Nachrichten vom Höllenhund


Selge
19. Juni 2022, 13:50
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Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden

Eine Erziehung in Deutschland, zwischen moralischer Selbstüberheblichkeit und christtraditionell vorgeübter Moral. Unendliche Geduld und Ohrfeige stante pede. Musik und Vaterland. „Das sind wir. Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber auf dem Sprung.“

Die Vergangenheit ist ein Abgrund – und am tiefsten stürzt man in die Familie. Da braucht es Mut hinunterzublicken. Edgar Selge weiß um diese unverschüttbaren Tiefen und wagt es, sich diesem Wagnis zu stellen. Er stellt uns seine Familie vor, seine Eltern, seine Brüder, sich selbst. Der Vater ist Jurist, leitet jetzt das Jugendgefängnis in Herford, lädt die Sträflinge zu Kammerkonzerten ins eigene Haus ein, liest der Familie Dostojewski vor, liebt Frau und Kinder. Er prüft die Lateinvokabeln seines Sohnes und prügelt ihn besinnungslos. Wenn sich die Söhne die Zähne putzen, reibt er ihnen seinen steifen Schwanz an den Arsch. Mutter Signe hat ihren Mann nur widerwillig geheiratet, sie hält ihr Leben für sinnentleert. Die Brüder halten zusammen, zwei sterben früh, einer will Musiker werden. Der kleine Edgar ist „renitent“, klaut seinen Eltern Geld fürs Kino. Dazu schleicht er sich aus der Wohnung. „Aber ich werde nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht! Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!

Edgar Selge ist 1948 geboren, 1960 war er 12, da beginnt die Erinnerung, da kann er seine Beobachtungen verstehen und – zum Teil – einordnen. Aussprechen und formulieren kann er sie – öffentlich – erst jetzt. Das liegt zum einen an der Scham über „Unsagbares“, zum anderen der Erkenntnis, dass man selbst in der Erblinie der Familie steht. Das geht noch relativ einfach, wenn man darüber erschrickt, dass man die selbe Stimme wie der Vater hat, ja, dass der Vater, wie er selbst, Edgar hieß.

  Es ist   seine Stimme, die aus mir spricht. Die Stimme meines Vaters. Das weiß ich erst seit kurzem. Ich habe ein altes Tonband abgehört. Er hat mal eine Mozartsonate aufgenommen, auf einem der alten Magnetbänder, und er kündigt das Köchelverzeichnis und die Satzbezeichnungen an. Einen richtigen Schreck habe ich bekommen.  Einen Moment lang dachte ich: Das bin doch ich.

 Aber er ist es. Er! (…)

Und der   Edgar — ja, mein Vater heißt Edgar!

Das steht erst weit hinten im Buch. Aber könnte das nicht auch heißen, dass auch die Denkart der Eltern auf einen übertragen wurde? Edgar Selges Eltern waren deutschnational gesinnt. Das ist 1960 nicht selten, kommt in manchen Bevölkerungsschichten häufiger vor, auch, weil man die Vergangenheit nicht wegschieben kann, ohne sich selbst zu entwerten. Wegschieben will auch Edgar Selge jun., aber das erklärt sich anders.

Jetzt kommt Mutti in Fahrt: Die waren eben stolz auf ihr Land! Und sie klatscht wieder in die Hände. Es geht nicht immer nur um Musik. Und mit fast irrem Blick wiederholt sie das Wort: Musik Musik Musik! Und dann: Kunst! Literatur! Ihr denkt immer, das wär alles! Es gibt noch was Größeres, etwas, für das man bereit sein kann, sein Leben einzusetzen.
 Gott, sage ich prompt.
 Nein, ruft sie.
 Ich staune. Gott steht doch im Mittelpunkt ihres Lebens.
 Was dann?, frage ich.
 Das Vaterland! Davon macht ihr euch gar keine Vorstellung, was das für uns bedeutet hat! (…) Die Musik trat in den Hintergrund. Das Schicksal wurde wichtiger, das Schicksal unseres Volkes. Sie waren voller Stolz und wollten für Deutschland ihr Leben einsetzen. Das hat sie gepackt. Das hat damals alle gepackt. (…)
Aber Gott, sage ich, Gott ist doch kein Deutscher?
  So kann man das natürlich nicht ausdrücken, sagst du tadelnd, überlegst einen Augenblick: Wir dachten, Gott ist auf unserer Seite. Auch im letzten Krieg haben wir das geglaubt. Am Anfang wenigstens.

Edgar Selge blickt zurück von seinem aktuellen Alter auf Zeiten seiner Kindheit und Jugend. Er weiß jetzt mehr und anderes als früher, will aber das Erleben der Vergangenheit nicht überformen. Also versetzt er sich in den jungen Edgar, der aber – wie ließe sich das Dilemma lösen – ein auffallend teilnehmender Junge gewesen sein muss.

Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen, dass mich Mozart manchmal   schon langweilt. Irgendwie komme ich hier gar nicht vor.
  Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem nichts entgegenzusetzen.

Und er berichtet über seine Gedanken, wie er als Kind gefühlt hat, wenn sein Vater falsch spielte, zu schnell, ohne Ausdruck. Der verhinderte Musiker, der Gefängnisdirektor, der seine Häftlinge zum Privatkonzert einlädt. So spricht ein Zwölfjähriger? Auch das erzählende Präsens versetzt Autor und Leser in die erlebende Vergangenheit. Am eindringlichsten wird das Übereinanderlegen der Zeiten, wenn der Erzähler die Person damals unmittelbar anspricht. Du. Hier an den Vater gerichtet:

Jetzt pass aber auf!, schreist du, um zu verdeutlichen, dass es sich hier erst um den Anfang handelt.
  Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser machen.
  Aber sie wird nicht besser. Meine Antworten werden immer katastrophaler. Wenn der erste Schlag gesessen hat, ist mir der zweite so sicher wie das Amen in der Kirche.
  Die Erfolglosigkeit deines Zuschlagens steigert deinen Zorn.
  Irgendetwas stirbt in mir.
  Warum stehe ich nicht auf und gehe?
  Warum nicht?

Worte, die man sich damals nicht zu sagen traute. Man weiß, wie der Vater reagiert hätte. Kennt – schon damals – seinen Jähzorn, seine Schwäche. Der Sohn ist dem Vater überlegen. „Warum stehe ich nicht auf?“ (…) „Wer so intensive Prügel bekommt wie ich von dir, Papa, der kann auch als Kind ein tieferes Verständnis vom Leben haben.“

Die Klarheit dieses Tageslichts fragt mich durch die Fensterscheiben: Warum schämst du dich? Die Pandemie hält die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die Zunge will. Hier drinnen bin ich im Reagenzglas. Die Welt ist draußen, blendend, fast unbetreten, und guckt mir zu:
  Mensch, Edgar, sag, was los ist!
  Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.
  Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
  Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.

Edgar Selge erzählt nicht linear. Die Kapitel heißen z.B. Hauskonzert – Todestag – Weihnachten – Königlicher Musikdirektor – Abwasch – Kasperpuppen – An der Mauer – Gelächter – Angina Pectoris – Kino – Kinderzimmer. Alltagsszenen aus der Familie, miteinander durch die Personen verbunden. Immer (wieder) kreist das Geschehen um den Vater, nicht nur, weil er der Herr im Haus ist, vor allem aber, weil er der zu liebende Tyrann ist, der die Familie nur mit Mühe und seine Gefühle oft nicht in den Griff bekommt. Hier schlagen die Episoden ins Dramatische. Man merkt Selge die Kraft und Überwindung an, die ihn diese Abrechnung mit den Einschlägen des Lebens kostet. Seine Sehnsucht, ein guter Mensch geworden zu sein.

Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.
  Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden. (Aus dem „Traum von meiner Mutter“)

2021 – 300 Seiten

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Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden (1. Kapitel) – Gelesen vom Autor

Gespräch im „lesenswert“ Quartett des SWR – 11:30



Ahrens
10. Mai 2022, 14:58
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Henning Ahrens: Mitgift

» So ist das nun mal. So gehört es sich.«

Die Leebs. Der Hof. Sie gehören zusammen, seit sechs Generationen, seit 200 Jahren. Hans Wilhelm Leeb ist ein hitzköpfiger Mann, er herrscht tyrannisch über Hof, Frau und Kind, „die Gebote der heiligen Schrift stehen über allem“. Seit August Wilhelm Leeb den Hof 1865 an die „Mission“ vererbt, kämpfen die Nachfahren darum, den „Hof seiner Familie zurückholen“  zu können,  „koste es, was es wolle“. Das sind Rückblenden.

Die erzählte Geschichtszeit beginnt im Zweiten Weltkrieg. Wilhelm („Der erste heißt immer Wilhelm.“ – Man findet die Wilhelms auf einer Übersichtsseite.) Leeb ist im Kriegseinsatz in der Ukraine. Er hat erfahren, diszipliniert zu sein und von allen anderen Disziplin zu verlangen. Die Devise »Es geht nicht darum, was du willst. Du stehst in der Pflicht, und die Pflicht, die wird schlussendlich zur Freude, mein Sohn.  Wie auch  …« — er sah Willi listig an — »… die Freude zur Pflicht wird. Nicht wahr?« hat die Jahrhunderte überstanden und klebt als „Mitgift“ am Hof. Es ist auch ein passendes Motto für die Kriegsbegeisterung Wilhelms, er fühlt sich als Nazi-„Herr“ bannig wohl. Gerade als er sich auf der ukrainischen Erde als Landwirtschaftsführer eingelebt hat, geht der Krieg verloren. Wilhelm sieht sich betrogen, gerade noch gelingt ihm die Flucht. Einen Ukrainer und zwei Ukrainerinnen nimmt er mit in die „Heimat“. Die Begeisterung von Frau und Kindern über die Rückkehr des Familienoberhaupts ist verhalten.

Er hätte souverän und würdevoll Einzug halten müssen! Stattdessen ist er auf den Hof gepoltert, als wäre es nicht der seine. (…)
   Während er dasteht und seinen Blick über die Scheunen, die Ställe und die Kastanie schweifen lässt, die neben dem Tor zur langen Diele steht, überkommt ihn ein Gefühl der Verlorenheit: Weder hat man die Haustür zu seiner Begrüßung mit Eichenlaub geschmückt, noch lässt sich jemand blicken, und sein Sohn — sein Fleisch und Blut — hat gar Reißaus genommen.

Sein mentales Erbe erlaubt nur eine Reaktion: Disziplin und Herrschaft. Die Verbitterung über die Niederlage des Vaterlandes, womit er sich identifiziert, verschärft den Ton.

»Aufräumen!«, knurrt er. »Man muss erstmal aufräumen   in dieser Weiberwirtschaft. Schluss mit dem   Schlendrian! Ihr werft alles weg? Schön, dann ziehe ich hier neue Saiten auf, ihr werdet schon sehen, und mit euch …« — er zeigt der Reihe nach auf seine Kinder — »… fange ich an.« Er hält seiner Frau das Glas hin, und sie schenkt   gehorsam Doppelkorn   nach. Alle haben unwillkürlich den Kopf eingezogen, nur Oma Leeb nicht, die aufrecht dasitzt und ihren Sohn mit unergründlicher Miene durch die Nickelbrille betrachtet. Ihre Hände ruhen auf der im Schoß liegenden Leinenserviette mit dem   eingewebten    Monogramm; sie lässt ihre Daumen so rasant umeinanderkreisen, als würden sie das Räderwerk ihres Denkens antreiben.

   Das sieht aber nur der neben ihr sitzende junge Wilhelm. Er gibt nicht viel auf die Worte seines Vaters, der gerade erst heimgekehrt ist und deshalb nicht erfassen kann, was sie geleistet haben, aber das wird er schon noch begreifen. Wilhelm nimmt sich ein Beispiel an der Großmutter und drückt den Rücken   durch. »Wir haben gut gewirtschaftet, Vater«, widerspricht er, »gemessen an den schwierigen Bedingungen   während des Krieges. Und genauso danach, ja bis heute, denn vieles ist nach wie vor ein Problem, etwa die Beschaffung von Saatgut oder Setzkartoffeln, von Dünger ganz zu schweigen, und…«

  Sein Vater unterbricht ihn. »Ich bin nach all der Zeit, nach vier erniedrigenden …« — er presst das Wort zwischen den Zähnen hervor  — »… Jahren nicht heimgekehrt, um mir Vorträge anzuhören, Wilhelm! Ich bin heimgekehrt, um zu handeln. Ich bin nicht heimgekehrt, um am Katzentisch zu sitzen, sondern …« — er pocht auf die Tischplatte — »… um den mir gebührenden Platz einzunehmen. Was ihr gemacht habt, ist mir gleich. Was ich ab jetzt tue — das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?« Er starrt ihn herausfordernd an.

   Der junge Wilhelm ist wie vor den Kopf gestoßen. »Ja, sicher«, murmelt er, »und trotzdem …«

   »Ab jetzt gibt es kein >Trotzdem< mehr. Keine Widerworte. Ab jetzt wird pariert. Und das …« — sein Vater sieht sich in der Runde   um — »… gilt für alle!« Als sein Blick auf seine Mutter fällt, verstummt er. Und Oma Leeb lässt die Daumen kreisen, kreisen und kreisen, wie sich die Erde dreht.

Schon der Großvater von 1870, Willi, wollte Lehrer werden, wollte den Hof nicht übernehmen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Wilhelm von 1931, Willem genannt, wogegen er sich vergebens sträubt, kann sich mit seiner „Mitgift“ nicht anfreunden. »Du bist doch ein Leeb, also reiß dich zusammen!  Was willst du denn machen, wenn du in der Hitlerjugend bist? « Der Vater ist zu laut, erwartet zu viel, die Mutter ist nur eine Frau, Willem schleicht in den Kuhstall, legt sich in die Rinderkrippe. „Da will ich lieber tot sein, denkt er, dann würde ich den Eltern weder Kummer noch Verdruss bereiten. Dieser Gedanke treibt ihm Tränen in die Augen.“

Der Ochse, es ist Kastor, der mit den Locken zwischen den Hörnern, stößt die feuchte, weiche Schnauze gegen Wilhelms Gesicht, er muss erstmal gucken, ob das, was da in der Krippe liegt, auch schmeckt, ist ja klar, und dann spürt der Junge die raue, feuchte Zunge auf der Stirn und auf den Wangen. Er beißt die Zähne zusammen, seine auf der Brust liegenden Hände verkrampfen sich, und er bekommt es mit der Angst, hoffentlich tut das nicht weh, aber alles ist besser, als das Geschrei seines Brüderchens und seines Vaters zu hören, und seiner Mutter ist er sowieso egal. Also fügt er sich in sein Schicksal und harrt des Maules, das ihn verschlingen wird.

„Mitgift“ ist kein „Dorfroman“, der Hof und seine Nachbarhöfe sind das Zentrum des Lebens, der Mühen und der Gedanken. Der Hof ist das Universum, selbst die Heiratskreise drehen sich um ihn. Der Hof wird stets als bedroht und zugleich bedrohlich empfunden. Die Menschen leben für ihn, buckeln, walten, die Männer fühlen sich zum Tyrannisieren gezwungen und empfinden kein Glück dabei. Der Krieg bringt einerseits alles ins Wanken, nur unter großem Aufwand lässt sich der Hof durch die Zeit bringen, für den Hof-Herren ändert sich gar nicht so viel, die Ideologie fußt ja in der Politik wie auf dem privaten Besitz auf dem Völkischen, auf dem Deutschtum, auf den überkommenen Hierarchien. Unerträglich wird es für den Hoferben, wenn diese eingebrannten Geisteshaltungen angezweifelt werden, wenn die alten „Werte“ plötzlich nicht mehr geachtet werden, nichts mehr gelten sollen. Angriffe auf den Mann, den Herrn.

Die niedersächsische Provinz scheint besonders bodenverbunden, exemplarisch deutsch, doch sind die Schicksale auch in anderen Regionen die gleichen. Die Katastrophen, den Krieg, ordnet man in den Lebensverlauf ein und hat sie zu ertragen. „Freiheiten“ kennt man nicht, man muss „in die Fußstapfen der Vorväter treten, so war es nun mal“. Gegen die Nöte der Frau soll „Klosterfrau Melissengeist“ helfen. „Die historisch weiter ausgreifenden Szenen liest man ein bisschen so, als blättere man in einem Familienalbum. Interessant sind die Realien. Man erfährt, wie wenig selbstverständlich Traktoren und fließendes Wasser noch bis weit in die Bundesrepublik hinein waren und wie hart, patriarchalisch, Gefühlen gegenüber indolent und dem Hof alles unterordnend das Leben war.“ (Dirk Knipphals, taz)

Henning Ahrens springt mit den Kapiteln durch die Zeit. Die Erzählordnung folgt nicht der Chronologie, sondern erzeugt historische Konnexionen, bildet Zusammenhänge ab, bebildert die Mechanismen der „Mitgift“ Zwischen diesen Geschichten aus der Vergangenheit wird auf das Ende geblendet: 1962. Die „Totenfrau“ Gerda Derking, nicht heiratstauglich, weil ohne Mitgift, wird zum Hof gerufen, einer ist gestorben, er fühlte sich der „Mitgift“ nicht gewachsen. Zusammen mit Lisbeth und Fräulein Bernhard sitzt sie in ihrem Garten und kommentiert die Hofwirtschaft wie ein griechischer Chor.„Es ist ein Buch wie Schwarzbrot. Man muss kräftig kauen, bis sich der Geschmack entfaltet. Aber ein Buch, das ins Mark geht, langsam erzählt, mit genauem, warmem Blick.“ (Peter Helling, NDR)

2021 – 340 Seiten

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Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Henning Ahrens im Gespräch | #fbm21 24.10.2021 ∙ Frankfurter Buchmesse 2021



Slimani
4. Dezember 2021, 17:24
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Leïla Slimani:
Das Land der Anderen

Wovor hatte sie fliehen wollen, um so weit zu gehen?

1956 wurde Marokko unabhängig, nachdem nationalistische Rebellen sich vor allem auf französische Staatsbürger wie auch auf Marokkaner einschossen, die auf Seiten Frankreichs im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Amine Belhaj stammt aus Meknès und diente als Offizier in der französischen Armee. Er lernt Mathilde kennen, heiratet sie und nimmt sie vom Elsass in seine Heimat mit. Vom Konflikt der jungen, großen, lebenshungrigen Französin mit der traditionell patriarchalischen Kultur im Marokko der Unabhängigkeitsbewegungen der 50-er Jahre erzählt Leïla Slimani in „Das Land der Anderen“.

Mathilde hat sich das nicht so vorgestellt, dass ihr Leben auf Haus und Kinder reduziert werden soll, dass sie neben ihrem körperlich kleineren Mann, dessen Bruder Omar, der zum Unabhängigkeitskämpfer wird, und der Schwiegermutter zum Objekt, zum Inventar der kargen Farm abseits der Stadt bestimmt ist.

  Als Heranwachsende hatte Mathilde niemals gedacht, dass es möglich wäre, ganz allein frei zu sein, es erschien ihr undenkbar, weil sie eine Frau war, weil sie keine Ausbildung hatte, dass ihr Schicksal nicht eng mit dem eines anderen verbunden wäre. Sie hatte ihren Irrtum viel zu spät erkannt, und jetzt, da sie es besser verstand und ein wenig mutiger war, war es unmöglich geworden zu gehen. Die Kinder ersetzten ihre Wurzeln, sie war wider Willen an dieses Land gefesselt. Ohne Geld konnte sie nirgends hingehen, und diese Abhängigkeit, diese Unterwerfung   machten sie kaputt. Wie viele Jahre auch vergingen, sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, und es war ihr immer zuwider, es war, als beuge sie sich und gebe sich geschlagen, wofür sie sich selbst verabscheute. Jedes Mal, wenn Amine ihr einen Geldschein zusteckte, wenn sie sich ein Stück Schokolade   gönnte, aus Naschlust, nicht aus Notwendigkeit, fragte sie sich, ob sie es verdient hatte. Und sie fürchtete, dass sie eines Tages, als alte Frau auf diesem fremden Boden, nichts besitzen würde und nichts vollbracht hätte.

Nicht nur aus traditionalistischen Gründen, sondern um sie (und sich selbst) vor den immer aufgeheizteren Rebellen zu schützen, zwingt Amine seine Frau sogar, zum Islam zu konvertieren und einen arabischen Namen anzunehmen.

Der Adoul hob den Blick zu Mathilde. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, musterte ihr Gesicht, dann ihre Hände, die sie aneinandergepresst hatte. Schließlich hörte Aicha ihre Mutter auf Arabisch sagen: »Ich schwöre, dass es keinen anderen Gott außer Gott gibt und dass Mohammed sein Prophet ist.«
   »Sehr gut«, erwiderte der Beamte, »und welchen Namen wirst du von nun an tragen?«
   Das hatte Mathilde sich nicht überlegt. Amine hatte von der Notwendigkeit gesprochen, sich umzubenennen, einen muslimischen Namen anzunehmen, doch in den letzten Tagen war ihr Herz so schwer gewesen, ihr Geist mit so vielen Sorgen beschäftigt, dass sie nicht an ihren neuen Namen   gedacht hatte.
  »Mariam«, sagte sie endlich, und der Adoul wirkte sehr zufrieden mit dieser Wahl. »So sei es denn, Mariam. Willkommen   in der Gemeinschaft des Islam.«

Aber auch Amine zollt Tribut für seine „Liebes“-Heirat. Er, dessen einziges Interesse dem Stück Land gilt, das er von seinem Vater geerbt hatte – „Er hatte Angst, dass er sterben und sein Versprechen, diesen Boden fruchtbar zu machen, nicht einhalten könnte.“ – fühlt sich immer stärker gedrängt, die Zuneigung zu seiner Frau mit national-traditionalistischen Gedanken zu verbrämen und damit selbst gewalttätig zu werden.Ein paar Wochen zuvor hatte er einen Waffenschein beantragt. Er hatte gesagt, es sei zum Schutz seiner Familie, auf dem Land sei es gefährlich, man könne nur auf sich selbst zählen. Mathilde hielt sich die Hände vor die Augen.  Das war das Einzige, was sie tun konnte. Das Einzige, was ihr einfiel. Sie wollte das nicht sehen, wollte den Tod nicht kommen sehen, von der Hand ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder. Dann dachte sie an ihre Tochter, an ihren kleinen Jungen, der seelenruhig schlief.“ Er war in Frankreich ein Held, zurück in Marokko gilt er als Verräter, steht wie Mathilde im „Land der Anderen“, falsch in der einen wie der anderen Welt.

Amine und Mathilde haben zwei Kinder, Tochter Aïcha und Sohn Selim, aber nur von dem Mädchen erzählt Leïla Slimani ausführlicher. Aïcha ist noch zu klein, um zu verstehen, wie sie zwischen diese Kulturen geraten ist und wie sie damit umgehen und leben kann. „Wir sind wie dein Baum – halb Zitrone, halb Orange – wir gehören zu keiner Seite.“ Ein „Zitrangenbaum“. Aïcha geht in eine christliche Schule in der Ville nouvelle, dem europäischen Viertel, das jede marokkanische Großstadt hat, sie hat helles krauses Haar, sie ist Klassenbeste. Sie ist eine in sich gekehrte Siebenjährige. „In ihrem unruhigen Schlaf hatten sie sich in eine Art Tier verwandelt, einen Einsiedlerkrebs, ein in seine Muschel verkrochenes Krustentier. Mathilde drückte ihre Tochter an sich, sie wollte sie verschwinden lassen und mit ihr vergehen. Schlaf, schlaf, mein Kind, das ist alles nur ein böser Traum.“

„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer Familiengeschichte von Leïla Slimani, Mathilde hat als Modell ihre Großmutter. Die gemischt kulturelle Familie gerät in die Wirren der Geschichte und der Politik nach dem zweiten Weltkrieg und in die Zeit der Entkolonisierung des Maghreb. Leïla Slimani zeigt eindringlich, wie sich die Tumulte in die Partnerschaft, die Familien hineinfressen, bis hin zur Verstörung der Kinder. Manche Kapitel, die zunächst wie Abschweifungen erscheinen, etwa die Erzählungen um Amines Bruder Omar, gewinnen ihre Bedeutung in der Verfugung der Ebenen. Die Perspektive orientiert sich am Blick auf die Personen. Slimani erzählt meist sachlich, die Schrecken gewinnen damit an Intensität, auch durch Vergleiche. Im Klappentext steht: „Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.“ Aber so stimmt das nicht. Sie kämpft, doch sie sieht ein, dass sie keine Chance hat, vor allem der Kinder wegen. Der Folgeband mag das korrigieren.

„Das Land der Anderen“: ob die Anderen nun männlich, arabisch, französisch, muslimisch, nationalistisch sind – sie sind jene, die bestimmen, wie die große Geschichte erzählt werden soll, in der wir alle in irgendeiner Rolle vorkommen. Aber Geschichte kann neu erzählt werden, ruft Leila Slimani – und tut es. Dem Antagonismus zwischen „den einen“ und „den Anderen“ setzt sie eine Position des entschiedenen „Dazwischen“ entgegen. Erzählen wird bei ihr zu: neu bestimmen, was zur Geschichte gehört.“ (Judith Heitkamp, BR2)

Glaubte sie es wirklich? War sie zu so einer Frau geworden? Einer von denen, die die anderen drängten, vernünftig zu sein, zu verzichten, die die Achtbarkeit über das Glück stellten? >Letztendlich<, überlegte sie, >hätte ich nichts tun können.< Und sie sagte es sich immer und immer wieder, nicht um zu klagen, sondern   um sich von ihrer Machtlosigkeit zu überzeugen und sich weniger schuldig zu fühlen.

2021 – 380Seiten

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Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Buchvorstellung bei ttt (ARD) – 6 Minuten

Gespräch und Lesung beim internationalen literaturfestival berlin  – 1:15


Mona Ameziane:
Auf Basidis Dach.
Über Herkunft, Marokko und meine halbe Familie.

Basidi ist der Großvater. Nicht nur der Monas. Sondern die allgemeine Bezeichnung. Basidi hat ein Haus mit Dachterrasse in Fès, Marokko. Es gibt auch eine Großmutter, doch die sitzt dement auf dem Stuhl und sagt nichts mehr. Großmütter nennt man Lalla.

Als Basidi stirbt, will Monas Familie zur Beerdigung nach Marokko kommen, doch ihre Mutter, eine Deutsche, hat Probleme.

»Es tut mir leid, dass wir nicht früher hier sein konnten.« Mein Vater sah uns an, schwieg einen Moment zu lange und murmelte dann in Richtung seiner Teetasse, dass das eh nichts geändert hätte. Ich wurde wütend: »Natürlich hätte es was geändert! Ich bin deine Tochter und Mama   ist deine Fr-«
  »Frauen sind hier bei einer Beerdigung nicht erlaubt, Mona.«
  Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Das konnte er nicht ernst meinen. Ich starrte ihn prüfend an.  Doch, er meinte es ernst, und diese Erkenntnis schlug ein wie ein zweiter Meteorit. Egal welchen Flieger ich erwischt hätte, egal wann ich hier gewesen wäre, ich hätte nicht bei Basidis Begräbnis dabei sein dürfen? Weil ich eine Frau war?

Mona Ameziane ist 1994 in Marl (NRW) geboren. Ihre Mutter ist Deutsche und hat bei einem Frankreich-Urlaub Monas Vater getroffen, einen als Architekt in Paris lebenden Marokkaner. Sie ist „im Ruhrgebiet aufgewachsen“ (Klappe) und arbeitet zur Zeit als Radiomoderatorin, sie spricht dreieinhalb Sprachen, ist deutsch sozialisiert.

Der wichtige Unterschied  zwischen mir und Menschen wie meinem Vater ist jedoch, dass ich im Alltag nicht nur nicht unter meiner Herkunft leide, sondern im Gegenteil sogar beruflich von ihr profitiere. (…) Das Label »jung, weiblich, migrantisch« ist für viele Redaktionen eine Mischung, die mittlerweile in dreifacher Hinsicht interessant klingt. (…) Es ist also durchaus wünschenswert, dass ein*e Journalist*in interkulturelle Kompetenzen hat, dadurch einen breiteren Horizont mitbringt, vielleicht sogar noch eine weitere Sprache, aber bitte keine Grammatikfehler und erst recht keinen Gebetsteppich. Arabischer Name, deutsches Mindset, beste Kombi. Et voilà: C‘est moi.

Sie will ihre marokkanischen Wurzeln kennenlernen, ihre „halbe Familie“. Ihre Cousine erklärt ihr: „Warum findest du dich nicht einfach damit ab, dass du keine Marokkanerin  bist? Du bist eine Deutsche mit etwas, das ich höchstens als marokkanische Würzung bezeichnen würde.“

Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie Sterben im Islam funktioniert.  Warum auch? Nur die wenigsten Kinder beschäftigen sich ohne konkreten Anlass freiwillig mit kulturellen Differenzen in Sachen Beerdigungsriten, und kaum ein Vater beginnt aus dem Nichts ein Gespräch mit den Worten: »So, meine liebe Tochter, jetzt klären wir mal ganz in Ruhe, was genau die Abläufe sein werden, wenn dein Großvater irgendwann tot ist.«
Im Islam gilt die Regel, dass eine verstorbene Person innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden muss, was nicht viel Zeit ist, wenn man bedenkt, dass Basidi mitten in der Nacht gestorben und der nächste Flug aus Deutschland erst am Mittag gestartet war. (…)
Mein Vater goss sich einen Schluck Tee ein, kippte ihn wieder zurück in die Kanne und fuhr fort:
Diesmal musste ich, in diesem Zustand aus Schock und Erleichterung, an allen vorbei nach vorne und meinen Vater zusammen mit meinem Bruder ins Grab legen.«
   »Im Sarg, oder?«, ergänzte meine Mutter.
  »Nicht im Sarg«, korrigierte mein Vater.
  »Nicht im Sarg?«, fragte ich.
  »Nicht im Sarg«, wiederholte er und ergänzte: »Basidi war nackt in ein Tuch gewickelt, und wir mussten unsere Schuhe ausziehen.«

Mona Ameziane erzählt Anekdoten aus ihren Besuchen in Marokko, teils mit ihrem Vater, teils von ihrem Austauschschuljahr bei einer wohlhabenden Familie in Agadir. Im Mittelpunkt steht die Stadt, Fès, eine Fahrt zum abseits gelegenen Dorf im Rif-Gebirge wird wegen des unwilligen Fahrzeugs abgebrochen. Sie widmet sich den oft für sie fremdartigen Zeremonien, etwa des Einkaufens, des Taxifahrens, des Teetrinkens, informiert auch über den dafür nötigen Zuckerimport Marokkos, sie sinniert aber auch über grundlegendere Themen: Alltagsrassismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, über Religion, über die

Familie. Darunter fielen in Deutschland mein Leben lang genau sieben Personen: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Großeltern, meine beiden Großtanten   und ein Großonkel, über den nur selten jemand gesprochen hat, und wenn, dann schlecht. War ich dagegen in Marokko, weitete sich der Begriff fast automatisch aus und war plötzlich mehr als nur ein Synonym für »enge Verwandtschaft«. Ich bin mir sicher, dass weniger als die Hälfte der Cousinen und Großonkel in LaIlas und Basidis Wohnzimmer tatsächlich mit mir verwandt waren. Nicht mal über zehn Ecken. Aber dem marokkanischen Verständnis nach entsteht Familie nicht nur durch gemeinsame Gene, sondern auch durch gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Probleme oder gemeinsame Grundstücksgrenzen. Vielleicht reicht in einigen Fällen sogar schon ein gemeinsames Mittagessen.

Der Vater im Gespräch übers Deutsch-Sein:

»Was heißt das eigentlich, sich deutsch fühlen? Das verstehe ich nicht. Wie fühlt sich ein Deutscher gegenüber einem Nichtdeutschen?   Muss man dafür christlich denken? Nein, weil es Religionsfreiheit gibt. Das heißt, du kannst eine andere Religion ausüben und trotzdem deutsch sein, allerdings musst du dann damit leben können, dass du wahrscheinlich ein paar Sachen anders machst als die Mehrheit. Muss man sich an Regeln halten? Ja, an das Grundgesetz und an die Trennung von Altpapier, Restmüll und Plastik und sobald ein Zentimeter Schnee liegt, schippe ich meine Einfahrt frei, egal wie unnötig ich es persönlich finde. Das macht mich aber nicht zu einem Deutschen. Ich folge nur den Regeln, von denen Deutschland sagt >Lieber Gast, wenn du zu uns kommst, dann mach das bitte.« Aha, jetzt wird’s interessant.
»Fehlt dir manchmal auch eine Tochter, die etwas marokkanischer ist?«
   Er setzt zu einem Grinsen an, hört aber sofort wieder damit auf, als er merkt, wie ernst ich bleibe.   »Nein. Wieso, hast du das Gefühl, du wärst nicht marokkanisch genug?«
   »Manchmal.«  
»Aber das ist doch kein festes Kategorien-System, in das man sich einfach einordnen kann, Mona.   Du bist so, wie du eben bist, und du hast das Glück, dass du auch Marokkanerin bist. Fertig. Ist doch super. Warum machst du dir da so viele Gedanken drüber?«
   Ich schaue ihn verwundert an.  Wieso klingt das so einfach aus seinem Mund?  
»Ich weiß nicht. Ich frage mich in letzter Zeit zum Beispiel wirklich oft, was anders wäre, wenn wir in Marokko und nicht in Deutschland leben würden.«
   Jetzt grinst er doch.   »Wahrscheinlich würdest du dann gerade nicht mit mir, sondern mit deiner Mama im Auto sitzen und zum ersten Mal durch ein abgelegenes Gebiet im Sauerland fahren, das du kennenlernen möchtest«, sagt er und fügt noch etwas hinzu, das auch den letzten Rest Schwermut aus dem Auto verdrängt: »Ehrlich gesagt, finde ich es gerade sehr gut so, wie es ist.«

Ein sympathisches, lebendiges, persönliches, versöhnliches Buch. Eine überlegte Mischung aus Reiseimpressionen und dadurch angeregte Gedanken einer jungen Frau. Als Leser fühlt man sich unmittelbar angesprochen, darf teilnehmen, mitbeobachten, mitdenken. „Ihr Buch nun ist ein spannender Hybrid, weil es sich um Identitätsfragen dreht, indem es eine für Deutschland immer typischer werdende Familiengeschichte erzählt. (…) Ihr Buch ist eine Einladung, sich gewissermaßen neben sie zu setzen auf diese Terrasse in der Altstadt von Fès. Und sich einzulassen auf die Eindrücke und die Erzählungen. Gerade dann, wenn man dort lediglich zu Gast ist.“ (Stefan Fischer, SZ)


In Kapitel 17 werden Schafe und Hühner geschlachtet.


»Okay, also hat Lalla früher geschlachtet?«, frage ich und bereue es noch im selben Moment, weil ich die Antwort erahne.
»Nein, das ging nicht …«
  »… weil sie eine Frau ist.« Mein Vater nickt.

Mona Amezianes vorgestellte Triggerwarnung: In diesem Kapitel wird ein Schaf geschlachtet. Einige Szenen sind sehr explizit und es wird viel Blut fließen.“

2021 – 220 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Besuch bei Buch: „Auf Basidis Dach“ mit Mona Ameziane (Zwischenmiete NRW) – 35 Minuten (Video)

Willkommen im Virtuellen Museum des öffentlichen Platzes Jemaa El Fna in Marrakesch / Marokko



Wisser
17. Oktober 2021, 16:51
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Daniel Wisser:
Wir bleiben noch

„Wir bleiben noch“ lese ich als Jugendbuch, denn die Liebesgeschichte ist zwar problematisch, aber doch sehr picksüß erzählt. Und österreichisch. Victor, Karoline und die Urli.

Victor, benannt nach Viktor Adler, Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreich, kennt Karoline schon seit ihrer Kindheit, doch jetzt, wo beide Mitte 40 sind, treffen sie sich wieder und verlieben sich aufs Heftigste ineinander. ❤️❤️❤️. Diese Liebe ist aber nicht überall gern gesehen, auch nicht in der Familie, denn: Victor und Karoline sind Geschwisterkinder. Das zentrale Thema, Wisser erzählt ausschweifend davon, jeden Tag, oft jede Stunde.

Da der Roman 2018 beginnt, ist er auch sehr modern und dafür stehen Auszüge aus Victors und Karolines Chats, die sie oft auch führen, wenn sie nebeneinander liegen.

6. Juni 2019 / 09:23

Karoline: gerade eine welle des glücks
Karoline: ❤️❤️❤️
Karoline: ich nehme es zurück
Victor:   was?
Karoline: dass ich angst habe
Karoline: ich bin sehr glücklich
Victor:   glück macht glücklich, wenn man rechtzeitig da
rauf schautKaroline: musst du immer noch lachen
Victor:   jetzt wieder 😁😁😁
Karoline: du lachst wie ein emoji

Das andere Thema ist die Sozialdemokratie bzw. das, was von ihr noch übergeblieben ist. 1986:

Jedenfalls kam die Rede auf die Bundespräsidentenwahl. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand in der Familie je anders als sozialdemokratisch gewählt. Tante Margarete verdarb den Tag, als sie gestand, bei der Stichwahl für Waldheim gestimmt zu haben.
   Noch auf der Nachhausefahrt konnte Victors Vater sich nicht beruhigen. Victor erinnerte sich genau, dass seine Mutter versucht hatte, ihre Schwester zu verteidigen, auch wenn sie seit dieser Enthüllung ganz blass im Gesicht war — präkollaptische periorale Blässe, wie Karoline sagen würde. Während der Fahrt unterbrach Irmgard ihren ständig schimpfenden Mann Konrad harsch: »Jetzt hör auf. Es ist eine freie Wahl. Sie darf wählen, wen sie will.« Konrad nickte:  »Das stimmt: Sie darf wählen, wen sie will. Und eine neue Verwandtschaft kann sie sich auch gleich wählen!«
    Obwohl Irmgard ihre Schwester in diesem Gespräch verteidigte, entfernten sie sich zu dieser Zeit voneinander. Bei Familientreffen kam es regelmäßig zum Streit. Irmgard, die wie die Urli bei den Sozialdemokraten Parteimitglied war, verurteilte entschieden, dass Margaretes Ansichten immer reaktionärer wurden. Sie bezeichnete ihre Schwester als ausländerfeindlich und Sozi-Hasserin.

Da die Familie immer reaktionärer wird und in diesem Denken auch große Vorbehalte gegen eine Ehe der Geschwisterkinder bekunden, vermischen sich die beiden Stränge und münden in einen ausufernden Streit um das Erbe der Urli, das Haus in Heiligenbrunn. Die politischen Verwerfungen bleiben allerdings Beiwerk, aus „Wir bleiben noch“ wird kein politischer Roman, weil die Entwicklungen nicht erklärt werden, weil ihre Auswirkungen innerhalb der Familiengeschichte bleiben, meist als verbitterter Kommentar von Victor.

Victor wird mit jeder Seite vergrämter. Er verkriecht sich ins Heiligenbrunner Haus, löscht seine Social-Media-Accounts, reagiert nur passiv auf unbedingt nötige Pflichten – wie etwa die Scheidung von seiner bisherigen Partnerin Iris, wie etwa soziale Rest-Kontakte zur Familie. Es reicht gerade noch zum Kaffeekochen für Karoline, die später aufsteht als er, die sich andererseits ins örtliche Leben einmischt, als Ärztin, aber auch als Bürgermeisterkandidatin. Dass sie einen Vergangenheitsaffizierten wie Victor mitschleppt, wird sich nicht lange hinter den Romanschluss festschreiben lassen.

Der Zeitraum: September 2018 bis Oktober 2019. Da kann viel passieren, je nachdem, wie man Geschehen definiert. Daniel Wisser hält sich an den Alltag und das macht den Roman repetitiv, zäh, zu wenig Gehalt für 480 Seiten. Als Lob zitiert der Umschlag Claudia Kramatschek: „Daniel Wisser gelingt … etwas Erstaunliches: eine Leichtigkeit, der selbst Humor nicht fremd ist.“ Leichtigkeit ja, wenn man das geringe Gewicht der Erzählung betrachtet, Humor auch, ich hab bloß keinen gefunden, es sei denn, man begibt sich auf die Jugendebene und kann über einen wie Victor lachen. (Ausnahme: Dass die Nachbarin, Frau Veit, etwas zugenommen hat, verleitet Wisser zur Kapitelüberschrift: „Wie die Veit zergeht“. Haha.)

Was haben Sozialdemokraten und Breitmaulnashörner gemein? Sie sind vom Aussterben bedroht. So viel zum Cover und zum Humor.

»Hey, Schatz! Du bist schon da.«
  »Entschuldige, ich habe dich nicht gehört.«
  »Schon gut. Du entspannst dich bei deinem Holz. Alles gut?«
  »Es ist vollbracht.«
  Karoline gab ihm ein Küsschen.
  »Hast du schon gegessen?«
  »Nur Jause.«
  »Was möchtest du heute machen?«
»Holz.«
  »Dann lass ich dich jetzt. Ich mache Schopfbraten.«

„Und dann kamen jedoch die restlichen 330 Seiten schnöden Beziehungsalltags, abgedruckter Smartphone-Kurznachichten und platter Dialoge.“ (gaia bei lovelybooks.de.de) Aber: „Die hohe Dichte an Belanglosigkeiten, Liebesbekundungen und Herzsymbolen ist bisweilen auch enervierend – nicht ohne Grund. Er wollte damit, so Wisser, „die neue Aufmerksamkeitsökonomie und damit unsere Sicht, alles als Timeline zu sehen“, literarisch umsetzen.“ (Paula Pfoser, ORF.at) Der Autor muss natürlich befangen sein, hat er doch das Buch geschrieben, aber so zeitgeistflach wie dieser Selbstkommentar ist über weite Strecken auch „Wir bleiben noch“.

17.    Dezember 2018 / 12:48

Victor:    überlebt
Karoline:  und?  was sagt iris?
Victor:    sie kam als segelschiff verkleidet
Karoline:  hier ist so viel zu tun. montag ist schrecklich
Karoline:  noch dazu im dezember.  da sollen alle noch schnell operiert werden vor neujahr
Karoline:  was hast du gesagt?
Victor:    die wahrheit
Karoline:  gut. und wie nimmt   sie es auf?
Victor:    sie ist schockiert
Karoline:  dass du deine cousine liebst
Victor:    dass ich meinen schwanz in die fut meiner cousine stecke
Victor: X
Karoline:  aha! so kann man es auch sagen
Victor:    hab ich auch gesagt
Victor: XXX
Karoline:  A🏆YPSE NOW
Victor: DER 🏇 MANN
Karoline:  du bist so blöd. und jetzt?
Victor:    nächster termin im januar
Karoline:  passt
Victor:    ich glaube, das wird noch anstrengend
Karoline:  du hast alles richtig gemacht. ich liebe dich
Victor:    ich liebe dich
Karoline:  sehen uns um 5. muss jetzt arbeiten

2021 – 480 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

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Wolff
14. Mai 2021, 13:47
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Iris Wolff:
Die Unschärfe der Welt

Lange hatte sie sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit eingeredet. Irgendwann, dachte sie, wäre sie unbemerkt vom Rand in die Mitte vorgedrungen. Sie würde sonntags in dieKirche gehen und an allen anderen Feiertagen. Kuchen backen und Hühner schlachten, die noch immer die Glöcknerin für sie köpfen musste, weil sie es nicht über sich brachte. Sie würde mit Samuel Besuche machen, statt mit ihm unterm Pfirsichbaum zu liegen oder über die Felder zu spazieren.
Doch wie leicht täuschte man sich, weil das, was man glaubte und wünschte, unterdessen längst zu etwas anderem geworden war.
   Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit, und sie fürchtete, dass sie ihr Kind zum Verbündeten gemacht hatte. Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen, oder ging von hier aus — die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war, doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen.
   An was würde er sich erinnern?  Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schalen er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt — vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.

Natürlich: die Zugehörigkeit. Man sucht sie, weil man – meint, dass man – sie braucht. Aber: Sie ist brüchig geworden, dort, wo man lebt, wo man lebte. Siebenbürgen, Banat, Hermannstadt, Arad, der Marosch, das Dorf, das kennt man, obwohl auch dort alles anders geworden ist, man fremd geworden ist, die falsche Sprache spricht und weil auch das Land, Rumänien, unsicher geworden ist. Florentine lebt noch dort, ist dort noch zuhause, aber sie ist alt geworden. Die Zukunft der Jüngeren ist „unscharf“.

Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran. Sie mochte es, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie Ribisel und Himbeeren zupfte, Trauben erntete, Äpfel pflückte – zuzuhören, was die Wörter miteinander verhandelten, welche Erinnerungen sie anrührten. Sie waren in einem unbestimmten Raum angesiedelt, in dem Denken und Fühlen ineinander übergingen.

Vier Generationen, ein existenzieller Bruch. Karoline und Johannes, die ältesten, sind noch heimisch in der kleinen Welt, die ihre Vorfahren aus der Pfalz und anderen südwest“deutschen“ Regionen donauabwärts besiedelt haben und die ihnen  zur – nicht zuletzt sprachlichen – Heimat geworden ist. Florentine und Hannes, der Pfarrer, versuchen zu bewahren, registrieren aber schon die Veränderungen und reagieren mit Beflissenheit oder, wie Florentine, mit Schweigen, mit Misstrauen den zu eindeutigen Wörtern gegenüber. Samuel, der Sohn, „erbt“ die Sprachenthaltsamkeit, spricht spät sein erstes Wort: zăpadă. Schnee. Nicht deutsch.

 »Erzähl mir von der Transilvania.«   Samuel sah von der Matratze herunter. Karline hob den Blick. Die Lichtschlitze der geschlossenen Fensterläden spiegelten sich in seinen Augen, bildeten eine Linie mit den geraden Brauen. Es herrschte keine Einigkeit darüber, welche Farbe seine Augen hatten. Hellbraun, sagten die meisten, doch Karline, die sich nicht zwischen Gänsegrau und Zimtbraun entscheiden konnte, attestierte ihnen mangelnde Phantasie.
  Sie sahen einander an, Karline auf dem Hocker, mit dem Rücken an den Matratzenturm gelehnt, der Junge auf der wassergrünen Matratze, zwei Handbreit unter dem Plafond.
Etwas beschäftigte ihn. Er war immer stiller geworden, je näher die Abreise rückte, was Karline bemerkte, obwohl oder gerade weil er grundsätzlich still war.
  »Die Transilvania?«
  Der Junge nickte.
  Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. Sie waren in jene Kammer eingezogen, mit wandernden Türen und trüben Fenstern, und es schien ausgemacht, dass man nichts, am wenigsten Hoffnungen, ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
  Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu. Die Leute erzählten ihre Geschichten auf seltsam feststehende Weise. Als wären sie genau so passiert. Dabei war, das ahnte Karline, jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.

 Das Fremde kommt unerwartet. Anfang der Siebzigerjahre tauchen Bene und sein Freund Lothar, Lehramtsstudenten aus der DDR, als Gäste auf. Sie waschen sich nackt am Brunnen und küssen sich. Später flieht Samuel mit einem Kleinflugzeug nach Deutschland und trifft dort einen der jungen Ostberliner wieder. Bene und Samuel fahren Ende 1989 nach Rumänien. Jetzt erst erfährt Samuel, dass er mit Stana eine Tochter hat: Livia. Schwierige Familienverhältnisse in schwierigen Zeiten. Iris Wolff widmet jedes der Kapitel (jede Erzählung) einer Person. „Wie Räder, die um ihre jeweilige Achse kreisen und zugleich miteinander verbunden sind, zentriert sich das Geschehen um wechselnde Figuren.“ (Meike Fessmann, SZ) Erst nach und nach erfährt man, in welcher Beziehung diese zu den anderen steht. Auch das macht das Erzählen ungewiss. Man muss mitraten, wie die Personen in das Geflecht eingebunden sind. Manches möchte man auch noch einmal lesen.

„Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit jedem Erzählen verändert sie sich, stetig, unmerklich. Einzelheiten werden hinzugefügt, andere ausgelassen. Irgendwo wächst die Unbestimmtheit, etwas rückt immer weiter fort, bis es ganz vergessen ist. An anderer Stelle wird etwas immer deutlicher, als sähe man durch blankes Glas.

Die Sprache ist poetisch, zart, nachdenklich, mit schönen Bildern, Kitsch liegt dabei nicht immer fern. Die Politik und die Geschichte spielen herein und bestimmen das Geschehen, doch Iris Wolff schreibt eher eine einfühlsame, schwebende, fluide Prosa. Die „Unschärfe“ der Welt. Iris Wolff wurde1977 in Hermannstadt geboren, emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland und lebt in Freiburg im Breisgau. Die größte Liebe gehört – wie immer  – der Großmutter.

2020 – 215 Seiten

 

 Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Liebevoller Buchtipp von Matthias Zehnder
(youtube – 6 ½Minuten)

Literarisches Zentrum Gießen: Lesung mit Iris Wolff
(youtube – 1Stunde15)

Druckfrisch-Gespräch mit Iris Wolff (9 Minuten)

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Lesefreundliche Darstellung



Helfer
1. September 2020, 17:33
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Monika Helfer: Die Bagage

Monika Helfers Ich-Erzählerin hat so ein schönes Gesicht, dass es keines weiteren Schmuckes bedarf: »Binde die Haare zusammen, bei dir braucht’s nicht auch noch eine Frisur!« Wo hat die Schönheit ihren Ursprung? Viel mehr, als dass ihre Großmutter Maria auch als gefährlich schön galt, weiß sie nicht. , “Für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr. Wenn sie so dachte, dann wusste sie, warum. Im hinthintersten Tal war es nicht günstig für eine Frau, schön zu sein. Das meinte sie. Über die Schönheit meiner Großmutter wurde hinten im Tal noch bis über ihren Tod hinaus gesprochen.” Tante Kathe hat nicht viel erzählt, wird aber im hohen Alter etwas mitteilsamer. Die Erzählerin, die der Autorin sehr nahe steht, erweitert ihre “Nachforschungen” zum Roman.

Maria und ihr Mann Josef leben abseits des Dorfes am Ende des Tales in nötigen Verhältnissen. Als 1914 der Krieg „ausbricht“ und Josef eingezogen wird, nimmt er dem Bürgermeister das Versprechen ab, gut auf die Maria aufzupassen. Der Bürgermeister ist ein Mann von Amt, aber eben auch ein Mann. “ ‚Bürgermeister‚, sagte sie, ‚ist es fein so nah an mir dran?‘ ‚Tschuldigung‘, sagte er und rückte weg.“ Und dann gibt es noch Georg, einen Hannoveraner, der Maria Aufwartungen macht. Er soll sogar am Morgen aus Marias Haus gekommen sein. Das Dorf hat viele Augen und die “Bagage” war nicht nur räumlich Außenseiter. Und dann ist Maria schwanger und der Pfarrer glotzt auf ihren Bauch.

Irgendwann stand der Pfarrer vor dem Haus von Maria und Josef hinten im hintersten Tal, genauso unangemeldet wie der Fremde, der Georg hieß. Aber der Pfarrer war nicht freundlich, wie der Frem­de freundlich war. Der Fremde war nämlich freundlich. So freundlich war er zu Maria, wie noch nie jemand freundlich zu ihr gewesen war. Nicht einmal Josef. Der konnte zärtlich sein. Wenn es dunkel war, sogar sehr zärtlich. Er war hilfsbe­reit und alles Mögliche noch. Aber freundlich war der Josef nicht. Das war einfach nicht sein Charakter. Der Fremde war freundlich, sodass kein Unterschied war zwischen Mann und Frau. Der Pfarrer aber sagte nur, grüßte nicht, sagte nur:
»Dreh dein Gesicht in die Sonne!«
Und das tat Maria. Fragte aber doch: »Und warum soll ich?«
»An diesem Gesicht kann man alles abschauen«, sagte der Pfarrer.»Was denn zum Beispiel?«, fragte sie.
»Wie lang ist dein Mann jetzt schon weg?«, fragte der Pfar­rer dagegen, aber es klang wie ein Befehl. »So lange der Krieg ist«, sagte Maria. »Und der Bauch?«
»Welcher Bauch?«
»Dein Bauch, du Luder! Wie lange schon gibt es diesen Bauch?«

Der Pfarrer muss sich mit Maria und der Parthenogenese ja auskennen. Josef kehrt erst 1918 wieder zurück und da ist ein neues Kind, Maria sagt, es heiße Margarete, werde Grete genannt. Josef war nie ein Mann der Worte und der Krieg hat ihn noch einschichtiger  gemacht. Zu Grete sagt er nie etwas, schaut sie nicht einmal an, was ihn aber nicht davon abhält, der Mutter Maria weiteren Nachwuchs anzudrehen.

Grete ist die Mutter der Erzählerin. Viel mehr erfahre ich nicht über sie. Sie warnt ihre Tochter: “»Pass auf, dass du nicht wirst wie deine Großmutter!« Inzwischen glau­be ich, meine Mutter hat das nicht als eine Drohung gemeint. Sie hat gemeint, ich soll Obacht geben, für ein hübsches Ge­sicht besteht Gefahr.” Die Gefahr, das ist die “Lust”. Bei Georg “war es allein nur die Lust.”

Maria zitterte vor Aufregung, und als sich Georg am Nachmittag »endgültig verabschiedete«, sie lehnte mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür, und er war ganz nah bei ihr, gürtelaufwärts berührten sie einander, biss sie ihm in die Hand. Katharina hat es gesehen, sie drückte gerade von innen die Tür auf. Georg fuhr mit der verletzten Hand zum Mund. Ein kurzer Fluch. Dann küsste er Maria. Und sie ließ es. Starr und still und glücklich. Und er konnte nicht damit aufhören. Katharina schaute ihnen zu.
Hätte ich meine Tante Kathe ausgefragt, niemals würde sie etwas erzählt haben. Aber eines Tages, da war sie schon über neunzig, erzählte sie mir. Von sich aus. Mit einem Gesichts­ausdruck, als wollte sie auch das noch loswerden, bevor es mitgenommen und nie erzählt würde. Von dem großen Kuss erzählte sie. Und von dem Blut, das dem Mann in den Ärmel rann, als er das Gesicht ihrer Mutter zwischen seinen Händen hielt.

Monika und ihre Oma. Die Nähe ist da und wird gesucht. Ist die Enkelin nicht doch wie die Großmutter geworden? Nicht nur so schön, sondern auch so widerständig. “Einmal sagte sie im Beichtstuhl zur Silhouette des Pfarrers hinter dem Gitter: »Ich bin, was ich bin.« Und der Pfarrer hatte geantwortet: »Pass bloß auf dich auf!« (…) Seither hatte Maria nicht mehr gebeichtet.” Davon kann man zehren und erzählen. «Wann und wo endet die Bagage? Gehöre ich noch dazu?« Monika Helfer stellt sich nicht in den Mittelpunkt, erzählt unprätentiös, beobachtend, zuhörend, in der Sprache der einfachen Leute. Die anderen Kinder, Onkel und Tanten der Erzählerin, sind ziemlich unterschiedlich, in Charakter, Eigenheiten, Lebensläufen. Das ist ein zweites Thema des “Romans”, aber das ist ja selbstverständlich, der Erwähnung nur wert, wenn es ihr Verhalten zur Großmutter angeht. Wichtig ist immer der private, persönliche Bezug, das spekulative Tasten in der eigenen Biographie, das Suchen in der Erinnerung. Das Springen zwischen den Zeiten. Dabei stellt sich Helfer nicht der Herkunft entgegen, forscht nicht in der sozialen Herkunft und Entwicklung wie etwa Annie Ernaux. “Die Bagage” ist nicht politisch, aber auch kein romantischer Dorfroman, dafür ist die Dorfwelt zu archaisch.

2020 – 160 Seiten


Monika Helfer liest aus „Die Bagage“ bei zehnseiten.de
(20 Minuten)



Ng
17. August 2020, 15:09
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Celeste Ng:
Was ich euch nicht erzählte

Amerikanische Klein- und Mittelstädte, Vorstädte auch, machen es ihren Bewohnern verdammt schwer, zurechtzukommen. Ist der „Schmelztiegel“ Großstadt anonym, lebt von der Diversität, ist das Dorf homogener. In Ohio nennt man village, was unter 5000 Bewohner hat. In den Gemeinden dazwischen gibt es community colleges,eine weniger bedeutende Universität, kulturelle und kommunikative Infrastruktur. All das zieht gehobenes Bürgertum an, das qua Existenz aber zum Außenseitertum neigt und sich daher zur existenziellen Einbettung rigide Normen auferlegt. Die Mitgliedschaft im exkludierenden Club, der standardisierte Konsum, der gepflegte Rasen, die angepassten Kinder. Wehe, man weicht ab, wehe, man leistet sich Eigensinn, distinguiert sich.

Wehe, man sieht anders aus. Walter Lee und die Kinder sehen anders aus, ein bisschen nur, aber es reicht. Walters Eltern stammen aus China, er hält seine Vorlesung an der örtlichen Hochschule – über Cowboys, Marilyn ist eine der wenigen Hörer*innen, in der Sprechstunde überfällt sie ihn mit einem Kuss. Das war das Leben. Die Kinder sehen ein bisschen asiatisch aus, Marilyns Träume vom Medizinstudium enden im Haushalt. Routine. In Middlewood (!) gibt es in den 1970ern keine „asiatische“ Commnuity. Marilyns Mutter hatte gewarnt. Marilyn ruft es sich ins Gedächtnis:

Deine Mutter hatte letztendlich recht. Du hättest jemanden heiraten sollen, der mehr wie du ist. Mit einer Bitterkeit in der Stimme, die ihr den Atem nahm. Die Worte kommen ihr bekannt vor; sie wiederholt sie stumm und versucht, sie zu verorten. Dann erinnert sie sich. An ihrem Hochzeitstag, im Gerichtsgebäude: Ihre Mutter hatte sie wegen ihrer Kinder gewarnt, dass sie nirgendwo hinpassen würden. Du wirst es bereuen, hatte sie gesagt, als würden sie mit Flossen zur Welt kommen.

DieZentralfigur des Romans ist Lydia, die ältere Tochter, bald volljährig. Der erste Satz: „Lydia ist tot.“ Niemand will es glauben. Bis die Polizei ihre Leiche im See findet. Auch das will niemand glauben, weil es nicht sein kann, weil es nicht sein darf, weil man mit ihrem Tod zu tun haben würde. Die Familie macht sich mit Celeste Ng auf die Suche: „Wie hatte es angefangen?“, fragen sie zu Beginn von Kapitel zwei. Die Antwort versteckt sich hinter allgemeinen Beschwörungen. “ Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehn­lichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen.”

»Dir ist klar, dass du das einzige Mädchen in der Schule bist, das nicht weiß ist?«
»Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Das war eine Lüge. Selbst mit ihren blauen Augen konnte sie nicht so tun, als gehörte sie dazu.
»Ich wette, du und Nath seid wahrscheinlich die einzigen Chinesen in ganz Middlewood.«
»Kann sein.« (…) Lydia zögerte. Manchmal vergaß man es fast: dass man nicht so aussah wie alle anderen. Man hörte sich die Morgenansprache an, gab im Drugstore einen Film zum Entwickeln oder packte im Supermarkt einen Karton Eier in den Einkaufswagen und fühlte sich genau wie jeder andere in der Menge. Manchmal dachte man überhaupt nicht daran. Und dann wie­der spürte man, wie das Mädchen auf der anderen Seite des Gangs glotzte, wie der Apotheker gaffte, der Junge an der Kasse einen be­äugte, und man sah sich in ihren starren Blicken widergespiegelt: fehl am Platz. Man stach ins Auge wie ein Fremdkörper.

Die Methode der nachgeschriebenen Aufklärung steckt schon im Titel. (Celeste Ng übernimmt sie auch in „Kleine Feuer überall“ von 2017.Auch hier verstärken neu zugezogene Nachbarn die Sehnsüchte und den Zwang, diese abzuweisen.) Das kann Spannung in den Text legen, obwohl der Leser ja auch nicht völlig unbelesen ist und aus der Gestaltung und den vielfältigen kaum verhüllten Anspielungen die Hintergründe absehen kann.

Eigentlich bräuchte der Roman die Elemente ethnizistischer Diskriminierung nicht. Lydia ist ja schon allein deshalb überfordert, weil sie zwischen den ambivalenten Erwartungen vor allem der Mutter nur versagen kann. Sie soll den latent rebellierenden Lebenstraum der Mutter verwirklichen und sie soll zugleich die überangepasste, brave Tochter sein. Beides zugleich geht nicht, so sehr Lydia sich auch abstrampelt. Immer wieder bemüht Celeste Ng das Bild, wie Lydia unter dem Esstisch die Arme um die Knie schlingt, sich klein macht, unsichtbar, ihre Existenz ungeschehen machen will. (Nach Lydias Tod komplementiert sich die Metapher: “Marilyn sitzt wie ein kleines Mädchen auf Lydias Bett, die Arme um die Knie geschlungen.”)

„Was ich euch nicht erzählte“ ist ein ambitionierter, genau beobachteter Familienroman in einer „sorgfältig aufgebauten klaustrophobisch-repressiven familiären Versuchsanordnung. (…). Aber „die Welt bleibt außen vor“ (Martin Zähringer, NZZ) Die rassistisch motivierten Gehässigkeiten verschärfen die Leiden der Kinder, ihre Einsamkeit, ihr unbeholfenes Abplagen, sie selbst sein zu können, zu dürfen.

»Wir haben auch mit anderen Klassenkameraden und Lehrern gesprochen. Soweit wir es beurteilen können, hatte sie nicht viele Freunde.« Officer Fiske blickt auf. »Würden Sie sagen, dass Lydia einsam war?«
»Einsam?« James sieht kurz seine Frau an und dann – zum ersten Mal an diesem Morgen – seinen Sohn. Als eine von nur zwei Asiaten an der Middlewood High – der andere ist ihr Bruder Nathan -fiel Lee in der Schule auf. Er kennt das Gefühl: die vie­len fischbleichen Gesichter, die einen stumm anstarren. Er hatte sich einzureden versucht, dass Lydia anders wäre, dass ihre vie­len Freundinnen sie einfach zu einer aus der Gruppe machten. »Einsam«, wiederholt er langsam. »Sie war oft allein.«

Martin Zähringer stellt sich die Frage, „warum die Autorin im Jahr 2015 einen Roman schreibt, der dem Erfahrungsraum heutiger Asian Americans so wenig zu entsprechen scheint“. Ich habe das Buch 2020 gelesen und auch da hat Corona einiges offen gelegt.

„Nicht nur in den USA, auch in Deutschland berichteten Menschen asiatischer Herkunft kurz danach von zunehmender Diskriminierung. Wohnungssuchende seien wegen ihres Aussehens zurückgewiesen worden, Ärzte hätten Behandlungen verweigert. Von einer Pandemie des Rassismus war mitunter die Rede – zusätzlich angeheizt durch im Internet kursierende Verschwörungstheorien, die China vorwarfen, das Virus bewusst in die Welt gesetzt zu haben.“(SPIEGEL)

Author Celeste Ng noted on Twitter that “Asians worldwide are facing actual harassment because of people who insist on calling the illness the Chinese virus”. (Lauren Aratani, The Guardian März 20)

Im Roman untersucht Celeste Ng die Wurzeln des Rassismus nicht. „Dabei bleiben die Einflüsse von aussen nur schattenhafte Erfahrungsmomente im drangvoll geschlossenen Familienkreis.“ (Martin Zähringer)

Bei diesem letzten Vorsatz war Lydia klar, was sie tun musste. Dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen musste, damit sie nie wieder Angst vor dem Alleinsein hätte. Was sie tun musste, um ihre Vorsätze zu besiegeln und zu verwirklichen. Vorsichtig stieg sie in das Ruderboot und löste das Tau. Als sie sich vom Ufer abstieß, rechnete sie mit einem Anflug von Panik. Er kam nicht. Selbst als sie langsam und ungeschickt auf den See hinausgeru­dert war – so weit, dass der Laternenpfahl nur noch ein Punkt war, zu klein, um die Dunkelheit um sie herum zu verschmutzen -, war sie merkwürdig ruhig und zuversichtlich. Über ihr stand ein Mond, rund wie eine Münze, klar und perfekt. Unter ihr schaukel­te das Boot so sanft, dass sie es kaum spürte. Als sie in den Him­mel blickte, hatte sie das Gefühl, vollkommen frei im Weltraum zu schweben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass etwas nicht mög­lich war.

2014 280 Seiten

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Thomae
11. Mai 2020, 14:51
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Jackie Thomae: Brüder

thomaebrüderMichael und Gabriel, nein, nicht die Erzengel, sondern die „Brüder“, genauer: Halbbrüder. Gleicher Vater, der aber weitergezogen ist, verschiedene Mütter, beide Brüder gezeugt in der DDR, die sich dann auch aufgelöst hat. Die Brüder kennen ihren Vater nicht, außer genetische Spuren hat Idris Farbspuren hinterlassen, in welchem Ausmaß ist auch Thema des Romans. Beide sind „halbschwarz“. Auch zu der jeweiligen Mutter ging der Kontakt verloren. Gabriels Mutter hat sich nah Andalusien abgesetzt, ist dann gestorben, Monika war in der DDR sozialisiert und wollte ihren Mick als selbstständige Frau allein zur Selbstständigkeit erziehen. Die beiden Brüder kennen sich nicht und das bestimmt den Aufbau des Romans.

Es gibt keine Verflechtungen, keine auch nur partiell gemeinsame Geschichte, und so erzählt Jackie Thomae die Lebensläufe scharf getrennt. Erste Hälfte: Mick, Berlin, 1985 – 2000, zweiter Teil: Gabriel, nach 2000, London. Mick, der „Hallodri“, in Tag und Nacht hineinlebend, Gabriel der streng selbstkontrollierte und erfolgsorientierte Architekt.

Mick schlägt sich durchs Leben im multikulturellen Berlin der Nachwendezeit, er sucht und findet keinen Halt, beteiligt sich an einem Club, hat Interesse nur an der Musik und den Typen und dem Leben als Spiel. Mick “ließ sich zu nichts machen. Er müsste einfach so bleiben, wie er war. Wenn sie sah, wie lässig und entspannt er mit Kindern umging, machte sie das mehr an als jeder fancy Hokuspokus, den er sich im Bett einfallen ließ. Und es war kein Geheimnis, warum die Kids ihn so liebten: Weil er einer von ihnen war.” Er lässt sich sterilisieren, was später seine nicht klar definierte Beziehung zu Delia aufs Spiel setzt, dass er einen Sohn hat, erfährt er erst viel später, als er von einem Selbstfindungstrip nach Thailand wieder zurück in Berlin ist. Dazwischen wird’s nie eintönig im Leben, es kommt immer ein nächster Tag und eine nächste Nacht. Richtig gefährlich wird’s nur einmal, als er sich zum Drogenkurier überreden lässt.

Der immergleiche Film, er spulte ihn wöchentlich ab, als wäre all das brandneu. Gewummer, Gestampfe, Getränke, Gelaber, Gefühle. Ja, die Jahre flossen ineinander. Doch das hieß nicht, dass dieses Fließen nicht auch seine Schönheit hatte. Eine irrlichternde, nichtkonser­vierbare Schönheit der Kategorie: Muss man dabei gewesen sein.

Wenn die Endzeitstimmung einsetzte, diese unerklärliche, fast greif­bare Angst vor dem Tageslicht, wo wäre er hingegangen ohne Delia? Er wäre mit Unbekannten weitergezogen bis zur Ohnmacht. Er wäre neben Unbekannten aufgewacht. Okay, er wachte auch so neben Unbekannten auf. Aber er wusste, wohin er anschließend gehörte. Das Wochenende begann am Donnerstag, der Nacht für Kenner, die den Freitag und den Samstag den Amateuren überließen, es endete am Montag, irgendwann gegen später. Am Dienstag widmete er sich seiner Nebenbeschäftigung, Plattenkritiken zu schreiben, der Mittwoch war sein freier Tag. An diesen Tagen hieß es: große Sorgfalt beim Ernährungskonzept, Sport, Wald, See, Hund, Frau. Dann ging es von vorn los mit den Großereignissen, die sich unvergesslich anfühlten, aber so austauschbar waren, dass er sich viele von ihnen hätte sparen können, wäre ihm das damals schon aufgefallen

Gabriel ist nicht vom Leben, sondern von seiner Selbststrukturierungsmanie geschlagen. Er hat mit seiner Frau Fleur den Sohn Albert, der sich aber weder für Vater noch Mutter begeistern kann.

Als Gabriel und Mark ihr erstes Büro gründeten, nannten sie sich kurz Concrete Rock. Jung und disziplinübergreifend sollte das Büro sein, dazu ein Name, den man auf T-Shirts und Beanies drucken konnte. Dachte Mark Barnett. Zu verspielt, fand Gabriel und verlangte es klassisch: Loth & Barnett. Dabei war es Gabriel, der die Personifizierung des Concrete Rock war. Sein Innenleben war nicht aus Beton, seine Umhüllung sehr wohl.

Zur Hautfarbe: Mick lässt auch das an sich abtropfen, er geht davon aus, dass ihn das Thema nicht betrifft, was insofern erleichtert ist, als er sich in subkulturellen Kreisen bewegt. Nazis sind die auf der anderen Straßenseite.

Die Wahrheit war, dass er das Gefühl hatte, dieser Blödsinn ginge ihn nichts an. Er fand, die Nazis sollten sich einfach verpissen, während die Nazis fan­den, er solle sich einfach verpissen. Was er tatsächlich gern getan hätte, an einen der vielen Orte, wo diese Leute und ihr Weltbild keinerlei Rolle spiel­ten, Orte, die nicht perfekt waren, diesem hier aber etwas Entscheiden­des voraushatten: die Selbstverständlichkeit eines urbanen Miteinanders, das Gegenteil dieser hinterwäldlerischen Rückständigkeit. Ja, von ihm aus konnten sie sehr gerne unter sich bleiben. Wenn sie sich hier breitmach­ten, gehörte er nicht mehr hierher. Er wohnte nur dummerweise hier. Die Trambahn stand. Polizeieinsatz, Demonstranten auf den Schienen, warum auch immer. Mick schaute hinaus auf die eindeutigen Symbole.

Gabriel nimmt für sich in Anspruch. Dem Thema durch seine Erfolge entwachsen zu sein.

Trotzdem, auch wenn ich es damals nicht formulieren konnte, war mir das Lob meiner Hautfarbe immer unangenehm, denn die unter­schwellige Botschaft verstand ich doch: Könnte noch schlimmer sein. Ich wünschte mir, das alles wäre gar kein Thema. Das war kein idealistischer Wunsch, es ging mir nur um mich. Ich dachte: Lasst mich doch einfach in Ruhe. Bis er für den NHS ein Formular ausfüllen muss:
Ich hatte damals nicht mit diesem Formular gerechnet. London war nicht das Paradies, aber so postrassistisch, dass man hätte meinen können, es gehe wirklich nur noch ums Geld. Das ist für den Zensus, sagte mir die Rezeptionsschwester, die ich fragte, was das alles sollte und was sie davon hielt. Sie schaute mich an, als hätte ich sie in einem Restaurant gefragt, warum sie mir eine Speisekarte reicht.
Es war das bemerkenswerteste behördliche Papier, das ich je ge­sehen hatte. Nicht, dass man hier, bei einem Arzt, auf die Idee kam, nach Vorerkrankungen, Allergien oder Süchten zu fragen. Nein, die Frage lau­tete, welcher Ethnie man angehörte.
Kategorie A lautete weiß. Weiße Menschen hatten anzukreuzen, ob sie Briten, Iren, Irish Travellers, also Nichtsesshafte, weiße EU-Mitglieder oder sonstige Weiße sind. Ein Extrakästchen für die EU-Weißen aus Ir­land. Ich fand das so absurd, dass ich dachte, die Schwester hätte mir ver­sehentlich einen internen Fragebogen gegeben.
Kategorie B umfasste mixed/multiple ethnic groups, also mich. Hier wurde unterschieden zwischen weiß und schwarz aus der Karibik, weiß und schwarz aus Afrika, weiß und asiatisch und sonstigen Mixen, zu de­nen wohl auch die Kombination schwarz und asiatisch gehören musste, die hier nicht aufgeführt war.
Asiaten, hier die ethnische Gruppe C, wurden unterteilt in Leute aus Indien, Pakistan, Bangladesch, China und sonstige Asiaten.
Kategorie D unterteilte Schwarze in karibische, afrikanische und briti­sche Schwarze. Plus: any other blacks.

Jackie Thomae knofrontiert Gabriel mit der Aktivistin Sybil.

Stimme, Haare, Haut, Seele. Unsere gemeinsame Hautfarbe legte sich über jedes Thema und verwandelte es in ein Streitthema.
Entschuldige, Sybil, ich laufe nicht den ganzen Tag herum und denke, ich bin schwarz, ich bin schwarz, oh Gott, ich bin schwarz! Ich denke auch nicht den ganzen Tag darüber nach, dass ich ein Mann bin, dass auf mei­nen Wimpern winzige Lebewesen sitzen, dass ich irgendwann durch einen Geburtskanal gepresst wurde. Das ist alles faszinierend, aber ich muss auch an andere Dinge denken als an gottgegebene Tatsachen, verstehst du das?Es tat mir leid, wie Sybil ihr eigenes Dasein ständig deklassierte. Sie hörte sich an wie jemand, der einen Sklavenaufstand plant, war aber eine englische Mittelklassefrau, die in einer großen Modelagentur arbeitete und ausschließlich in Designerklamotten herumlief.

Gabriel hat auch hier seine eigene Rationaltät: „Jeder hat seine Themen, und die Koexistenz in Städten war meines. Hierbei ging es nicht um Hautfarben, sondern um Geld.”

Der erste Teil des Buches ist nicht nur wegen des schillernden Sujets (Person und Umfeld) der interessantere. Hier zeigt sich, wie gut Jackie Thomae die Szene kennt und wie gewandt sie sich auch sprachlich darin bewegt. Glanzstück: Mick trifft auf einen früheren Schulkameraden, der sich zum Neonazi vertrottelt hat. Thomae führt diese Fitzpiepe in seiner eigenen verblödeten Denke vor als wäre sie die begnadete Kabarettistin.

Er also Punkt sieben im Wartezimmer der Nebelkrähe, die einen Dop­pelnamen hatte, und als würde das allein nicht schon scheiße genug aus­sehen, hatte die sich an ihren deutschen Nachnamen auch noch einen Ka­nakennamen drangehängt, geht’s eigentlich noch? Er tanzt da also quasi mitten in der Nacht an, damit die keinen Grund haben, ihm sein Geld zu kürzen, zitternd wie Espenlaub, weil es ihm wirklich beschissen geht, was ja vielleicht gar nicht so verkehrt ist, wenn man weiter krankgeschrieben werden will, und dann lässt Frau Lehmann-Mubarak ihn erst mal eine ge­schlagene halbe Stunde draußen sitzen. Geht mit seiner Zeit um, als wär’s ihre! Er so zu ihr: Ich wär dann so weit. Und dachte sich so: Ich hau hier gleich alles kurz und klein. Sie so: Wenn Sie sich bitte noch zehn Minuten gedulden würden, ja? Danke. Und schließen Sie bitte die Tür, ich rufe Sie dann gleich rein. Er so: Alles klärchen.

Das Buch Gabriel passt sich an das erstarrte Personal an und wirkt zäh, pedantisch, versteinert. Abwechselnd erzählen Gabriel und Fleur in gewählter Sprache von ihrer Situation, ihrer Befindlichkeit, der Be- und Erziehung, den Lebenswegen. Alles wird durchgekaut, ohne dass ein Weiterkommen, eine Änderung oder auch nur die spezielle Relevanz erkennbar ist. Das Erzählen offeriert eher Psychostudien, blendet dabei die Gesellschaft weitgehend aus. “Brüder” ist kein Geschichtsbuch, keine Anklage. Bilder aus dem Leben zweier Männer, die sehr unterschiedlich sind, in unterschiedlichen sozialen Milieus agieren. Nur der Titel suggeriert eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn der Roman einen anderen Titel hätte, läse man unbeeinflusst einen bzw. zwei unabhängige Romane. Die Frage, weshalb die Halb-Brüder so unterschiedlich (geworden) sind, beantwortet Jackie Thomae nicht. Es soll hier nicht verraten sein, ob die “Brüder” schließlich doch noch aufeinander treffen.

2019            430 Seiten

Jackie Thomae liest aus „Brüder“ (zehnseiten.de)

Leseprobe beim Hanser-Verlag

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Emmanuelle Bayamack-Tam
22. November 2019, 17:12
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Emmanuelle Bayamack-Tam :Ich komme

bayamacktamEin Drei-Generationen-Missverständnis. Nelly, fast 90, ihre Tochter Gladys, zwischen 50 und 60, und die etwa 20-jährige Charonne erzählen von sich, ihren Leben und von denen, denen sie begegnen. Den Anfang macht Charonne und sie legt gleich richtig los.

Und außerdem weiß ich, wie ich ausse­he. Ich bin fett, ich habe blaue Lippen, Sommersprossen, die meine olivfarbene Haut verhageln, und von ihren Wurzeln an gezwirbelte Haare, die zwanzig Zentimeter von meinem kleinen maurischen Kopf abstehen. Selbst die Marseiller des 21. Jahrhunderts tun sich mit meiner Schnauze schwer, so, wie sie sich auch mit meinem Körper schwer tun, meinen zyklo­pischen Schenkeln, meinem Hottentottenhintern, meinen Trizeps eines Jahrmarktsherkules, meinem junonischen Bauch, und meinen Brüsten, meinen Brüsten vor allem, einem Bug, der die Passantenströme teilt, und mir bald Anzüglich­keiten sondergleichen einbringt, bald Ausrufe oder Nachge­pfeife, das noch schwieriger zu interpretieren ist, und in das höchstwahrscheinlich ebenso viel Bewunderung einfließt wie entsetzte Fassungslosigkeit.

Charonne wurde von Gladys und Régis als Adoptivkind aufgenommen, nachdem es mit eigenem Nachwuchs wegen “Spermaallergie” und allgemeiner Vertrocknung nicht geklappt hatte. (Sie wollten Charonne wieder zurückgeben – ihre “zweite Aussetzung” -,aber auch das misslang.) Charonne stellt ihre Fleischlichkeit selbsbewusst zur Schau. “Sobald meine schwarzen Warzenhöfe unter dem hellen Baumwollstoff eines T-Shirts hindurchschimmern, ein dem Kontrast geschuldeter Effekt, den ich mir nicht versage und den ich ausgesprochen erregend finde. Aber bitte, da haben wir’s, die meisten Leute ertragen keine Erregung.”

Sie stellt bei all ihrer Jugend und Unerfahrenheit klar die Defizite von Gladys, ihrer “Mutter”, und von Nelly fest. Als Leser kann man das für frühreife Überheblichkeit halten, man lernt ja Gladys und Nelly erst später in ihren eigenen Erzählungen kennen.

Gladys stellt sich dabei wirklich als die frustrierte Person heraus, die ihre Wünsche hinter sich gebracht hat, die in Bhutan Erleuchtung suchte und die jetzt vor dem Nichts ihrer Depression steht. Sogar ihr Mann Régis enttäuscht sie, indem er sich kaum von der gewappneten Sinnlichkeit von Charonne distanziert. Ihr ganzes “Leben” war auf Vermeidung und Kompensation aufgebaut: Anstelle der Lebenslust stand die Fetischisierung des Inventars, der ausgesuchten und teuren Ausstattungen. Gladys verdammt Charonnes Fleisch, Charonne erkennt das als Neid.

Ja, das ist genau seine Vorstellung: Dass wir unsere Tage in einem Dzong zu Ende bringen, versunken in Meditation und aller materiellen Güter und Sorgen enthoben, und ich habe immer gesagt, dass ich einverstanden sei, was aber nicht heißt, dass ich es auch damit bin, dass Charonne und ihr Gigolo unter unseren Decken schlafen, wo Regis und ich doch derart viel Zeit darauf verwendet haben, aus unseren durchforsteten Wandschränken oder bei den Antiquitätenhändlern Steppde­cken aus gaufrierter Baumwolle aufzutreiben, Kopfkissenbe­züge mit aufgestickten Disteln, indische Überdecken aus dem 19. Jahrhundert, Daunenbetten aus der Provence, wie man sie schöner nicht bekommt, und Laken in Hülle und Fülle, aus Leinengarn, Hanfgarn, Mischgewebe: Es gibt nicht ein Bett im Haus, dem unsere Funde und Stilsicherheit nicht zugutege­kommen wäre.

Sie wirkt willig, wie man williger nicht wirken kann, mitnich­ten weniger belästigt und noch weniger vergewaltigt, meine Tochter, die meine Tochter nicht ist – zumindest wenn ich dem Lustgestöhne glaube, das ihrem blauen Mund entfährt. Ich komme auch nicht einen Moment lang auf die Idee, kehrtzu­machen, die Tür zu schließen hinter dieser Vision ihrer Körper, die wie die Körper zweier See-Elefanten auf Packeis einer gegen den anderen schlagen. Denn sie sind beide elefantös, und das Schauspiel dieser von den vereinten Anstürmen er­griffenen Fleischwuchten neigt dazu, wen auch immer unan­genehm zu beeindrucken. (…) Ich bin der Meinung, dass die Fetten kein Sexualleben haben sollten.

Charonne durchschaut auch Nellys Lebenslüge. Nelly, 88, träumt immer noch ihrem Glamour und ihrem Ruhm als Schauspielerin in glatten Boulevardkomödien hinterher. Sie versucht ihren Verfall zu überschminken und lügt sich auch ihr Leben zurecht. Ihr erster Mann, Fernand, war viel älter und ein angreifender Liebhaber, der zweite, Charlie, war bloß schön, ansonsten fad und unbedarfter Rassist, jetzt ist er vertrottelt und gehört zum Hausinventar.

»Sie hat das im Blut: Da werden wir nicht dagegen ange­hen können. Schwarze, bei denen ist das so, das, das liebt den Schwanz! Je mehr sie davon kriegen, umso zufriedener sind sie! Und die fangen früh an, ich warne dich: In fünf Jahren wird man ihr eine Leine umlegen müssen, dieser Charon­ne! Ansonsten wird sie uns Krankheiten ins Haus schleppen! Oder von einem kleinen Bimbo schwanger werden. Du wirst schon sehen, und du wirst nicht sagen können, ich hätte dich nicht gewarnt!” Die ganze Familie war immer schon wohlhabend, ihre Häuser standen in vielen Regione, von Arbeit war nie die Rede.

Nelly labt sich durchaus am sichtluchen Aufblühen Charonnes. Der Roman lebt davon, dass sich die drei Lebensbeschreibungen, so unterschiedlich sie auch sind, überlagern und durchdringen. In den Angrenzung von den anderen werden deren Selbsttäuschungen und Verblendungen und Scheitern erst deutlich. Jede stellt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer privaten Welt, keine kann ihre Einbildung verlassen, ohne dass ihr Leben implodiert. Das wird von Kapitel zu Kapitel offensichtlicher und deshalb ist auch die – drittplatzierte – Jeremiade von Gladys am interessantesten.

Der Titel “Ich komme bezieht sich eindeutig auf Charonne, nicht nur des Alters wegen. Nellys Leitsatz hieße “Ich will nicht gehen”, der von Gladys: “Ich bin nichts”. Charonne hat an Schluss noch einen furiosen Auftritt.

bayamacktam3Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys
Smashing tits going hot
Tease your daddy driving wild wild nuts Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys Smashing tits going hotTease your daddy driving wild wild nuts So kill me, kill me

„Der diskrete Charme der Bourgeoisie, deren Übermaß an Reichtum die Gefühle verkümmern lässt, wird in diesem Roman erbarmungslos bloßgestellt – aber nicht moralisch verurteilt.“ (Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk) Eine überspitzte Komödie in drei Leben, spaßhaft böse, selbstbespiegelte Klischees. Das Großbürgertum im Verfall, bei Nelly im eigenen Leben, Gladys ist das Bürgertum schon zu groß und hohl geworden, sie sucht nach Sinn, hat das aber nie gelernt, die Mutter war anderweitig beschäftigt. Charonne ist in diese Familie gefallen, die Umtauschfrist war abgelaufen. Ihr gehört die Zukunft. Aber welche? Emmanuelle Bayamack-Tam ist offen für Andersartiges, will sich aber dessen Karikatur nicht verkneifen. Die Personen sprechen in ihrer eigenen Drastik, Charonne spart sich dabei selbst nicht aus. Im unbenutzten Arbeitszimmer der Villa haust ein „Besucher“, der den drei Frauen in unterschiedlicher Gestalt erscheint, gerade, wie sie ihn brauchen. Großmutter Nelly hat in einem Märchenporno das Dornröschen gespielt und ihre siebenjährige Tochter in die Vorführung mitgenommen. Das wichtigste Märchen ist aber „Petruschka“.

2015         400 Seiten

Diskussion im Literaturclub des SRF (Video 14 Minuten)

google-books-Leseprobe

Julia Amalia Heyer im SPIEGEL über „Ich komme“

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Maier
17. August 2019, 17:23
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Andreas Maier: Die Familie

maierfamilieÜber Jahrzehnte hat Andreas, der kleine Bruder, mit seiner Mutter gesprochen. Über Jahrzehnte hat er sich damit zufriedengegeben, dass ihre Antwort die unbefriedigend gleiche Floskel war.

Eines Tages Ende der neunziger Jahre führe ich mit meiner Mutter ein bemerkenswertes Gespräch. (…) Ich bin Anfang Dreißig.
Bei diesem Gespräch frage ich meine Mutter et­was, das ich schon öfter in meinem Leben gefragt hatte, nämlich wie es sich denn eigentlich mit die­sen seltsamen hunderttausend Mark verhalten ha­be, die Heinz immer gefordert hätte. In früheren Zeiten hatte meine Mutter immer dieselbe Ant­wort gegeben. (…) Ich ließ ein paar Jahre verstreichen, dann frag­te ich anläßlich eines Gespräches – wieder fragte ich, als sei es das erste Mal. (…) Anschließend machte ich es mir zur Angewohn­heit, meine Mutter alle paar Jahre zu fragen, im­mer mit geschauspielerter Ich-frag-das-jetzt-zum­ersten-Mal-Attitüde.

Die Bolls, Andreas’ Familie, haben in Friedberg ein riesiges Grundstück, auf dem sie eine Steinwerkefirma betreiben. Der Vater ist Jurist, und CDU-Kreistagsabgeordneter, die Mutter führt nach dem Tode des Großvaters den Familienbetrieb.

Jahrelang stand die Familie im Bann des Grund­stücks im Mühlweg. Es bestimmte unser Da­sein, unser öffentliches Auftreten, unsere Rolle in der Stadt. Mir kam es damals vor, als hätten der Ururgroßvater, der Urgroßvater und der Groß­vater mit diesem Terrain einen bösen Geist durch die Zeit getragen, der zuerst die Erben entzweit hat­te, jetzt zur Maskerade zwang und uns dabei die Zunge herausstreckte.

Erst als Andreas 30 ist, liefert ihm seine frühere Freundin, die Buchhändlerstochter, “den Schlußstein unserer Familiengeschichte“. Das riesige Grundstück der Bolls gehörte früher einem Mann namens Seligmann, der sein Grab auf dem Friedhof hat. Vorher glaubte Andreas an die „Familiensage“, erst ganz am Ende erzählt Maier von der Arisierung, er hat sich das als Zielpunkt seiner Entlarvung der Familiengeschichte aufgehoben. Er macht aber nichts aus dieser Bedeutsamkeit, aus der einzigen des Romans. Vorher geschah dieses. Und jenes. Banales. „Eines Tages »geschah etwas«”. “Dann passiert etwas vollkommen Unerwartetes. Erstaunlich ist das Geschehen schon deshalb, weil einfach niemand auf die Idee gekommen war, et­was Derartiges könnte je geschehen.”

Alles, was ich auf diesem Gelände erlebte, hat­te für mich mythische Züge und kam mir vielfach vergrößert vor. Zum Beispiel grub mein Vater mit ein paar Leuten eines Tages eine Grube von viel­leicht zwei oder drei Metern Länge, mehr als einem Meter Breite, und in die Tiefe ging es eben­falls einen Meter. Wozu diese Grube diente, weiß ich nicht mehr, aber für uns Kinder war sie tage­lang eine urtümliche Behausung, wir überdach­ten sie, legten Decken hinein, fantasierten Aben­teuer … Wie andere ihre Baumhäuser bestiegen.

oder:

So ergab sich ein um das andere Mal das gleiche, jedwedes erhoffte Sonntagsidyll vernichtende Streitgespräch an unserem Tisch. Mein Bruder stützte seinen Ell­bogen auf, mein Vater sagte, so etwas mache man nicht, mein Bruder fragte, wieso man so etwas nicht mache, mein Vater entgegnete, das gehöre sich nicht, mein Bruder erklärte, das sei keine Be­gründung. Mein Vater konnte nicht genauer dar­legen, wieso man so etwas nicht mache, alle seine weiteren Erklärungsversuche waren hilflos (»das sind keine Manieren«; »was sollen denn andere Leute von dir denken«; »du bist ein Finder« – mit letzterem meinte er so etwas wie >ungehobelte Person<).
Die Streitereien über den Ellbogen meines Bru­ders wiederholten sich Monate, vielleicht sogar Jahre.

Der ältere Bruder politisiert und betäubt sich im “Kinderplanet” oder im Jugendzentrum, die Schwester schlingert durch ihr Leben, der Erzähler weiß nicht, was er anfangen soll und was ihm geschieht. Über Jahre. Ohne Bezug zum “Schlußstein”.

Das alles ist nicht nur belang-, interesse- und lustlos dahingeschrieben, sondern auch grottenschlecht erzählt. Dialogbeispiele:

Ich, zu Jan: Er ist Psychotherapeut geworden.
Sie: Der Heinz hat früher alle Möglichkeiten bekommen, ich hatte die nicht. Ich mußte die Fir­ma übernehmen. Das weiß der Heinz bis heute nicht, was das bedeutet hat, ich mit drei Kindern.
Ich: Heinz war doch kein jugendlicher mehr! Als mein Großvater gestorben ist, warst du 31, und Heinz war 26. Du redest über ihn, als sei er noch ein Student gewesen.
Sie: Er wollte die Firma ja nicht. Das mußte ich machen. Aber damals haben wir uns noch gut ver­standen, er ist erst anschließend so seltsam gewor­den.
Ich: Was heißt das, seltsam geworden?
Sie: Wie er herumgeschrien hat, weißt du das nicht mehr? Dein Vater kam nach Hause und hat sich sofort ins Bett legen müssen, wenn er beim Heinz gewesen war. Weil der Heinz diese unmög­lichen Vorstellungen hatte. Aber die kamen bei ihm ja auch erst, als …
Ich: Ja, als?

Wieder schaut sie mich seltsam an.
Warum siehst du mich denn so an? frage ich.

Andreas Maier hat witzige Bücher über sein Leben in der Wetterau geschrieben. Das letzte aus seinem Zyklus etwa, “Die Universität”. In “Die Familie” scheint er in eine frühere Phase zurückgefallen zu sein, als er noch nicht die Schreibwerkstatt besucht hatte. Man könnte das Unbeholfene auch für Stilbewusstsein halten, für das Hineinkriechen in das Kind, den jungen Mann. Für die Nachschreibung der Familienlüge aus der Sicht des Naiven. “Mir ist in meiner Jugend lange nicht aufgefal­len, daß ich kaum etwas über die früheren Bolls wußte. Außer unserer knappen Familiensage (Rhön, Vogelsberg, Firmengründung, Grundstück, Ap­felweinfaß, Walnüsse) wurde nichts erzählt.” Aber auch dann fehlte der Anspruch, die Komposition. Wie soll einer, der nichts mitkriegt, etwas bloßstellen, außer sich selbst. Kurz, aber langweilig.

2019      165 Seiten

Andreas Maier liest zehn Seiten aus »Die Familie«

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Andreas Maier: Die Städte

Falscher Titel ! Nicht über Städte schreibt Maier. Orte, ja, auch größere, aber auch kleine, das ist nicht das Kriterium. Das Buch könnte „Reisen“ heißen, wegfahren, ankommen, zurückkehren. Manches liegt auf dem Weg, zu anderem wird er mitgenommen, etwa, weil er noch Kind ist, einige Orte werden auch gezielt angesteuert. Im Zentrum aber steht immer Andreas Maier, Kind, auch wenn er schon älter geworden ist.

Als ich ein Kind war, fuhren wir überdies in fast allen Ferien nach Tirol und später nach Südtirol in eine Ferienwohnung.  Davon emanzipierte ich mich mit elf Jahren, seitdem konnte ich zu Hause bleiben. Ich schaffte es, indem ich alle terrorisierte.

Die Erlebnisse auf der Fahrt nach Brixen und im dortigen Domizil sind so banal nichtssagend, sie sind so ernstgemeint und ichbezogen und stellen doch bloß das Abziehbild einer gutbürgerlichen Urlaubsfahrt dar. Ironie heraus- oder hineinzulesen fällt schwer. Sollten im Leser Erinnerungen an eigene, mehr oder weniger skurrile Zeiterscheinungen oder -objekte aufkommen: Ein Sachbuch ist unterhaltender als diese Pennäler-Schreibe.

»Ich weiß, daß ich diese Dunkelheit aussitzen muß. Ich weiß auch, daß sie vorbeigehen wird. Aber erst bei Nürnberg.  Denn bei Nürnberg geht die Sonne auf. Kommt der erste Streif am Horizont schon vor Nürnberg, denkt der Vater, er muß noch schneller fahren. Dann aber sagt die Mutter: Rase nicht so!«

Das kann – und sollte – besser werden. Bis es zur nächsten Reise – nach Athen – kommt, sitzt der Achtklässler zuerst mal acht Seiten zu Hause rum. Textauszug:

Plötzlich geschah etwas, das ich in keiner Weise erwartet hätte. Vielleicht hatte ich ja damit gerechnet, daß sich meine Umwelt in einen Sandstrand verwandeln und die Südsee-Sonne in   mein Zimmer strahlen und sich eine Anzahl Leute materialisieren würde, die genauso guter Laune waren wie in der Werbung und deshalb vor meinen Augen eine Party machten, oder gemeinsam mit mir. Aber ich hätte sicher nicht damit gerechnet, daß ich plötzlich, wie ich da mit meinem Buch auf demBett lag, grundlos zu kichern beginnen würde. Alles schien mit einem Mal überaus lustig. Als ich zu greifen versuchte, was denn so lustig sei, fand ich nichts. Das machte alles noch lustiger. Ich kicherte immer mehr, und dieses Kichern machte Spaß, sozusagen allein aus sich selbst heraus.

  Ich versuchte mich auf das Buch zu konzentrieren, was das Kichern noch einmal steigerte. Daraufhin richtete ich mich auf meinem Bett auf und lachte lauthals los. Es tat regelrecht weh, wie ich lachen mußte.   Nach einigen Minuten begann die Wirkung wieder abzuebben. Lachen und Kichern verließen mich, aber die gute Laune blieb, und ich las wieder in meinem Buch.

In Athen erlebt er: Ouzo, Yvonne und den „Watzmann“, ansonsten sind die Erinnerungen verblichen.

   Am fünften Tag blieb sie im Hotel und saß mit mir an der Bar. Was trinkst du denn da, fragte sie. Ist das Alkohol? Ja, sagte ich, Ouzo.
   Sie: Schmeckt dir das?
   Ich: Ich kenne es erst seit dieser Reise
  Sie probierte und fand es abscheulich.

Mit 18 trampt er mit einer Art Freund, Mücke, nach Biarritz: Hier mal ein Dialog:

   Merkst du was, fragte Mücke.
   Ich: Was?
   Er: Na, schau sie dir doch mal genauer an!
   Ich: Was meinst du?
   Er: Die unterscheiden sich doch von denen bei uns im Schwimmbad.
   Ich: Es sind vielleicht Französinnen.
   Er: Klar sind das Französinnen. Obwohl hier wahrscheinlich Mädels von überall sind.  Aber nein, schau doch mal dorthin, wo ihre Brüste sind.
   Ich: Ja, ich schaue.   Er: Da gibt es keine Bikinistreifen, nichts. Keine Trägerspuren, und die Busen sind  genauso braun wie der Rest. Das heißt, die laufen hier immer so rum.
   Ich: Meinst du?
   Er: Klar, Mann!
   Er verlor in seiner Rede den Faden, weil er weiter umherspähte. Ich versuchte zu dösen.

„Städte“ ist Teil des autobiografischen Romanprojekts „Ortsumgehung“. Ich weiß nicht, auf wie viele Teile das ARP angelegt ist, aber; Maier sollte künftige Romane nur dann anplanen, wenn er weiß, wie weit und wie lange die Erinnerungen reichen, um den Ruf nicht zu ruinieren. Und damit ich was Besseres lesen kann. Eine Reihe, die im Äppelwoi versäuft.

Aber ich stelle mich mit meinen Kritteleien selbst bloß. Heribert Prantl hat das gleiche Buch gelesen, aber warum lese ich nicht, was er findet? „Lakonisch, urkomisch, selbstironisch und wie beiläufig und auf unschuldige Weise herrlich böse schreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman über die Qual des Urlaubmachens und über die Last des Unterwegsseins.“

2021 – 190 Seiten

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Zeh
17. März 2019, 15:30
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Juli Zeh: Neujahr

zehneujahrDer Skarabäus muss zurück in den Monsterbrunnen. Andernfalls kann Henning sein ES nicht bannen. Der Käfer, hübsch auf den schwarzen Stein gemalt, ziert das Cover von Juli Zehs „Neujahr“. Es passt alles zusammen, obwohl sie drei Geschichten erzählt.

Henning und Theresa sind mit ihren Kindern Jonas (5) und Bibbi (2) auf die Vulkaninsel Lanzarote geflogen, um dort den Jahreswechsel zu verbringen. Juli Zeh sorgt dafür, dass es dampft. Henning fühlt sich nicht uneingeschränkt wohl, er hadert über seine Beziehung und sieht es gar nicht gerne, dass sich Theresa an Silvester im Tanz mit einem Franzosen vergnügt. Ist doch schon ihr Job angesehener und einträglicher als seiner. Henning grübelt auch über seine Rolle gegenüber den Kindern. Es „ge­lingt es ihm nicht, seinen Platz zwischen Job und Kin­dern zu finden. Sein Leben gleicht einer Flucht, er kann nichts zu Ende bringen, hat für nichts richtig Zeit.
Er und Theresa arbeiten halbtags. Sie teilen sich Kin­der und Beruf. Das ist ihnen wichtig.”

Bibbi und Jonas interessieren sich nicht für die Regeln der modernen Emanzipation. Sie wollen Mama, weil sie Mama ist. (…) Wenn das Verhalten der Eltern das Wesen der Kinder bestimmt, ist Henning schuld daran, dass die Kinder Theresa mit ihren Bedürfnis­sen auf die Nerven gehen. Deswegen ist Theresa gereizt und manchmal tagelang kurz vorm Explodieren. Weil sie hinter der Mama-Bezogenheit der Kinder Hennings mangelnde Bereitschaft sieht, die Vaterrolle tatsächlich auszufüllen.
Dabei ist er bereit. Er will es. Glaubt er. Es ist nicht seine Schuld, dass die Kinder ihn nicht wollen.” (…) Nor­malerweise laufen sie zu Theresa, wenn sie etwas wol­len. Wenn sie sich wehgetan haben, wenn sie krank sind oder müde oder hungrig. Auch, wenn sie gestreichelt werden wollen oder etwas suchen oder beim Spiel nicht weiterwissen. Theresa sagt dann: »Ihr habt einen Vater, und der hat Hände und Füße, warum fragt ihr nicht den?« Und wirft ihm genervte Blicke zu, als wäre es seine Schuld, dass die Kinder sie bevorzugen.” (…) Plötzlich spürte Henning, wie sehr er die Kinder liebt, so sehr, dass es manchmal die reinste Folter ist.
In Wahrheit ist er schon zu sehr daran gewöhnt, seine Zeit mit den Kindern zu verbringen. Sosehr ihn die Klei­nen oft anstrengen und nerven – allein weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Zu viele Dinge hat er schon zu lange nicht mehr getan. Radfahren, Lesen, Musik­hören, Freunde treffen. Aber im kommenden Jahr soll das anders werden. Ab jetzt will er drei Mal die Woche Rad fahren, mindestens, egal, was sonst passiert. The­resa wird ihn unterstützen. Sie wird es gut finden, wenn er endlich wieder etwas »macht«. Sie sagt immer, dass alles nur eine Frage der Einteilung sei. Überhaupt ist »machen« für Theresa ein wichtiges Wort.

Ich hab den Verdacht, Juli Zeh hat bei den vielen Studien abgeschrieben, die zu dem Thema erscheinen. Fiktionaliserte Statistik. Ein Studien-Roman als neue Gattung, und nur die Namen scheinen erdacht zu sein, denn Zeh widmet „Neujahr“ David, der weiß worum es hier geht.

David, äh, Henning ist der „schmalen Schneise zwischen Beruf und Familie“ nicht gewachsen. Er lebt „im stän­digen Gefühl, es stünde eine Katastrophe bevor”. “ES, das sind Panikattacken, die ihn erst nachts, dann auch tagsüber heimsuchen, ihm noch die letzte Kraft rauben, die ihm die „schmale Schneise zwischen Beruf und Familie“ lässt. Die Panik, die Zweifel, der Hass – all das steigt auf, während Henning sich den Berg hinaufkämpft.

Zweite Erzählung, kompositorisch mit dem Inselaufenthalt verflochten: Henning setzt am Neujahrstag * – endlich – sein Vorhaben um, mehr für sein Wohlbefinden zu tun. Er hat sich ein Rad augeliehen, das für die geplante Berg*-Tour ebenso ungeeignet ist, wie er selbst. Der Berg aber ruft. Juli Zeh beschreibt die Plagerei so drastisch, dass man sogar beim Lesen außer Atem gerät und ein wenig austrocknet.

Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“ Und dann bricht es aus ihm heraus: Scheiß-Theresa, Scheiß-Jonas, Scheiß-Bibbi, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie. „Er denkt es nicht mehr, er schreit. Er hat keine Ahnung, was er damit meint. Es gibt niemanden auf der Welt, den er so sehr liebt.“ (…)
Er steigt vom Rad. Er braucht eine weitere Pause, der Muskelstoffwechsel zwingt ihn dazu. Keinen wei­teren Tritt kann er seinem Körper abringen. Im linken Oberschenkel hat er einen Krampf. Mit beiden Hän­den massiert er das Bein, versucht, die Muskulatur zu lockern. Es wäre besser aufzuhören. Das letzte Stück zu schieben. Aber der Pass* liegt nicht mehr weit ent­fernt, vielleicht noch hundert Höhenmeter, auf eine wei­tere Serpentine verteilt. Die letzte Kurve ist spitzwink­lig. Ihr zweiter Schenkel weist nach oben wie bei einer verbogenen Haarnadel.

Mein Mitgefühl bleibt auf dem Boden. Das Problem: Henning muss sich als Mann beweisen und verkrampft dabei. (Ein Grundübel des Mannseins, neben anderen.) “Er wehrt sich keineswegs gegen den Abbau der alten Rollenklischees und den Verlust seiner Privilegien. Er akzeptiert den Wandel nicht nur, sondern betreibt und lebt ihn geradezu vorbildlich. Doch gerade das macht ihn zu einer tragischen Figur.“ (Karin Janker, SZ) Es klafft aber auch hier der Widerspruch zwischen bewusstem Wollen und den Gender-Fängen. (Karin Janker sieht Henning in Juli Zehs Hamsterrad.) Denkt Juli Zeh also doch biologistisch? Will sie dem sich emazipiert dünkenden Mann keine Chance geben? Kann man den Umgang mit Kindern und Gefühlen nicht einüben? (Selbst-)Überforderung ist kein Grund, toll-wütig zu werden. Auch politisch nicht. „Sich um die Kinder zu kümmern macht Männer unzufrieden, sagt der Soziologe Martin Schröder.“ Dazu hat er für die Universität Marburg im Sommer 2018 eine Studie vorgelegt. (Interview mit Martin Schröder in der ZEIT) Die WELT grift das begeistert auf und sieht die Zeit für ein roll-back.

“Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als vierjähriges Kind schon einmal hier in Femés. Damals hat sich etwas Schreckliches zugetragen – etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, ver­folgt ihn bis heute.” (Klappentext) Der dritte Erzählteil entwickelt sich zu einer kindlichen Horrorgeschichte, die nicht gestoppt werden kann. Als der erwachsene Henning den Ort des Kindheitstraumas wieder erreicht, hilft nur, den Skarabäus wieder in den Brunnen* der Monster zu versenken. Wenn es denn hilft.

Juli Zeh psychologisiert die Malaisen des modernen Mannes, eines in allen Belangen zunehmend ungenügenden Wesens. Sie widmet das Buch einem “David, der weiß worum es hier geht“. Der MODERNE MANN

Der Leser soll aber nicht denken, jeder Mann, der ein horribles Kindheitserlebnis zu verarbeiten hat, müsste zu einer Person wie Henning werden. Und nicht jeder, der seine Schwierigkeiten in der modernen Familie erlebt, könne das mit dem frühkindlichen Schrecken begründen. Auch hier gilt die Freiheit der Dichterin, sich ihre Fiktionen zurechtzuzimmern. Romanfiguren sind immer – überwiegend – selbstgeschnitzt. Juli Zehs Werk ist überlegt, aber unkonventionell aufgebaut, die drei Handlungsstränge fügen sich erst im Leser zusammen. Man muss sich bei jedem Teil in Lesegeduld üben. Zehs Sprache ist genau, sie erzeugt mit betont sachlicher Beschreibung Erschütterungen. Dennoch halte ich die Psychologie für reichlich plump. Und Satire ist nicht zu erkennen.

Auf dem ersten Treppenabsatz denkt er, dass sich nun alles ändern wird. Der Knoten ist geplatzt. Licht ist ins Dunkel gefallen, das Mons­ter hat seine Sachen gepackt und ist ausgezogen. Hen­ning wird ES nie wiedersehen. Er ist überglücklich. Er wird frei sein.

2018          190 Seiten

* Symbol

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Ng
14. November 2018, 12:50
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Celeste Ng: Kleine Feuer überall

ngkleinefeuerDas Leben in ihrem schönen, absolut ordentlichen, verschwenderisch ausgestatteten Haus, wo der Rasen immer gemäht und das Laub immer gerecht war, wo nie, wirklich nie ein Fitzel Müll herumlag; in ihrem schönen, absolut ordentlichen Viertel, wo auf jedem Rasen ein Baum stand und die Straßen in Kurven verliefen, damit niemand zu schnell fuhr, wo jedes Haus mit dem nächsten harmonierte; in ihrer schönen, absolut ordentlichen Stadt, wo jeder sich anpasste und jeder die Regeln befolgte und nach außen hin alles schön und perfekt sein musste.

Shaker Heights, streetcar suburb von Cleveland/Ohio. Der Name leitet sich ab von der christlichen Freikirche der Shaker, Shaker Heights ist Synonym für Planung, Regelmäßigkeit, Gottgefälligkeit, Wohlhabenheit. Das ist die Welt von Mrs Richardson.

Mrs Richardsons Leben war stets in geordneten Bahnen ver­laufen. Sie wog sich einmal pro Woche, und obwohl ihr Gewicht nie mehr als drei Pfund schwankte, was ihrem Arzt zufolge nor­mal war, bemühte sie sich sehr um Zurückhaltung. Jeden Morgen maß sie, wie auf der Packung angegeben, genau eine halbe Tasse Cheerios ab, und benutzte dazu die geblümte Plastik-Messtasse, ein Geschenk von Higbee’s für sie als junge Braut. Zum Abend­essen erlaubte sie sich ein Glas Wein – roten, der angeblich für das Herz am bekömmlichsten war -, ein feiner Kratzer im Wein­glas markierte die richtige Menge. Dreimal in der Woche besuch­te sie einen Aerobic-Kurs und achtete mithilfe ihrer Uhr darauf, dass ihr Puls auf über einhundertzwanzig stieg. Sie war mit Re­geln aufgewachsen und überzeugt, dass die Welt nur richtig funk­tionierte, wenn man diese Regeln befolgte. Seit ihrer Jugend hat­te sie einen Plan gehabt und ihn minutiös eingehalten: Schule, Studium, Freund, Heirat, Job, Hypothek, Kinder. Eine Limousi­ne mit Airbags und automatischen Sicherheitsgurten. Ein Rasen­mäher und eine Schneefräse. Waschmaschine und Trockner. Sie hatte, kurz gefasst, alles richtig gemacht und sich ein gutes Leben aufgebaut, ein Leben, wie sie es sich wünschte, wie alle es sich wünschten.

In diese Welt bricht Mia ein. Mia wird immer beim Vornamen genannt, Mrs Richardson führt ihr Leben unter dem Namen ihres Mannes, sie bleibt distanziert, Mia hat sich ihre Biografie selbst erworben, sie lebt nach ihren eigenen Regeln, ist Fotografin, chaotisch, sie war ständig unterwegs und will in Shaker Heights ihren ersten stetigen Wohnsitz finden. Mrs Richardson hat zwei Söhne und zwei Töchter in erwachsenwerdendem Alter, alle entsprechen der ortsüblichen Norm, nur die Jünste, Isabelle-Marie aka Izzy, hat ihre Flausen. Ihr erster Gewaltakt besteht darin, mittels Zahnstochern die Schultüren zu versperren und ist noch eher ein Scherz. Auch Mias Tochter ist gerade am Flügge-Werden. Sie heißt – nicht umsonst – Pearl, denn sie wurde ihrer Mutter wie eine Perle eingepflanzt. Die Richardsons haben zwei Häuser. Im stattlichen lebt die Familie selbst, in das kleinere mietet sich Mia mit Pearl ein.

Diesmal jedoch sollte es anders sein. »Wir bleiben hier«, sagte Pearl zu Moody, und er fühlte sich plötzlich überaus beschwingt, wie ein übervoller Ballon. »Das hat meine Mom mir versprochen. Diesmal bleiben wir für immer.«
Ihr vagabundierender, unkonventioneller Lebensstil gefiel ihm, denn im Inneren war Moody ein Romantiker. Er schaffte es jedes Jahr auf die Liste der besten Schüler, träumte aber davon, von der Schule abzugehen und durchs Land zu ziehen wie Jack Kerouac – nur wollte er Songs schreiben und keine Gedichte. Macs Backs versorgte ihn mit gebrauchten Exemplaren von Unterwegs und Gammler, Zen und hohe Berge, den Gedichten von Frank O’Hara, Rainer Maria Rilke und Pablo Neruda, und zu seiner übergroßen Freude fand er in Pearl eine verwandte poetische Seele.

Das erste Viertel des Romans kent man aus US-Vorstadt-Romanen/-Filmen/-Serien zur Genüge: Die extrovertierte Mom mit Charity-Appeal, der erfolgreiche Anwaltsmann, die stereotypen Kinder: Trip, das gutaussehende Sport-As, Moody, der verunsicherte Boyfriend, die angezickte Lexie, die nervend-subversiv-unzufriedene Isabelle Marie (Izzy). Doch dann – auch das natürlich Klischee – kracht die pha­ri­sä­isch aufrechterhaltene Ordnung zusammen. Alle wohlgesittete Normalität ist – was sonst – hohl. Lügen überall. Mia ist der Katalysator.

Pearl freundet sich mit Moody an wird im Richardson-Haus aufgenommen, Izzy findet in Mia einen „echten“ Menschen. Pearl hintergeht Moody, Lexie nutzt Pearl aus, Mias windungsreicher Weg durchs Leben nahm seinen Anfang in einem Vertragsbruch. Der Plan, auf dem Shaker Heights aufgebaut ist, wird durch die Zufälle des Lebens unterminiert und zeigt immer mehr seine löchrige Fragwürdigkeit.

DAS Thema der Celeste NG ist die Abstammung, die Mutterschaft, die Suche nach Eindeutigkeit in sozialen Antagonismen. Und da geht alles drunter und drüber. Kleine Feuer überall. Lexie wird schwanger und beschließt, das Kind nicht zu kriegen. Mrs Richardsons Freundin Mrs Culloughs kann keine Kinder kriegen und adoptiert die kleine Mirabelle (!), erfährt aber, dass deren Bio-Mutter das Kind (May Ling) wieder zurückhaben will. Mia hatte sich als Leihmutter verkauft und spürte dann zu viel Zuneigung zu dem Kind. – Bei den Interessen an der kleinen May Ling/Mirabelle kommt es zum Prozess, der eine zentrale Stellung im Roman einnimmt. Celeste Ng lässt beide Seiten mit fragwürdigen Argumenten streiten.

»Aber Mirabelle war die meiste Zeit ihres Lebens bei uns, sie erinnert sich an gar nichts anderes. Ich habe das Gefühl, dass Mirabelle wirklich mein Kind ist und dass sie nicht grundlos auf diese Weise zu mir gekommen ist.«
»Niemand kann ernsthaft abstreiten«, fügte Mr McCullough hinzu, »dass Mirabelle in einem geordneten Umfeld mit zwei Elternteilen besser aufgehoben ist.«
»Es gibt Stimmen, die befürchten, Mirabelle könnte den Kontakt zu ihrer ursprünglichen Kultur verlieren«, sagte der Produzent. »Wie begegnen Sie solchen Befürchtungen?«
Mrs McCullough nickte. »Wir bemühen uns, sensibel mit diesem Thema umzugehen«, sagte sie. »Ihnen fällt sicher auf, dass wir asiatische Kunst bei uns aufgehängt haben.« Sie zeigte zum Kamin, wo Papierrollen mit Tuschezeichnungen von Bergmotiven hingen und auf dem Sims ein glasiertes Tonpferd stand. »Wir sind verpflichtet, ihr von ihrer ursprünglichen Kultur zu erzählen, wenn sie älter wird. Und sie liebt natürlich Reis. Das war sogar ihre erste feste Mahlzeit.«
»Gleichzeitig möchten wir«, sagte Mr McCullough, »dass Mirabelle wie ein typisches amerikanisches Mädchen aufwächst. Sie soll wissen, dass sie genau wie alle anderen ist.« Der Bericht endete mit einer Aufnahme der McCulloughs, die sich über die Wiege beugten, in der Mirabelle ihr Mobile ankrähte.
Auch die Richardson-Kinder waren bei diesem heiklen Thema gespalten. Mrs Richardson stand natürlich, ebenso wie Lexie, fest auf der Seite der McCulloughs. »Schaut euch an, wie Mira­belle jetzt lebt«, rief Lexie eines Abends Mitte Februar beim Es­sen. »Ein großes Haus, in dem sie spielen kann. Ein Garten. Zwei Zimmer voller Spielsachen. So ein Leben kann ihr ihre Mutter nicht bieten.« Mrs Richardson stimmte ihr zu: »Sie lieben sie so sehr. Haben so lange gewartet. Und sie aufgezogen, seit sie ein Säugling ist. Inzwischen erinnert sie sich gar nicht mehr an ihre Mutter. Mark und Linda sind die einzigen Eltern, die sie kennt. Es wäre für alle Beteiligten grausam, sie jetzt wegzunehmen, wo sie doch wirklich ideale Eltern sind.«
Moody und Izzy wiederum ergriffen eher Partei für Bebe. »Sie hat einen Fehler gemacht«, sagte Moody. Pearl hatte ihm Bebes Geschichte erzählt, und Moody stand, wie immer, auf Pearls Sei­te. »Sie dachte, sie könnte sich nicht um das Baby kümmern, und dann hat sich ihre Lage geändert, und sie konnte es doch. Des­wegen sollte man ihr das Kind nicht für immer wegnehmen.« Izzy war entschiedener: »Sie ist die Mutter. Die McCulloughs sind nicht die echten Eltern.« Etwas an dem Fall hatte einen Fun­ken in ihr gezündet, vage und noch nicht in Worte zu fassen.

Ng berichtet ausführlich und überlässt dem Leser die Frage, ob Kultur denn angeboren sein könne. Viele Themen werden in Gesprächen abgehandelt. Wo die Personen nicht genug wissen, schaltet sich oft die Autorin ein. “Von alledem konnte Mrs Richardson natürlich nichts wissen.” Immer wieder erklären längere Rückblenden die Vorgeschichte von Personen oder Situationen, etwa Mias Leben, bevor sie nach Shaker Heights kam. Celeste Ng erzählt konventionell, im Stil oft bemüht (was aber auch an der Übersetzung liegen kann.)

Mia war eigentlich tolerant, aber als Pearl schließlich nach oben kam – nach Rauch, Alkohol und noch etwas riechend, das Mia ziemlich eindeutig als Gras identifizierte -, wusste sie vor Ärger nicht, was sie sagen sollte. »Geh ins Bett«, brachte sie schließlich hervor. »Wir reden morgen früh darüber.« Es wurde Morgen, Pearl schlief lange, und als sie schließlich gegen Mittag auftauchte, zerzaust und mit Schlaf in den Augen, wusste Mia immer noch nicht, was sie sagen sollte. Du wolltest, dass Pearl ein normales Leben führt, ermahnte sie sich – tja, so sind Teenager nun mal. Ein Teil von ihr hatte das Gefühl, dass sie sich stärker einbringen sollte – dass sie wissen musste, was Pearl machte, was Lexie machte, was sie alle machten -, aber wie? Zu ihren Partys und Hockeyspielen mitkommen? Pearl grundsätzlich verbieten auszugehen? Am Ende sagte sie nichts, und Pearl aß schweigend eine Schale Müsli und legte sich wieder ins Bett.

Das Ende wird schon am Anfang erzählt. “Was folgt, ist eine Spurensuche in Zeitlupe. So symmetrisch, wie in Shaker Heights alle Straßenzüge auf dem Reißbrett entworfen sind, bringt Celeste Ng ihre Figuren und Handlungsstränge in Position.“ (Sofia Glasl, SZ) Wer hat den unausweichlichen Brand gelegt? „Mit ihrem Porträt ihrer Heimatstadt Shaker Heights gelingt Celeste Ng im Kleinen das Psychogramm einer von Klasse und Privilegien besessenen Gesellschaft, die Assimilation als einzig legitime Lebensweise anerkennt.“ (Glasl)

2017      385 Seiten

Leseprobe bei dtv

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Loschütz
14. Mai 2018, 16:38
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Gert Loschütz: Ein schönes Paar

loschuetzpaarKurz nacheinander sind Philipps Eltern gestorben. Philipp ist Fotograf geworden, jetzt ist er selbst schon über 50. Beim Auflösen der elterlichen Haushalte findet er die Fotos – und analysiert sie akribisch, wie mit einem Stereoskop. Einen Blick für die Mutter, Herta, einen für den Vater, Georg. Ein schönes Paar. Der Sohn betrachtet sie bis zum Schluss als Paar, obwohl sie sich schon bald getrennt haben, nachdem sie auf ihrer Flucht aus der DDR im Westen ankamen. In der „Schieferstadt“ bei Gießen war’s, 1957, und es hat beide ganz schön aus ihren Lebensläufen geworfen.

Philipp hat den fotografischen Blick und Gert Loschütz übernimmt diese Betrachtungsweise beim Schreiben. Minutiös seziert er die Bilder, setzt sich mit den evozierten Erinnnerungen auseinander, schnörkellos schildert er die Welten von Herta und Georg, ihre Lebensäußerungen, die das Intime zu verbergen suchen, dem Analytiker aber doch fast alles verraten.

Ein Stereoskop ist ein Gerät zum Betrachten von Stereo­bildpaaren, die mit einer Stereokamera aufgenommen wurden. Durch die geringe seitliche Abweichung entsteht der Eindruck räumlicher Tiefe: Man glaubt, den Porträtier­ten leibhaftig vor sich zu haben. Man blickt durchs Stereo­skop und ist mit ihm allein. Da man dabei die Augen auf die Okulare pressen muss, sind alle anderen optischen Eindrü­cke ausgeschaltet, sodass man sich ganz auf die Gesichtszüge des Abgebildeten konzentrieren kann.
Ich könnte mir vorstellen, dass Liebespaare, die voneinan­der getrennt leben mussten, über diese Erfindung sehr froh waren. Eine Zeit lang jedenfalls, bis sie die Nähe, die doch nicht greifbar war, rasend machte. Die anderen, die ebenfalls Hoffnung in diese Technik setzten, waren die Kriminologen. Sie erlaubte es ihnen, im Gesicht des Täters zu forschen. Konnte man dem Unerhörten, dem Rätsel, das einem das Ver­brechen aufgab, nicht auf die Spur kommen, indem man im Gesicht des Täters las, wie es der Jäger in den Hufabdrücken des Wildes tat? War in dieser Landschaft aus Hebungen und Senkungen, der man, anders als auf herkömmlichen Fotogra­fien, mit dem Finger nachspüren zu können meinte, nicht vielleicht die Erklärung enthalten, nach der man die ganze Zeit gesucht hatte?
Die Liebespaare und die Kriminologen also. Und beide wurden am Ende enttäuscht.

„Auch an wirklich hellen Tagen gibt es Stellen, die im Halbdunkel liegen.“ Rätsel bleiben, weil das „Paar“ auf Vertuschungen setzt, weil Herta und Georg sich selbst nicht alles offenbaren wollen oder können. Was treibt die Mutter, was hat sie vertrieben? Wer ist diese Mila, die immer wieder bei Philipp auftaucht? Die Liebe scheitert an der Unfähigkeit, sie sich einzugestehen, Herta setzt sich ab, wie weit, wird erst am Schluss angedeutet, Georg versinkt in sich. Philipp lebt dazwischen, was versteht ein achtjähriger Junge schon davon, was will man einem dreizehnjährigen schon von den Wirren des Lebens zumuten. Auch Philipp ist auf den Bildern zu sehen. Der Erzähler reflektiert alles, wechselt die Zeiten von der DDR zum Westen, wo das Leben und Lieben auch nicht leichter gelingen mochte, wechselt in die Zeit der Aufarbeitung, sucht die Zusammenhänge, versucht zu verstehen, versucht. neutral zu bleiben. Die Ängste von Mutter und Vater vor der Flucht, wo sich die Gedanken in die Beobachtungen schieben, die Gefahren zeigen sich in den kleinen Dingen. Man muss alles im Blick haben, nichts ist unwichtig, die exakten Beschreibungen sind nicht Dekor.

Als sie vom Friedhof zurückkommen, sind sie noch immer nicht da. Kein Auto wartet vor der Tür, keiner drückt sich in der Nähe des Hauses herum. Über der Stadt die mittägliche Stille, in der man ein Auto kilometerweit hört. An der Gar­tentür bleibt Herta stehen, blickt die Straße hinunter und lauscht. Dann nickt sie und drückt die Tür auf. Sie gehen durch den kleinen Vorgarten, die Stufen hinauf. Die Katze des Nachbarn liegt zusammengerollt auf dem Abtreter vor der Verandatür. Er bückt sich und setzt sie auf die Mauer, von der die Treppe zur einen Seite hin eingefasst ist. Sie hebt kurz den Kopf, rollt sich wieder zusammen und schläft wei­ter. Dann schließt er die Tür auf, und sie gehen durch die Veranda, durchs Treppenhaus in die Wohnung.
Auch hier ist es still, ganz still. Der Junge ist nach der Schule zu den Großeltern gegangen. Herta hat ihre Mutter gebeten, am Nachmittag auf ihn aufzupassen. Als Erstes öff­net Georg die Tür zum Wohnzimmer, tritt an den Tisch und hebt die Zeitung auf. Ja, da liegt er, der Brief. Die Stempel starren ihn noch genauso gefährlich an wie vor der Beerdi­gung, als er ein Versteck für den Brief suchte.
Am Vormittag wollte er auf sie warten, weil er glaubte, sie seien schon auf dem Weg. Er wollte sich hier festnehmen las­sen, in der Wohnung, dann, als sie um halb zwei noch nicht da waren, ging er mit zum Friedhof, und unterwegs fiel die Ent­scheidung: Er würde weder hier auf sie warten noch sich ihnen am nächsten Tag ausliefern.

Es passiert gar nicht so viel im Roman, die Handlung entsteht im Leser und zieht einen durch den Text. Auch wegen der “Leerstellen”. Die Zeitgeschichte bleibt im Hintergrund und ist doch immer da, etwa im Durchscheinen der “Atmosphäre der bundesrepublikanischen Kleinstadthaftigkeit“ (Christoph Schröder, ZEIT) “Das schöne Paar” ist kein politischer Roman, das Private ist aber nicht abgelöst von der Zeit denkbar. Der einzige Gegenstand von Wert, den die Eltern auf der Flucht mitnehmen, ist eine Exakta-Varex-Kamera, doch was in der DDR kostbar erschien, kann man im Westen nicht einmal verkaufen. “Als der Sohn viele Jahre später in romanischen Kirchen Aragóns fotografiert, konzentriert er sich auf den winzigen Augenblick, in dem die Morgensonne durch die winzigen Fenster am Kopfende der Apsiden schießt. »Apsiden. Heute weiß ich, dass das Wort noch eine andere Bedeutung hat: Man bezeichnet damit auch den jeweiligen Punkt der kleinster oder größten Entfernung eines Planeten vom Gestirn, das er um kreist.« Die der Liebenden voneinander.” (Erich Hackl, konkret)

2018            235 Seiten

Hör- und Leseprobe beim Verlag Schöffling & Co.

Besprechung von Constanze Mattes auf zeichenundzeiten.com

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Klüssendorf
25. März 2018, 16:39
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Angelika Klüssendorf: Jahre später

kluessendorfjahreAngelika Klüssendorf erzählt die Geschichte vom „Mädchen“ weiter. Aufgewachsen bei hilflos saufenden und prügelnden Eltern, kam sie in ein Heim und wurde, wie viele, die in der DDR nichts wurden, „Rinderzüchterin“. (Grüße an Gregor Gysi.) Übers Lesen suchte sie ihren miserablen Bedingungen zu entkommen. Jetzt, „Jahre später“, findet April zum Schreiben, aber was

ihr im Leben nicht gelingt, gelingt ihr auch im Schreiben nicht: die genauen Worte zu finden für das, was sie zu wissen glaubt. Wieder der Vorschlag des Verlegers, sie solle über ihr Leben schreiben. Doch sie hat Angst, die Räume zu betreten, in denen die Gespenster lauern. (…)
Sie träumt den Traum seit Jahren. Kinder, acht-, neun­jährig, Mädchen und Jungen, werden von Uniformier­ten aufgefordert, sich auf eine Bühne zu stellen, um dort eine Erschießung zu spielen. Die Kinder lassen sich von den Erwachsenen überzeugen und gehen frohgemut nach vorn. Sie summen und stellen sich ne­beneinander. Die Männer beginnen zu schießen – es sind echte Patronen, die Kinder werden getroffen, kni­cken ein, fallen zu Boden. Aber sie richten sich wieder auf, ungläubig, versuchen weiter gerade zu stehen: Es ist doch nur ein Spiel. Erst als die nächste Salve kommt, zeichnet sich das Begreifen langsam auf ihren Gesich­tern ab. Sie stürzen, noch immer ungläubig, und ster­ben.
April wünscht sich, der Traum wäre endlich ausge­träumt.”

April hat aus einer früheren Beziehung einen Jungen, Julius. Durchs Schreiben gerät sie an einen Mann, einen landesweit gerühmten Chirurgen, der sich im Verlauf des Romans als exzentrisches Arschloch erweist. Zunächst hofft sie in der Beziehung Geborgenheit zu finden, doch schon die „Heirat. Das ist Ludwigs nächster Plan“ wird zum Menetekel: “Als sie unterschreiben soll, hat April ihren neuen Namen vergessen und un­terschreibt mit einem kunstvollen Gekrakel. Danach frühstücken sie in einem Cafe, nicht weit vom Standes­amt. April fühlt sich wie eine Fremde. (…) Auf der Straße überkommt sie ein Glücksgefühl, sie ist eine verheiratete Frau und nichts hat sich verändert. Kurz denkt sie, ich kann abhauen, wenn es schiefläuft, ich kann immer noch abhauen.” Man wünscht ihr Beruhigung, weiß aber, anders als April selbst, dass es für sie nur den Falschen geben kann.

Sie ist in ihrer seelischen Depravation wenig für ein Zusammenleben präpariert, in der aufgeblasenen Lebens- und Berufswelt ihres Mannes Ludwig fühlt sie sich fremd. Ludwig kennt Rücksicht nur als Selbstgefälligkeit. “Beide erfinden sich Rollen, denen sie kaum noch entkommen.“ (Jens Bisky, SZ) Beide sind nicht autark. Keine tragfähige Basis für eine Familie, der gemeinsame Sohn Samuel darf als Betriebsunfall gelten. Zutraulicher sind die Hunde. Die Ehe scheitert, was sonst.

Vor zwei Monaten ist Ludwig ausgezogen. Er hat am Vorabend angerufen, um über die Aufteilung der Wohnung zu sprechen. April will ein Satz nicht aus dem Kopf gehen: Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt. Nach einem kurzen Auflachen wurde ihr klar, dass er es ernst meint.

Im Zentrum des kurzen Romans steht die “Anatomie einer toxischen Partnerschaft” (Klappentext) Was danach kommt, sind Anhängsel. Angelika Klüssendorf nähert sich den Personen und ihren Aufeinandertreffen distanziert, doch aus der Perspektive der Frau. April ist eine schwierige, gehandicapte Person, ein “beschädigter Mensch”, doch kennt man sie besser als den Mann, erfährt über ihre Vergangenheit und ihre Heimsuchungen, man möchte sie verstehen. Ludwig bleibt der Fremde, seine Handlungen und Worte erscheinen sachgrundlos, beide, Mann und Frau,  sind hilflos.

Der Stil ist nüchtern, ernüchtert, lakonisch, fast unbeholfen und dabei doch unmittelbar präsent, sezierend. Ausschmückungen wären unangemessen. Das Grauen lauert in den Hauptsätzen.

Das sind bloß sie, zwei Menschen, Mann und Frau. Sein Gesicht schrumpft, wird kalt. April streckt die Hand aus, doch sie kann ihn nicht mehr erreichen. Nächte später sieht sie ein Mädchen vor sich, in einem Mietshaus am geöffneten Fenster, sie erkennt einen dünnen Kinderarm, der Arm holt aus, und dann fliegt Scheiße durch die Luft. Das Mädchen ist noch namen­los und ohne Schutz. Das wird mein erster Satz sein, denkt sie. Scheiße fliegt durch die Luft. (So beginnt der erste Roman über “Das Mädchen”.)

2018            160 Seiten

Leseprobe und Lesungsvideo beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

2-3

 



Ernaux
7. Dezember 2017, 19:12
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Annie Ernaux: Die Jahre

ernauxdiejahre

„Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biografie einer 1940 geborenen Französin. Der „totale Roman“ sichtet die Jahre der Erinnerung und modelliert sie in den nationalen (und globalen) Wandel der Traditionen ein.“ In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir«”. Annie Ernaux’ Buch-Ich stammt aus niedrigen sozialen Verhältnissen, kommt aus der normannischen Provinz nach Paris, sie studiert und wird Lehrerin, sie betont sich als Frau, weitet ihr Subjekt in die Geschichte. Als Leserin erkennt man sich wieder. Nostalgie – aber mehr.

Annie Ernaux erinnert sich an die Lieder, die man hörte und sang, an Fernseh- und Radiosendungen und deren Personal, an Schule und Familie, immer wieder an die Familienessen mit ihren Tischgesprächen, sie rekapituliert Wünsche und Träume, Sorgen und Sex. Auf Fotos sieht sie sich selbst oder ihr ähnliche Mädchen und Frauen und sie liest aus der Kleidung, den Frisuren, Körperhaltungen oder Gruppierungen die Zeichen der Zeiten. “Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der ande­ren.”

Die Mädchen der vorderen Reihe sitzen auf Stühlen, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie sittsam geschlossen, die Füße fest auf dem Boden oder unter dem Stuhl, nur eine hat die Beine übereinandergeschlagen. Die Schülerinnen der mittleren Reihe stehen, die der hinteren sind auf eine Turnbank gestiegen. Von ihnen sind bloß die Oberkörper sichtbar. Die Tatsache, dass nur sechs von ihnen die Hände in den Taschen haben, was damals als Zeichen schlechter Erziehung galt, ist ein Hinweis darauf, dass das Gymna­sium hauptsächlich von Bürgerstöchtern besucht wird. Alle bis auf vier Mädchen blicken mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Das, was sie sehen – den Fotografen, eine Mauer, andere Schülerinnen? – ist für immer verloren.

Es gibt Zeiten des sanften Wandels, die in der Jugend viel zu langsam vergehen, und Sprünge, die Generationen leben ihr eigenes Leben, der “Fortschritt” ist nicht offensichtlich und nicht stetig. Die Tradition entlässt die Mädchen, ohne aber eine klare Perspektive zu öffnen.

Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit, bestimmt vom regelmäßigen Läuten der Glocke, den Klassenarbeiten nach jedem Trimester, den endlosen Interpretationen von Corneilles Cinna und Racines Iphigenie und der Überset­zung von Ciceros Pro Milone, hatten die wenigen Jugend­lichen, die weiter zur Schule gehen durften, den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte. Man schrieb Sät­ze von Schriftstellern über das Leben in ein Heft und ent­deckte, wie berauschend es war, sich in Wörtern wieder­zuerkennen, »existieren ist trinken ohne Durst.« Man war überwältigt von einem Gefühl des Absurden und des Ekels. Unsere klebrigen Körper trafen auf das »Geworfen­sein« des Existenzialismus. Man klebte Fotos von Brigitte Bardot in Und immer lockt das Weib in ein Heft und schnitz­te James Deans Initialen in sein Pult. Schrieb Gedichte von Prevert und Chansons von Brassens ab, je suis un voyou und La Premiere Fille, die nicht im Radio laufen durften. Las heimlich Bonjour Tristesse und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Das Feld des Begehrens und der Verbote wurde immer größer. Es eröffnete sich die Möglichkeit einer Welt ohne Sünden. Die Erwachsenen argwöhnten, dass uns die modernen Schriftsteller »verderben« würden und wir nichts mehr »respektieren« würden.

Aber: “Ihr Leben nach dem Abitur ist eine Treppe, die in den Wolken verschwindet.

„Die Jahre“ sind französische Jahre. Die erinnerten Namen sind in Deutschland (weitgehend) unbekannt. Es gibt andere Lieder, andere Filme, in der Schule wird eine andere Literatur besprochen, mit dem gleichen Ernst wie in anderen Ländern die jeweils nationale. Man sucht nach Parallelen und fragt nach Gemeinsamkeiten. Dadurch wird das Buch auch für deutsche Leser interessant. Deutschland erzeugt in Frankreich so wenig Spuren wie umgekehrt, sobald die Jahre der Weltkriege verblasst sind. Viel präsenter ist Algerien, sind die Präsidentenwahlen, welche die (fortschrittlich gesinnten) Franzosen in kleine Hoffnungen oder Resignation stürzen. Die Freiheit nimmt zu, gerade auch für Frauen, aber sie zeitigt andere Zwänge.

Erst in den 1950er Jahren bricht in Frankreich auch die Welt ein: Auf dem Plattenspieler drehen sich Bill Haley und Elvis Presley. Einen weiteren Einschnitt sieht Ernaux im Walkman (in Frankreich: balladeur) symbolisiert. „Mit dem Walkman drang die Musik zum ersten Mal in den Körper ein, man konnte in ihr leben, und die Welt blieb außen vor.” Die jungen Leute, also die eigenen Kinder, “befanden sich in einer ironischen Distanz zur Welt. Man be­wunderte ihre Schlagfertigkeit und Redegewandtheit und fühlte sich minderwertig, weil man Angst hatte, im Vergleich zu ihnen langsam und beschränkt zu wirken. Im Kontakt mit ihnen konnte man seinen Wortschatz erweitern, man hörte sich den richtigen Gebrauch der Jugendsprache ab und ergänzte sein Vokabular um Ausdrücke wie »geil« und »abgefahren«, sodass man die Dinge auf dieselbe Weise be­nennen konnte wie sie.”

“Die Ereignisse verschwanden, bevor sie zu einer Erzählung werden konnten. Die Gleichgültigkeit wurde größer.” Annie Ernaux will die Welt vor dem Vergessen retten, weil sie zunehmend in den Erinnerungen lebt. Sie will “etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.” Sie will “ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.”

Vor Jahrzehnten, als sie in ihrem Zimmer im Studenten­wohnheim das Bedürfnis zu schreiben verspürte, hatte sie gehofft, eine unbekannte Sprache zu entdecken, durch die sie mysteriöse Dinge würde ausdrücken können, wie eine Wahrsagerin. Das fertige Buch würde, so dachte sie, ande­ren ihr geheimstes Wesen enthüllen, es würde eine Glanz­leistung werden, die ihr Ruhm brächte – was hätte sie nicht darum gegeben, Schriftstellerin zu sein, so wie sie als Kind davon geträumt hatte, eines Morgens als Scarlett O’Hara aufzuwachen. Später, als sie vor erbarmungslosen Schul­klassen mit vierzig Schülern stand, als sie einen Einkaufswa­gen durch den Supermarkt schob, als sie auf einer Parkbank neben dem Kinderwagen saß, kamen ihr diese Träume ab­handen. Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wunder­samerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kommen würde, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Ver­fügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein.

“Die Jahre” ist, ähnlich wie Didier Eribons “Rückkehr nach Reims”, eine Soziografie, nicht so vordergründig politisch, die Person verbirgt sich im “man” der Gesellschaft. Man entwickelt sich ja nie allein, nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Die “Jahre” verliefen in Deutschland sehr ähnlich. Sonja Finck hat das sehr schön übersetzt. Man muss nicht 1940 geboren sein, man muss auch keine Frau sein, um “Die Jahre” interessant zu finden, vor allem die erste Hälfte.

2008             255 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

 

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