) Jetzt bewirbt sich Weah um das Amt des Präsidenten seines Herkunftslandes, in dem 85% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Der französische Präsident Macron hat „vergangene Woche vorgeschlagen, sogenannte Hotspots in Libyen einzurichten: Auffanglager, in denen geprüft werden soll, wer eine Chance auf Asyl in Europa hätte und wer schon an der Reise über das Mittelmeer gehindert werden sollte. Macron begründete diese Vorverlagerung der Grenzkontrolle humanitär: Diejenigen, die Schutz oder auch nur ihr Glück in Europa suchen, sollen geschützt werden vor den tödlichen Gefahren, die sie dafür zu riskieren bereit sind – und vor der bitteren Enttäuschung, die sie in einem Europa, das sie nicht will, erwarten würde. (Carolin Emcke)“

Das steht nicht in Fatou Diomes Roman „Der Bauch des Ozeans“ aus dem Jahr 2003. Das steht in der Süddeutschen Zeitung vom August 2017. Aber es zeigt, dass die Themen 14 Jahre später noch die gleichen sind, dass keine Lösungen gefunden wurden und dass Romane die Probleme nicht beseitigen können. Auch wenn dies Anliegen der Autorin ist.

Madické, der kleine Bruder der Erzählerin, sitzt auf einer kleinen senegalesischen Atlantikinsel vor dem Fernseher und ärgert sich, dass die Übertragung der Spiele seines Idols Paolo Maldini (AC Milan) nicht störungsfrei ist. Er träumt von einer Karriere in der französischen Liga, die Schwester, als Schriftstellerin in Frankreich erfolgreich, soll helfen: Geld, Kontakte, Erfahrung.

Salie aber, die Erzählerin, hat den Überblick, sie hat Bildung, sie ist eine altera ego der Autorin. Sie weiß um die vielen gescheiterten Träume von Afrikanern, die in Europa nur das Paradies sehen. Sie weiß, dass die Nachrichten in die Heimat geschönt sind, nicht vom Elend berichten. Man verschließt Augen und Verstand. Die Schwester setzt alles ein, ihren Bruder zu desillusionieren, ihm die Augen zu öffnen; sie will ihn vor der „bitteren Enttäuschung“ warnen.

Auch Madické war besessen von diesem Traum. Er zählte auf mich. Ein einziger Ge­danke beherrschte ihn: fortgehen, weit fortgehen, über die schwarze Erde fliegen, in dieses weiße, von tausend Lichtern funkelnde Land; fortgehen, ohne zurückzuschauen. Wer über das Hochseil seiner Träume tanzt, dreht sich nicht um. Er wollte ans an­dere Ende des Ozeans, wo du fürs Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt beziehst, wo du fürs Nichtarbeiten Geld bekommst… dorthin, wo das Gras soviel grüner ist… wo schon die Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum daß sie auf der Welt sind, einen Karriereplan. Wer sich dieser Sehnsucht in den Weg stellte, war verflucht.
Diese bittere Erfahrung machte ich, als ich in den Sommerferien, ein paar Monate vor der Europameisterschaft, nach Hause kam. Mein Brude wollte um jeden Preis auswandern. Er war groß geworden mit der fixen Idee, fortzugehen, um an derswo Erfolg zu haben. Ältere hatten ihn mit die sein Wunsch angesteckt, der ihm immer mehr al seine Bestimmung erschien. Auswandern war das Leitmotiv für seine Zukunft, sein gesamtes Leben. (…)

Es wurde meist spät, bis Madické und seine Freunde in den Gassen des schlafenden Dorfs ver­schwanden. Der Mann aus Barbès warf sich aufs Bett und kaute an seiner Wange. Zum Glück hatte er seine Stellung wieder behaupten können, ja sogar ausgebaut. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er damit angefangen, wahre Wunderdinge zu berich­ten, die großartiger waren als alles, was je über Pa­ris geschrieben wurde. Er war zum besten Bot­schafter Frankreichs geworden und sonnte sich in dessen Glanz. Er brauchte die Massage nicht für seinen kleinen Mann – die Anzahl seiner Erben zeigte, daß ihm Rocco nichts voraushatte außer ein paar Millionen -, sondern gegen den Albtraum, daß ihm von seinen vielen Lügen wie Pinocchio eine lange Nase wachsen könnte. Er verkaufte Salz für Zucker, und sein Publikum fraß ihm aus der Hand, weil beides im Mondlicht gleich glitzert. Er ver­drängte sein schlechtes Gewissen: War es denn so schlimm, nur bestimmte Erinnerungen auszuwäh­len und zu vergolden? In Wahrheit war er in Paris der Neger gewesen. Doch von dieser erbärmlichen Existenz, über die er den Mantel des Vergessens ge­breitet hatte, schimmerte in seinen farbigen Schil­derungen nichts durch.

Fatou Diome schreibt über die schützende und erdrückende Gemeinschaft im Senegal, die den “Westler” als “Individualisten” brandmarkt und man versteht, weshalb die Familie/der Clan auch für Afrikaner in Europa so wichtig sind. Sie schreibt über die Stellung der Frauen, die nur innerhalb ihrer Familie eine denkbare und dienende Rolle spielen.

Nach den uralten Gesetzen der Ahnen schlossen sie eherne Bündnisse im Interesse der Sippen und besiegelten das Schicksal der Mädchen. Nicht Liebende wurden da vereint, sondern Familien zusammengeschmiedet. Der einzelne ist nur ein Glied in der Kette des Clans. Jede Lücke wird sofort durch eine Heirat geschlossen. Die Äste des Palaverbaums reichen bis in die Betten, in denen die getroffenen Vereinbarungen vollzogen werden. Die traditionelle Diplomatie ist nur die Spitze der Pyramide, die auf dem Dreieck zwischen den Beinen der Frauen gründet.

Die traditionelle Gemeinschaft gibt Sicherheit, aber sie erdrückt dich auch und walzt dich platt. Sie zer­malmt dich wie ein Mörser, damit sie dich besser verdauen kann. Die Bande, die dich mit der Grup­pe verknüpfen, nehmen dir die Luft zum Atmen, und du denkst nur noch daran, sie zu zerreißen. Das Feld der Pflichten und das der Rechte liegen zwar nah beieinander, aber das erste ist so weitläu­fig, daß du es dein Lebtag lang beackerst und erst zum zweiten kommst, wenn das Alter dich von der Arbeit befreit. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist ei­ne selbstverständliche innere Gewißheit; der Zwang dazu nimmt dir das Recht auf Selbstbestimmung. Aber sag das mal den Herdentieren, die stur ihre Werte wiederkäuen! Dann beschimpfen sie dich als Individualistin, als Kopie der Kolonialherren, und schließen dich aus. Frauen sind da am schlimmsten.

Wenn man den Roman liest, versteht man, weshalb Mauern und Meere den Drang nach Norden ins unermesslich reiche Europa nicht eingrenzen können. Man begreift, dass der Flüchtling, der nach Libyen oder weiter nach Süden zurückgebracht wird, dort nicht bleiben kann. (Man müsste ihn einsperren.) – Vielleicht liest man solche Romane aber nur, wenn man das alles schon verstanden hat. – “Ich will Ihnen sagen, was wirklich schamlos ist: wie die Dritte Welt verhun­gert, während der Westen aus allen Nähten platzt.” Das aber ist, wie vieles im Buch, politisches Statement, keine Fiktion. Aus Europa ist keine Hilfe zu erwarten:

Die Linke ist eine Kaviarlinke, die macht die Armen mit leeren Reden besoffen und frißt sich selbst mit gutem Gewissen voll. Die Linke ist zwar die Mutter der kleinen Leute, aber statt uns Milch zu geben, stellt sie lieber ihre schönen Brüste zur Schau. Und Integration gibt es auch bloß für die Na­tionalelf.

Der Roman endet im positiven Trugbild. Die in Frankreich erfolgreiche Schwester schickt ihrem Bruder Geld, damit er auf der Insel einen Laden eröffnet. Aber das ist nur einen Lösung für einen Menschen. Wer wird bei hm einkaufen? Was, wenn ein zweiter Laden aufmacht? Immerhin kann Madické sich einen störungsfreien Fernseher leisten.

„Der Bauch des Ozeans“ ist eine politisch gefärbte Sozialanalyse in Form einer Familiengeschichte. So kann sie exemplarisch sein, in ihren Figuren austauschbar, so wird sie zum konsumierbaren Roman. Diome zeigt auch, wie wichtig die Sprache ist zum Verstehen des Lebens, zur Begründung von Tradition. „Auch wenn du noch so nach Liebe hungerst, wirst du keinen Seeigel küssen.” »Nimm mich mit, Ozean, dein bitterer Bauch sei mir ein weiches Lager. Die Le­gende sagt, daß du jedem Zuflucht gewährst, der dich darum bittet.«

2003      275 Seiten

Leseprobe beim Diogenes-Verlag

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Sansal
17. Juli 2011, 15:59
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Boualem Sansal: Harraga

Lamia arbeitet als Kinderärztin  in einem trostlosen Krankenhaus in Algier. Die Abende verbringt sie allein in ihrem alten Haus und hängt längst verblassten Erinnerungen nach. Von ihrer Familie ist nur ihr Bruder Sofiane geblieben, doch dessen Spur verliert sich auf dem Weg ins Gelobte Land Europa.
Alles ändert sich mit dem Tag, an dem Chérifa vor der Tür steht: 16 Jahre alt, schwanger, ohne Zuhause.
Lamia ist entsetzt- Chérifa schert sich einen Teufel darum, was ein junges Mädchen in der arabischen Welt tun darf oder besser bleiben lässt. (Klappentext)

Sansal erzählt auch von diesen zwei Frauen, aber eigentlich geht es ihm um das Land, die Gesellschaft in Algerien, im islamischen Nordafrika. Er lässt seine Heldin Lamia erzählen, aber er steht als Autor immer dahinter, weiß mehr als die Hauptperson. Er bettet die eher reduzierte Handlung ein in die Geschichte, die Gegenwart, er erzählt von Filmen, die sein Thema behandeln, er greift aus. Lamia macht sich immer wieder bemerkbar, überträgt die Reflektionen auf ihr Schicksal als gescheite Frau in einer blockierten Gesellschaft, bringt die Gefühle ein. Dazu ist Chérifa willkommen, als Lolita-Mädchen steht sie vor der Tür, wirbelt ihre Umgebung auf, ist aber den größten Teil des Romans nicht da, Lamia sucht sie fast die ganze Zeit. Chérifa ist die junge Lamia, doch die Hoffnung ist trügerisch. Chérifa, die Junge, ist kulturlos, geschichtslos, nur an sich und daran interessiert, einfach so zu leben. Lamias Erziehungsversuche prallen gnadenlos ab.

 Wir irrten traurig und mit gesenktem Kopf umher, durch die Jahrhunderte und die Zivilisationen, ohne dass etwas un­sere Aufmerksamkeit geweckt hätte, uns dazu gebracht hätte, die entscheidende Frage zu stellen: „Was macht das bei uns?“ Die Räume waren menschenleer, sie erzählten von der Leere, die prägt, von der Abwesenheit der Seele, von der Verban­nung. Die Gemälde, die Statuen, die Kunstgegenstände, die Steine, die Grafiken sahen aus wie alter Kram, arrangiert von vagen Gerichtsschreibern, die von der Routine ganz erschöpft waren. Das Schöne ist nur dann schön, wenn man es weiß. Wir sind daran vorbeigegangen, und haben uns draußen wie­der gefunden, in der Sonne, elend, geblendet, erschöpft, ent­täuscht.
All das ist eine andere Welt für Chérifa, eine unbekannte, künstliche Welt, zusammengetragen auf den Flohmärkten der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende. Sie betrachtete sie mit den Augen einer Eule, die von einem Riesenkrach auf­geschreckt wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass sie das ver­steht, wir stammen nicht aus Aladins Wunderlampe oder einem Zauberkunststück im Labor, sondern aus diesem Floh­markt, aber es gibt keine Worte, die die Grenzen des Geistes durchdringen. Chérifa muss viel sehen, um vorwärts zu kom­men, und das kann ich nicht an ihrer Stelle tun. Jetzt muss ihr Karma sprechen. (…)
Ich spürte, dass Chérifa sich von mir entfernt hatte. Sie sah mich an, als sei ich eine Fremde oder eine Verwandte, bei der man nebenbei eine perverse Neigung entdeckt. In diesem Mo­ment begriff ich, was es bedeutet, zu verzweifeln.
Die Kultur ist das Heil, aber auch das, was am tiefsten trennt.

Das Leben ist kolonisiert von Tradition, Religion, Regime, aber auch von der Stadt, dem Haus, belebt auch sie und erdrückend, der Nachbarschaft, der Familie, den Männern, indirekt, aber noch immer wirksam, von Besatzern und Eroberern, alle gespenstergleich. Das lastet auf der Frau. Lamia reflektiert, sie vermisst das Leben als Frau, lotet ihre Möglichkeiten aus, sie sieht sich von allem überfordert, sie bleibt realistisch und damit einsam. Trotzdem erlaubt sie sich, zornig zu sein.

 Ich weiß es, aber die Sache schockiert, das Bild verstärkt die Worte, die afrikanische Gesellschaft ist jämmerlich zersplittert, und sie ist es seit Menschengedenken gewesen. Es gibt die Welt der Frauen, errichtet auf der Zurückgezogenheit und der unendlichen Geduld, die der Männer, in der sich alles um das Überleben dreht, die der Jugendlichen, die auf dem Traum vom Verheißenen Land basiert, und die der Notabeln, die dem Raub gewidmet ist. Diese Welten begegnen einander nie. Von Demokratie in unseren Ländern zu sprechen bedeutet, von legendären Dingen zu sprechen, unsere Hexenmeister sind weit davon entfernt, eine solche Maschine zu ersinnen.

Der Roman ist – auch – die Geschichte vom Weglaufen, vom Alles-hinter-sich-lassen, Harraga, das Verbrennen der Straße, das Abbrechen aller Brücken hinter sich. Auch Chérifa verbrennt sich auf ihrer Flucht, auch sie findet kein Ziel.

 Dieses Land wird von Menschen ohne Seele regiert, sie haben uns zu Wesen nach ihrem Bild gemacht, klein, boshaft und gierig, oder zu Aufständischen, die sich in Scham und Bedeutungslosigkeit zusammenkauern. Unsere Kinder leiden, sie träumen vom Guten, von Liebe und von Spielen, sie werden ins Böse, den Hass und das Nichtstun geführt. Sie haben nur dieses Mittel um zu leben, Harragas zu werden, die Straße zu verbrennen, wie man früher seine Boote verbrannte, um nicht zurück zu müssen.

 Das Leben lässt im Grunde wenig Auswahl, fortgehen, bleiben, vergessen, wiederkäuen. Das ist nicht lustig. Man würde gerne phantasieren, das Unmögliche versuchen, den Teufel am Schwanz ziehen, ein Luftschloss beziehen, die Sterne vom Himmel holen, eine neue Religion gründen, die Massen befreien, sich in einen Schmetterling verwandeln, sich als Harlekin verkleiden, zu den Sternen eilen, was weiß ich.
Wie lang sind die Tage und wie schwierig ist der Traum. Man verliert so viele Dinge im Laufe eines Lebens. Und schließlich ist man allein, mit seinen zerfetzten Erinnerun­gen, den im Naphthalin vergessenen Kleidern, den liebge­wordenen Gegenständen, die nichts erzählen, mit den Wör­tern, die außer Gebrauch gekommen sind, den Daten, die dumm am Kleiderhaken der Zeit hängen, den Gespenstern, die die Schatten durcheinander bringen, mit zweifelhaften Anhaltspunkten, mit fernen Geschichten. Man ersetzt die Din­ge so gut man kann, man umgibt sich mit neuem Krempel, aber das Herz ist nicht bei der Sache, und das bisschen Leben, was uns bleibt, leidet unter den Folgen.
Na, was ist denn los, meine Liebe, sind wir mal wieder am Quatschen, verderben wir uns den Kopf, wollen wir sterben? Nein, ich bin jung, ich bin eine Kämpferin, ich habe die Kontrolle, ich werde mich fangen!
Ich habe ein Bad genommen, habe mich hübsch gemacht und mir eine Kanne Tee gekocht.
Morgen ist ein neuer Tag, das Leben wird mir zulächeln.

Sansal erzählt belehrend phantastisch, abschweifend und engagiert, stilistisch einnehmend. Vieles wäre zu zitieren. Er bürdet der Geschichte der zwei Frauen viel auf, vor allem Chérifa geht dabei fast verloren. „Postmoderne aus Algerien“ nennt es DeutschlandRadio Kultur. „Er benutzt Sprache in jeder Form: Lyrik, die an Paul Celan erinnert, Poesie wie aus „1001 Nacht“, Umgangssprache und Comic-Lautmalerei, Slapstick, intertextuelle Literaturverweise und auch das Fernsehprogramm. Das ist Literatur, die einen schwindlig macht, – ein unglaublicher Genuss. Sansals Sprache erinnert an die der großen Südamerikaner, besonders an die des „magischen Realismus“ von Gabriel García Márquez.“

2005          280 Seiten

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 Boualem Sansal erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011

 Homepage von Boualem Sansal beim Verlag

  Leseprobe beim Übersetzer Riek Walther



Matar
1. April 2011, 14:40
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Hisham Matar: Im Land der Männer

Suleiman, dummer Bub. Umm Suleiman, die Mutter, wurde als Neunjährige ausgepeitscht, weil sie auf der Straße mit einem Gleichaltrigen sprach, und mit 14 zwangsverheiratet, damit sie sich nicht noch einmal in einem Café mit einem Jungen an einen Tisch setzen konnte. Sie hat sich mit dem ihr verordneten Mann arrangiert, braucht aber, sooft der Mann außer Haus ist, illegal beschafftes „Wasser“, um ihr Schicksal betrauern und ihre Träume vom selbstbestimmten Leben verscheuchen zu können. Bu Suleiman, der „Baba“ ist in dieser Konstellation ein guter Mann, er schlägt Frau und Sohn nicht, hat aber den Fehler, dass er mit der politischen Situation im Libyen zur Zeit der „Umgestaltung“ des Landes durch Gaddafi und seine Anhänger nicht einverstanden ist. Er schreibt in sein Buch „Demokratie jetzt“ und setzt sich damit natürlich der Verfolgung durch den Geheimdienst Mokhabarat aus.

Suleiman ist 9. Er registriert genau, Stimmungen, Tonfälle, Mimik, er nimmt sich und seine Umgebung in der Mulberry Street mit offenen Sinnen wahr, er beschreibt detailliert. Aber er versteht noch nichts. Er mag seinen Baba, aber der ist oft nicht da, er fühlt sich stark seiner Mutter verbunden, vor allem, wenn er völlig durch ihre nächtlichen „Krankheiten“ irritiert ist. Es wächst das konfuse Gefühl, seine Mutter rächen zu müssen, weil sie sein Vater einfach genommen hat. Als die Mutter die Schriften des Vaters verbrennt, damit sie nicht in die Arme des Geheimdienstes fallen, rettet Suleiman die Aufzeichnungen „Demokratie jetzt“ vor dem Feuer, um sie wenig später einem Geheimdienstmann zu präsentieren, der sie aber im Moment nicht beachtet. Suleiman wirft mit Steinen nach seinen Spielkameraden, weil er sich der Freundschaften nicht mehr sicher sein kann, weil sich die politischen Gräben mit Brutalität auch durch die Nachbarschaft ziehen. Er beobachtet in einer Fernsehübertragung, wie ein Bekannter seines Vaters gehängt wird, ihm fehlen aber die Zusammenhänge und ihm fehlen die Personen, mit denen er seine Ängste besprechen können. Er leidet an seinem Verhalten, ist aber zu jung, es zu korrigieren. Die Mutter, selbst erst 24, will beschwichtigen, sie will sich ja auch nur einen Rest des Lebens retten, das ihr als Mädchen weggenommen wurde.

Hisham Matar zeigt, wie sich Terrorregime auf Familien, auf Nachbarschaften, auf Kinder auswirken. Wie ihnen mit der brutalen Gewalt die Lebenserklärungen und –zuversichten entrissen werden. Indem er die Perspektive des begriffsstutzigen neunjährigen Kindes einnimmt, stellt er die bedrückenden Verwirrungen vor mögliche Belehrungen. Libyen und Gaddafi können ersetzt werden, sind aber jetzt am Ende dieses Terrors sehr aktuell.

Man sollte beim Lesen aber auch nicht den Titel des Romans vergessen.

2006         255 Seiten (TaBu)

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Hamid
28. März 2011, 15:06
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Mohsin Hamid: Der Fundamentalist, der keiner sein wollte

Nein, Fundamentalist ist Changez keiner. Auch wenn er sich das mit dem Titel anmaßt, indem er seine Absicht abstreitet. Insofern hat mich der Roman doch enttäuscht. Sicher, Changez wendet sich von seinem amerikanischen Lebenstraum und von seiner Konzernkarriere ab und wieder seinem Herkunftsland Pakistan zu. Ein Wechsel, aber keine Radikalisierung. Der 11. September ist auch hier die Bruchstelle, Changez wird seines Phänotyps wegen verdächtigt

Nach unserer Ankunft wurde ich bei der Passkontrol­le von meinen Kollegen getrennt. Sie stellten sich in die Schlange für US-Bürger, ich mich in die für Ausländer. Die stämmige Beamtin, die meinen Pass überprüfte, trug eine Pistole an der Hüfte und beherrschte das Englische schlechter als ich; ich versuchte, sie mit einem Lächeln zu entwaffnen. »Was ist der Zweck Ihrer Reise in die Ver­einigten Staaten?«, fragte sie mich. »Ich lebe hier«, ant­wortete ich. »Danach habe ich Sie nicht gefragt, Sir«, sag­te sie. »Was ist der Zweck Ihrer Reise in die Vereinigten Staaten?« Unser Wortwechsel ging so mehrere Minuten lang. Schließlich wurde ich zu einer Untersuchung in ei­nen Raum gebracht, wo ich dann neben einem tätowierten Mann in Handschellen auf einer Metallbank saß. Mein Team wartete nicht auf mich; als ich endlich wieder in der Abfertigungshalle war, hatten sie schon ihr Gepäck geholt und waren gegangen. Folglich fuhr ich an dem Abend sehr allein nach Manhattan.

Er ist Unternehmensberater geworden und hat auch mit dem Zweck seines Tuns immer mehr Probleme, wird unfähig zur Arbeit. Auch sein Privatleben verarmt, weil er immer wniger Ansprechpartner findet und seine Beziehung zu Erica (!America) mit deren amerikanischen Depressionen ein Ende nimmt. So kehrt er nach Pakistan zurück, erst 22 Jahre alt.

Changez sitzt in Lahore in Pakistan in einem Café und erzählt seine Geschichte. Als Zuhörer fungiert ein nicht weiter benannter Amerikaner, der aber nicht zu Wort kommen darf. Changez ist wieder daheim, fühlt sich hier überlegen und nötigt dem passiven Gast seine Meinung und das pakistanische Weltbild und die pakistanischen Speisen und seine doppelten Traumata auf. “Der Tag, an dem ich Amerika sitzen ließ“ hat Hubert Spiegel seine FAZ-Rezension sehr schön betitelt. Jetzt hat Changez (!) die Definitionsmacht, der Amerikaner kriegt Angst. „Der Kellner, die Fledermäuse, ein Stromausfall, alles beunruhigt ihn – und dass es lange Zeit nicht ganz klar ist, ob der Amerikaner paranoid ist oder nur erfahren, ob er eine Bedrohung darstellt oder selbst gefährdet ist, zeigt, wie leichtfüßig sich Hamid allen Zuordnungen entzieht.“ (Sonja Zekri, SZ)

Wir Einheimischen schätzen diese letzten Tage dessen, was man hier in Lahore unter Frühling versteht; die Sonne ist zwar heiß, hat aber einen beruhigenden Effekt. Oder hat, wie ich wohl sagen sollte, einen beruhigenden Effekt auf uns, denn Sie, Sir, scheinen sich noch immer unwohl zu fühlen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das sage, aber die Häufigkeit und Beharrlichkeit, mit der Sie sich umschauen – wenn Sie den Blick von einem Punkt zum nächsten lenken, scheint es in Ihrem Kopf unablässig tick-tick-tick zu machen -, erinnert an das Verhalten eines Tiers, das sich zu weit von seinem Bau entfernt hat und nun in der unvertrauten Umgebung nicht recht weiß, ob es Jäger oder Beute ist!

Ob man uns auch Besteck bringt, fragen Sie? Bestimmt lässt sich eine Gabel für Sie finden, Sir, aber erlauben Sie mir den Hinweis, dass jetzt die Zeit gekommen ist, uns die Hände schmutzig zu machen. Schließlich haben wir ja schon einige Stunden zusammen verbracht, da dürfte es eigentlich keinen Grund mehr geben, sich zurückzuhalten. Es liegt eine große Befriedigung darin, die Beute anzufas­sen, ja, Jahrtausende der Evolution haben dafür gesorgt, dass die Berührung des Essens mit der Haut den Ge­schmackssinn steigert – und nebenbei auch unseren Ap­petit! Aber ich sehe schon, dass Sie nicht weiter überredet werden müssen; Ihre Finger zerreißen das Fleisch dieses Kebab mit beachtlicher Entschlossenheit.

Eine geschickte Romankonstruktion, doch sind die Kapiteleinleitungen und –enden das Interessantere, die Geschichten aus der amerikanischen Geschäfts- und Liebeswelt kennt man schon. Auch hätte ich mir von einem “Fundamentalisten” etwas mehr als Vorspeisenterror erwartet.

2007      190 Seiten

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NDiaye
9. Oktober 2010, 18:53
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Marie NDiaye: Drei starke Frauen

Drei Geschichten – ein Roman?

Die erste Geschichte: Norah kommt aus Europa zurück nach Afrika, weil ihr Vater es will, weil er sie braucht, um aus einer verzweifelten Situation zu finden. „Dieser Mann, der es immer verstanden hatte, eine Atmosphäre von dumpfer Angst um sich zu verbreiten, und den niemand je eingeschüchtert hatte, wirkte starr vor Entsetzen.“ Norah ist Afrika fremd geworden mit seiner nicht hinterfragten Männerdominanz, sie hat es geschafft, ist Anwältin geworden, ihr Vater, der Versager, kann ihre höhere, überlegene Position nicht akzeptieren, er schwebt weiter über ihr, in ihrer Phantasie sitzt er oben in seinem Flammenbaum vor dem Haus.

Ihr Vater, dieser erledigte Mann, erstrahlte in einem fahlen Licht.

Was für ein böses Omen!

Sie wollte aus diesem unseligen Haus so schnell wie möglich fliehen, doch sie hatte das Gefühl, sie habe sich, da sie akzeptiert hatte, hierherzukommen und den Baum ausfindig machen konnte, auf dem ihr Vater ni­stete, schon zu weit eingelassen, um einfach den Blick abzuwenden und nach Hause zurückzukehren.

Nach Hause, das ist Europa. Khady Demba ist Kindermädchen in diesem „unseligen“ Haus und ihre Geschichte ist die dritte im Buch. Ihr Mann ist tot, er war ihr einziger Halt, nur die Erinnerung an seine Wärme lässt sie weiterleben. Die Familie des Mannes verstößt sie, ihr Schicksal ist grausam und Marie NDiaye lässt den Leser nicht wegschauen.

Khady wußte, daß sie im Unrecht waren, doch auch, daß sie keine Möglichkeit hatte, ihnen das zu zeigen, außer einfach da zu sein in ihrer offenkundigen Ähn­lichkeit mit ihnen selbst, und da sie wußte, daß das nicht genügte, hatte sie aufgehört, sich darum zu bemühen, ihnen ihre Menschlichkeit zu beweisen.

Ihre einzige Hoffnung ist Frankreich, Europa, wo ihre Cousine lebt. »Wenn du drüben bist, bei Fanta, wirst du uns Geld schicken. Fanta muß jetzt reich sein, sie ist Lehrerin

Khady Demba erlebt, was Millionen Flüchtlinge erleben, die ins erträumte Paradies Europa wollen. Den Zaun überwinden, „der Afrika von Europa trennte“. Ihr Körper wird gequält, misshandelt, zerstört, sie erkennt sich nicht mehr in ihrem „im Rückspiegel eines Lastwagens erhaschte(n) Abbild des eingefallenen, grauen Gesichts mit dem rötlichen Haarschopf […], je­nes Gesichts mit den schmal gewordenen Lippen und der vertrockneten Haut, das jetzt also das ihre war und von dem man nicht mit Gewißheit hätte sagen kön­nen, dachte sie, ob es einer Frau gehörte, ebensowenig wie von ihrem spindeldürren Körper, und dennoch blieb sie Khady Demba, einzigartig und notwendig in der Ordnung der Welt, auch wenn sie jetzt immer mehr all den umherirrenden, ausgehungerten Gestalten mit den verlangsamten Bewegungen glich, die durch die Stadt schweiften, auch wenn sie ihnen so sehr glich, daß sie dachte: Was gibt es zwischen ihnen und mir für einen wesentlichen Unterschied?, worauf sie innerlich lachte, über ihren eigenen guten Witz entzückt, und sich sagte: Der Unterschied ist, daß ich ich bin, Khady Demba!

Das Mädchen Khady Demba beschwört ihr Leben in ihrem Namen und das macht ihre Stärke aus, aber sie schafft es nicht,

und dann gab sie auf, ließ los, fiel sanft nach hinten und dachte dabei, es sei sicher das Wesen von Khady Demba, weniger als ein Hauch, eine winzige Luftbewegung, nicht auf der Erde zu landen, sondern in der Schwebe zu bleiben, ewig, kostbar […]

Das bin ich, Khady Demba, dachte sie noch in dem Augenblick, da ihr Schädel auf dem Boden aufschlug und sie mit weitgeöffneten Augen hoch über dem Zaun einen Vogel mit langen, grauen Flügeln ruhig kreisen sah – das bin ich, Khady Demba, dachte sie im Schwin­del dieser Offenbarung, wissend, daß sie dieser Vogel war und daß der Vogel es wußte.

Die zweite Geschichte, von Fanta, der Lehrerin, wird erzählt von ihrem Mann Rudy. Rudy ist Franzose, Europäer, Fanta kommt aus Afrika und ist doch die Stärkere. Rudy ist angesichts dieser Situation verunsichert, er schafft den Aufstieg nicht, er reicht nicht heran an die bewunderte Fanta. Auch in dieser Geschichte geht es um Fall- und Steighöhen, man strebt vom Boden weg, auch von der Heimat, der Herkunft, der Familie, was sich erreichen lässt, ist das Gefühl zu schweben “wie ein unentschlossener kleiner Geist, er streif­te den Fliesenboden nur ganz leicht mit den Füßen, schien manchmal sogar über den Boden zu schweben, als scheute er die Berührung mit dem Haus seines Va­ters, genauso, dachte Rudy, wie er sich von seinem Va­ter selbst vorsichtig fernhielt.” Manchmal kommt es ihm vor, als hätte auch Fanta einen schwebenden Gang, “wie mit Flügeln”. Für Rudy ist keine Erhebung mehr vorgesehen und auch keine Flucht, so sehr er sie auch mit seinem Auto sucht.

Als er über sich ein Flügelschlagen hörte, ein sanftes Rauschen von Federn und warmer Luft in der Stille, blickte er auf.

Wie auf ein vereinbartes Zeichen schoß der Bussard auf ihn nieder.

Er hob beide Arme, um seinen Kopf zu schützen. Unmittelbar bevor er ihn berührte, stieg der Bussard wieder auf.

Er stieß einen einzigen, zornerfüllten Schrei aus. Rudy stürzte ins Auto, verließ den Feldweg im Rück­wärtsgang und fuhr langsam wieder auf die Straße.

Denn war er in gewisser Weise jetzt nicht würdiger, geliebt zu werden, als noch an diesem Morgen?

Und konnte sie das, von der erhabenen Warte aus, auf der sie stand und von der aus sie in der Lage war, die Angriffe eines ihr ergebenen Vogels auf ihn zu len­ken, konnte sie das nicht verstehen?

Die Herkunft lässt keine/n los, nicht der “Heimat”-Kontinent, nicht Vater und Mutter, man hasst und braucht sie, träumt von ihnen und sehnt sich nach ihnen genauso sehr wie danach, endlich das eigene Leben zu finden.

Oh, wie es ihr bereits leid tat, nachgegeben zu haben, wie sehr sie sich wünschte, nach Hause zurückzukeh­ren und sich um ihr eigenes Leben zu kümmern.

Oh, was konnte er tun, da er sie doch liebte?

Ein hartes Buch, ein trauriges Buch, ein brutal realistisches Buch voller Phantasien und voller Symbole und voller beschwörender Sätze, die mit „Oh“ beginnen. Ein Buch auch über die Männer, doch „während die Frauen in sich selbst Mittel und Wege finden, alles auszuhalten, geben die Männer die erlebte Gewalt weiter und setzen so fatale Ereignisketten in Gang“ (Felicitas von Lovenberg, FAZ). Ein niederschlagendes Buch, weil die „Stärke“ der Frauen doch nur im besseren Aushalten, in Resignation, in Abstumpfung, in der Annahme des ihnen zugewiesenen Schicksals bestehen kann. Ein europäisches Buch mit anfangs und insgesamt irritierenden magischen Flügelschlägen, die „Engführung von Analyse und Gefühl“ ist erstaunlich. (Ina Hartwig, SZ)

2009            340 Seiten

Audiobeitrag des Literaturmagazins von WDR 5  

3SAT-Literaturgespräch mit Video

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In Europa, in Frankreich bleibt Marie NDiaye in ihrem Roman „Mein Herz in der Enge“, doch geht es hier noch magischer zu.