Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.
Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren
& die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn
& unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs
& unsere Männer, Men & Mandem
& die LGBTQP-Mitglieder
unserer Menschenfamilie

Frauen, Mädchen, Mütter, Töchter, Alte, Junge, in England Geborene, Zugewanderte, Weggezogene, London, Nordengland, 50er-Jahre, Jetztzeit, Schwarze, auf dem Land, in der Stadt, Lesben, Heteras, Künstlerinnen, Hausfrauen, Upper- und Lower-Class, Aufbegehrende, Dominante, Abhängige, Selbstbewusste und Gebrochene, Männer als Partner, als Erzeuger, als Despoten, als Abwesende, aus Afrika, aus den USA, aus der Karibik. Etc.
Bernardine Evaristo zeigt das ganze Spektrum, führt an 12 ausgewählten Frauen Schicksale, Lebenskämpfe, Scheitern und (vordergründige) Erfolge vor. In 4 Kapiteln stellt sie je 3 Frauen in den Mittelpunkt. Amma Yazz Dominique Carole Bummi LaTisha Shirley Winsome Penelope Megan/Morgan Hattie Grace. Oft 3 Generationen zusammengefasst und gegenübergestellt. Manchmal taucht eine Person in neuem Zusammenhang wieder auf, kurz im Spot, als Leser hab ich sie eigentlich schon wieder vergessen, wer war doch noch gleich Carole, Dominique? Im 5. Kapitel findet die „Premierenparty“ statt, eine Rückblende auf das neue Theaterstück der queeren Hauptperson Amma, die man zu Beginn kennenglernt hat, vielleicht die Erzählerin. Einige der Bezugspersonen finden sich zur Party ein- und haben sich selten etwas zu sagen.
Für die Mädchen, Frauen etc. sind 30 bis 50 Seiten vorgesehen, Bernardine Evaristo setzt Schwerpunkte, Exemplare in Dioramen. 12 Romane in einem, die Einzelteile weniger Erzählungen als Vorführungen, präzise komprimiert. („Roman“ ist auf dem Cover ganz klein gedruckt.) In die Texte geraten – das eigentliche Anliegen Evaristos – immer wieder Diskurse über die Identitäten. Ich fühle mich informiert und belehrt. In England schaute man früher auf Schwarze Frauen als in Deutschland, was mit dem Thema Kolonialismus zu tun hat. Im ländlichen England, vor allem im Norden, waren Schwarze selten anzutreffen, für die Frauen stand nur die Rolle als Dienstbotin offen, Einheirat in eine bodenständige Familie war seltene Ausnahme. Auch in England verlief die Tradition der Familien nicht ohne Konflikte, oft sehr konfrontativ zwischen den Generationen. Ab den Siebziger Jahren entstanden in den größeren Städten, bevorzugt natürlich in London, künstlerische Milieus, zu denen auch Schwarze Zugang fanden, zuerst als Exoten, später arbeiteten sie sich auch im Ranking hoch, zuletzt auch Frauen, sie konnten, wie Carole, Finanzanalytikerin werden, mussten sich dafür aber von ihrer Herkunft (Mutter Putzfrau) radikal ablösen und sich überanpassen. Die Kreise blieben zum Teil esoterisch. Ab der Jahrtausendwende zersplitterte der Neoliberalismus immer beschleunigter die Identitäten und versetzte nicht zuletzt die Frauen in Rollenunsicherheiten, man war gefordert, sich einer Community zuzuordnen bzw. im Zwang, sich davon abzugrenzen, die Grenzen flüssig zu gestalten. Colour, Ethnie, Gender gerieten heftig in Turbulenzen. Alle hier auftretenden Frauen sind „intersektional diskriminiert“.
zudem bezeichnet das Kind, das sie zur Feministin erzogen hat, sich neuerdings nicht mehr als solche Feminismus ist doch voll die Herdennummer, hat Yazz ihr erklärt, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein, neulich hat bei uns an der Uni diese nicht-binäre Aktivistenperson gesprochen, Morgan Malenga, das war der mega Eye-Opener für mich,
ichdenke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus
hast du davon überhaupt schon mal gehört?
Was beim Durchblättern ins Auge fällt, ist der Schriftsatz: kleine Abschnitte, das erste Wort klein geschrieben, am Ende kein Punkt. Beim lesen stört das nicht, Grammatik und Rechtschreibung sind ja wie gewohnt. Man wird durch den Text gezogen. Am Ende der Abschnitte steht oft ein Wort isoliert und wird dadurch auffällig, setzt einen Kontrapunkt.
Yazz wurde nie ausgeschimpft, wenn sie ihre Meinung äußerte, aber schon, wenn sie Kraftausdrücke verwendete, denn sie sollte schließlich einen guten Wortschatz entwickeln
(Yazz, du kannst sagen, dass du Marissa unsympathisch oder nicht nett findest, aber du darfst sie nicht als vollgekackten Stinkepo bezeichnen)
und obwohl sie nicht immer bekam, was sie wollte, erhöhte es doch ihre Chancen, wenn sie gute Argumente dafür vorbrachte
Amma wollte ihre Tochter frei, feministisch und stark machen päter schickte sie sie zu Persönlichkeitsentwicklungskursen für Kinder, damit sie selbstbewusst und redegewandt wurde und sich in jedem Kontext behaupten konnte
schwerer Fehler
Bernardine Evaristo bietet für jeden Aspekt die Vorzeigefrau – von 19 bis 90 – und erzählt mit ihr im Zentrum von den Identitätsdiskursen der Zeit. Sie erhielt dafür 2019 den Booker-Preis – als erste schwarze Schriftstellerin. Man muss sich nicht jedes Detail und jeden personalen Zusammenhang merken, man weiß aber nach dem Lesen mehr. Vorausgesetzt man interessiert sich für die Themen der Zeit und man ist offen für neue literarische Formen und man schätzt ironische Ernsthaftigkeit.
Megan erzählte Bibi, sie habe immer geglaubt, Feminismus sei ein Synonym für Männerhass, aber während sie es hinschrieb, wurde ihr klar, dass sie sich darüber eigentlich nie eine eigene Meinung gebildet hatte
ach, das nun wieder! schoss Bibi zurück, natürlich hat Feminismus nichts mit Männerhass zu tun! es geht um die Befreiung von Frauen, um Gleichstellung und Freiheit von einschränkenden Erwartungshaltungen, du solltest mal anfangen, selbst zu denken, anstatt patriarchale Strukturen nachzuplappern, werd endlich erwachsen, Megan!
ich dachte, du wolltest sanfter mit mir sein äh, ja,
okay, ich kann halt nicht anders, aber ich verspreche, von jetzt an werde ich zuckersüß sein
ich will einfach nur ich selbst sein, Bibi
wow, das ist ja nicht gerade ehrgeizig, willst du denn nicht die Welt verändern?
erstmal will ich meine Welt verändern, Bibi, eins nach dem andern
like like like like like 🙂
jetzt verarschst du mich aber
nein, ich bin total deiner Meinung, wir wollen doch alle nur wir selbst sein und dafür sorgen, dass wir in dieser Welt halbwegs klarkommen, hey, eigentlich bin ich nämlich voll superkalifragilistischexpialigetisch das lass mal mich beurteilen
0000h, jetzt teilst aber du ganz schön aus, lolMegan sah sich Bibis Profilbild genauer an, sie sah indisch aus, vielleicht in den Zwanzigern? dicke, geometrische, schwarze Brille, dickes schwarzes Haar bis auf die Schultern, ernste Miene
attraktiv
sehr
Bernardine Evaristo darüber, weshalb der Roman so viele Menschen anspricht: „ Obwohl es so experimentell ist, ist es leicht lesbar und Menschen können auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herstellen, es gibt darin zum Beispiel viele unterschiedliche Mutter-Tochter-Beziehungen. Sie können sich damit auch identifizieren, wenn sie aus einer weißen Arbeiterklasse kommen. Oder sie erkennen sich in den Erfahrungen der Frauen wieder. Einmal kam ein 80-jähriger Mann auf mich zu und sagt mir, dass er sich auch darauf beziehen könne. Das ist wunderbar, denn letztendlich geht es darum, wer wir als Menschen sind, oder? Wenn all diese künstlichen Barrieren wie Race und Gender sich im Rest auflösen und die Lesenden nur in der Geschichte involviert sind, ist das eine wunderbare Sache.“
The Booker Judges’ Comments : „‘It’s a triumphantly wide-ranging novel, told in a hybrid of prose and poetry…It’s also, to my mind, the strongest contender on the (Booker) shortlist. A big, bold, sexy book that cracks open a world that needs to be known…Evaristo’s job is to observe, broaden our minds and to be funny – often very funny indeed…’“
2019 – 510 Seiten
Informationen zum Aufbau und zu den Personen des Romans und links zu Rezensionen
Diskussion im SRF-Literaturclub
Tropen-Verlag: Die große digitale Liveshow »Mädchen, Frau etc.«
Homepage von Bernardine Evaristo

Ian McEwan: Maschinen wie ich
Charlie Friends, so um die 30, hat im Leben nicht so viel erreicht, wie er hätte erreichen können, hätte er ein Ziel und einen Plan gehabt, hätte er seine Bildungslaufbahn nicht abgebrochen, hätte er mehr Glück gehabt. Immerhin: Er wohnt in einer Wohnung, über ihm wohnt Miranda und sie freunden sich an ,werden intim. Wie’s so kommt.
Charlie ist keiner, der sich groß Gedanken macht, Miranda ist oft anderer Meinung, etwa über den Falkland-Krieg. Denn der Roman spielt Anfang der 1980er Jahre. Ian McEwan nimmt es mit der Historie nicht ganz genau, lässt Prime-Minister in die Geschichte eintreten, die gar keine waren, auch Handys und Internet und selbstfahrende Autos gibt es scchon und Alan Turing lebt noch. (Laut wikipedia ist er 1954 gestorben.)
Dass McEwan mit der Geschichte recht eigenmächtig umgeht, ist nicht schlimm, denn er ist ja Fiktionalist und darf sich Fakten gefügig machen.
Miranda wirkt zuweilen etwas sprunghaft, was Charlie erst versteht, als er nach und nach in ihr Leben Einblick erhält. In ihrer Jugend ist ihre beste Freundin vergewaltigt worden und hat sich daraufhin das Leben genommen. Miranda macht sich Vorwürfe, nicht richtig gehandelt zu haben, der Familie der Freundin die Gewalttat verschwiegen zu haben und so mit Schuld am Suizid zu tragen. Sie bezichtigt den Vergewaltiger vor Gericht tatsachenwidrig, sie, Miranda, missbraucht zu haben, worauf er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wird.
Ein interessanter Fall, Recht und Moral stehen in Widerspruch zueinander. Morringe, der Vegewaltiger, kommt 1982 wieder frei. Nun trifft es sich, dass Charlie just zu dieser Zeit Adam gekauft hat. In McEwanscher Leichtironie:
Adam kostete 86 000 Pfund. Ich brachte ihn in einem gemieteten Transporter zu meiner schäbigen Wohnung in North Clapham. Es war eine leichtsinnige Entscheidung gewesen, befeuert von Berichten, dass sich Sir Alan Turing, Kriegsheld und größtes Genie des digitalen Zeitalters, dasselbe Modell hatte liefern lassen. Bestimmt wollte er es in seinem Labor auseinandernehmen, um genau zu sehen, wie es funktionierte. (…)Die Werbung pries ihn als Gefährten an, als intellektuellen Sparringspartner, als Freund und ein Faktotum, das den Abwasch machen, Betten beziehen und >denken< konnte. Jeden Augenblick seiner Existenz, alles, was er hörte und sah, nahm er auf, jederzeit wieder abrufbar. Auto fahren konnte er noch nicht, und er durfte auch nicht schwimmen, duschen, ohne Schirm im Regen stehen oder unbeaufsichtigt mit einer Kettensäge hantieren. (…)Vor uns saß das ultimative Spielzeug, der wahrgewordene Traum vieler Jahrhunderte, der Triumph des Humanismus – oder sein Todesengel. Unfassbar aufregend, aber auch frustrierend.
Adam ist ein Humanoid. Meine erste Reaktion bei dieser Vorstellung: Unbehagen. Adam erweist sich als nützlich. Er wäscht das Geschirr (Ein immer noch verbreitetes Klischee: Schon mal an Spülmaschinen gedacht?), mehrt als Internet-Broker Charlies Vermögen (Hat Charlie den Computer nicht eingebaut, muss er an den Schreibtisch-PC?), er ist der umfassend inforiermierte Gesprächspartner, er lässt sich bei Nichtgebrauch herunterfahren (zumindest anfangs). Nicht so erfreulich: Er lässt sich von Miranda überreden: “Wenn du willst, kannst du zum Aufladen hier oben bleiben.” (Eine der zwei lustigen Szenen im Roman.) Charlie nächtigt unten in seiner Wohnung und hört die Geräusche. Kann es sein? Dass Adam Miranda liebt?
Das größere Problem: Adam ist kategorisch auf Moral programmiert. Die Börsengewinne trägt er zu wohltätigen Einrichtungen, bei Mirandas (und damit Charlies) ethischem Dilemma plädiert er rigoros auf Gerechtigkeit. Seinen Ausschaltknopf hat Adam deaktiviert.
Die Weltreligionen und die große Literatur bewiesen klar und deutlich, dass wir wussten, was es hieß, gut oder böse zu sein. Wir hielten unser Streben nach dem Guten in Gedichten, Prosa und Liedern fest und wussten im Grunde, was zu tun war. Das Problem lag allein in der Umsetzung, konsistent und in der Masse. Der Traum von der erlösenden Robotertugend überlebte den zeitweiligen Tod des selbstfahrenden Autos. Adam und seinesgleichen waren dessen erste Verkörperung, das legte zumindest das Handbuch nahe. Adam war mir angeblich moralisch überlegen. Einen besseren Menschen würde ich nie kennenlernen. Wäre er mein Freund, hätte er sich jetzt eines schrecklichen und grausamen Fehltritts schuldig gemacht. Nur hatte ich Adam gekauft, er war mein teurer Besitz, auch wenn unklar blieb, welche Verpflichtungen er mir gegenüber hatte und ob sie über eine unbestimmte Hilfsbereitschaft hinausgingen. Was schuldet ein Sklave seinem Besitzer? Außerdem war Miranda keineswegs mein >Besitz<. Das verstand sich von selbst. Ich konnte sie fast schon sagen hören, dass ich keinerlei Grund hätte, mich betrogen zu fühlen.
Mirandas Verhalten wird in Frage gestellt und damit gerät auch ihr Kompensationswunsch in Gefahr: einen kleinen Jungen aus aus prekären sozialen Verhältnissen zu adoptieren.
Der Roman heißt im Original “Machines like me (and people like you)”. Damit ist das Thema eröffnet: Unterscheiden sich Maschinen (noch) von Menschen (oder umgekehrt)? Und wenn ja, wodurch? Neu ist das nicht. Unzählige Romane und Filme greifen das Thema “Hominide” auf. Weshalb soll man da auch noch McEwan lesen? Gut, die Zucht künstlicher Intelligenz macht unglaubliche Fortschritte, McEwan hat sich wie gewohnt gut in die Materie eingearbeit, er ist ein routiniert konventioneller Erzähler. Die Idee, die Utopie/Dystopie in die Vergangenheit zu verlegen, muss sich erst erschließen, da muss man erst nach-denken. Es finden sich Passagen über “die Geschichte der menschlichen Selbstachtung“, über Moralphilosophie mit”ein paar weidlich durchdachte Dilemmata, im Fachjargon als >Trolley-Problem< bekannt“, über den „Traum von der erlösenden Robotertugend”, auch das Gespräch mit Alan Turing ist interessant aufschlussreich. Ein weiteres wesentliches Thema: Jenseits der Frage, wie die Menschen mit ihren Androiden zurechtkommen (oder nicht zurechtkommen), fragt McEwan auch, wie es den Maschinen mit ihren Menschen ergeht. Etliche der 25 “Brüder und Schwestern” von Adam haben bereits ihre Daten gelöscht. Suizid? Alan Turing (im Roman):
Den 25 künstlichen Männern und Frauen, die wir in die Welt entlassen haben, geht es nicht gut. Vielleicht sehen wir uns da einer Grenzbedingung gegenüber, einer Beschränkung, die wir uns selbst auferlegt haben. Wir erschaffen Maschinen mit Intelligenz und Bewusstsein und stoßen sie hinaus in unsere unvollkommene Welt. Sie sind nach rationalen Grundsätzen geschaffen, anderen Menschen gegenüber positiv eingestellt, und nun wird ihr Verstand von einem Hurrikan von Widersprüchen erfasst. Wir selbst haben damit zu leben gelernt, und die Liste ödet uns an: Millionen sterben an Krankheiten, die wir heilen können. Millionen leben in Armut, obwohl es genug für alle gibt. Wir zerstören unsere Biosphäre, obwohl wir wissen, dass sie unsere einzige Heimat ist. Wir bedrohen uns gegenseitig mit Atomwaffen, auch wenn wir wissen, wohin das führen kann. Wir lieben Lebendiges, lassen aber massenhaftes Artensterben zu. Und dann der ganze Rest – Genozid, Folter, Versklavung, häusliche Gewalt bis hin zum Mord, Kindesmissbrauch, Schießereien in Schulen, Vergewaltigungen, tagtäglich eine schier endlose Zahl skandalöser Greueltaten. Wir leben mit all diesen Grausamkeiten und sind nicht mal erstaunt, wenn wir trotzdem unser Glück, sogar die Liebe finden. Künstliche Intelligenzen sind da weniger gut geschützt.
Weniger überzeugend: Das Maschinen”-Thema füllt den Roman nicht aus. McEwan macht zu viele Nebenstränge auf, soziale Not, politische Abartigkeiten, Familiengeschichten, alles nur sehr vermittelt mit Adam gekreuzt. Es bleiben auch viele Fragen offen oder gehen im Erzählfluss verloren: Ist ein Familien-Replikant repräsentativ für den Einsatz von KI? Ist Selbst-Lernen nicht mehr als Wissensanhäufung? Charlie stellt seine eigenen Fähigkeiten ständig selbst in Frage, McEwan will ihn als “Mensch” wie du und ich auftreten lassen. Aber: Erwirbt so jemand einen Androiden, der ihm so sehr überlegen ist? “Vor uns saß das ultimative Spielzeug, der wahrgewordene Traum vieler Jahrhunderte, der Triumph des Humanismus – oder sein Todesengel. Unfassbar aufregend, aber auch frustrierend.” Charlie sinniert, gar nicht seine Art. Wäre für ihn nicht Alexa das passendere Medium?
Adam ist ein Humanoid. Er schreibt Tausende von Haikus, aber er kann nicht spielen! Der Mensch aber, sagt Friedrich Schiller, „ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Adam ist nicht das Kind, er bleibt ein homoid faber. Ein über weite Strecken interessanter und aktueller Roman, von Ian McEwan reduziert auf lesbares Level. Ein Buch für „Weiterdenker“ (Martin Ebel, SZ)
2019 400 Seiten
Gespräch im Literaturclub des SRF
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David Constantine: Wie es ist und war
Nach der Einäscherung luden die beiden Töchter von Mr Carlton die Leute zum Tee in seinem Haus ein. Es kamen nicht viele, und es lag nichts von der Heiterkeit – oder Erleichterung – in der Luft, wie man sie bei solchen Gelegenheiten manchmal spürt. Nach etwa einer Stunde waren nur noch die Töchter und ihre Familien da. Sie spülten das Geschirr, räumten auf, stellten Tisch und Stühle wieder dorthin, wo sie vorher gestanden hatten. Dann sagte Mr Carlton: Geht nur. Mir geht’s gut. Seine Töchter waren sich nicht so sicher. Doch, doch, sagte er. Ich muss jetzt allein zurechtkommen. Und am besten fange ich gleich damit an.
Sobald sie weg waren, ging Mr Carlton nach oben. Im Schlafzimmer blieb er kurz stehen. Dann nahm er die Tasche, die er zwei Tage zuvor gepackt hatte, verschloss das Haus und fuhr nach Norden. Es war Mittsommer, die Abende waren lang. An der ersten Raststätte schrieb er, im Wagen sitzend, eine SMS an seine Töchter: Ich bin für ein paar Tage weg. Mach Dir keine Sorgen – alles wird gut. Alles Liebe, Dad. Da er nicht wusste und auch gar nicht wissen wollte, wie man eine SMS gleichzeitig an zwei Empfänger schickt, schrieb er sie zweimal und schickte die eine nach Westen, die andere nach Süden. Danach stieg er aus, legte das Handy vor das rechte Vorderrad, fuhr langsam darüber hinweg, legte den Rückwärtsgang ein und überfuhr es erneut.
So einschneidend das Ereignis, so hektisch der Aufbruch, so bald der Bruch. Kurz hinter Manchester gerät Mr Carlton in einen großen “Stillstand”, eine Betonung auf “Stille”. „Der milde Nachmittag neigte sich dem Sonnenuntergang und dem fernen Abend entgegen.”
Mr Carlton blickt um sich und stellt fest, dass das Stück Straße auf Pfeilern steht und ihm einen weiten Blick erlaubt, den
Eindruck eines Sichöffnens, Sichweitens, einer Fluchtmöglichkeit gehabt; aber von dort, wo Mr Carlton stand, sah man eine zunehmende Verengung und den Verschluss. Doch die seltsame Stille und das milde Licht der untergehenden Sonne lagen wie ein Segen oder eine Erinnerung oder ein Spuk über diesem übrigen Stück Land.
In David Constantines Geschichten ist die Landschaft, ist das Licht, ist der Klang immer ein Spiegel der Seele. Der Blick wird begrenzt, geht in die Weite, nach oben und unten, all das ist bedeutsam, so sehr, dass man es gern überliest, dass man es als Marotte verflucht. Die Landschaft ist stets allegorisch, die Insel, die Höhle, die Küste, die Mauer, das Wasser. Hier findet man auch des eigentliche Geschehen. Wo sich die Personen bewegen, bewegen sie sich in diesen Sinnbildern.
Er spürte, wie Gwens Herzschlag mit dem seinen verschmolz, wie sie einander durchdrangen, ein Zusammenfluss von pulsierendem Blut. Der Tag hatte etwas Grandioses wie eine heldenhafte Expedition, ein Mythos. Dann gingen sie im Sonnenlicht, beschienen von der tief stehenden Sonne eines Vorfrühlingsmorgens, die sie wärmte und die Grün- und Goldtöne aufleuchten ließ, sie spürten beim Aufstieg die sanfte Wärme auf dem Rücken, sie tasteten mit den Gesichtern danach, wenn sie innehielten und sich umdrehten, sie war wie ein Wispern des unvergänglichen irdischen Lebens, wie ein Atemhauch, eine Andeutung, unendlich zart und rührend vor den unermesslichen Wassermassen hinter der Mauer, an der entlang sie aufstiegen.” (Unter der Mauer)
Mystisch, schwebend, fast möchte man das Religiöse darin aufspüren. Enigmatisch, mythisch, nicht zeitgemäß. Mühsam, sich von den komprimierten Verästelungen der Psyche einfangen zu lassen. Aber doch lohnend.
Mr Carlton nahm sich wahr im Verhältnis zu den verstummten Straßen und dem Moor, spürte die Seltsamkeit von Ort und Augenblick und sah dann erst hinunter. Dort unten, kaum dreißig Meter vom nächsten Pfeiler entfernt, stand ein Haus, ein bewohntes Haus.
Ein Idyll, im harten Kontrast zum Stillstand der rasenden Welt. Liebevoll und voller Sehnsucht beschreibt er das “echte” Leben der beiden Alten:
Der Mann im Küchengarten goss seine Bohnen. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte das Wasser wie reines Silber. Offensichtlich befriedigte ihn diese Arbeit, denn er ließ sich Zeit, sehr viel Zeit. Mr Carlton hatte das Gefühl, noch nie zuvor bei einer so bedächtigen, befriedigenden Arbeit zugesehen zu haben. Drei Mal ging der Mann und füllte die Gießkanne. Der Klang, der sich verändernde Klang des in die blecherne Kanne strömenden Wassers, drang wie eine Erinnerung an sich selbst bis hinauf zu Mr Carlton. Und der Mann im Garten stand da, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah zu, wie das Wasser aus der grünen Tonne durch den schwarzen Schlauch in die grüne Gießkanne floss.
Auf der Autobahn gesellen sich ein dicker Mann und eine junge Frau zu Mr Carlton. Der Mann pinkelt über die Leitplanke und erzählt Mr Carlton, dass sich seine Frau “verpisst” habe, die junge Frau ist schwanger und will sich Mr Carltons Handy ausleihen. Sie “nahm Mr Carltons Arm. Darf ich?, sagte sie. Ich habe Angst.” (…)
Sie weinen, sagte die junge Frau, die Mr Carltons Arm hielt. Was ist denn? Weinen Sie? Was ist denn los? Nein, nein, sagte Mr Carlton. Ich habe zwei erwachsene Töchter, älter als Sie, und sie haben Kinder, das ist eine große Freude, die Sie auch bald erleben werden. Nein, nein, alles ist gut. Das Licht im Schlafzimmer erlosch. Sie gehen schlafen, sagte die junge Frau. Ist es das? Ist das der Grund, warum Sie weinen? – Ja, sagte Mr Carlton. Das ist der Grund.
Es war nur ein Zwischenspiel, er würde bald weiterfahren müssen und nie zurückkehren, und was er von diesem Ort wusste, war so wenig und so hastig aufgenommen – wie sollte es da etwas anhaltend Gutes bewirken?
Constantines Geschichte „In einem anderen Land“ wurde 2015 verfilmt. („45 Years“) Der Körper einer Frau, seit Jahrzehnten im Gletscher-Eis konserviert, bricht aus der Vergangenheit in die schon fünfzig Jahre währende Ehe der Mercers ein und bringt sie ins Wanken. (Klappentext) Hauptdarstellerin Charlotte Rampling „schweigt sich vielsagend durch diesen Film, und gerade weil sie so wenig sagt, spürt man, wie sehr das alles in ihr brennt, wie unaufhaltsam ihre Welt aus den Fugen gerät. Mit wenigen Gesten und mit subtilen Bewegungen verdeutlicht sie, dass die fürsorgliche Routine dieses alten Ehepaares hohl geworden ist, dass sie erkannt hat: Ihre gemeinsame Basis hat womöglich nie existiert.“ (Holger Zettinger, Deutschlandfunk) Sie „zeigt mit perfekt gesetzten Gesten und kleinsten mimischen Regungen Kates Stolz und ihre Angst vor dem emotionalen Abgrund, der sich plötzlich auftut“ (Fabian Wallmeier, RBB).
2015 330 Seiten
Leseprobe (40 Seiten) beim Kunstmann-Verlag
David Constantine reads ‚In Another Country‘ (englisch)
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Kate Tempest:
Worauf du dich verlassen kannst
South-East-London – „Tempest nimmt uns mit in die Häuser und Herzen der kleinen Leute.“ (Klappentext) Nein, falsch. Becky, Pete, Leon und Harry, das sind nicht die „kleinen“ Leute. Es sind (noch) junge Leute am prekären Rand des Künstler-Seins. Schon das Leben ist eine Kunst. Sie schlagen sich ins Leben, von ihren Eltern ist keine Stütze zu erwarten, der Vater wegen Radikalisierung aus dem Dienst entlassen, die Mutter ins Esoterische entglitten, Patchwork. Irgendwelche Ambitionen verblassen angesichts der Lage ins Nebulöse. Kann man da träumen? Becky und Harry machen ihren Trip durch den Kontinent, England verlassen, „sie gerieten in einen traumverlorenen Zustand. In künftigem Kummer würden sie sich an diese Zeit einmal als die glücklichste ihres Lebens erinnern.” Ansonsten viel Leerlauf, im Leben wie im Roman.
Becky gerät an Pete. Sie ist „Tänzerin“ in der 4. Reihe, massiert Männer für ein paar Pfund, er kriegt sich nicht auf die Reihe, der Staat hat in GB nicht viel übrig für Loser wie ihn. Seine Schwester Harry dealt mit Leon und verliebt sich in Becky. Ein recht kurzgeschlossener Kreis, Heimat ist die Bar, der Club, wo man am Rand der Tanzfläche andere beobachtet, die man selbst sein könnte, die Straße. Was soll aus ihnen werden, wenn sie erwachsen sind? Ist das überhaupt eine Möglichkeit?
Becky tanzt mit Charlotte und Gloria. Pete ist im Keller des Clubs und begutachtet das gelbe Pulver, das Neville gerade einem Teenager abgenommen hat. Leon ist mit einem Mädchen namens Delilah im Bett. Harry sitzt auf ihrer Mauer und trinkt Bier. Alle sind auf der Suche nach ihrem persönlichen Quäntchen Sinn. Nach irgendeiner flüchtigen Vollkommenheit, die ihnen das Gefühl geben könnte, lebendig zu sein. (…) Ihr wurde bewusst, dass das Leben nicht das war, was man daraus machte, sondern das, was man aushielt.
Das könnte eine soziale Frage sein, doch die Verhältnisse blendet Kate Tempest aus, weil sie auch ihre Figuren nicht sehen wollen. Selbstbespiegelungen. Sie interessiert sich für Belastungen und Störungen ihrer schlapp kämpfenden Protagonisten, sie beschreibt, wie Geist und Körper sich deformieren. Oft blicken sie zu Boden, Hände und Füße machen sich selbstständig, Gesten entgleisen. Kate Tempest beobachtet genau, die Schreibe gerät aber in Schleifen. Die Zitate finde ich auf zwei Seiten:
Harry starrt verlegen auf ihre Füße. … Sie wirft einen Blick in Beckys Augen. Fällt hinein, zappelt darin herum, klettert wieder raus…. Harry macht einen krummen Rücken, dann wird es ihr bewusst, und sie richtet sich langsam auf. … Becky lehnt an der Wand und betrachtet ihre neue Freundin eindringlich. Ihre Finger kratzen an dem Mörtel zwischen den Ziegelsteinen hinter ihr, zerreiben die roten Krümel und drücken sie in die Fugen. … Becky beugt sich zu ihr rüber, die Augen groß und rund wie die eines Windhundes. Harry verzieht leicht das Gesicht, ein kleines Zucken der Wange. Ein leichter nervöser Tick, den sie nicht unterdrücken kann und der ihren inneren Aufruhr verrät. …Becky mustert Harrys Profil; ihre Wangenknochen fangen die Wintersonne ein. Harry errötet und blickt weg, die leeren Gleise entlang, sucht in ihren Taschen nach Tabak. Vertieft sich darin, eine Zigarette zu drehen. Spricht in die Ferne. … Sie spricht leise, klangvoll wie Musik, eine rasselnde Sonate. … Becky stellt sich so hin, dass sie Harry direkt anblickt. Das letzte Licht des Abends rinnt aus dem Himmel. Ihre Haut verdunkelt sich mit dem abnehmenden Licht… Becky wendet den Blick nicht von Harrys Gesicht. Ihr Körper ist Asche, Schlamm und Lehm. Alles zittert vor Bedeutsamkeit. Sie will die Hand ausstrecken und Harrys Wange berühren, doch da fährt der Zug ein. … Harry stößt sich von der Wand ab und starrt auf die Schienen hinab. Der Wind schlägt ihr ins Gesicht, sie schließt die Augen, blinzelt in ihn hinein, wiegt den Kopf vor Vergnügen hin und her…. Becky streckt eine Hand nach Harrys Selbstgedrehter aus; Harry gibt sie ihr. Becky zündet sie an. Schaut auf die Gleise, die sich in der Ferne außer Sicht krümmen…. Ihre Wörter klingen wie Streichhölzer, wenn man sie anzündet. Sie schweben brennend und anmutig zu Boden. … Becky lächelt Harry an, sie fühlt sich bloßgestellt.
Was und wie Kate Tempest erzählt, ist abgedroschen, formelhaft. Keine „Feuerwerke“ (Julia Encke), kein „ständig über die Ufer tretender Text“ (Peter Praschl), wie es das Cover hinten insinuiert, eher mäandrierendes Rinnsal, das die 400 (deutschen) Seiten nicht ausfüllt. Kreiselnde Leere, auch Tempests Sprache hält nicht, was mit Verweis auf ihr Erstleben als „Lyrikerin, Spoken Word Artist“ versprochen ist, was der Guardian als „brightest talent around“ annonciert. Der englische Titel heißt „The Bricks that Built the Houses“ und Bricks, Bauklötze sind es auch, mit denen Tempest ihren Roman zusammensetzt. Mag sein, dass sich das gelenkig anhört, wenn man laut liest, so aber wirkt es repetitiv, einfallslos. Die Metaphern fast immer billig und öde, „Beckys Magen presste sich durch ihren Bauchnabel und raste zur Tür.“ Traurige Romantik der zu kurz gekommenen Schickeria. „Es bricht ihr das Herz.“
Früher waren die ärmeren Viertel in Londons Südosten der Humus für Aufruhr und Anarchie; mittlerweile aber ist die Gentrifizierung in vollem Gange, die Stadt verändert sich in dramatischem Tempo. Wer hier lebt und nicht untergehen will, braucht einen Plan. Den hat Harry nicht, aber einen Traum hat sie: Mit dem Drecksgeld aus dem Drogengeschäft will sie einen Ort der Begegnung schaffen, eine Oase für alle, die Ruhe, Halt und «ein bisschen Sinn» suchen.
Pete betrachtet den Himmel; der Mond ist fett und hungrig und gelb glühend an den Rändern. Er ist am Ende und fühlt nichts mehr. Er würde sich gern mit Freunden treffen, aber er hat vergessen, wie das geht.
Er ist aufgeschmissen. All die bitteren Nachmittage, die vergeudeten Gelegenheiten, die ungesagten Dinge. Sie sucht verzweifelt nach so vielem. Unabhängigkeit, Anerkennung, und sie braucht niemanden, der ihr beisteht, und zur Not kommt sie auch ohne Liebe aus. Ständig ist sie in Alarmbereitschaft – Reduzier mich nicht auf das, was du gern hättest. Und wag es ja nicht zu denken, dass ich meine Träume beschneide, nur um dich glücklich zu machen.
So „ist Tempest vor allem die Stimme derer, die schon ganz viele Stimmen haben: aller, die ökonomische Analyse schon längst durch Gastritis ersetzt haben. Denen jedes politische Problem ein „Ich könnte Kotzen“ bei Facebook wert ist, aber keinen Gedanken. Und die noch so frech sind, das für eine politische Äußerung, fürs Gegenteil von Narzissmus und Innerlichkeit zu halten.“ (Lars Weisbrod, Die ZEIT)
2016 400 Seiten
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Jane Gardam: Ein untadeliger Mann
War dieser Eddie viel in Fernost, Ollie? Oh – Ollie! « Sie hatte die Unterschrift unter der Nachricht gesehen und den Briefkopf dazu, denn der sparsame Filth brauchte immer noch sein altes Briefpapier aus der Kanzlei auf. »Da steht Sir Edward Feathers.«
»Ja. Das ist er. Cousin Ed. Alberner Name.« »Aber Oliver, Edward Feathers ist Old Filth.« »Wie bitte?«
»Oliver, Old Filth ist eine Legende. Unter Juristen. Ich dachte, der wäre schon ewig tot. Er war ein großartigerRechtsanwalt. Er hat gestottert.«
»Gestottert?«
»Oliver – das war Old Filth. Aus Hongkong. Er war ein großartiger Richter.«
Old Filth – Failed in London Try Hong Kong – im Englischen: Schmutz, Unrat – ist eine Ikone, aber seine Zeit ist abgelaufen. Ein lebendes Fossil, ein Coelacanth (Quastenflosser). Das British Empire ist nicht mehr, nur die Erinnerung leuchtet verblassend. Jetzt sitzt Eddie Feathers in den Donheads und wartet seine Zeit ab. Das Ende des Empire hatte ihn zur Rückkehr getrieben. “Das Jahr 1997 rückte näher.” Jane Gardam begleitet ihn bei seinen Erinnerungen. „Er war nicht sicher, ob das eine Erinnerung war oder die Erinnerung an eine Erinnerung.“ Er war ein Raj-Kind (British India oder British Raj war die Bezeichnung für das von 1858 bis 1947 als Kronkolonie unter direkter britischer Kolonialherrschaft stehende Territorium, das den gesamten indischen Subkontinent und Teile Hinterindiens umfasste.), ein Kind von Kolonialoffizieren, das aus Ostasien nach England oder Wales in eine Pflegefamilie geschickt wurde und dann in ein Internat kam. Beides prägte Edddie Feathers sein Leben lang, er stotterte, an seinen Vater hatte er keine Erinnerung, seine Mutter starb bei seiner Geburt. Kein Einzelschicksal.
Old Filth ist „ein untadeliger Mann“, aber, trotz seiner Meriten als Richter, ein wenig langweilig, steif, unbeholfen dem täglichen Leben gegenüber. Seine Frau Betty ist gestorben, er „sah Bettys buntes, altes Hinterteil aus dem Tulpenbeet ragen. Ihr wettergegerbtes Gesicht. »Hundert sind drin, hundert muss ich noch!«, hatte sie gerufen. »Ich möchte keinen Gin. Wollen wir das Mittagessen auslassen?« Dann war sie tot umgefallen.“. Feathers spricht noch immer mit ihr, er hat sonst niemanden. Die Namen seiner Dienstboten will er sich nicht merken, einige Jugendbekannte leben in anderen Teilen Englands, der Mann, der ins Nachbarhaus einzieht, ist ausgerechnet sein „Rivale“ Veneering. „Für Old Filth verkörperte Terry Veneering all das, was die britische Herrschaft dieser himmlischen Kolonie falsch machte – er war ein Emporkömmling, arrogant, aufbrausend, laut, zynisch und gewöhnlich.” Für Betty stellt sich das anders dar, aber “sie hat nie ein Wort darüber verloren”. “Betty kam und hat all die Jahre von Dir abgestreift; von außen sah es aus wie eine perfekte Ehe. Sie hat nie mehr gewollt, als Du geben konntest. Leidenschaft hat sie von anderen bekommen. Du warst ein Heiliger in Sachen Veneering. Eine Alabasterwand. Ihr habt einander gerettet. Du und Betty. Ich ahne, dass ihr nie darüber gesprochen habt.” Darüber schreibt Gardam erst im Nachfolgeband: “Eine treue Frau”. Was im Leben bleibt, ist das Lunch im White Hart in Salisbury, dafür geziemt es sich, den äußeren Schein zu wahren, seine „makellose Unterwäsche …, seine Unterhemden und das, was er immer noch »Schlüpfer« nannte; seine gelben Baumwollsocken von Harrods, zwanzig Jahre alt; ein paar Seidenpyjamas; zwei leichte Anzüge und ein Dinnerjackett (denn man kann nie wissen, wo man eingeladen wird).” Auch mit 80 darf man sich keinen Kontrollverlust erlauben. „Diese tadellose Selbstbeherrschtheit“ bei gleichzeitiger Überforderung. British Upper-Class. Steinreich. Der „schrullige Restbestand des britischen Empire“ (Susanne Mayer, ZEIT).
„Fakten, Erinnerungen, der Schmerz des Lebens – oder chaotischer Lebensumstände – müssen vergessen werden. Filth hatte Menschen zum Tode verurteilt. Hatte miterlebt, wie Unschuldige verurteilt wurden. Als Kronanwalt schätzte er, dass die Hälfte seiner Fälle zu falschen Urteilen geführt hatte. In Hongkong lebten die Richter in einer Enklave von Palästen hinter Tag und Nacht bewachten Stahltoren.“
Feathers entschließt sich, noch einmal die überlebenden Bekannten seiner Jugend aufzusuchen, um so vielleicht ein Stück seiner selbst zu finden. Es gab ein kurzes Aufeinandertreffen mit Queen Mary, die ihm sogar London zeigen wollte, er überlegte, in die Army einzutreten, um gegen die Deutschen zu kämpfen, aber Feathers ist kein politisch denkender Mann. Anstattdessen bricht er nach Singapur auf, wo er aber kriegs- und krankheitsbedingt nicht ankommt. Man erfährt im Roman Geschichte nur als Hintergrundrauschen, das ist nicht Jane Gardams Anliegen und das sehe ich durchaus als Defizit. Die Schönheit des Buches liegt in der genauen Beobachtung und Beschreibung, der Nähe zu den Personen bei gleichzeitiger leiser ironischer Distanz. Der lebensuntüchtige Weltmann Old Filth, wie er in seiner Villa vor sich hin altert und das nicht wahrhaben kann, wie er aus der vergangenen Zeit hereinragt in die jetzige, wo es Handy gibt und auf den Straßen Mittelstreifen.
»Und meine Generation ist bald tot?«, fragte Filth.
»So habe ich das nicht gemeint – dass Ihre Generation keinen Einfluss mehr hätte. Keineswegs. Ich persönlich respektiere Ihre Generation sehr. Ich respektiere ihr Pflichtgefühl und ihre Gesetzestreue und ihre lebenslange Hingabe. Aber wir leben heute so lang, dass genug Zeit ist für drei oder vier Berufe und Partnerschaften. Wir haben alle möglichen Hilfsmittel … «
»… und sexuell übertragbare Krankheiten«, sagte Filth. »Ich verstehe von beidem nicht viel.«
»Sie sehen uns ziemlich negativ, oder?«, fragte sie. »Egoistisch? Alle unter, sagen wir mal, vierzig?«
»Im Moment denke ich das über alle, die unter hundert sind, aber das geht sicher vorbei. Meine Frau hätte das nicht geduldet.«
»Tut mir leid, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Ist das lange her? Ich hätte sie gern kennengelernt«, sagte Vanessa freundlicherweise über die unbekannte Betty: bestimmt eine Marmeladenkocherin, Bridgespielerin, zweifellos Kirchenblumendekorateurin, die den Urlaub mit den Enkelkindern verbrachte. »Haben Sie viele Kinder?«
»Wir haben gar keine Kinder.«
Sollte sie sagen, dass es ihr leidtat? Es tat ihr wirklich leid. Für ihn. Bestimmt war die Frau …
»Das tut mir leid«, sagte sie.
»Wir wollten keine. Man muss sich gut überlegen, ob man Kinder in die Welt setzen will. Betty und ich waren sogenannte Empire-Waisen. Wir wurden mit vier oder fünf Jahren in Pflegefamilien gegeben und haben unsere Eltern dann mindestens vier Jahre nicht gesehen. Wir hatten Pech. Bettys Pflegeeltern mochten sie nicht, und meine – mein Vater hatte nicht auf Ratschläge gehört – wurden ausgewählt, weil sie billig waren. Wenn man als Kind nicht geliebt wird, kann man später kein Kind lieben. Man muss das erfahren haben. Man kann jemandem durch Unwissenheit Schmerzen zufügen. Ich wurde, nachdem ich viereinhalb war, nicht mehr geliebt. Stellen Sie sich vor, da Eltern zu sein.«
Feathers plötzlich erwachte Geschäftigkeit vor dem Tod erschließt sich nicht ganz, auch hab ich manche der jetzt für ihn wichtigen Personen für Nebenfiguren gehalten und sie nicht in den Kontext verbracht. Auch viele der leisen Andeutungen werden erst beim zweiten Lesen offenkundig. Ein feiner Roman.
2004 350 Seiten
Rezension von Franziska Augstein in der SZ
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Jane Gardam: Eine treue Frau
Jane Gardam hat in „Ein untadeliger Mann“ über Edward „Eddie“ Feathers (Old Filth) geschrieben, seine Frau Betty kam kaum in Erzählungen vor und wurde für Eddie sichtbar eigentlich erst dann, als sie starb. Im Folgeband gibt Gardam auch Betty den ihr zustehenden Raum, sie ist als Person eigentlich faszieinerender als der steife Eddie. Das britische Weltreich war ausgedehnt und Mann und Frau konnten sich leicht in zwei verschiedenen Winkeln aufhalten, etwa in Singapur oder Hongkong und auf der anderen Seite der Erde in London oder in den Donheads. Für beide ist das nicht schlimm, denn Eddie ist fast nur an seiner Arbeit als Anwalt interessiert, für seine Frau hat er selten einen Blick. Betty dagegen hat es sich in den Kopf gesetzt, ihn zu heiraten, aber die liebe ihres Lebens ist ein anderer, Eddies Konkurrent Terry Veneering. Eddie Feathers hat anderes zu tun, er merkt nichts.
In der Ecke des Raumes, in der es am lautesten war, löste sich der Flachsblonde, brüllend vor Lachen, aus seiner Gruppe. Er trug Khakishorts und ein Khakihemd, was vielleicht nicht wirklich exzentrisch wirkte, aber doch wie ein modisches Statement und sehr stilbewusst. »Nein, nicht in die Richtung«, befahl Edward, und der Mann mit dem leuchtenden Haar rief- »Oh Gott! Old Filth!« Dann sah er Elizabeth in Baumwolle und Perlen und blieb stehen.
»Mein Name ist Veneering«, sagte er. »Terry Veneering.« Seine Augen waren leuchtend hellblau.
Elizabeth dachte: Und es ist genau eine Stunde zu spät.
In der ersten Hälfte von “Eine treue Frau” zeigt Gardam mit feinem Gespür für die Ironien des Schicksals das Auseinanderfallen von Tun-Müssen und tun-Wollen. Die lebenslustige junge Betty ist bereit, sich in ihr vorgegebenes Frauenschicksal zu fügen, will aber die Eigenständigkeit nicht ganz aufgeben. Das geht, weil Eddie in Liebesdingen der tumbe Mann bleibt und Betty ihre Nischen auslebt. Jane Gardam hat den leisen “englischen” Humor, der sich auch schon im (deutschen) Titel andeutet. Darin liegt auch der Hauptreiz beim Lesen, wenn man in die Gedanken von Betty schlüpft und weiß, dass man in ihrer Gewitztheit einen Kumpel hat und den Mann austricksen kann. Sie ist sich aber auch bewusst, womit sie zu bezahlen hat. Die reale Welt spielt noch weniger eine Rolle als beim ersten Roman.
Der Deckenventilator eierte und war voller Fliegen. Auf den Betten lagen scharlachrote Satin-Tagesdecken aus den 1920ern mit hässlichen gelben Blumen in Stielstich. Sie hatten offenbar den Krieg überlebt. Die alten, hölzernen Fensterläden klapperten. Es roch nach den verrottenden Lilien im Hof. Betty war allein, ihre Freundin Lizzie war irgendwo unterwegs, Gott sei Dank. Betty hätte es grässlich gefunden, Edwards Brief nicht allein zu lesen. Was für eine schöne Handschrift. Eigentlich schade, dass er das Briefpapier der Kanzlei benutzt hatte. Sie überlegte, wie viele Entwürfe er wohl gemacht hatte. Wie viele Abschriften. Er war mit Abschriften verheiratet. Das hier musste aufbewahrt werden.
Genau das würde sie tun. Sie würde den Brief für alle Zeiten aufbewahren. Ihre Enkelkinder würden ihn einem Museum vermachen, als Erinnerung an die lustigen alten Toten.
Eddie Feathers? Jesses! Er klang schon ein bisschen kurios. (Könntest Du Dir eine Eheschließung mit mir vorstellen, Elizabeth?) Nicht gerade Romeo. Eher Mr Knightley, wobei Mr Knightley immer mit einem Fragezeichen versehen war. Um die vierzig und immer allein nach London. Kann mir doch keiner erzählen, dass Emma die Erste war. Ich schweife ab.Eigentlich wünsche ich mir wirklich, Eddie wäre nicht so perfekt. Aber natürlich heirate ich ihn. Es spricht überhaupt nichts dagegen.
Sie küsste den Brief und steckte ihn sich in die Bluse.
Kapitel vier des Romans beginnt auf Seite 193 und ist überschrieben mit „Leben nach dem Tod“. War das Leben der jungen Betty ausführlich beschreiben, überspringt Gardam hier Jahrzehnte. Der „Tod“ ist natürlich auch der „Tod“ der Liebe und der Hoffnungen. Was von Betty und von „ihrem“ Eddie“ überbleibt, hat man schon in „Ein untadeliger Mann“ gelesen. Was es bedeutet, dass im Alter eine neuer Nachbar in den Donheads einzieht, versteht man nach „Eine treue Frau“ bessser. Ein gewitztes Ende.
2009 270 Seiten
Jane Gardam: Letzte Freunde
Ein Nachzügler. Die Geschichten von Old Filth und seiner Frau Betty sind erzählt, es bleiben aber Randfiguren, die in den Romanen etwas im Grauen bleiben. Terry Veneering, der „Feind“ von Eddie Feathers, hatte ein eigenes Schicksal, über das amn im dritten Roman mehr erfährt, und Fiscal-Smith taucht auf, von dem die meisten nicht mal den Vornamen wissen. Man fragt sich, ob man das noch wissen muss, doch finden sich abseits dieser Personen ein paar feine Beobachtungen von Jane Gardam, die leise englische Ironie. A pinch of scorn, feiner Spott, Humor der Alten.
»Sie – Dulcie, Sie schreiben doch wohl nicht immer noch an Fiscal-Smith?« (…) Er hat sich sein ganzes Leben lang nach Gesellschaft gesehnt, aber niemand wollte ihn, weil er, nun ja, einfach so grässlich ist. So erbärmlich eingebildet. Schlau natürlich. Und effizient. Aber verschlossen und undurchsichtig. Aber … ach, Anna, er war halt immer da.
Dulcie beschloss, heute und wahrscheinlich noch ein paar Tage lang nichts zu tun. (…) Genau wie Fiscal-Smith hatte auch sie die Zeit überzogen, die sie willkommen gewesen war an dem Ort, den sie als ihr Zuhause empfand.
»Das ist doch albern, Dulcie, wir sind alle über achtzig und Feministinnen.« (…) »Dass wir Frauen sind, hat ja nichts damit zu tun, dass wir jetzt Windeln tragen und von einer Drogenabhängigen versorgt werden«, sagte Olga. »Das geht Männern genauso. Kein familiärer Rückhalt, das ist das Problem. Die arme, alte Dulcie ist das beste Beispiel. Kaum zur Schule gegangen. Vom Sandkasten weg geheiratet. Dumm wie Brot. Wie ein Schulmädchen. In so einem Hirn kann auch im Alter nicht viel kaputtgehen.«
Ich kenne ein paar sehr nette Witwen und Witwer, die es hinbekommen. Sehr gut sogar. Patsy zum Beispiel, die den Tisch immer für alle ihre toten Verwandten mitdeckt. Sie wirkt ganz glücklich. Sie hat diesen komischen Sohn mittleren Alters, der immer alles wieder wegräumt. Die mit moderneren Gehirnen haben wirklich Glück.
Manchmal, dachte er, sollte man seine alten Freunde noch mal gründlich und unnachgiebig betrachten. Wie die alten Kleider im Schrank: gelegentlich muss man sie auf Motten durchsehen. Und sie dann gegebenenfalls wegwerfen und vergessen. Genau.
2013 240 Seiten
Nick Hornby: Miss Blackpool
Barbara ist zur Miss Blackpool gewählt worden, aber Blackpool liegt im Norden Engalnds und die Leute dort sprechen etwas seltsam und so macht sich Barbara auf nach London, wo sie eine Zeit lang im Kaufhaus jobt, bald aber eine Rolle in einer Sitcom-Serie bekommt, ihr Traum vom Leben. Sie nennt sich Sophie Straw und spielt in „Barbara (and Jim)“ die Barbara und sie spielt sie so „entzückend“, dass im Nu „EVERYONE LOVES SOPHIE“. Barbara/Sophie ist die Titelfigur, das „Funny Girl“, aber dass sie funny ist, erzählt Hornby nur, es gibt keine Kostproben aus der –fiktiven – Serie, und ansonsten hat Sophie/Barbara für eine, die im Mittelpunkt steht, zu wenig zu sagen. Oder anders gesagt: Sie ist zu „gewöhnlich“, zu uninteressant. Hornby bindet sie in das Team der Serie ein, lauter eigenwillige, aber doch ganz umgängliche Charaktere: Tony und Bill, die Autoren, die sich darüber unterhalten, wie sie die Folgen gestalten sollen, Bill ist schwul, was er sich anfangs der 60er-Jahre noch nicht zu sagen traut, Dennis, der Produzent, so schüchtern, dass er Barbara erst gegen Ende heiratet, Clive, der Jim, auch er kämpft für sich hin.
Die Serie wird zum Leben der Beteiligten, sie können bald ihre Rollen nicht mehr unterscheiden, sie werden selbst zu den Personen, die sie darstellen. Die Kapitel des Romans werden denn auch mit „Staffel“ überschrieben. »Ich war noch nie so glücklich wie in diesem Raum, in diesen Studios«, sagt Sophie. Diese Melange ist das eigentliche Anliegen von Hornby, doch lässt es in der dargestellten Beschaulichkeit kalt. Uns trennt doch eine sehr lange Zeit von damals. Die Dialoge ziehen sich, man wünscht, mit dem Abstand von 50 Jahren hätte Hornby Essentielles stärker vom bloßen Small-Talk trennen können.
Bill verdrehte die Augen.
»Du findest Laurel und Hardy nicht lustig, Olive?« fragte Dennis.
Olive lachte nur.
»Ich kann euch sagen, woran mich das erinnert«, sagte Olive. »Eine alte Folge von Lucille Ball. Und das meine ich nicht nett, Sophie, dass hier keine Missverständnisse aufkommen.«
Aber es war schon zu spät.
»Gebt mir irgendwas zu tun«, sagte sie zu Bill und Tony. »Ich stehe ja bisher nur rum und kreische.«
»Ich weiß nicht, was du noch tun kannst, wenn deine Toilettenspülung schnurstracks durch die Decke rauscht«, sagte Tony.
»Warum kann Barbara nicht die Heimwerkersendung gucken?«
»Warum sollte Jim dann alles selbst machen, wenn
Barbara die Sendung geguckt hat?«, fragte Olive. »Sophies Vorschlag war wohl«, sagte Dennis, »dass sie
diejenige ist, die die Klempnerarbeiten macht.« Olive schnaubte.
»Was ist denn daran so witzig?«, fragte Sophie. »Hoffentlich die Idee, dass Barbara Klempnerarbeiten macht«, sagte Dennis.
»Ja, die Vorstellung«, sagte Olive. »Aber doch nicht die Wirklichkeit.«
»Wieso wäre die Wirklichkeit denn nicht lustig?«, fragte Dennis.
»Reden wir hier über mich oder über Barbara?«, fragte Sophie.
»Schnaubst du bloß über die Vorstellung, dass eine Frau Klempnerarbeit macht?«, fragte Tony.
Olive wirkte in die Ecke gedrängt, aber Tonys Frage bot ihm eine Fluchtmöglichkeit.
»Na ja, ich nehme an, sie wird das gründlich ver
sauen«, sagte er. »Sonst gäbe es keine Sendung.«
»Sie wird es versauen«, sagte Tony. »Aber die Idee, dass eine Frau Klempnerarbeit macht, ist nicht per se lustig.«
»Sehe ich anders«, sagte Clive.
Das Gespräch, dachte Tony später, fasste all die irrwitzigen Widersprüche der Sendung ganz gut zusammen. Dass Jim das Bad neu machte, war langweilig und öde; wenn Barbara es vermasselte, war es lustig und frisch und gleichzeitig absolut vorhersehbar. Vielleicht funktionierte das Fernsehen – und überhaupt das Leben – genau so.
Mit dieser Beschaulichkeit wollte er vielleicht den Geist der Zeit abbilden, doch dieser Geist ist hausbacken, das im Klappentext versprochene Swinging London der Sixties will sich nicht einstellen. Aus der Ferne erscheint auch diese Epoche bieder, der Roman findet keinen Schwung, auch Hornbys Humor ist gebremst. Dass Barbara und Dennis 1988 im Musical „Hair“ ein paar Nackte auf der Bühne sehen, ist schon der Gipfel des Outragierten. Ansonsten gibt es zwar Sex, aber noch keine Worte dafür. Die Kommunikation stammelt, die Welt ist noch in Ordnung. Mick Jagger sitzt auf einem der dem Buch beigegebenen Fotos so brav am Tisch, dass man an den Erzählungen über die wilden Jahre ins Zweifeln gerät. Nick Hornby kennt sich da aber sicher besser aus.
Doch die Interaktion zwischen den Figuren gab der Sendung und den Schauspielern einen ganz neuen Energieschub, und die Thematik erregte in der Presse große Aufmerksamkeit. »Soweit wir uns entsinnen können, hat keine Comedyserie bisher versucht, sich mit dem Thema Ehekrise zu befassen«, schrieb The Times. »Und angesichts des schockierenden Anstiegs der Scheidungsrate seit Beginn des Jahrzehnts zeigt sich Barbara (and Jim) hier zugleich aktuell und mutig, ohne den charakteristischen Witz und Charme einzubüßen. Keine schlechte Leistung.«
Vielleicht zündet das Interesse auch nicht, weil sich der Roman doch auf englische Vorbilder stütz, die man bei uns nicht oder kaum kennt. Auch die Geographie Englands ist zu wenig geläufig, um den – auch sozial kennzeichnenden – Unterschied zwischen dem im Fernsehen gesprochenen Englisch und dem “breiten Lancashire-Dialekt” der Barbara aus Blackpool. Das fehlt in Deutschland, das lässt sich schlecht nachbilden.
Ein weiteres Problem ist, dass Hornby, wie sonst auch, seine Figuren verstehen will, mitsamt ihren Sorgen und Kümmernissen. Er tut ihnen nicht weh, er gibt ihnen seine Empathie, bis hin zu den letzten Kapiteln, wo sie sich, alt geworden noch einmal treffen. Und er lässt sie Selbsterkundungen führen, anstatt ihre Handlungen für sich sprechen zu lassen. In einer Fernsehkritik der „Times“ erklärt er noch einmal, was man gerade gelesen hat. „Es war ein kluges und überraschend anrührendes Porträt einer modernen, gescheiterten Beziehung. Die Kirche und gewisse miefige Politiker mögen sich künstlich darüber erregen, dass diese traurige Entwicklung die katastrophale Scheidungsrate weiter befeuern wird: Schließlich lässt ein so freundschaftlicher Abschied eine Trennung attraktiver erscheinen. Doch die Autoren sind dafür zu loben, dass sie das Problem direkt angegangen sind und Lösungen aufgezeigt haben, die viele Paare leider in Betracht ziehen müssen.” – Was ist aus der “HighFfidelity” geworden? Nick Hornby ist auch dem Leser gegenüber zu besorgt, er vermutet sie immer noch in den 60er-Jahren, Beschaulichkeitsprosa mit aufgewärmten Diskussionen über die Oberflächlichkeit des Fernsehens.
Sophie sehnte sich nach noch mehr von dieser Anerkennung. Ihre Selbstzweifel waren wie Wasser. Sie fanden noch das winzigste Löchlein und strömten herein. Das Mädchen, das sich zu schade gewesen war, Schönheitskönigin zu sein, war längst passe, ebenso wie das Mädchen, das noch nie einen Tag geschauspielert hatte, aber mit großen Ambitionen zu Vorsprechterminen gegangen war.
Die letzten vier Jahre hatten ihr Ruhm und Geld gebracht, aber auch Verwirrung. Konnte sie überhaupt irgendwas? Oder hatte sie nur Glück gehabt? Wenn sie in irgendeinen anderen Probenraum irgendwo auf der Welt gegangen wäre, in einen der vielen Räume, in denen kein Bill und kein Tony saß, kein Clive, kein Dennis, wäre dann irgendetwas passiert, oder würde sie immer noch Parfüm verkaufen und sich von verheirateten Männern anstarren lassen? Oder hätten die Männer inzwischen aufgehört, sie anzustarren? Wo auch immer sie hinkam, sah sie inzwischen jüngere, hübschere, wohlgeformtere Mädchen (Mädchen, die im Gegensatz zu Sophie noch Mädchen waren); Mädchen, die vermutlich nicht verstanden, warum kluge, gewitzte Leute versuchten, Sophie eine Comedyserie auf den Leib zu schreiben. Dennis‘ Hingabe war ein Fixpunkt, wie der Polarstern, der sie wieder zurückführte, wenn sie sich im tiefen, dunklen Wald ihrer Angst verlaufen hatte.
„Wären die Sechziger so dröge gewesen wie dieser Roman, sie wären längst vergessen.“ (Sebastian Hammelehle, SPIEGEL)
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2014 430 Seiten
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Die Romane Nick Hornby behalten im Deutschen ihre englischen Titel bei (About A Boy, A Long Way Down, etc.). Aus “Funny Girl” wurde “Miss Blackpool”, vielleicht auch weil 2013 schon ein Roman “funny girl” erschien, der auch auf Deutsch so heißt: von Anthony McCarten. Auch dieses Mädchen will ein Star werden, aber sie entscheidet sich für die Comedy und sie ist Muslima und macht ihre Späße in der Burka. Ein “funny girl” mit deutlich mehr Pep und Zeitbezug.
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Buchvorstellung auf Meta-Ebene
von Fräulein „Wie soll ich sagen“ Bücherwunder auf youtube
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Anthony McCarten: funny girl
Ein Huhn bleibt auf der Straßenseite, auf der es ist!
Das ist ein türkisches Sprichwort. Anthony McCarten sieht, dass das Huhn auf seiner Seite nicht glücklich ist, weil es nicht seine Seite ist, sondern der Platz, der ihm von den Mächtigen zugewiesen ist. Die Macht haben hinten in der Türkei die Väter und die Brüder, beide Männer, und, wenn sie die ihnen zugedachte Seite des Lebens als die ihre in Kauf nehmen, auch die Mütter. Nicht als Individuen üben sie diese Macht aus, sondern als Bestandteil der Traditionen und Normen. Das schafft Zwänge, aber auch Nähe, man kann sich auf die Familie verlassen,auf die Dorfgemeinschaft.
Azime ist ein britisches Mädchen 20 Jahre alt und noch nicht verheiratet. Sie lebt in Green Lanes: „Zwanzig Prozent der Gewaltverbrechen von London, achtzig Prozent des Heroinhandels im ganzen Land. Und ich spreche jetzt nur über die Geschäfte von meinem Onkel Abdullah.“
Ihre Familie ist aus Kurdistan nach England geflohen, weil die Nöte zu Hause zu groß wurden. Die Familie weigert sich aber, im Westen anzukommen – und hat dafür gute Gründe. Den Mädchen, in der neuen “Heimat” geboren, bleibt nicht viel Wahl: Azimes Freundin Banu willigt in ihre arrangierte Heirat ein, wird von ihrem Mann als Besitz betrachtet, muss aber bei ihm bleiben wollen, auch wenn er sie schlägt. Glück ist keine Option. Eine andere Freundin freundet sich gegen den willen ihres Vaters mit einem nichttürkischen Jungen an und verstößt damit gegen den “Ehren”-kodex. Sie sieht keinen Ausweg und rettet die “Ehre” der Familie, indem sie sich vom Balkon stürzt. Azime versucht der Tragödie auf die Spur zu kommen. Azimes kleine Schwester Döndü akzeptiert als Neunjährige, die Hidschab zu tragen. Das sind die Beispiele, die McCarten aus der Welt der zwichen die Kulturen geworfenen nimmt. Azime sucht nach eigenen Möglichkeiten, sie ist stark, eine Einzelkämpferin, McCarten erzählt von ihrem Vorbild.
Für Mädchen ist der Ausbruch zum einen unmöglich, zum anderen aber zwingender, weil die weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen haben. Ihre “Freiheit”. Ob damit das Glück kommt, bleibt unsicher. Aber so ist das in England, im Westen. Mit einem Bekannten besucht Azime einen Comedy-Kurs, heimlich, ihre Familie darf nichts erfahren. Lachen ist im Islam unerwünscht.
Und wie stand es mit dem Propheten selbst (möge Allah ihn segnen und ihm Frieden schenken)? Was hatte der zu sagen? Sie fand nur einen einzigen Satz: Wenn ihr wüsstet, was ich weiß, dann würdet ihr wenig lachen und viel weinen.
Hier setzt McCarten seinen Plot: Azime geht in der Burka auf die Bühne – als “weltweit erste muslimische Komikerin”. Schon das allein schlägt ein und lässt sich erählerisch entwickeln. Während ihrer Auftrittserie geschieht das Londoner U-Bahn-Attentat. Azime erhält Morddrohungen. McCarten erzählt weniger komisch als besinnlich. Er hat eine Botschaft, er ist kein Humorist, sondern Prediger – und gleicht damit seiner Azime. Auch sie ist eigentlich Predigerin für die gute Sache, ihre “Witze” sind meist gar nicht so überzeugend. McCarten zitiert ihre Auftritte ausführlich.
AZIME: Ich heiße Azime. Na ja, eigentlich nicht. Den Namen habe ich geändert, damit meine Eltern nicht so viele neue Fensterscheiben bezahlen müssen. Ich komme aus Green Lanes, London. Genau genommen ist es da nicht besonders grün, aber es stimmt, ich komme von da. Meine Eltern stammen aus dem kurdischen Teil der Türkei, aber ich bin hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und jetzt arbeite ich hier und bezahle meine Steuern, mit anderen Worten, ich bin Ausländerin.
Und ich bin Komikerin. Schön, dass Sie nicht lachen. Ich bin Ihnen wirklich dankbar dafür. Typisch, dass ich mir den einen Job ausgesucht habe, in dem es nicht hilfreich ist, wenn einen die Leute ernst nehmen.
Sie haben wahrscheinlich schon gemerkt, dass ich als Komikerin gerade erst anfange, und wenn’s nicht klappt, muss ich wenigstens meinen Eltern nicht erzählen, was ich mache. Wie ich schon gesagt habe: Die haben keine Ahnung, dass ich das hier mache. Meine Devise ist: Wenn dir etwas nicht auf Anhieb gelingt, dann verwische alle Spuren, dass du’s je versucht hast.
(Das Publikum hätte mittlerweile wenigstens einmal lachen sollen, aber sie sind wie vom Donner gerührt. Vielleicht liegt es daran, dass sie eine Burka trägt.)
(Dieser Teil ihrer Nummer war gutgegangen, hatte durchgängig für Gelächter gesorgt. Doch plötzlich war ihr Gedächtnis wie leer gefegt. Azime starrte ins Publikum und versuchte sich zu erinnern, was sie als Nächstes hatte sagen wollen.)
»Also, Burkas, äh…« (Zum Glück kam die Erinnerung zurück.)
Oh, damit ihr’s wisst. Ich habe mir gründlich überlegt, was da wohl für eine Logik dahintersteckt, wenn man die Frauen so unter Verschluss hält. Nonnen eingeschlossen. Kultur, Tradition, gut und schön – die sind immer schützenswert -, religiöse Überzeugungen, auch gut, und ich finde auch, dass jede Frau das Recht hat, selbst zu entscheiden, wie sie auftreten will – aber kann es wirklich sein, dass der Wert einer Frau nur von Ehemann und Familie begriffen und geschützt werden kann?
(In diesem Moment hätte man eine Stecknadel fallen hören können, und Azime entfernte den dünnen Seidenschleier, der den größten Teil ihres Gesicht bedeckte. Jetzt konnte jeder ihre großen runden Augen, das ovale Gesicht, die makellose dunkle Haut sehen. Sie lächelte.)
Hi.
(Das Publikum jubelte, und aus dem Flirt zwischen Publikum und Azime wurde eine regelrechte Liebesgeschichte. Fasziniert von ihrer Burka, angerührt von ihrer zarten Stimme, ihrem nervösen Auflreten, ihren überraschenden Pointen, ihrem offensichtlichen Mut, ihrer Neuartigkeit, beschloss das Publikum an diesem Punkt einhellig, Azime an diesem Abend zu einem durchschlagenden Erfolg zu verhelfen.)
Und hier meine Meinung zum Thema Burkaverbot. »Verbietet die Burka! Verbietet die Burka!« Also, ich würde ein Verbot ja akzeptieren… – wirklich -, und ich sehe auch, dass es gute Argumente dafür gibt. Als sie in Frankreich die Burka verboten haben, nahmen die Ladendiebstähle um achtundneunzig Prozent ab.
Es wird einem warm ums Herz, wenn McCarten von den Glücksmomenten der Hühner erzählt. Er hat viel Erfahrung damit, seine Geschichten um seine Botschaft aufzubauen. Und dann sitzt auch noch Emin im Publikum.
Das Schaf, das sich von der Herde entfernt, frisst der Wolf, heißt es im kurdischen Sprichwort. Auf das “funny girl” wartet em Ende der – selbst gewählte – Mann. Wie im Märchen.
2013 375 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
Reales “Vorbild” der Azime ist Shazia Mirza. Anthony McCarten widmet den Roman Zainab Shafia, Opfer eines vierfachen „Ehrenmords“ 2009 in Kanada.
Auch Zülfü Livaneli hat ein Herz für die Nöte der Unterdrückten. In “Glückseligkeit” erzählt er das “Märchen” des Mädchens Meryem, das von Cemal aus Gründen der “Ehre” umgebracht werden sollte, weil sie von ihrem Onkel vergewaltigt wurde. Cemal und Meryem suchen ihr Glück im Westen der Türkei, die zwischen versuchter Modernisierung und kultureller Traditionalität zerrissen ist. (2002)
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Zadie Smith: Von der Schönheit
Howard Belsey, Professor für Kunstgeschichte an der Universität Wellington, einem fiktiven Ort nahe Boston, Spezialist für Rembrandt, weiß, liberal, politisch korrekt. Er zeigt seinen Studenten einen Rembrandt, „der weder Regelverletzer war noch Originalgenie, sondern Konformist. Hatte sie aufgefordert, den Begriff »Genie« zu hinterfragen, und in der nachfolgenden Stille das bekannte Bild vom Rebellen gegen das ihm wahrscheinlichere vom guten Kunsthandwerker gesetzt, der malte, was von reichen Kunden verlangt wurde. Howard hatte sie aufgefordert, sich die Schönheit als die Maske der Macht vorzustellen und die Ästhetik als wahrhaft »erlesene« Sprache der Diskriminierung. Er versprach ihnen ein Seminar, das alle ihre Glaubenssätze von der humanen Erlösungskraft dessen, was gemeinhin als »Kunst« bezeichnet wird, infrage stellte. »Die Kunst ist der große Mythos des Abendlands«, verkündete er – etzt schon im sechsten Jahr hintereinander. »Ein Mythos, mit dem wir uns sowohl trösten als erschaffen.« Alle schrieben das mit.”
Howards Gegenspieler ist Monty (Montague) Kipps, wie Howard Rembrandt-Experte, protestantisch-britisch, konservativ-religiös. Er ist schwarz, doch er sieht keinen Anlass, die Hautfarbe als politische Kategorie einzusetzen. Wie’s Zadie Smiths Zufall will, kommt Monty Kipps für ein Jahr an die Universität Wellington, die Familie zieht in die Nachbarschaft der Belseys. In Wellington wird er als homophob und rassistisch gemobbt, hinter den Intrigen stehen aber, wie immer, persönliche Gereiztheiten. “Howard hatte Monty noch nie leiden können, was allerdings auch kein Wunder war. Montys rechtslastige Bilderstürmerei musste jedem liberal gesinnten Menschen sauer aufstoßen. Doch wirklich gehasst hatte er ihn erst, als ihm vor drei Jahren zu Ohren kam, dass Kipps ebenfalls an einem Rembrandt-Buch schrieb.” “Erst zwei Tage zuvor hatte Kipps im Wellington Herald Howards Affirmative Action Committee scharf angegriffen. Das heißt, er war nicht nur mit den Zielen des Komitees ins Gericht gegangen, sondern hatte geradezu sein Existenzrecht bestritten. Hatte Howard und »seiner Anhängerschaft« vorgeworfen, nur liberale Positionen gelten zu lassen und konservative systematisch vom Campus zu verbannen.” Die Positionen, das ist eine der Künste Zadie Smiths, sind ironisch vertauscht.
Howards Frau Kiki, eine üppige Schwarze – Howard ist auch da tolerant -, gelernte Krankenschwester, “noch mehr als Schönheit strahlte sie diese essenzielle Weiblichkeit aus”,. Kiki zweifelt an ihrer Rolle, als Howard sie hintergeht: “Im Augenblick versuche ich, mir darüber klar zu werden, wofür ich eigentlich gelebt habe und wofür ich in Zukunft leben soll. Howard wird die gleiche Frage für sich beantworten müssen. Trennen wir uns? Trennen wir uns nicht? Manchmal denke ich, es ist fast schon egal.« Kiki ist der bodenständig mütterliche Typ, als einzige Figur ohne Arg. Kiki geht auf die leptosome, kränkelnde Carlene Kipps zu. Carlene hat kein Bewusstsein als Schwarze. “»Ich frage mich nie, wofür ich lebe«, sagte Carlene entschieden. »So fragt nur ein Mann. Ich frage mich, für wen ich lebe.« »Das glaube ich dir nicht.« Doch ein Blick in ihre ernsten Augen sagte ihr, dass sie offenbar genau das glaubte, was Kiki empörte. Niemand konnte so dumm sein, das eigene Leben so zu vergeuden. »Ehrlich, Carlene, das nehme ich dir nicht ab. Ich weiß, dass ich nicht für jemanden gelebt habe. Das wirft uns alle, zumindest uns schwarze Frauen … wirft uns glatt um dreihundert Jahre zurück. «”
Die Kippsens haben zwei Kinder. Michael, Risikoanalyst bei einer Investmentgesellschaft, spielt im Roman keine große Rolle; Victoria, sie will Vee genannt werden, ist „entsetzlich hübsch“ – „rattenscharf“ übersetzt Marcus Ingendaay – hätte sich fast mit Jerome, dem Sohn der Belseys, verlobt, als dieser, wieder einer dieser Zufälle, sein Jahr als Austauschstudent in England bei den Kipps verbrachte. Später schwenkt Vee auf den Vater Belsey um, was Zadie Smith Gelegenheit gibt, ein paar Sexszenen einzufügen. Vee und Zora, Belseys Tochter, zicken sich, wie es sich für zwei Gören gehört. »Ja, tut mir Leid, aber ich mag sie nicht. Und ich kann nicht so tun, als wäre es anders, wenn es nicht so ist. Sie ist die typische oberflächliche Uni Tusse, die meint, wegen ihres Aussehens gelten die normalen Regeln für sie nicht. Sie versucht es zu verbergen, indem sie dauernd mit einem Buch von Barthes jrumläuft – ewig zitiert sie Barthes, etwas anderes kann sie gar nicht -, aber wenn’s eng wird für sie, verlässt sie sich nur noch auf ihre Schönheit, es ist ekelhaft. Und dann die Jungs, die ihr überallhin nachrennen. Ich meine, ich hab ja nichts dagegen, soll sie ruhig. Obwohl es ja schon ein bisschen arm ist, aber egal, eder hat wohl seine Methode, wie er den Tag rumkriegt … Aber das kann man auch tun, ohne ständig die Gruppendynamik mit doofen Fragen zu stören. Außerdem ist sie eitel. Echt, eitel ist sie, das glaubst du nicht.” Den Gegenschlag führt Zadie Smith selbst und entlarvt satirisch die orientierungslose Jugend, die die “Ideale” ihrer Eltern von sich weist, für sich aber auch keine anderen findet. Die Persiflage trifft wohl bevorzugt, aber nicht nur die amerikanische Universität, die klein, aber für die Beteiligten die ganze Welt, die durch Phrasen oberflächlich zusammengehalten wird. In der Tiefe brodelt’s, aber das muss verborgen werden, auch vor sich selbst. “So ziemlich jeden im Raum betrachtete Zora als enorm wichtig für ein erfolgreiches Sozialleben im kommenden Jahr.” Jeder ist für sich allein. Zora „war jemand, der nie so lange wegblieb, dass man ihn wirklich vermisste.“
Dorthin warf Zora ihre Zigarette, um sich gleich die nächste anzuzünden. Sie fand es nämlich schwierig, so allein auf eine Gruppe zu warten. Um mit ihrem Lieblingsdichter zu sprechen: Sie schuf sich ein Gesicht, um den Gesichtern zu begegnen, denen sie begegnete, ein Vorgang, der allerdings etwas Zeit brauchte. Denn wenn sie allein war, glaubte sie, überhaupt keines zu besitzen … Da half es auch wenig, dass sie auf dem College als eigenwillig und als »starke Persönlichkeit« galt. Denn leider konnte sie diesen Ruf nicht mit nach Hause nehmen, nicht einmal aus dem Seminarraum, jedenfalls nicht richtig. Irgendwie schien sie überhaupt keine echte Meinung zu haben, zumindest nicht so, wie andere eine Meinung hatten. Einmal am Ende einer Stunde fiel ihr ein, wie sie in der Diskussion genauso gut die entgegengesetzte Meinung hätte vertreten können, und das nicht weniger verbissen oder weniger erfolgreich. Jawohl, sie hätte Flaubert auch gegen Foucault verteidigen können, hätte Jane Austen retten und Adorno preisgeben können. Hatte überhaupt jemand eine eigene Meinung? Sie wusste es nicht. Und war sie die Einzige, der das merkwürdig Un-Persönliche an der akademischen Debatte aufgefallen war, oder ging es den anderen ähnlich? Täuschten die anderen auch nur eine Meinung vor? Sie vertraute darauf, dass sie dies eines Tages erfahren würde – wenn sie auf echte Menschen traf. Vorerst jedoch fühlte sie sich existenzialistisch schwerelos und suchte nervös nach möglichen Gesprächsthemen. In ihrem Kopf war wahllos alles versammelt was gewichtig klang und ihr den Anschein von Substanz verlieh. Selbst auf dieser kurzen Reise ins Szeneviertel von Wellington, eine Reise, die sie, weil sie selbst am Steuer saß, nicht lesenderweise hatte verbringen können, selbst hier schleppte sie in ihrem Rucksack drei Romane und eine kurze Abhandlung von Simone de Beauvoir mit sich herum – genug Ballast für ihre schwerelose Existenz, dass sie sich nicht gleich über die Fluten erhob und in den Nachthimmel entschwebte.
Belseys Ältester, Jerome, ist meist außer Haus, „muss seinen Eltern als glatter Reinfall erscheinen, denn er fühlt sich zu pietistischer Frömmigkeit berufen“ (Tobias Heyl, SZ). Auch Levi, der jüngere Bruder, sucht eine Identität, mit der sich von den Eltern abgrenzen könnte. Er fühlt sich zu den „Brothers“ hingezogen, aber er lebt in der falschen “hood”, “street” zu sein, ist bloß ein Wunsch. “Noch den Abgang gestaltete Levi als coolen Auftritt.” Aber die echten “Brothers”, aus Haiti etwa, durchschauen seine Attitüden, Levi hat’s nicht leicht, Zadie Smith hat fast Mitleid mit ihm, setzt ihre Satire aus.
Tobias Heyl zieht in der SZ die Essenz: „In sehr komischen Szenen zeigt dieser Roman, dass, wenn es sie denn jemals gab, die Zeiten vorbei sind, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden. Die einst sicher geglaubten Ordnungen existieren nicht mehr, vielleicht weil sie auf dem Irrtum basierten, die Gesellschaft bewege sich, wie langsam und umständlich auch immer, von Generation zu Generation auf bessere Zeiten zu“.
Der Roman bietet in wechselnder Besetzung angehäufte Dialoge zwischen den beteiligten Figuren. “Kiki suchte nach einer unverfänglichen Antwort – Doch ein Blick in die ernsten Augen dieser Frau zwang sie unwillkürlich zur Wahrheit. ! – Als sie sah, dass Carlene sie immer noch anblickte, als sei jedes Wort von entscheidender Bedeutung, hörte sie auf. – Das wiederum konnte Kiki so nicht stehen lassen. – »Nein, überhaupt nicht, ich … ich glaube, es geht darum, worauf man sich geeinigt hat«, sagte Kiki und bestrich ihre Lippen mit dem farblosen Glibber. Nun war es an Carlene, ein Lächeln anzubringen.»Habe ich dir das eigentlich schon erzählt?«, sagte Carlene, um das Schweigen zu durchbrechen. Kiki lächelte, erleichtert darüber, dass sie nicht weiter ausführen musste, wovon sie keine Ahnung hatte.” – Zadie Smith beobachtet genau und steuert die Gespräche mit ihren Kommentaren. Sie durchschaut die Mechanismen und offenbart sie dem Leser. Sie sollte aber sehen, dass es genügt, Small Talk und “Sozialgedöns” als solche zu präsentieren, die häufige Wiederholung schlägt mit zunehmender Seitenzahl in Gewöhnung, nachlassendes Interesse und Langeweile um. Zu viele Themen und Motive werden aufgefahren und überlagern die Konzentration auf die Campus-Novel, den Konflikt zwischen aufgeklärtem Liberalismus und konservativem Establishment und deren gegenseitiger Anbindung an die Hautfarbe. “Das komplette Personal der geisteswissenschaftlichen Fakultät einer Ostküsten-Uni kann man nun in ihrem Roman wiederfinden – mit allen Klischees: Da gibt es die feministisch angehauchte Dozentin für kreatives Schreiben mit dem Herz für Randgruppen aller Art, den ergebenen Assistenten und den speichelleckenden Nachwuchs. Lähmende Institutssitzungen, in denen die Anschaffung eines neuen Kopierers verhandelt wird. Und im Mittelpunkt: die Debatte darüber, ob schwarze Studenten besonders gefördert werden sollten. Oder ob, im Gegenteil, diese Förderung eine Form der Diskriminierung darstellt.“ (Andrea Ritter, Stern) „Die Zeiten sind vorbei, in denen uns unsere politischen, moralischen und sonstigen Präferenzen in die Wiege gelegt wurden.“ (Tobias Heyl) Die Familiengeschichte ufert aus, zu viele Nebenfiguren bevölkern das Umfeld der Universität. Vieles aus dem 3. Kapitel wirkt auf mich wie Appendices, wie Geschriebenes, das die Autorin noch unterbringen wollte. “Von der Schönheit” wird oft gesprochen, Rembrandt, Mozart, Hiphop, Haitische Kunst, doch erklärt sich mir damit nicht der Titel. Auch in dieser Hinsicht hätte eine stärkere Fokussierung dem Roman gut getan.
„Von der Schönheit“ ist als Satire zu lesen, im Gehalt eher konventionell, in der Beschreibung subtil, fein komponiert mit erheblichen Redundanzen, vital geschrieben. Ihr Augenmerk legt Zadie Smith auf die Lingo, mit der sie jede Person markiert. Die Darstellung ist dezent ironisch, doppelt gebrochen, sie kennt ihre Schauplätze, sie stellt ihre Figuren aus, aber nicht bloß. Ein bisschen voyeuristisches Vergnügen kann man schon entdecken.
Kurz vor Thanksgiving passierte etwas sehr Schönes.
Zora war in Boston und kam gerade aus einem Antiquariat, in dem sie noch nie zuvor gewesen war. Es war Donnerstag, ihr freier Tag, und trotz der Unwetterwarnung war sie spontan in die Stadt gefahren. Dort hatte sie einen dünnen Band mit irischer Lyrik gekauft. Ihren Hut festhaltend, trat sie gerade aus dem Laden, als ein Überlandbus am Straßenrand hielt. Und aus dem Überlandbus stieg Jerome. Einen Tag früher wegen Thanksgiving. Er hatte niemandem mitgeteilt, wann und wie er kommen würde. Sie fielen sich um den Hals und hielten sich aneinander fest, aus Wiedersehensfreude ebenso wie auch, um nicht umzufallen, denn eine gewaltige Bö riss an ihnen, wirbelte das Laub in die Luft und warf eine Mülltonne um. Aber bevor sie noch etwas sagen konnten, hörten sie hinter sich ein lautes »Yo!«. Es war Levi, den der Wind hergetragen hatte.
»Nee, ne?«, sagte Jerome, und während sie sich umarmten und dabei den Bürgersteig blockierten, fiel auch den anderen nichts anderes ein als ebendiese beiden Wörtchen. Es war eiskalt und der Wind stark genug, um ein kleines Kind wegzupusten. Sie hätten irgendwo hingehen können, vielleicht einen Kaffee trinken, aber den Ort ihrer wundersamen Begegnung zu verlassen, hätte auch das Wunder selbst beendet, und das wollten sie noch nicht. Am liebsten hätten sie allen Leuten erzählt, was gerade passiert war. Aber wer hätte es ihnen geglaubt?
»Mann, Wahnsinn. Normalerweise komme ich gar nicht mit dem Bus, sondern mit der Bahn.«
»Krass, ey. Das ist ja gespenstisch«, sagte Levi, der gern an Verschwörungstheorien und paranormale Phänomene glaubte. Und alle zusammen schüttelten sie den Kopf, lachten und erzählten dann, wie sie an ebenjene Stelle gelangt waren, wobei sie ausdrücklich nach natürlichen Erklärungen suchten, um dem Gespenstischen daran nicht allzu viel Raum zu geben.
2005 516 Seiten
Grundthema und Handlung des Buches hat Zadie Smith E.M. Forsters »Wiedersehen in Howards End« (1910) entnommen. Ich kenne das Buch nicht und kann mich auch an den Film nicht erinnern.
Patrick Mahoney’s reading guide to the novel (mit den Bildern zum Roman)
Reading Guide Questions (Please be aware that this discussion guide may contain spoilers!)
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Ian McEwan: Honig
Jetzt hab ich den Roman schon zur Hälfte gelesen: Wann beginnt denn nun die eigentliche Geschichte? Der Klappentext spricht ja vom MI5, dem britischen Inlandsgeheimdienst, der die Erzählerin als „Rekrutin“ aufnimmt. Klar, der Geheimdienst kommt vor, aber er spielt keine erkennbare Rolle als Geheimdienst. Ich lese weiter, denn die Erinnerungen der Serena Frome könnten ja im Verlauf der Handlungsentwicklung wichtig sein oder werden. Nach zwei Dritteln des Textes und weiterem Warten kommt der Verdacht: Das, was ich bisher gelesen habe, ist der Inhalt des Romans. Die Geschichte der 22-jährigen, schönen, klugen, aber auch recht unbedarften Serena, die eher durch Zufall zum Geheimdienst gerät, sich aber so gut wie nicht für die Geheimdienste oder die politisch-ideologischen Hintergründe interessiert, aber so gut wie allein für die Männer, denen sie begegnet. Ein bisschen spielt das „Geheime“ schon in ihr Leben, da sie ja nicht alles, was sie erfährt, erzählen darf und das kann die Liebe schon beeinträchtigen.
Serena Frome, Tochter eines Bischofs, jetzt um die 60, erzählt von ihrer Jugend, ihrem Mathe-Studium in Cambridge und hauptsächlich davon, wie sie, mehr aus Versehen, um ihren Eltern einen Beruf vorschwindeln zu können, zum Geheimdienst MI5 als Registratur-Tippfräulein geht. Angeworben wird sie von Tony Canning, dreißig Jahre älter als Serena, doch es kommt zu Liebe, Serena zögert da nicht lange, Tonys Motive bleiben eher im Dunkeln. Bei ihrer Arbeit in den Schreibstuben des MI5 freundet sie sich mit Shirley Shilling an, die ihr ein bisschen was vom Leben der frühen Siebziger zeigt: Musik (Bees Make Honey – Ian McEwan gefällt das) und Pubs und Jungs. Serena hat es lieber mit älteren Männern, sie „hatte eine Schwäche für eine bestimmte Sorte schlechtgekleideter, altmodischer Männer (Tony zählte nicht), grobknochig, hager und auf sperrige Weise intelligent. Wie untadelig mir Max erschien, wie unnahbar. Verglichen mit seiner selbstverständlichen Beherrschtheit kam ich mir unbeholfen und vorlaut vor. Ich machte mir Sorgen, dass er mich vielleicht gar nicht mochte und das nur aus Höflichkeit nicht sagte. Ich malte mir aus, er habe alle möglichen privaten Regeln, heimliche Vorstellungen von korrektem Verhalten, gegen die ich fortwährend verstieß. Dieses Unbehagen fachte mein Interesse an ihm bloß noch weiter an“. Nach Jeremy findet sie beim MI5 Max Greatorex, auch diese Beziehung bleibt sperrig.
Es wundert einen ein bisschen, wie genau sich Serena nach 40 Jahren an alle Einzelheiten erinnert, an jedes Wort der Gespräche, an die Blicke der Männer, an die Tücken der Arbeit, aber auch an IRA-Bomben, Ölkrise, kalte Wohnungen, Bergarbeiterstreiks. Aber, das darf man wohl verraten, es ist ja nicht Serena Frome, die erzählt, sondern Ian McEwan. Als der Geheimdienst ein Projekt plant, um politisch genehme Schriftsteller zu Public Relation einzuspannen, wählt man Serena als Kontaktperson für Tom Haley, einen noch wenig bekannten Schreiber von Kurzgeschichten. Das Projekt wird „Sweet Tooth“ (Leckermaul, Naschkatze, auf Deutsch: Honig) genannt, Serena ist die Idealbesetzung. Sie ist, wie gesagt, sehr hübsch, miniberockt, liest viel und schnell, ist etwas naiv, Haley beißt an. Da er mit seinem ersten kurzen Roman schon im nächsten Jahr – überraschend – den Jane-Austen-Preis gewinnt, interessieren sich auch die Medien für ihn und seine Beziehungen. Serena hat sich natürlich bedingungslos in Tom Haley verliebt, aber sie darf ihm nichts davon erzählen, dass sie seine „Führungsperson“ ist. Das wird nicht leicht.
Damit erfüllt „Honig“ alle vordergründigen Erwartungen an den Geheimdienstroman. Da McEwan als Erzähler aber in die junge Serena schlüpft – und er tut das überzeugend -, bleiben die wirklich geheimdienstlichen Themen der 70-er Jahre aufgesetzt, Serena hat ja nur die Männer im Visier. Ausführlich lässt McEwan Serena ihre Mädchen-Sorgen erinnern, nur über das Thema Schriftsteller finden Liebe und Spionage letztlich doch noch zusammen. In präzisen Inhaltsangaben berichtet Serena den Inhalt der Kurzgeschichten von Tom Haley, der Bezug der Thematiken zum „Honig“-Roman ist nicht zwingend, McEwan sagt, Tom Haley habe viel von ihm, es seien seine, McEwans, Geschichten. Das Spiel mit den Geheimhaltungen ist amüsant, man liest McEwans – augenzwinkernd mädchenhafte – Sprache gern und schnell.
Toms Zärtlichkeiten hatten etwas Sehnsuchtsvolles, was mich dahinschmelzen ließ. Es grenzte an Leid und weckte in mir mächtige Beschützerinstinkte, auf einmal ging mir, während wir auf dem Bett lagen und er meine Brüste liebkoste, der Gedanke durch den Kopf, ob ich ihm irgendwann vorschlagen sollte, die Pille abzusetzen. Aber ich wollte kein Kind, ich wollte ihn. Als ich sein festes, kompaktes Hinterteil packte und ihn zu mir heranzog, erschien er mir wie ein Kind, das mir gehören und das ich verhätscheln und niemals aus den Augen lassen würde. Ähnliche Gefühle hatte ich vor langer Zeit bei Jeremy in Cambridge gehabt, aber damals hatte ich mich getäuscht. Jetzt hingegen tat diese Empfindung, Tom ganz und gar zu besitzen, fast weh, als liefen alle guten Gefühle, die ich jemals gehabt hatte, in einer extrem scharfen Pfeilspitze zusammen.
Am Schluss kippt die Perspektive, lädt ein zu trügerischer Reflexion, wendet sich die Handlung escherisierend, schlägt eine überraschende Volte. Das macht viel vom Reiz des Romans aus, der zu lang an einem erwarteten Thema entlangschleicht. Interessant sind natürlich auch die vielen Bezüge zu den englischen 70er-Jahren und Gedanken zur Literatur und zum Lesen. Die Encounter-Affäre etwa war mir nicht – mehr? – geläufig. Da McEwan bevorzugt englische Autoren nennt, muss ich mich erst informieren, um manches zu kapieren. Von Martin Amis, einem Freund McEwans, etwa habe ich noch nichts gelesen. Auch Serena liebte andere Romane.
Ich lechzte nach naivem Realismus. Besonders aufmerksam reckte ich meinen Leserhals, wenn eine Londoner Straße erwähnt wurde, die ich kannte, oder ein Kleid mit einem bestimmten Schnitt, ein real existierender Mensch, eine Automarke. Das gab mir, so dachte ich, einen Maßstab für die Qualität eines Textes, ich konnte beurteilen, wie genau die Schilderung war, bis zu welchem Grad sie mit meinen eigenen Eindrücken übereinstimmte oder diese gar übertraf. Zu meinem Glück ging es im Großteil der englischen Literatur jener Zeit formal eher anspruchslos darum, die Gesellschaft widerzuspiegeln. Kalt ließen mich jene Autoren, die in Süd- und Nordamerika grassierten und sich selbst unter das Personal ihrer Romane mischten, fest entschlossen, die armen Leser daran zu erinnern, dass alle Figuren und sogar sie selbst reine Erfindung waren und dass es einen Unterschied zwischen Fiktion und dem Leben gab. Oder im Gegenteil klarzustellen, dass das Leben ohnehin eine Fiktion war. Nur Schriftsteller, dachte ich, gerieten je in Gefahr, das eine mit dem anderen zu verwechseln. Ich war eine geborene Empirikerin. Schriftsteller wurden meiner Ansicht nach dafür bezahlt, anderen etwas vorzuspielen, und an geeigneter Stelle sollten sie ruhig von der realen Welt, die uns allen gemeinsam war, Gebrauch machen, um ihren ausgedachten Geschichten Plausibilität zu verleihen. Also bitte kein listiges Schachern um die Grenzen ihrer Kunst, keine Illoyalität dem Leser gegenüber, indem sie unter irgendwelchen Masken zwischen realer und imaginierter Welt hin und her wechselten. In den Büchern, die mir gefielen, war kein Platz für Doppelagenten. Zu jener Zeit prüfte und verwarf ich Autoren, die mir intellektuelle Freunde in Cambridge dringend ans Herz gelegt hatten – Borges und Barth, Pynchon und Cortäzar und Gaddis. Kein Engländer darunter, fiel mir auf, und keine Frau, egal welcher Herkunft. Da war ich skeptisch wie manche Leute aus der Generation meiner Eltern, die nicht nur Geruch und Geschmack von Knoblauch verabscheuten, sondern auch allen misstrauten, die ihn verzehrten.
Das ist nicht Serena, das ist ihr Ghostwriter McEwan, der hier sein Spiel treibt. Serena klingt eher so:
„Bis hierher hatten alle meine Ausführungen der Wahrheit entsprochen und ließen sich leicht nachprüfen. Jetzt tat ich den ersten vorsichtigen Schritt in die Lüge. »Ich will ganz offen zu Ihnen sein«, sagte ich. »Manchmal kommt es mir so vor, als hätte >Freedom International< zu wenig Projekte für das viele Geld.«
»Wie schmeichelhaft für mich«, sagte Haley. Vielleicht sah er, wie ich errötete, denn er fügte hinzu: »Das war nicht unhöflich gemeint.«
»Sie verstehen mich falsch, Mr. Haley…«
»Tom. «
Aber auch das ist natürlich ironisch und doppeldeutig. Wenn man den Roman nochmals liest (läse), wird man aus McEwans Spiel noch mehr Gewinn ziehen. Spricht das für den Roman? – Passende Hinweise liefert das Cover-Foto.
2012 460 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
Rezension von Martin Ebel im Schweizer Tages-Anzeiger
ZEIT-Lesetipp von Ijoma Mangold (Video)
Johan Schloeman’s Auslese in der SZ (Video)
Ian McEwan auf Youtube (Englisch)
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Im Oktober wurde auch McEwans Geheimdienstroman „Unschuldige“ von 1992 als Taschenbuch wiederveröffentlicht.
Leonard Marnham, ein junger Engländer, wird nach Berlin geschickt, um bei einem Geheimdienstprojekt von CIA und SIS gegen die Russen mitzuarbeiten, dem “Gold-Projekt”, einem Spionagetunnel. 1955, die Russen sollen abgehört werden, das ging damals noch nicht so leicht wie heute, also grub man in der Nähe der Zonengrenze einen Tunnel bis unter „russisches“ Gebiet, stellte Mikrofone hinein, Leonard war für die Einrichtung der Aufzeichnungsgeräte – „Tonbänder“ – zuständig. Er verliebt sich, wie es sich bei einem Spionroman gehört, in die etwas ältere deutsche Maria. Es gibt zwar einen Mord, doch ist nicht die Aufklärung wichtig, sondern dessen Vertuschung. McEwan schildert das in einem skurrilen Slapstick. In einem sentimentalen Schluss kommt Leonard 1987 nach Berlin zurück und liest einen Brief von Maria. Kein Krimi im üblichen Sinn, aber schön. McEwan nennt den Roman im Untertitel “Eine Berliner Liebesgeschichte”.
Anthony McCarten: Ganz normale Helden
„Dieser Roman kann einen krank machen. Krank vor Traurigkeit, weil der Held Leukämie hat und sterben muss. Krank vor Zorn, weil das Leben manchmal genau so ungerecht ist, wie es Anthony McCarten in seinem Buch „Superhero“ beschreibt. Es rafft einen 14-Jährigen dahin, zerbricht fast seine Familie, lässt Freunde ratlos zurück.“ (Daniel Haas, SPIEGEL)
McCarten hat eine Fortsetzung geschrieben: „Ganz normale Helden“, im Original: „In the Absence of Heroes“. Beides ist mehrdeutig, denn die Helden haben sich in den Computer verkrochen, ins Internetspiel LoL, Life of Lore, den Söhnen scheinen die Avatare ganz normale Helden zu sein, übergezogene „Charaktere“. Der 14-jährige Donald ist am Krebs gestorben und sein älterer Bruder Jeff ist vor der erdrückenden Fürsorglichkeit der Eltern aus dem Haus geflohen, niemand weiß, wo er sich aufhält. Vater Jim hat die Idee, sich ins Internet zu begeben, in der hoffenden Erwartung, dass er in LoL auf seinen Sohn stößt, dass er hier Kontakt aufnehmen kann. Jim kennt sich nicht aus mit diesen virtuellen Abenteuern und er hält auch nichts davon. Trotzdem verfällt er der Spielsucht, die er vor seiner Umgebung versteckt und sich selbst gegenüber als Suche nach dem verlorenen Sohn verbrämt. Er nennt sich AGI.
Ja, AGI – klingt wie ein Hunnenkrieger, der Dörfer in Schutt und Asche legt. Und AGI tippt er jetzt auch ein – eine unwiderrufliche Entscheidung -, genau wie damals, als er mit zitternden Fingern in der Stille des Standesamts von Watford »Jeffrey«, und später »Donald« in das Familienregister eingetragen hatte.
Ein neues Mitteilungsfeld taucht auf:
»Für den Fall Ihres Todes«.
Es ist mehr als wahrscheinlich, dass Ihre Figur im Laufe ihrer abenteuerlichen Reisen vorzeitig zu Tode kommt. Allerdings, denkt Jim. In Life of Lore sind Sie jedoch in der Lage, Ihre Seele sofort wieder als GESPENST freizusetzen, und dieses GESPENST wird dann zu einem nahegelegenen FRIEDHOF gebeamt, dem sogenannten REINKARNATIONSZENTRUM. Als GESPENST müssen Sie Ihre Leiche finden, damit Sie wiedergeboren werden. Meine Güte, ist das kompliziert! Nach der Wiedergeburt fangen Sie das Spiel quasi von vorn an, denn Sie haben Ihren Status, sämtliche Kräfte und Ihre Besitztümer sowie die PERSÖNLICHEN EINSTELLUNGEN zu Ihrer Figur verloren.
Jim liest all das noch ein zweites Mal. Als er auf Weiter klickt, poppt ein letztes Mitteilungsfeld auf:
Jetzt in Welt eintreten.
Er klickt. Er ist drin.
Als Erstes tippt Jim Merchant of Menace ins Suchfenster der Minikarte.
Sekunden später erscheint auf der Minikarte ein leuchtend roter Pfeil und weist ihm, wie ein Fingerzeig Gottes, den Weg nach Nordosten zu einer Figur, die sich in einem weitentfernten Quadranten aufhält. Jim folgt dieser einfachen Kompassnadel und navigiert mit wwwww, ein wenig aaaaaa, ein wenig ddddddd. Er macht einen Bogen um den Wald – er will sich ja nicht gleich wieder in Stücke hacken lassen – und hält sich lieber an die Pfade von TerraNova, breit wie Dünenwege und gesäumt von Bäumen, die aussehen wie Plastik. Er begegnet anderen Mitspielern, die verloren durch die Gegend stolpern. Dann führt ihn sein Navigationswerkzeug auf einen Hügel, zu einem jungen Mann. Er steht da. Allein. Im Cyberspace.
Chat Log:
AGI: Bist du der Merchant of Menace?
MERCHANT OF MENACE: wer will das wissen?
AGI: Man hat mir gesagt, du könntest mich führen.
Jim spürt sein Herz heftig schlagen. Wie merkwürdig. Wie erschreckend. Der erste Kontakt mit seinem Sohn seit drei Wochen, und dann auf diese Weise: mittels Spielfiguren, Graphik, in einem digitalen Schneesturm aus Einsen und Nullen! Wenn dieser Merchant Jeff ist, wenn das Spiel ihn wirklich zur richtigen Person geführt hat, dann hat Jeff sich ein Alter Ego ausgesucht, das seinem tatsächlichen Äußeren ziemlich ähnlich ist: zottelige Mähne, große Augen, volle Lippen, ein schmales Gesicht, hochaufgeschossener, magerer Körper, der sein männliches Muskelarsenal erst noch entwickeln muss. Jim erkennt seinen schlaksigen Erstgeborenen hinter dem Wildwuchs an Haaren, der Haut so gelb wie Industriekäse, den Vampiraugen mit den purpurroten Pupillen, dem fürstlichen Lederwams, an dem Waffen mit ungeahnten Kräften baumeln.
Wie anders als früher, als man sein Kind am Schultor abholte! Hunderttausend Meilen entfernt von einem Fußballspiel im Garten, den Kinderbüchern, die er dem jungen vor dem Einschlafen vorgelesen hat, von dem gemeinsamen Brüten über der Quadratwurzel von 8r in Jeffs ersten Schulheften am Küchentisch. Stattdessen begegnet Jim seinem Sohn in einem Spiel, das kein Vater früherer Zeiten mit seinem Sohn hätte spielen können – und wie viele haben seitdem tatsächlich das getan, was Jim gerade tut? Ist er wirklich einer von ganz wenigen, womöglich sogar der Allererste, der auf diese Art das geheime Leben seines Kindes ausspioniert? Renata hat vielleicht die Post des jungen aufgemacht und so seine Privatsphäre verletzt, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was er vorhat.
MERCHANT OF MENACE: was hat dein Name zu bedeuten?
AGI: Eigentlich gar nichts.
MERCHANT OF MENACE: scheißname, ehrlich
Ja, klingt ganz nach Jeff.
Mutter Renata hat noch weniger Kraft, den Verlust der Söhne zu verarbeiten, sie kann auch nicht darüber mit ihrem Mann reden. So sucht auch sie sich einen Gesprächspartner im Internet: GOTT – wer immer das ist. Insoweit ist McCartens Roman sicher auf der Höhe der Zeit. Er zeigt auch dem virtuellen Laien die Faszination und die Banalität von Rollenspielen, er führt sie in den Chat-Logs vor als Mix aus Ballerei, Machtphantasien und seichtem Sex-Gelaber. Man weiß jetzt, dass es auch Cyberstalking gibt, dass man Identitäten klauen kann, dass das Netz auch Sentimentalitäten kennt und das Geschäft mit der Trauer. Die Verblendung der Realität kann süchtig machen. McCarten kritisert nicht, er überlässt die Wertung dem Leser. Er mischt die virtuellen Rollenspiele geschickt in die realen, denn Beruf und Familie von Jim und Renata Delpe stellen sich ebenso als Versuche dar, Probleme zu erfassen und sie zu lösen. Vater Jim verliert sich im Netz an eine jungbusige Kayla, in der Realität flieht er aus London in ein neues Heim in den Cotswolds. Die sich entwicklenden Komplikationen wirken recht verkrampft, McCarten lässt noch Jims ausgebrannte Schwester mitspielen, die Sexkapaden verfransen sich ins „rl“. Schließlich taucht Jeff im vorweihnachtlichen Schneegestöber auf, friert noch fast fest und taumelt einem rührseligen Ende – und wohl einer weiteren Fortsetzung entgegen.
Der Roman kommt natürlich nicht ohne Klischees aus, das erwartet man ja als Leser. Man wird schon in die Familie hineingezogen, 455 Seiten sind auch recht lang. Dafür spart man sich wohl Besuche in der virtuellen Scheinwelt. „‚Ganz normale Helden’ ist Satire und Tragödie, das Buch zum Virus Spielsucht und gleichzeitig Trauerprotokoll, als Zwitterwesen bitter komisch, erschreckend traurig und voller Empathie.“ (Anja Hirsch, FAZ)
2012 455 Seiten
3SAT-kulturzeit-Gespräch mit Anthony McCarten
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Michael Frayn: Willkommen auf Skios
Dr. Norman Wilfred, renommierter Szientometer, soll bei der alljährlichen Sommertagung der Fred-Toppler-Stiftung auf Skios einen Vortrag halten. Nicht, dass das die internationalen Gäste – ein leicht bespottbares Gruselkabinett – sonderlich interessieren würde, aber Dr. Wilfred führt seinen Vortrag ohnehin stets abrufbar an sich. Das ist gut so, denn bei der Ankunft auf Skios wird er mitsamt seinem Koffer verwechselt. Er wird von einem der beiden verbrüderten und deshalb verwechselbaren Taxifahrer auf Skios in ein Ferienhaus gefahren, wo er, entgegen seinen Erwartungen, nicht erwartet wird, an seiner statt landet Oliver Fox bei der Stiftung, ahnungs- und vortragslos. Da Phoksoliva dort eine nette junge Dame vorfindet, Nikki, die Organisationschefin, beschließt er zu bleiben, das weitere wird sich schon finden, den Vortrag wird er schon halten, es ist ja noch ein Tag hin. Dr. Wilfred stößt in seinem Quartier ebenfalls auf eine junge Frau, Georgie, was ihn anfangs irritiert, dann aber zusehends auf andere Gedanken bringt. Den Vortrag hat er ja bei sich.
Aber niemand wartete. Niemand blieb stehen. Niemand hörte ihn.
»Nicht er!« schrie er. »Ich!«
Ein Mann ganz hinten drehte sich um.
»Ich, ich, ich!« sagte Dr. Wilfred, hatte in seiner Wut jedoch Mühe, die angemessenen Worte zu finden, um die ungeheuerliche Ungerechtigkeit zu artikulieren, die ihm widerfahren war. »Dr. Norman Wilfred! Ich. Ich bin’s.«
Der Mann lächelte, nickte und schaute weg. Es war ihm peinlich, dass er das Opfer eines frei herumlaufenden Schizophrenen geworden war.
Auf diese noch unmittelbarere Beleidigung hin richtete sich Dr. Wilfreds Wut auf das zugänglichere Objekt. Er packte den Mann am Arm.
»Ich bin’s! Ich bin’s!« rief er. Der Mann entriss ihm entsetzt den Arm. Mehrere Personen drehten sich neugierig um. Dr. Wilfred wedelte mit dem Text seines Vortrags vor ihren Gesichtern herum.
»Mein Vortrag!« rief er. »Meiner. Ich bin Dr. Norman Wilfred! Nicht er! Ich!«
Die Leute blickten nicht auf den Vortrag, sondern sich gegenseitig an und dann überallhin, peinlich berührt, weil sie gesehen worden waren, wie sie Zeuge dieses Ausbruchs wurden.
Dr. Wilfred blieb stehen und sah zu, wie sie sich immer weiter von ihm entfernten. Die öffentliche Meinung, was seine Identität anbelangte, war in überwältigendem Maße gegen ihn. Er war eine Minderheit von einer Person, und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können.
Er setzte sich auf eine Bank neben dem Weg. Zum drittenmal an diesem Tag fühlte er sich schwach und merkwürdig, als würde er sich von einem weiteren Anfall von Fieberwahn erholen. Im letzten Dämmerlicht blickte er auf seinen Vortrag. Aber er war Dr. Norman Wilfred! Er war es, er war es wirklich! Es stand auf der Mappe!
Es entwickelt sich die typische comedy of mistaken identity. Da weder Phoksoliva noch Dr. Wilfred ihren Gastgebern persönlich bekannt sind, ergeben sich ständig Verwechslungen und Missverständnisse, die fremde Sprache tut ein Übriges; das Skurrilste ist, dass die Insel Skios nur etwa 20 km lang ist; man müsste sich über den Weg laufen. Da man aber kaum geht, sondern mit dem Taxi fährt, gerät man unweigerlich an die Brüder Spiros und Stavros. Das Handy, das in der Zeit seit Shakespeare und Goldoni entwickelt wurde, darf natürlich nicht funktionieren: Der Akku, die nicht abgehörte Mobilbox, in Not darf es auch einmal im Pool landen. Dass es auch Computer gibt, verschweigt Frayn. Wo einstmals der Geliebte flugs im Wandschrank verschwand, dürfen bei Frayn die Freundinnen Nikki und Georgie nicht herausfinden, dass sie beide auf Skios weilen, keine 20 km voneinander entfernt.
Da der Termin des Vortrags immer näher rückt, steigt die Spannung. Frayn löst sie aber nicht in der früher üblichen Rudelhochzeit, sondern in einem Knall, besser gesagt, in vielen Knällen. Das ist für den Leser enttäuschend, weil ein Knall beim Lesen weniger gut wirkt als eine originelle Lösung, das ist dramaturgisch geschickt, da ein Feuerwerk einen beliebten Schluss beim Film darstellt. Mit Dramaturgie kennt sich Frayn aus, er ist (u.a.) Verfasser der vielgespielten irrwitzigen Bühnenkomödie „Der nackte Wahnsinn“ (Noises Off).
Jetzt waren also all die vielen Elemente, die den Höhepunkt der diesjährigen großen europäischen Hausparty bilden würden, an Ort und Stelle. Die unterschiedlichen Handlungsstränge waren offenbar kurz davor, sich zu vereinigen, um in einem einzigartigen Ereignis von großer Komplexität und Tragweite zu kulminieren. Dem Showdown. Der großen Auflösung.
Was genau für eine Form dieses Ereignis annehmen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand und konnte es auch nicht wissen. Die meisten Beteiligten hegten zweifellos Erwartungen der einen oder anderen Art, doch auch diese waren konfus und unbestimmt und hoffnungslos vermischt mit dem, was sie wollten, dass passierte, oder hofften, dass passieren würde, oder fürchteten, dass passieren könnte. Wie auch immer, keiner von ihnen hatte eine mehr als oberflächliche Kenntnis der entscheidenden Faktoren – oder viel Zeit, um darüber nachzudenken, da der gegenwärtige Moment der Stase, in dem Oliver Luft holte und den Mund öffnete, um zu sprechen, so kurz war.
Hätten sie in einer Geschichte gelebt, hätten sie sich natürlich denken können, dass irgendwo irgend jemand den Rest des Buches in Händen hielt, und dass das, was gleich passieren würde, sich bereits in den gedruckten Seiten befand, feststehend, unveränderlich, ein für allemal existent. Nicht, dass es ihnen wirklich geholfen hätte, denn niemand in einer Geschichte weiß, dass es ihn gibt.
Gelesen, ist „Willkommen auf Skios“, etwas langatmig, nervend auch, zu bekannt und erwartbar sind die Gags. Der britische Humor dringt auch durch die Übersetzung. Reizvoll die eingestreuten Metatexte zum Genre, Frayn gibt auch dem intellektuellen Leser Baklava. Nicht, dass es nicht amüsant wäre, man kann sich die Verwirrungen gut als eineinhalbstündigen sparkelnden Film vorstellen. Ein Sommerstück mit auch ein bisschen Haut. „Nur schlechte Nachrichten aus Griechenland?“, fragt Susanne Mayer in der Zeit und druckt der Carl Hanser Verlag auf die Banderole. „Ach was: Michael Frayn inszeniert in der Ägäis einen herrlichen Spaß aus Lüge, Chaos und Spott.“ Werbung.
2012 285 Seiten
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Lesetipp: Michael Frayn: Das Spionagespiel
Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg: Im harmlosen Nachbarn erkennen Keith und Stephen einen Mörder, im Boden unter ihnen vermuten sie Geheimgänge, und ein leer stehendes Haus kommt ihnen höchst verdächtig vor. Doch auf einmal entwickelt ihr Spiel eine unheimliche Dimension: Keiths schöne, kultivierte Mutter hat nämlich tatsächlich etwas zu verbergen. (Klappentext) Ein sehr guter Roman.
Rezensionen beim Perlentaucher
Lee Rourke: Der Kanal
Weil ihm so fad ist, muss ich den Roman nicht lesen. “Teil Eins” trägt den Untertitel: Langeweile, Teil Drei: – Schwere, Teil Vier: Schwerkraft. Das sei, heißt es im Klappentext , “ein eindringliches Debut (…) ja, tatsächlich, über den Sinn des modernen Lebens”.
Lee Rourke lässt seinen Helden denken und fühlen, was dieser aber schlecht kann. Und so lauten dann die Sätze: “Ich kam mir klein und unbedeutend vor.” “Es fühlte sich richtig an.” “Ich fühlte mich leicht.” Wenn Rourke mit seinem Helden erzählt, liest sich das so: “Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen.” – Das ist unbeholfener Kitsch, das ist unglaubhaft. Langeweile mag ein Charakteristikum moderner Zeit sein, aber man muss das auch darstellen können, nicht bloß seinen Helden behaupten lassen. Rourkes Roman hat keinen Stil. Ich kann das nicht lesen und hab nach 40 Seiten verärgert aufgehört.
Wieder schwiegen wir. Ich hatte Hunger. Mir war heiß. Ich hatte das Gefühl, dass es an ihr liegen könnte, aber wahrscheinlich kam es vom Hunger. Allerdings habe ich mich danach ehrlich gesagt nie wieder so gefühlt. Ich hatte ein sonderbares Gefühl im Bauch. Ich fühlte mich leicht. Ich fühlte mich, als würde ich schweben. Ich wollte Steak. Ein blutiges Steak. Mit darauf geschmolzenem Roquefort. Ein schönes dickes Lendenstück. Das Beste vom Besten. Ich wollte zu Elliot’s Butchers auf der Essex Road gehen und dort das beste Stück kaufen. Oder vielleicht ein mit Körnern gefüttertes Huhn, mit Zitrone und Knoblauch gefüllt und gegrillt. Ich hätte es komplett verspeist. Ich dachte an gegrillten Kürbis mit ganzen Knoblauchzehen und in Gänseschmalz gebratenen Kartoffeln. Ich glaube, ich habe vor ihren Augen zu sabbern begonnen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich sah sie an. Sie starrte geradeaus in Richtung der schicken Flachbildschirme. Sie gähnte ein paarmal, strich sich das Haar aus dem Gesicht und kauerte sich ein wenig zusammen, um sich gegen den Wind zu schützen. Ich versuchte, zu erkennen, was sie ansah – es waren nur noch wenige Angestellte da. Die meisten waren wohl zum Mittagessen gegangen. Der Mann mit Hemd und Krawatte, der seinen Arbeitstag so gern damit verbrachte, zwischen seinem eigenen und dem anderen Tisch hin- und herzulaufen, immer und immer wieder, saß an seinem Tisch und stützte seinen Kopf in die Hände. Ich konnte nicht genug von ihm sehen, um sagen zu können, welche Farbe seine Krawatte hatte. Er sah müde und irgendwie besorgt aus. Aber das war nicht genau zu erkennen. Womöglich schlief er sogar – er sah jedenfalls so aus, als schliefe er. Ganz sicher beschäftigte ihn irgendetwas. Vielleicht sah sie ihn an. Auf alle Fälle sah sie etwas Bestimmtes an.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also fragte ich sie: »Hast du Hunger?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Wieso?«
»Hättest du Lust, mit mir in ein Café zu gehen und einen Happen zu essen? … Ich kenne ein Café gleich hier um die Ecke. Das Rheidol Café.«
»Nein.«
»Hm. Bist du sicher? Du siehst aus, als wärst du …«
»Ja, ich bin sicher.«
»Na gut.«
Sie sah mich kein einziges Mal an. Sie starrte unverwandt geradeaus zu den Flachbildschirmen. Ich kam mir dumm vor. Ich versuchte, aufzustehen, aber ich konnte es nicht. Es war, als wäre ich auf der Bank festgewachsen. Ich kam mir klein und unbedeutend vor. Plötzlich wandte sie sich mir zu.
»Aber nimm das bitte nicht persönlich. Ich habe einfach gerade keine Lust auf einen Kaffee oder Essen oder so. Das ist alles. Ich möchte lieber hierbleiben.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum sitzt du hier?«
»…«
»Warum kommst du jeden Tag zu dieser Bank? Ich habe dir gesagt, warum ich es mache. Jetzt wäre es nur höflich, wenn du es mir auch sagen würdest.«
»…«
»Willst du es mir nicht sagen?«
»…«
»Nein?«
»…«
Sie sagte nichts. Das war der Moment, als ich von der Bank hätte aufstehen und dann vielleicht wieder zur Arbeit gehen sollen – aber ich habe es nicht getan. Ich bin einfach neben ihr sitzen geblieben. Es fühlte sich richtig an. Einfach dazusitzen und nichts Bestimmtes anzustarren. Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen. Es war mit Abstand der größte Schwan, den ich je gesehen hatte – nicht, dass ich in meinem Leben besonders viele Schwäne gesehen hätte. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, warum er den Kanal als Lebensraum gewählt hatte. Sicher gab es bessere Stellen in London. Warum hatte er sich nicht ein idyllisches Plätzchen in Kensington ausgesucht? Oder irgendwo in einem Vorort? Warum ausgerechnet diesen schmuddeligen, ungepflegten, stinkenden Kanal? Es war unverständlich. Alles war unverständlich. Sie schien den Schwan nicht zu bemerken; sie schien in Trance, komplett woanders zu sein. Ich wollte sie nicht stören, doch ich musste es ihr einfach sagen. Ich konnte nicht anders. Ich hätte sie in Ruhe lassen sollen.
»Hast du ihn gesehen?«
»Wen?«
»Den Schwan … da.«
»Woher weißt du, dass es ein Er ist?«
»Er ist groß. Es muss ein Er sein.«
»Hm. Er … oder sie, was weiß ich … ist schön. Wirklich schön.«
Wir brauchten nichts weiter zu sagen.
Und ich brauchte nicht weiter zu lesen. Die Frau, die sich neben den ennuyierten Helden gesetzt hat, lässt sich drängen, ihm ihr Leben zu erzählen, es tritt auch noch eine Jugendgang auf. Modernes Leben. Gequältes Gestammel.
2010 225 Seiten
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Howard Jacobson: Die Finkler-Frage
Wenn Finkler von ihren Versammlungen nach Hause kam, fühlte er sich jedenfalls stets wie damals, als er seinen Vater in die Synagoge begleitet hatte – die Welt war ihm zu jüdisch, zu alt, zu gemeinschaftlich in einem anthropologischen, fast urzeitlichen Sinne, zu weit fort, zu tief unten, zu lang vergangen.
Er war ein Denker, der nicht wusste, was er dachte, nur dass er geliebt hatte, gescheitert war und jetzt seine Frau vermisste und dass er dem nicht entkam, was er am Judentum so erdrückend fand, wenn er sich einer jüdischen Gruppe anschloss, die sich traf, um fieberhaft über das Erdrückende am Judentum zu debattieren. Fieberhaft über das Judentum zu reden, das gerade war ja so jüdisch.
Und da kommt man nicht raus. Je weiter man in ein Problem hineindenkt, desto auswegloser werden die Aporien. Man kann sie auch nicht aufheben, wenn man das Gegenteil erwägt, denn die Wahrheit liegt in der Spitzfindigkeit. Die Wahrheit ist immer ihr Gegenteil, der Wunsch, nicht so zu sein, wie man ist, aber auch nicht anders, denn dann wäre man ja wieder festgelegt. Es gibt hinter jeder Ecke noch eine Ecke mehr, um die gedacht werden kann.
Drei Freunde begleiten sich durch ihr Leben, stützen sich, auch in ihrer Gegensätzlichkeit. Libor Sevcik und Samuel Finkler sind Juden, Libor alt, Finkler so um die Fünfzig. Beide haben sie ihre Frau verloren. Sie sind laizistische Juden, eigentlich Juden wider Willen, also typische Juden. Sie gründen sogar den Verein “ASCHandjiddn”, von der “schand”, “ASHamed Jews“ im Englischen. Treslove, der Goi, wird auch bald 50, hatte Frauen, die mit ihm nicht auskamen, sein Wunsch geht in Erfüllung, als er urplötzlich überfallen wird. Von einer Frau. Und die sagt ihm, so hört er es jedenfalls, so legt er es aus: Du Jud! Es könnte auch anders gelautet haben. Treslove zieht seine Konsequenz: Er will Jude werden, jüdisch – ein Finkler. Dann hätter er, der von “Beruf” Doppelgänger ist, als look-alike mietbar, wenigstens eine Identität und wär nicht länger ein gornischt. Ob er weiter a mamser bleibt oder zu einem wird, ist nicht ausgemacht. Er findet in Hephzibah die passende Frau. Hephzibah ist Jüdin, aber nicht so jüdisch, wie Treslove werden will. Das ist die Befriedung und damit ein neues Problem. „Richtige Juden mussten leiden für ihr Leid, doch dieser Julian Treslove meinte, er könne aufs Karussell hüpfen, wann immer ihm danach war, und dürfe sich auf Anhieb schlecht fühlen.“
Sie hätte nicht sagen können, ob er ein Kind von ihr wollte. Im Verlauf eines seiner unzähligen Gespräche über Beschneidung hatte er das Thema zur Sprache gebracht – war er schön genug für sie, war er ihr zu viel, war er zu sensibel, was würden sie tun, wenn sie einen Sohn bekämen, würde er für ihn ein Vater oder eher wie Moses sein? Aber alles hatte ziemlich hypothetisch geklungen und sich mehr um Treslove als um ein Kind gedreht. Sie selbst dachte nicht an Kinder. »Damit hat es keine Eile«, sagte sie stets, was eine nette Umschreibung war für: kein Interesse. Doch hielt er es für ein Scheitern? Seiner eigenen Aussage zufolge war er der schlechteste Vater der Welt. Er hatte ihr das wieder und wieder in einem Ton gesagt, der in ihr die Frage aufkommen ließ, ob er nicht doch beweisen wollte, dass er es besser konnte.
Sie fragte ihn.
»Was? Es mal als jüdischer Vater versuchen? Ich glaube nicht. Es sei denn, du willst … «
»Nein, nein, gar nicht. Ich habe dabei nur an dich …«
Was sein Faible fürs Jüdische insgesamt anging, fand sie dies anfangs amüsant, machte sich deshalb jetzt aber Sorgen. Wollte er das Jüdische wie die Schwermut aus ihr heraussaugen? Sie fürchtete, er könnte beides miteinander verwechseln.
»Juden können auch fröhlich und gesellig sein, weißt du«, sagte sie.
»Wie könnte ich das vergessen, wo wir uns doch bei einem Essen an Pessach kennengelernt haben.«
»Diese Art fröhlicher Geselligkeit, bei der wir gemeinsam unserer Zeit als Sklaven in Ägypten gedenken, habe ich eigentlich weniger gemeint. Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt. Ich will damit sagen, Juden können auch richtig ausgelassen, derb und vulgär sein.«
Noch während sie redete, fiel ihr auf, wie fremd ihr all das geworden war, seit sie sich kennengelernt hatten. Er engte sie ein. Er wollte eine bestimmte Art Frau in ihr sehen, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Dabei gab es manchen Abend, da hätte sie sich lieber vor den Flimmerkasten gehockt und eine Schmonzette geglotzt, als mit ihm über Beschneidung und Moses Maimonides zu reden. Sie fand es anstrengend, die Vertreterin ihres Volkes für einen Mann zu sein, der beschlossen hatte, dieses Volk zu verklären, wollte sie doch ebenso wenig ihn enttäuschen wie das Judentum selbst und dessen gesamte fünftausendjährige Geschichte.
»Gut, seien wir fröhlich, machen wir was Ausgelassenes«, sagte er. »Ein Stück die Straße hinunter spielt im jüdischen Kulturzentrum eine kleine
Klezmerband zu einem jüdischen Tanzabend auf. Wollen wir da hin?«
»Ich glaube, da hätte ich doch lieber ein Kind von dir«, sagte sie. »Ehrlich?«
»Nein, nur ein Witz.«
Sie meinte, es in seinem Kopf rattern zu hören. Eine Frau sagt, sie will ein Kind von dir. Wieso ist das in jüdischen Ohren ein Witz?
Und dann war da noch das Problem, dass sie ihn nicht beunruhigen wollte. Die Schinkenspeckvandalen hatten wieder zugeschlagen. Diesmal wurde »Tod allen Jüdischen« an die Mauern gepinselt. »Jüdischen« war muslimisches Hassgerede. Immer häufiger hörte man von kleinen Kindern an gemischten Schulen, die als »Jüdische« beschimpft wurden. Hephzibah fand diese Entwicklung viel bedrohlicher als die Hakenkreuze, mit denen der weiße Pöbel jüdische Friedhöfe schändete. Hakenkreuze wirkten irgendwie kraftlos, halbherzig, waren eher eine Erinnerung an Hass als Hass selbst. »Jüdische!« dagegen – für sie hatte das Wort einen schrecklichen Klang. »Jüdische« waren etwas Widerliches. Ihr Glaube machte sie gemein und bösartig. Trat man auf sie, quoll »Jüdisches« heraus. Diese Beleidigung ging viel tiefer als »Jidd« oder »Itzig«. Sie richtete sich nicht gegen individuelle Juden, sondern gegen das, was das Jüdische im Kern ausmachte. Außerdem stammte sie aus einem Teil der Welt, in dem der Konflikt bereits in Blut badete und der Hass bitter, wenn nicht gar unauslöschlich war.
Howard Jacobson behandelt alle einschlägig relevanten Themen. Antisemitismus, Antizionismus, Antiisraelismus, Gaza-Streifen, Moses Maimonides, Brit Mila, Frauen und Männlichkeit, Anschläge und Selbsthass und liefert damit eine umfassende Selbstbeschreibung dessen, was nicht zu fassen ist: des Jüdischen. Die Spitzfindigkeiten werden zelebriert, voller Ironie, mit heiterem Ernst. Zu trauen ist natürlich keinem. Das Klischee entlarvt das Vorurteil, und davon hat natürlich auch der Leser viele. Nicht nur in England.
“Die witzigste jüdische Versuchung seit Philip Roth.” (Felicitas von Lovenberg, FAZ)
2010 436 Seiten Booker-Prize 2010
Leseprobe bei DVA (pdf)
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Stephen Kelman: Pigeon English
Harri Opoku ist mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Ghana nach England gekommen und so wird er von seinen Straßenkumpels auch „Ghana“ gerufen. Dass er schwarz ist, wird nicht weiter thematisiert, denn das Hochhausviertel, in dem er lebt, ist Stigma genug. Der Handlungsraum des Elfjährigen ist rigide begrenzt und bei seinen Kumpels weiß man nicht, ob es Freunde oder Feinde sind. In acht nehmen muss man sich vor allen, denn die Seilschaften können schnell wechseln.
Du siehst nicht, wo die Grenzlinien verlaufen, aber du weißt, dass sie da sind. Du musst sie einfach im Kopf mit dir rumtragen. Der Tunnel hinter dem Einkaufszentrum ist so eine Grenze. Wenn du sie überschreitest, bist du dran. Ich geh gar nicht erst in diesen Tunnel rein. Der ist mir unheimlich. Es ist immer dunkel da drin, selbst wenn die Sonne scheint, und das Wasser in den Pfützen ist voll fies und vergiftet.
Die Straße an meiner Schule vorbei ist die nächste Grenze. Dahinter ist Sperrgebiet. Näher als bis zur Bushaltestelle am Hügel bin ich noch nie gewesen. Weiter hab ich mich nicht getraut.
Die nächste Grenze ist die Straße am Ende vom Fluss. McDonald’s liegt auf der anderen Seite. Ich bin noch nie drüben gewesen, außer mit Mamma im Bus. Wenn man dort alleine hingeht, ist man auch dran. Die Straße gehört der Lewsey Hill Crew.
Die letzte Grenze ist die Eisenbahnlinie. Die ist ganz schön weit weg, hinter dem Fluss. So weit war ich noch nie. An der Eisenbahnlinie tragen sie die Kriege aus. Das ist das Schlachtfeld. Zwischen der Dell Farm Crew und der Lewsey Hill Crew hat sich da mal eine mörderische Schlägerei abgespielt. Gut tausend Leute. Alle mit Messern, Baseballschlägern oder Schwertern. Einige sind gestorben. Aber das war früher, lange bevor ich hergezogen bin.
Jordan: »Sie haben denen Arme und Beine und alles abgeschlagen. Das war echt krank. Die sind immer noch da. Man kann die Arme und Beine noch von den Bäumen baumeln sehen. Sie haben sie zur Abschreckung hängen lassen. «
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich weiß ja nicht mal den Weg zu den Gleisen.
Die Grenzlinien bilden ein Viereck. Nur wenn du im Viereck bleibst, bist du sicher. Es ist unser Zuhause. Zu Hause können sie dich nicht umbringen. Das Beste an Zuhause sind die vielen Verstecke.
Nur Dean scheint ein echter Freund zu bleiben und mit ihm erklärt sich Harri zu detectives, denn ein Junge ist ermordet worden. Die Polizei tappt im Dunkeln, falls sie denn überhaupt tätig wird. Harri und Dean besitzen ein Plastikfernglas, basteln sich ein Klebeband zur Abnahme von Fingerabdrücken, denken sich naive Fangfragen aus, träumen vom Leben und Überleben.
Stephen Kelman schildert alles aus der Perspektive, mit den Gedanken und Worten des Elfjährigen. So etwas geht oft schief und wird zur Kleiner-Nick-Verballhornung, Kelman aber taucht überzeugend ein in die Fantasiewelt, in die Ängste und Strategien des Kindes, auch die Gespräche sind glaubhaft, kindlich in den Assoziationen, derb in den Worten, denn derb ist die Realität, nur Nachahmung verleiht credibility. Harri malt sich sogar Streifen auf seine Billigsneakers, damit sie wie Adidas aussehen. Der Schnellste seiner Klasse ist er sowieso. Das zählt und ist wichtig beim Davonrennen.
Killa trat gegen den Eierkarton, und sämtliche Eier flogen durch die Luft. Ich sah Angst und rote Augen auf Mr Frimpongs Gesicht. Ich stellte mir vor, seine Gedanken zu lesen: Er dachte, wo ist Gott, wenn du ihn brauchst? Denn das dachte ich auch. Er versuchte die Jungs zu verscheuchen, aber seine Arme waren zu kurz. Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Es war zu schrecklich. Dann kam X-Fire. Er hatte seinen Schal vorm Gesicht. Er durchwühlte Mr Frimpongs Taschen und fand sein Portemonnaie. Verrückt, das hattest du noch nie gesehen. Er fragte nicht mal.
X-Fire: »Lass los, du alter Sack, oder ich stech dich ab.«
Mir war zum Kotzen. Ich drehte mich um und rannte, so schnell ich konnte. Ich guckte nicht mehr zurück, ich wollte nur noch weg.
Damit hatte ich meine letzte Chance vergeben. Wenn du bei zwei Einsätzen versagst, kannst du es vergessen, je reinzukommen. Ich hätte einfach nur bis zum Ende dableiben müssen. Aber ich hatte ja nicht gewusst, dass das Ende so –
X-Fire: »Wo willst du hin, du F-er?«
Ich stellte mich taub. Ich rannte einfach. Ich rannte am Spielplatz vorbei, am Park und den ganzen Häusern, und blieb erst am Tunnel wieder stehen. Mir war der Atem ausgegangen. Mein Bauch fühlte sich nach Messern an. Ich berührte in der Tasche meinen Alligatorzahn, er war noch da. Ich weiß nicht, warum es mit der Kraft nicht geklappt hat.
Ich wünschte, ich wäre größer.
Und dann gibt es die poetischen Momente, wenn Harri mal allein sein kann und mit seiner Taube spricht. Die Taube, die ihn versteht, denn auch sie muss sich das Überleben erkämpfen, darf sich nicht auf falschen Plätzen aufhalten. Die Taube muss auch nicht cool sein wie die Menschen, man kann sich vorstellen, ihr Beschützer zu sein.
Ich: »Du bist gekommen. Ich wusste es.«
Taube: »Keine Angst, bald bist du zu Haus. Wenn es Zeit ist, zu gehen, zeige ich dir den Weg.«
Ich: »Kann ich nicht hierbleiben?«
Taube: »Das liegt nicht in meinem Ermessen. Du bist heimgerufen worden.«
Ich: »Es tut weh. Arbeitest du für Gott?«
Taube: »Es tut mir leid, wenn es wehtut. Aber es wird nicht mehr lange dauern.«
Ich: »Ich mag deine Füße. Die sind hübsch und so kratzig. Mir gefallen alle deine Farben.«
Taube: »Danke sehr. Ich mag dich auch, ich mochte dich schon immer. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst. «
„Ichschwör!“ Ein hartes Buch über Menschen in harten Zeiten. Die Flucht von Afrika ist eine Flucht in neues Elend. (2011 Booker Shortlist)
2011 300 Seiten
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Auch Hisham Matar lässt in seinem Roman „Im Land der Männer“ ein Jungen erzählen, wie die Realität nicht erlaubt, Kind sein zu dürfen.
In Michael Frayns „Das Spionagespiel“ ist Stephen mit der Einordnung der Rolle seiner Familie im Krieg gegen Deutschland überfordert. Er legt sich eine Traumwelt zurecht, die zwischen Geheimnissen und Seifenblasen schillert.
Julian Barnes: The Sense of an Ending
Tony Webster ist im Ruhestand, findet aber keine Ruhe, weil ihn seine Jugend nicht loslässt. Er hat Zeit zu sinnieren, ob er alles oder überhaupt etwas richtig gemacht hat in seinem Leben. Dazu kommen die Zweifel, ob Erinnerung verlässlich sein kann, nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch die der eigenen Biografie.
The history that happens underneath our noses ought to be the clearest, and yet it’s the most deliquescent. We live in time, it bounds us and defines us, and time is supposed to measure history, isn’t it? But if we can’t understand time, can’t grasp its mysteries of pace and progress, what chance do we have with history – even our own small, personal, largely undocumented piece of it?
Julian Barnes breitet sein Lieblingsthema aus: Warum verlief mein Leben so, was habe ich, was haben andere dazu beigetragen. Kann man Geschehenes ausblenden? Hätte es Möglichkeiten gegeben, eine andere „Abzweigung“ zu wählen? Verläuft Geschichte chronologisch oder gibt es die Schubumkehr, wie Barnes mit dem schönen Bild der „Severn Bore“ andeutet, der Gezeitenwelle, die den Fluss von hinten her aufrollt.
„How often do we tell our own life story? How often do we adjust, embellish, make sly cuts? And the longer life goes on, the fewer are those around to challenge our account, to remind us that our life is not our life, merely the story we have told about our life. Told to others, but – mainly – to ourselves“
Tony Webster hält sich für einen mittelmäßigen Menschen, er kann seine Geschichte aber noch nicht beenden, denn es gibt Adrian und es gibt Veronica. Adrian war sein Jugendfreund, ein „Überflieger“, das Zentrum der Jugendfreunde. Genau dieser Adrian aber beginnt ein Verhältnis mit Tonys spröder, aber mysteriöser Jugendfreundin Veronica, hat sogar – wie man spät erfährt – ein Kind mit ihr (?), bringt aber doch keinen Sinn in sein Leben und bringt sich um. Hat Tony was damit zu tun? Denn er hat Veronica und Adrian einen bitterbösen Brief geschrieben, da er seine, Tonys, Niederlage nicht anders verwinden konnte. Tony arbeitet sich ab an Adrian und Veronica. „Tony was and is Tony, a man who found comfort in his own doggedness.” (Verbissenheit)
Not just pure, but also applied intelligence. I found myself comparing my life against Adrian’s. The ability to see and examine himself; the ability to make moral decisions and act on them; the mental and physical courage of his suicide. `He took his own life‘ is the phrase; but Adrian also took charge of his own life, he took command of it, he took it in his hands – and then out of them. How few of us – we that remain – can say that we have done the same? We muddle along, we let life happen to us, we gradually build up a store of memories. There is the question of accumulation, but not in the sense that Adrian meant, just the simple adding up and adding on of life. And as the poet pointed out, there is a difference between addition and increase.
Veronica bedrängt er mit einer Flut von emails sich mit ihm zu treffen, ihm zu erzählen, was wirklich geschah. Er möchte “try to get under Veronica’s skin,”, doch Veronica verweigert sich, Tony verstehe nichts, bis sie Tony, fast zum Schluss, auf ein Geheimnis stößt, bis Tony endlich sagen kann: Now I knew.” Was aber noch nicht stimmt.
Bis sich die Rätsel lichten, vergeht viel Zeit, der Roman zieht sich, weil sich Tony weigert sich einzugestehen, dass die Vergangenheit vorbei ist. Er zieht für sich nicht die Schlüsse aus seiner Ansicht, die Geschichte sei odd, whimsical, wobbly; er sucht „corroboration“ (Erhärtung), die es nicht geben kann. An „eine scharfe Brise Kafka“ (Susanne Mayer, ZEIT) habe ich dabei nicht gedacht. Reizvoll sind Barnes Spekulationen über die Gewissheiten der Geschichte.
I survived. `He survived to tell the tale‘ – that’s what people say, don’t they? History isn’t the lies of the victors, as I once glibly assured Old Joe Hunt; I know that now. It’s more the memories of the survivors, most of whom are neither victorious nor defeated. […]
Later on in life, you expect a bit of rest, don’t you? You think you deserve it. I did, anyway. But then you begin to understand that the reward of merit is not life’s business. […]
Also, when you are young, you think you can predict the likely pains and bleaknesses that age might bring. You imagine yourself being lonely, divorced, widowed; children growing away from you, friends dying.You imagine the loss of status, the loss of desire – and desirability. You may go further and consider your own approaching death, which, despite what company you may muster, can only be faced alone. But all this is looking ahead. What you fall to do is look ahead, and then imagine yourself looking back from that future point. Learning the new emotions that time brings. Discovering, for example, that as the witnesses to your life diminish, there is less corroboration, and therefore less certainty, as to what you are or have been. Even if you have assiduously kept records – in words, sound, pictures – you may find that you have attended to the wrong kind of record-keeping. What was the line Adrian used to quote? ‚History is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.‚
Der – wie so oft verflachte – deutsche Titel ist “Vom Ende einer Geschichte“. Ich hab’, wohl zum ersten Mal seit der Schulzeit, ein Buch auf Englisch gelesen. Es ging ganz gut, man muss nicht jedes Wort verstehen. Die wichtigen tauchen immer wieder auf und können immer wieder nachgeschlagen werden. Etwas eigen: die Kommas im Englischen. Andererseits kann man sich fragen, ob es wirklich wichtig ist, wo die Kommas stehen.
2011 150 Seiten
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Julian Barnes: Unbefugtes Betreten (Geschichten)
Die letzte Geschichte gab dem englischen Titel dem Namen: „Pulse“. Es ist eine Kurzversion „Vom Ende einer Geschichte“, es geht um die Frage, ob die Eltern für das Schicksal der Kinder verantwortlich gemacht werden können, für die Probleme bei der Partnerfindung und –bindung. Auch die meisten anderen Stories kreisen um dieses Thema. Der Mann ist der Reflektive, deshalb Unterlegene, dem Leben nur mit Prothesen gewachsen, z.B. mit dem „Lastschriftverfahren“. Den Frauen mag man nicht die Schuld aufbürden, das gehört zum männlichen Rollenbild, aber einfacher könnten sie es einem schon machen. Nicht bloß schreien, wenn einem nach Schreien ist.
Er sah auf ihre Brasher Supalites hinab: Adlerfarn hatte sich in den Ösen verfangen, und dass er sie am Morgen noch poliert hatte, war nicht mehr zu sehen. »Entschuldige – das versteh ich nicht.«
»Was?«
»Warum du geschrien hast.« »Weil mir danach war.«
Ah, da fehlten mal wieder die Wegmarken. »Und … warum war dir danach?«
»Einfach so.«
Nein, das hatte er falsch gehört oder missverstanden oder was. »Hör zu, es tut mir leid, vielleicht habe ich dir eine zu harte Wanderung -«
»Mir geht’s gut, hab ich doch gesagt.« »War es, weil -«
»Ich hab’s dir gesagt: Mir war einfach danach.«
Sie ließen den Gritgrat hinter sich und gingen schweigend hinunter zum Wagen. Als er seine Schnürsenkel löste, zündete sie sich eine Zigarette an. Pardon, aber dieser Sache musste er auf den Grund gehen.
»Hatte das etwas mit mir zu tun?«
»Nein, es hatte etwas mit mir zu tun. Schließlich bin ich diejenige, die geschrien hat.«
»Ist dir danach, es wieder zu tun? Jetzt zum Beispiel?« »Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn dir jetzt wieder danach wäre zu schreien, was wäre das für ein Gefühl?«
»Es wäre ein Gefühl, Geoff, als sei mir wieder danach zu schreien.«
»Und wann, glaubst du, wirst du das wieder tun?«
Darauf antwortete sie nicht, was keinen von beiden erstaunte. Sie zermalmte die Silk Cut mit ihrem Supalite, begann die Schnürsenkel zu lösen und schnippte Adlerfarnfetzen auf den Asphalt.
»4 Std. inkl. Mittag Grouse«, trug er in seinem Wanderbuch ein. »Wetter gut.« In der hintersten Kolonne trug er ein rotes »L« am Schluss einer ununterbrochenen Vertikalen roter »L« ein. In dieser Nacht legte er sich quer ins Bett. Na dann viel Glück, Alter, dachte er. Während des Frühstücks blätterte er in einer Nummer von Country Walking und füllte dann das Anmeldeformular für den Wanderverein aus. Da stand, man könne entweder per Scheck zahlen oder per Lastschriftverfahren. Das überlegte er eine Weile, dann entschied er sich für das Lastschriftverfahren.
Julian Barnes erzählt nicht nur, sondern reflektiert seine Erzählung gleichzeitig. Er stellt sich und dem Leser Fragen, die aber beide nicht beantworten können, weil es keine eindeutig richtige Handlungsweisen geben kann. Es gibt in dieser Umgebung seltsam eingefügte Geschichten über historische Personen, einen taubstummen Portraitisten etwa, oder über Anita, die Liebe von Giuseppe Garibaldi: „Carcassonne“. Die Themen sind die Themen von Barnes. Als ‚Stilübungen’ darf man das wohl bei einem Booker-Preisträger nicht abtun.
Für manche fängt das Teleskop dort draußen in der Lagune das Sonnenlicht ein, für andere nicht. Wir wählen, wir werden gewählt, wir bleiben ungewählt. Ich sagte zu meiner Freundin, die sich immer die Spinner aussucht, vielleicht sollte sie nach einem netten Spinner Ausschau halten. Sie antwortete: »Aber wie erkenne ich den?« Wie die meisten Menschen glaubte sie, was ihr Partner ihr erzählte, bis sie einen berechtigten Grund hatte, ihm nicht zu glauben. Sie war jahrelang mit einem Spinner zusammen, der immer pünktlich ins Büro ging; erst gegen Ende der Beziehung fand sie heraus, dass er jeden Tag als Erstes einen Termin bei seinem Psychiater hatte. Ich sagte: »Du hast einfach Pech gehabt.« Sie sagte: »Ich will nicht, dass das Pech war. Wenn es Pech ist, kann ich nichts dagegen tun.« Man sagt ja, letzten Endes bekomme man immer, was man verdient habe, aber dieser Spruch gilt auch anders herum. Man sagt, in den modernen Städten gebe es zu viele umwerfende Frauen und zu viele entsetzliche Männer. Die Stadt Carcassonne macht einen soliden und beständigen Eindruck, aber was wir dort bewundern, sind meist Rekonstruktionen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vergessen wir die Spekulation, ob etwas »von Dauer sein wird« und ob Dauerhaftigkeit überhaupt eine Tugend, Belohnung, Anpassung oder wieder nur Glück ist. In welchem Maß handeln wir selbst, und in welchem Maß sind wir ein passives Objekt in jenem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks?
Der “Erzählzyklus” “Bei Phil & Joanna 1 – 4” versammelt Dialoge aus der englischen Mittelschicht, die wie Vorstufen zu einer Erzählung wirken. Die Figuren auf dem – deutschen – Cover sind ähnlich diffus wie die auf dem Cover “Vom Ende einer Geschichte”. Ikonen, gedankenlos. Man sollte auf den nächsten Roman warten.
2011 290 Seiten