Nachrichten vom Höllenhund


Zeniter
25. Oktober 2022, 16:43
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Alice Zeniter:
Kurz vor dem Vergessen

Ein Schriftsteller hatte, in Francks Augen, die Aufgabe, seine Vorstellungskraft in den Dienst einer Vergrößerung der Welt zu stellen, statt sich darauf zu kaprizieren, sie zu verkleinern. Nun vermittelte ihm Donnell jedoch immer den Eindruck, eine Welt zu beschreiben, die er aus allzu großer Nähe gesehen hatte und ohne Liebe. Er schrieb wie ein kurzsichtiger Depressiver.

Der Roman spielt auf einer Insel auf den Hebriden, im Westen Schottlands, einsam im Atlantik. Dorthin hat sich der Dichter Galwin Donnell zurückgezogen, der aber als verschollen gilt. „Über zwanzig Jahre nach seinem Tod thronte Galwin Donnell noch immer an der Spitze der Welt der Kriminalliteratur und der Buchverkäufe, mit der gleichen Arroganz, dem gleichen unverschämten Vorsprung vor seinen Kollegen wie zu Lebzeiten. Tatsächlich hatte er gut daran getan zu sterben.“ Émilie hat zu ihm geforscht und organisiert dieses Jahr das Donnell-Kolloquium, zu dem sich Professoren und Studenten versammeln und das – selbstverständlich – auf dieser Insel stattfindet: Mirhalay.

Mirhalay war eine dunkle Schliere mitten im Wasser. Die Insel löste sich wie ein dicker grauer Pfannkuchen aus dem Meer, am höchsten Punkt von Gräsern überzuckert. Die Sonne brach an einigen Stellen schwach durch den Wolkenschleier, und das Licht zeichnete goldene Punkte auf die Kuppel, äußerst sanfte Fingerabdrücke, die sich im Wind bewegten.(…)
Wenn man von fern den Blick darüber schweifen ließ, zeigte sich die Insel zugleich bedrohlich und winzig, wie ein Modell ihrer selbst, das man für einen Piratenfilm gebaut und dann dort vergessen hatte. Ihre Geschichte war eine lange Abfolge des Vergessenwerdens.
Bewohner, die fortgegangen waren und vergessen hatten zurückzukehren. 

Eine Insel ist wie ein geschlossener Raum, da der Zugang und auch das Verlassen durch die Klippen schwer möglich ist. Wer da ist, ist da und gerät gegebenenfalls sofort in Verdacht. Alice Zeniter entwirft damit den Raum und die Personen, die mit der Situation, mit sich selbst und mit dem mystifizierten Galwin Donnell ins Reine kommen müssen. auf der Gedenktafel an der Rückwand der Inselkapelle steht, er sei „Misanthrop, Eremit & Schriftsteller“ gewesen. Gerade sein in Vermutungen versunkenes Verschwinden macht einen Macho wie ihn zum umstrittenen und deshalb fesselnden Objekt der Investigationen. Was ist der Grund seines Verschwindens – Mord? Selbstmord? Identitätswechsel? – Und was lässt sich über seine Frauen sagen? Für Frauen habe Galwin Donnell nur ein „vollkommenes und beängstigendes Unverständnis“ resümiert Émilie in ihrem Vortrag. Dennoch scharten sich manche um ihn. Der Inselverwalter Jock könnte mehr wissen oder ahnen.

Immer mehr stellt sich heraus, dass das Fabelwesen Galwin Donnell zwar Anlass des Kolloquiums ist, dass es aber daneben bzw. davor eine Insel-Agenda gibt, dass sich auch in der Gegenwart ein Ambiente des Verschwindens bildet. Émilie findet außer an ihrer Doktorarbeit auch Interesse an Professor Stafford. Franck, vielleicht noch ihr Ex-Partner, ist ihr auf Mirhalay nachgereist. Seine Reminiszenzen stoßen aber nur ins Leere. „Dass just in dem Moment auch Franck, Émilies Lebenspartner, aus Paris anreist, passt schlecht und bringt die Paarbeziehung in Schieflage. Franck hat nur die Nähe zu Émilie im Kopf, diese hat als Organisatorin des Treffens den Kopf aber anderswo.“ (Joseph Hanimann, SZ)

   Es war vorbei. Er sah es deutlich. Er konnte es formulieren. Nicht: Sie hat mich verlassen, sondern: Es ist vorbei. Denn er hatte sie ebenfalls verlassen, letzten Endes, indem er sich lieber versteckt, sich zu Jock geflüchtet hatte, statt mit ihr über das Vorgefallene zu sprechen.

Er hatte sie verlassen, indem er sie um ein Kind bat. Sie hatte ihn verlassen, indem sie antwortete: Doktorarbeit. Er hatte sie verlassen, indem er nicht zu ihrem Vortrag kam. Sie hatte ihn verlassen, indem sie die Stelle in Cambridge annahm. All ihre Momente   in letzter Zeit waren eine Abfolge winziger Trennungen    gewesen, die sie angeblich nicht hatten deuten können. Das   machte die Dinge nicht einfacher. Vielleicht wurden sie dadurch sogar noch hässlicher. Doch ab jetzt konnte er sie benennen.

   Sie kam an den Tisch zurück, stellte einen Teller vor ihn hin, und er begann, langsam zu essen, die Augen auf das Fleischragout geheftet, unfähig, die Frau anzusehen, die er liebte, von der er geglaubt hatte, sie für immer zu lieben, und die er bereits jetzt, in erstaunlichem Tempo, nicht mehr zu lieben begann.
   Er hatte seine Mahlzeit noch nicht beendet, als sie die Schreie hörten. (…)

Die Liebesgeschichte ist höchst einseitig: Die rational praktische Émilie, die Frau, lässt Franck innerlich leer und hilf- und planlos zurück. Alice Zeniter spielt mit der eigenen Fiktion. Sie legt Franck philosophische Spekulationen in den Kopf, mit denen er das Vergessen zu fassen sucht und schließt damit die „Liebe“ kurz mit dem Taumel der Natur auf der abgeschiedenen Insel und dem undurchsichtigen Entschwinden des Dichters.

Die objektive Welt existiert nicht. Wir erproben dort lediglich eine Abfolge persönlicher   Wahrnehmungen. Und wenn das Ich so stark angegriffen ist, dass es nicht länger wahrnehmen   kann, dann ist es die Welt, die zusammenstürzt. Das ist kein Sinnbild. Es gibt nicht auf der einen Seite einen Menschen mit gebrochenem Herzen, der glaubt, nicht begreifen zu können, wie ihm geschieht, und auf der anderen Seite eine objektive, ganz wirkliche Welt, die darauf wartet, dass er wieder zur Ruhe kommt, um ihm zu zeigen, dass sie immer noch da ist, um zu flüstern: »Siehst du, alles ist gut. Ich bin’s, die Welt. Ich war während deines Taumels    immerzu an deiner Seite.« Nein. Im Moment der Detonation verschwindet die gesamte Welt, weil es keine Instanzen gibt, die sie erfassen könnten.

Alice Zeniter zieht mit freundlicher Gelassenheit über den Literaturwissenschaftsbetrieb her. „Da war Solange Théveneau, Professorin der Komparatistik an der Sorbonne, die vor allem auf afrikanische Literaturen spezialisiert war, sich aber auch für die Thematik innerer Dämonen und für das Exorzismusvokabular bei Galwin Donnell interessierte.  (…) Da war Judith Maroon, Professorin der Gender Studies, knallige Halbrandbrille und altersloses Gesicht, die ihrem Tischnachbarn, Markus Mann, vom Vormarsch der Transidentität und dem Rückzug des Feminismus erzählte. Mann war ein Kriminologe aus Berlin, den sein Bauch in einigem Abstand zum Tisch hielt.“ Und alle spüren sie einem verschollenen kauzigen Krimischreiber nach. Und vielleicht auch anderen Objekten. Eine Insel ist dafür der perfekte Schauplatz. „Eine von Humor und Witz durchblitzte sanfte Traurigkeit schwebt über diesem Buch.“ (Joseph Hanimann) Magie und Ironie stehen sich manchmal ein wenig im Weg.

 2015 – 320 Seiten

Leseprobe beim Piper-Verlag

Alice Zeniter – Juste avant l’oubli (4:30 – französisch)

2-


Reza
28. August 2022, 17:20
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Yasmina Reza: Serge

„Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“

Die Geschwister Nana, Serge und Jean, der mittlere, alle um die 60. Nana ist unpassend verheiratet, Serge gibt sich als Griesgram, Jean ist der Erzähler und sollte als solcher ohne auffällige Eigenschaften bleiben. Dann sind da noch Kinder, Cousins, Ex-Partner, enge oder weitläufige Bekannte. „Mischpoke“ könnte man das im Jiddischen nennen, im Roman wird es zum „familiären Haufen“ erklärt.

Man kennt sich, weiß einiges voneinander, auch weniger Angenehmes. Man spricht miteinander, frei oder nicht ganz offen, gerne oder weil nichts anderes übrigbleibt. Man besucht sich, Anlässe gibt es – oft leider – genug. Familie halt, je umfangreicher, desto mehr Kommunikation, desto flacher oft auch das Gespräch. Krankheiten, Beziehungen, Kinder, Tod, Geburtstage. Yasmina Reza lässt mich am „Kuddelmuddel“ teilnehmen, obwohl mein Interesse an den Themen und Inhalten nicht größer ist als das des Familienhaufens aneinander. Die Familienverhältnisse sind unübersichtlich.

Dann kommt der Grund, weshalb Yasmina Rezas Roman von der Kritik begierig aufgegriffen und „vielgerühmt“ (Eigenwerbung) wurde. Josephine, die Tochter von Serge, kommt auf eine Idee: »Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.«
»Die haben leider zu.«
» AUSCHWITZ !«, schrie Serge auf. »Osvitz!! Wie die französischen Goys! … Lern erst mal, das richtig auszusprechen.
Auschwitz! Auschschschwitz! Schhhh…!«
»Papa …!«
»Alle können dich hören«, murmelte Nana.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Tochter Osvitz sagt! Wo hat sie das denn her?«

Auf Seite 83 treffen die Geschwister Nana, Jean, Serge und dessen Tochter Josephine in Auschwitz ein. Es scheint nicht so, dass Ausschwitz sich in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der vier Personen spiegelt, mehr geht es Yasmina Reza darum, angesichts des Konzentrationslagers die Personen und ihre Marotten vorzuführen. Der Holocaust stellt sich neben das „ziellose Geplänkel“ (Jörg Magenau, DLF), geht im Familientratsch unter. Serge, der selbstverliebte Nörgler, hält Erinnerung für schnöden Schein, für Fetischismus, die beiden Frauen fotografieren alles, naiv beflissen, Jean ist der zurückhaltende Vermittler.

Drinnen ist es sofort beklemmend. Jäh in eine  dunkle Höhle versetzt, hauteng mit Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen, ärmellose T-Shirts, bunte Turnschuhe, Shorts, Kombishorts,   Blümchenkleider, schieben wir  uns in  Minischritten unter einer niedrigen Decke auf den makabren  Ort zu. Durch  das grobe Gitter einer Öffnung sehe ich, in einem dünnen  Strahl aus Sonne und Staub, wie draußen Serge in seinem schwarzen  Anzug  auf  und ab tigert, er schaut den sich hineinschiebenden    Menschentrauben zu, stampft mit seinen Bergschuhen auf die  trockene Erde. Die Frauen, vom  Strom erfasst, habe ich aus den Augen verloren.
   Wir durchqueren den  Vergasungsraum, die Wände sind von Kratzspuren übersät, alle Kameras klicken, wir durchqueren den Verbrennungsraum,   hinter einer Absperrung  sehen wir die Ofen, die Gleise, die Metallwägelchen, aus Originalteilen nachgebaut (das habe ich beim Hinausgehen auf einem Schild gelesen), dann saugen uns das Licht und das Laub an den Bäumen ins Freie.
   Mit  aufgelöster Miene sagt Nana zu Serge, du solltest da reingehen.
   »Ich halte das Gedränge nicht aus.«
   »Die Kratzspuren der Fingernägel an den Wänden, unfassbar.«
   Serge zündete sich eine Zigarette an, Josephine gesellte sich wieder zu uns.
   »Die Spuren an den Wänden sind schrecklich, oder?«, sagte Nana.
   »Schrecklich«, sagte Josephine und machte noch ein paar Außenaufnahmen    vom   Krematorium.
   Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen?, fragte ich mich. Ich beschloss, mich nicht zu schnell von ihnen wahnsinnig  machen zu lassen. Wir betraten das eigentliche Lager.

Dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Manier das KZ den touristischen Besuchern präsentiert wird und mit welchen Motiven die Besucher anreisen, welche Funktion für sie das späte Gedenken spielen kann. Man kann das Unermessliche in Fotos wegsperren, man darf sich weigern hinzuschauen, wenn einen schon die Regelung des eigenen Lebens voll beansprucht. Yasmina Reza zeigt ein paar Weisen an, mit dem Grauenvollsten umzugehen, sie stellt sich aber nicht der Diskussion um eine „angemessene“ Bewältigung. Doch „Serge“ ist ein Roman, da haben die Personen Vorrang, auch wenn sie keine hehren Sorgen quälen, auch wenn sie ihr verbrauchtes Geschwafel, ihre Lebensbanalitäten in den Text hineintragen. Allerdings gerät der Roman damit in die Nähe der Marginalie und Langeweile.

Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort »Gedenken« berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Josephine. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob sie irgendwelche Bande mit unserer Mutter geknüpft hatte. Unsere Mutter hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen, und Josephine mit ihrer Ananas-Frisur verspürte offenbar das entgegengesetzte Bedürfnis. Während wir an Block z4a vorbeiliefen — da hatten wir ihren aufklärerischen Furor noch nicht außer Gefecht gesetzt —, informierte sie uns, dass es sich hier um das Bordell handele, dann kommentierte sie das Infoschild über das Lagerorchester. Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?, fragte ich sie. Die sind permanent, antwortete sie.

2021 – 205 Seiten

3-4

Leseprobe beim Hanser-Verlag

Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)

Bei Dieter Wunderlich gibt es eine Übersichtsgrafik zum Personal des Romans.

„Man muss es wollen“ – Kritische Rezension bei amazon



Beauvoir
30. Juni 2022, 15:48
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Simone de Beauvoir:
Die Unzertrennlichen

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.

Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem   Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.

Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.

   Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen.
   «Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?»
  «Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.»
  «Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.»
  «Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.»
  «Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!»
  «Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab.
  «Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.

Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)

Zaza und Simone

Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.

«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.»
  «Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage.
  Ich war wütend.  Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer!
  «Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.»
  Andrée sah sich um.
  «Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.»
  «War Ihre Großmutter sehr streng?»
  «Ja..»
  Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach.
  «Mama   sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.»
  Sie suchte meinen Blick.
  «Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?»
  «Aber ich liebe das Leben», sagte ich.
  «Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. »
  «Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.

Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.

Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.

  Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.

1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang

Lesung und Diskussion zur SWR-Bestenliste 12/2022 (Audio – 16 Minuten)

Svenja Flaßpöhler stellt das Buch im lesenswert-Quartett zur Diskussion (Video – 13 Minuten) Es geht auch um die innere Zerrissenheit Andrées und um die Natur.



Slimani
4. Dezember 2021, 17:24
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Leïla Slimani:
Das Land der Anderen

Wovor hatte sie fliehen wollen, um so weit zu gehen?

1956 wurde Marokko unabhängig, nachdem nationalistische Rebellen sich vor allem auf französische Staatsbürger wie auch auf Marokkaner einschossen, die auf Seiten Frankreichs im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Amine Belhaj stammt aus Meknès und diente als Offizier in der französischen Armee. Er lernt Mathilde kennen, heiratet sie und nimmt sie vom Elsass in seine Heimat mit. Vom Konflikt der jungen, großen, lebenshungrigen Französin mit der traditionell patriarchalischen Kultur im Marokko der Unabhängigkeitsbewegungen der 50-er Jahre erzählt Leïla Slimani in „Das Land der Anderen“.

Mathilde hat sich das nicht so vorgestellt, dass ihr Leben auf Haus und Kinder reduziert werden soll, dass sie neben ihrem körperlich kleineren Mann, dessen Bruder Omar, der zum Unabhängigkeitskämpfer wird, und der Schwiegermutter zum Objekt, zum Inventar der kargen Farm abseits der Stadt bestimmt ist.

  Als Heranwachsende hatte Mathilde niemals gedacht, dass es möglich wäre, ganz allein frei zu sein, es erschien ihr undenkbar, weil sie eine Frau war, weil sie keine Ausbildung hatte, dass ihr Schicksal nicht eng mit dem eines anderen verbunden wäre. Sie hatte ihren Irrtum viel zu spät erkannt, und jetzt, da sie es besser verstand und ein wenig mutiger war, war es unmöglich geworden zu gehen. Die Kinder ersetzten ihre Wurzeln, sie war wider Willen an dieses Land gefesselt. Ohne Geld konnte sie nirgends hingehen, und diese Abhängigkeit, diese Unterwerfung   machten sie kaputt. Wie viele Jahre auch vergingen, sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, und es war ihr immer zuwider, es war, als beuge sie sich und gebe sich geschlagen, wofür sie sich selbst verabscheute. Jedes Mal, wenn Amine ihr einen Geldschein zusteckte, wenn sie sich ein Stück Schokolade   gönnte, aus Naschlust, nicht aus Notwendigkeit, fragte sie sich, ob sie es verdient hatte. Und sie fürchtete, dass sie eines Tages, als alte Frau auf diesem fremden Boden, nichts besitzen würde und nichts vollbracht hätte.

Nicht nur aus traditionalistischen Gründen, sondern um sie (und sich selbst) vor den immer aufgeheizteren Rebellen zu schützen, zwingt Amine seine Frau sogar, zum Islam zu konvertieren und einen arabischen Namen anzunehmen.

Der Adoul hob den Blick zu Mathilde. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, musterte ihr Gesicht, dann ihre Hände, die sie aneinandergepresst hatte. Schließlich hörte Aicha ihre Mutter auf Arabisch sagen: »Ich schwöre, dass es keinen anderen Gott außer Gott gibt und dass Mohammed sein Prophet ist.«
   »Sehr gut«, erwiderte der Beamte, »und welchen Namen wirst du von nun an tragen?«
   Das hatte Mathilde sich nicht überlegt. Amine hatte von der Notwendigkeit gesprochen, sich umzubenennen, einen muslimischen Namen anzunehmen, doch in den letzten Tagen war ihr Herz so schwer gewesen, ihr Geist mit so vielen Sorgen beschäftigt, dass sie nicht an ihren neuen Namen   gedacht hatte.
  »Mariam«, sagte sie endlich, und der Adoul wirkte sehr zufrieden mit dieser Wahl. »So sei es denn, Mariam. Willkommen   in der Gemeinschaft des Islam.«

Aber auch Amine zollt Tribut für seine „Liebes“-Heirat. Er, dessen einziges Interesse dem Stück Land gilt, das er von seinem Vater geerbt hatte – „Er hatte Angst, dass er sterben und sein Versprechen, diesen Boden fruchtbar zu machen, nicht einhalten könnte.“ – fühlt sich immer stärker gedrängt, die Zuneigung zu seiner Frau mit national-traditionalistischen Gedanken zu verbrämen und damit selbst gewalttätig zu werden.Ein paar Wochen zuvor hatte er einen Waffenschein beantragt. Er hatte gesagt, es sei zum Schutz seiner Familie, auf dem Land sei es gefährlich, man könne nur auf sich selbst zählen. Mathilde hielt sich die Hände vor die Augen.  Das war das Einzige, was sie tun konnte. Das Einzige, was ihr einfiel. Sie wollte das nicht sehen, wollte den Tod nicht kommen sehen, von der Hand ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder. Dann dachte sie an ihre Tochter, an ihren kleinen Jungen, der seelenruhig schlief.“ Er war in Frankreich ein Held, zurück in Marokko gilt er als Verräter, steht wie Mathilde im „Land der Anderen“, falsch in der einen wie der anderen Welt.

Amine und Mathilde haben zwei Kinder, Tochter Aïcha und Sohn Selim, aber nur von dem Mädchen erzählt Leïla Slimani ausführlicher. Aïcha ist noch zu klein, um zu verstehen, wie sie zwischen diese Kulturen geraten ist und wie sie damit umgehen und leben kann. „Wir sind wie dein Baum – halb Zitrone, halb Orange – wir gehören zu keiner Seite.“ Ein „Zitrangenbaum“. Aïcha geht in eine christliche Schule in der Ville nouvelle, dem europäischen Viertel, das jede marokkanische Großstadt hat, sie hat helles krauses Haar, sie ist Klassenbeste. Sie ist eine in sich gekehrte Siebenjährige. „In ihrem unruhigen Schlaf hatten sie sich in eine Art Tier verwandelt, einen Einsiedlerkrebs, ein in seine Muschel verkrochenes Krustentier. Mathilde drückte ihre Tochter an sich, sie wollte sie verschwinden lassen und mit ihr vergehen. Schlaf, schlaf, mein Kind, das ist alles nur ein böser Traum.“

„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer Familiengeschichte von Leïla Slimani, Mathilde hat als Modell ihre Großmutter. Die gemischt kulturelle Familie gerät in die Wirren der Geschichte und der Politik nach dem zweiten Weltkrieg und in die Zeit der Entkolonisierung des Maghreb. Leïla Slimani zeigt eindringlich, wie sich die Tumulte in die Partnerschaft, die Familien hineinfressen, bis hin zur Verstörung der Kinder. Manche Kapitel, die zunächst wie Abschweifungen erscheinen, etwa die Erzählungen um Amines Bruder Omar, gewinnen ihre Bedeutung in der Verfugung der Ebenen. Die Perspektive orientiert sich am Blick auf die Personen. Slimani erzählt meist sachlich, die Schrecken gewinnen damit an Intensität, auch durch Vergleiche. Im Klappentext steht: „Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.“ Aber so stimmt das nicht. Sie kämpft, doch sie sieht ein, dass sie keine Chance hat, vor allem der Kinder wegen. Der Folgeband mag das korrigieren.

„Das Land der Anderen“: ob die Anderen nun männlich, arabisch, französisch, muslimisch, nationalistisch sind – sie sind jene, die bestimmen, wie die große Geschichte erzählt werden soll, in der wir alle in irgendeiner Rolle vorkommen. Aber Geschichte kann neu erzählt werden, ruft Leila Slimani – und tut es. Dem Antagonismus zwischen „den einen“ und „den Anderen“ setzt sie eine Position des entschiedenen „Dazwischen“ entgegen. Erzählen wird bei ihr zu: neu bestimmen, was zur Geschichte gehört.“ (Judith Heitkamp, BR2)

Glaubte sie es wirklich? War sie zu so einer Frau geworden? Einer von denen, die die anderen drängten, vernünftig zu sein, zu verzichten, die die Achtbarkeit über das Glück stellten? >Letztendlich<, überlegte sie, >hätte ich nichts tun können.< Und sie sagte es sich immer und immer wieder, nicht um zu klagen, sondern   um sich von ihrer Machtlosigkeit zu überzeugen und sich weniger schuldig zu fühlen.

2021 – 380Seiten

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Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Buchvorstellung bei ttt (ARD) – 6 Minuten

Gespräch und Lesung beim internationalen literaturfestival berlin  – 1:15


Mona Ameziane:
Auf Basidis Dach.
Über Herkunft, Marokko und meine halbe Familie.

Basidi ist der Großvater. Nicht nur der Monas. Sondern die allgemeine Bezeichnung. Basidi hat ein Haus mit Dachterrasse in Fès, Marokko. Es gibt auch eine Großmutter, doch die sitzt dement auf dem Stuhl und sagt nichts mehr. Großmütter nennt man Lalla.

Als Basidi stirbt, will Monas Familie zur Beerdigung nach Marokko kommen, doch ihre Mutter, eine Deutsche, hat Probleme.

»Es tut mir leid, dass wir nicht früher hier sein konnten.« Mein Vater sah uns an, schwieg einen Moment zu lange und murmelte dann in Richtung seiner Teetasse, dass das eh nichts geändert hätte. Ich wurde wütend: »Natürlich hätte es was geändert! Ich bin deine Tochter und Mama   ist deine Fr-«
  »Frauen sind hier bei einer Beerdigung nicht erlaubt, Mona.«
  Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Das konnte er nicht ernst meinen. Ich starrte ihn prüfend an.  Doch, er meinte es ernst, und diese Erkenntnis schlug ein wie ein zweiter Meteorit. Egal welchen Flieger ich erwischt hätte, egal wann ich hier gewesen wäre, ich hätte nicht bei Basidis Begräbnis dabei sein dürfen? Weil ich eine Frau war?

Mona Ameziane ist 1994 in Marl (NRW) geboren. Ihre Mutter ist Deutsche und hat bei einem Frankreich-Urlaub Monas Vater getroffen, einen als Architekt in Paris lebenden Marokkaner. Sie ist „im Ruhrgebiet aufgewachsen“ (Klappe) und arbeitet zur Zeit als Radiomoderatorin, sie spricht dreieinhalb Sprachen, ist deutsch sozialisiert.

Der wichtige Unterschied  zwischen mir und Menschen wie meinem Vater ist jedoch, dass ich im Alltag nicht nur nicht unter meiner Herkunft leide, sondern im Gegenteil sogar beruflich von ihr profitiere. (…) Das Label »jung, weiblich, migrantisch« ist für viele Redaktionen eine Mischung, die mittlerweile in dreifacher Hinsicht interessant klingt. (…) Es ist also durchaus wünschenswert, dass ein*e Journalist*in interkulturelle Kompetenzen hat, dadurch einen breiteren Horizont mitbringt, vielleicht sogar noch eine weitere Sprache, aber bitte keine Grammatikfehler und erst recht keinen Gebetsteppich. Arabischer Name, deutsches Mindset, beste Kombi. Et voilà: C‘est moi.

Sie will ihre marokkanischen Wurzeln kennenlernen, ihre „halbe Familie“. Ihre Cousine erklärt ihr: „Warum findest du dich nicht einfach damit ab, dass du keine Marokkanerin  bist? Du bist eine Deutsche mit etwas, das ich höchstens als marokkanische Würzung bezeichnen würde.“

Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie Sterben im Islam funktioniert.  Warum auch? Nur die wenigsten Kinder beschäftigen sich ohne konkreten Anlass freiwillig mit kulturellen Differenzen in Sachen Beerdigungsriten, und kaum ein Vater beginnt aus dem Nichts ein Gespräch mit den Worten: »So, meine liebe Tochter, jetzt klären wir mal ganz in Ruhe, was genau die Abläufe sein werden, wenn dein Großvater irgendwann tot ist.«
Im Islam gilt die Regel, dass eine verstorbene Person innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden muss, was nicht viel Zeit ist, wenn man bedenkt, dass Basidi mitten in der Nacht gestorben und der nächste Flug aus Deutschland erst am Mittag gestartet war. (…)
Mein Vater goss sich einen Schluck Tee ein, kippte ihn wieder zurück in die Kanne und fuhr fort:
Diesmal musste ich, in diesem Zustand aus Schock und Erleichterung, an allen vorbei nach vorne und meinen Vater zusammen mit meinem Bruder ins Grab legen.«
   »Im Sarg, oder?«, ergänzte meine Mutter.
  »Nicht im Sarg«, korrigierte mein Vater.
  »Nicht im Sarg?«, fragte ich.
  »Nicht im Sarg«, wiederholte er und ergänzte: »Basidi war nackt in ein Tuch gewickelt, und wir mussten unsere Schuhe ausziehen.«

Mona Ameziane erzählt Anekdoten aus ihren Besuchen in Marokko, teils mit ihrem Vater, teils von ihrem Austauschschuljahr bei einer wohlhabenden Familie in Agadir. Im Mittelpunkt steht die Stadt, Fès, eine Fahrt zum abseits gelegenen Dorf im Rif-Gebirge wird wegen des unwilligen Fahrzeugs abgebrochen. Sie widmet sich den oft für sie fremdartigen Zeremonien, etwa des Einkaufens, des Taxifahrens, des Teetrinkens, informiert auch über den dafür nötigen Zuckerimport Marokkos, sie sinniert aber auch über grundlegendere Themen: Alltagsrassismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, über Religion, über die

Familie. Darunter fielen in Deutschland mein Leben lang genau sieben Personen: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Großeltern, meine beiden Großtanten   und ein Großonkel, über den nur selten jemand gesprochen hat, und wenn, dann schlecht. War ich dagegen in Marokko, weitete sich der Begriff fast automatisch aus und war plötzlich mehr als nur ein Synonym für »enge Verwandtschaft«. Ich bin mir sicher, dass weniger als die Hälfte der Cousinen und Großonkel in LaIlas und Basidis Wohnzimmer tatsächlich mit mir verwandt waren. Nicht mal über zehn Ecken. Aber dem marokkanischen Verständnis nach entsteht Familie nicht nur durch gemeinsame Gene, sondern auch durch gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Probleme oder gemeinsame Grundstücksgrenzen. Vielleicht reicht in einigen Fällen sogar schon ein gemeinsames Mittagessen.

Der Vater im Gespräch übers Deutsch-Sein:

»Was heißt das eigentlich, sich deutsch fühlen? Das verstehe ich nicht. Wie fühlt sich ein Deutscher gegenüber einem Nichtdeutschen?   Muss man dafür christlich denken? Nein, weil es Religionsfreiheit gibt. Das heißt, du kannst eine andere Religion ausüben und trotzdem deutsch sein, allerdings musst du dann damit leben können, dass du wahrscheinlich ein paar Sachen anders machst als die Mehrheit. Muss man sich an Regeln halten? Ja, an das Grundgesetz und an die Trennung von Altpapier, Restmüll und Plastik und sobald ein Zentimeter Schnee liegt, schippe ich meine Einfahrt frei, egal wie unnötig ich es persönlich finde. Das macht mich aber nicht zu einem Deutschen. Ich folge nur den Regeln, von denen Deutschland sagt >Lieber Gast, wenn du zu uns kommst, dann mach das bitte.« Aha, jetzt wird’s interessant.
»Fehlt dir manchmal auch eine Tochter, die etwas marokkanischer ist?«
   Er setzt zu einem Grinsen an, hört aber sofort wieder damit auf, als er merkt, wie ernst ich bleibe.   »Nein. Wieso, hast du das Gefühl, du wärst nicht marokkanisch genug?«
   »Manchmal.«  
»Aber das ist doch kein festes Kategorien-System, in das man sich einfach einordnen kann, Mona.   Du bist so, wie du eben bist, und du hast das Glück, dass du auch Marokkanerin bist. Fertig. Ist doch super. Warum machst du dir da so viele Gedanken drüber?«
   Ich schaue ihn verwundert an.  Wieso klingt das so einfach aus seinem Mund?  
»Ich weiß nicht. Ich frage mich in letzter Zeit zum Beispiel wirklich oft, was anders wäre, wenn wir in Marokko und nicht in Deutschland leben würden.«
   Jetzt grinst er doch.   »Wahrscheinlich würdest du dann gerade nicht mit mir, sondern mit deiner Mama im Auto sitzen und zum ersten Mal durch ein abgelegenes Gebiet im Sauerland fahren, das du kennenlernen möchtest«, sagt er und fügt noch etwas hinzu, das auch den letzten Rest Schwermut aus dem Auto verdrängt: »Ehrlich gesagt, finde ich es gerade sehr gut so, wie es ist.«

Ein sympathisches, lebendiges, persönliches, versöhnliches Buch. Eine überlegte Mischung aus Reiseimpressionen und dadurch angeregte Gedanken einer jungen Frau. Als Leser fühlt man sich unmittelbar angesprochen, darf teilnehmen, mitbeobachten, mitdenken. „Ihr Buch nun ist ein spannender Hybrid, weil es sich um Identitätsfragen dreht, indem es eine für Deutschland immer typischer werdende Familiengeschichte erzählt. (…) Ihr Buch ist eine Einladung, sich gewissermaßen neben sie zu setzen auf diese Terrasse in der Altstadt von Fès. Und sich einzulassen auf die Eindrücke und die Erzählungen. Gerade dann, wenn man dort lediglich zu Gast ist.“ (Stefan Fischer, SZ)


In Kapitel 17 werden Schafe und Hühner geschlachtet.


»Okay, also hat Lalla früher geschlachtet?«, frage ich und bereue es noch im selben Moment, weil ich die Antwort erahne.
»Nein, das ging nicht …«
  »… weil sie eine Frau ist.« Mein Vater nickt.

Mona Amezianes vorgestellte Triggerwarnung: In diesem Kapitel wird ein Schaf geschlachtet. Einige Szenen sind sehr explizit und es wird viel Blut fließen.“

2021 – 220 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Besuch bei Buch: „Auf Basidis Dach“ mit Mona Ameziane (Zwischenmiete NRW) – 35 Minuten (Video)

Willkommen im Virtuellen Museum des öffentlichen Platzes Jemaa El Fna in Marrakesch / Marokko



Lustiger
16. September 2020, 18:55
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Gila Lustiger:
Die Schuld der anderen

Es gab zu viele widersprüchliche Informationen. Zu viele Ansatzpunkte. Zu viele Geschichten. Und doch spürte Marc, dass das alles irgendwie zusammengehörte. Nur wie? Er wusste es nicht. Wo ansetzen? Welcher Spur musste besonders nachgegangen werden? Was war vorrangig und was konnte vorläufig zur Seite gelegt werden?

Ich habe beim Lesen den Eindruck, dass die zu vielen Themen im Kopf von Gila Lustiger waren und dass sie in Marc Rappaport und über diesen in den Roman platziert wurden. Sie „irgendwie“ zusammenzubringen, wird Marc durch den Roman geschickt, er hat als Journalist mehr ermittlerische Freiheiten – und mehr biographisch motivierten Elan, als wenn er Kommissar wäre.

Pierre kannte ihn und kannte die Antwort. Seit fünf Jah­ren schrieb er, Marc Rappaport, Abiturient des renommier­ten Privatgymnasiums Stanislas, Spitzenschüler der Prepa Henry IV, Absolvent der Ecole Normale Sup&ieure und der Hochschule für politische Wissenschaften, kurz: je­mand, der alle selektiven Aufnahmeprüfungen aller Kader­schmieden der französischen Gesellschaft spielend bestan­den und gleich zwei »Grandes écoles« besucht hatte, seit fünf Jahren schrieb er nichts anderes als Meldungen und Artikel über Morde, Sexualverbrechen und Finanzskandale, und immer türmte er Fakten auf und begrub darunter jegliches Leben.

Der Faden durch den Roman: Eine junge Frau ist ermordet worden, die sich aus der Provinz nach Paris geflüchtet hatte und sich dort mit Sex-Diensten ihren Unterhalt erarbeitete. Der Fall liegt 27 Jahre zurück und wurde nicht aufgeklärt. Marc ahnt irgendwelche Verflechtungen in obere Wirtschafts- und Politikkreise, er beginnt erneute Nachforschungen, fragt sich durch eine Vielzahl irgendwie Beteiligter und (Gila Lustiger) hat dabei Gelegenheit, ein Kaleidoskop von Personen und Milieus zu durchleuchten: das Französisch-Sein, das Jüdisch-Sein, Pariser Arrondissements, Industrie-Gebiete, Schul-Systeme, Chemie-Konzerne, Milieus. Vertuschungen, Bestechungen, Abfindungen, Verstrickungen, Resignation. “Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.” (Klappentext)

Und so wird der Leser durch den Roman gezogen, von Gespräch zu Gespräch. Hin und wieder taucht im Hintergrund der Mordfall “Emilie” auf, zunehmend  verlagern sich Marcs Ermittlungen auf üble Chemie-Konzern-Praktiken. Um profitabler zu produzieren, setzen sie Arbeiter Giftstoffen aus. Als viele an Krebs erkranken, verzichten diese auf Klagen, damit der Konzern seine Schweinereien nicht in billigere Länder verlagert. Die “Skandale”sind immer und überall und allbekannt, (Der Konzern heißt im Roman Nutrissor, in Wirklichkeit “Adisseo”.), Gila Lustiger stellt sie als Recherche-Ergebnis von Marc Rappaport aus und nimmt damit den Leser nicht recht ernst. Was soll erwiesen, bewiesen, aufgedeckt werden? Dass der Journalist nicht aufgab, um sich selbst gerecht zu werden?

Wollte er etwa einen Ab­stecher zu den großen, metaphysischen Fragen machen? Nun, vielleicht nicht gerade das, aber zumindest wollte er dem nachgehen, was die endgültige Erfahrung des Todes in so einem Menschen wie Neuhart bewirkt hatte. Hatte der Mann Gewissensbisse? Hatte er all die Jahre danach an  “Emilienie T. gedacht? Hatte der Mord vielleicht sogar den Lauf seines Lebens verändert? War er ein anderer Mensch ge­worden? Oder hatte Neuhart die Prostituierte aus seiner Er­innerung gelöscht? Mit welchen Mitteln hatte er sich, wenn überhaupt, Frieden verschafft?
Fragen, Fragen, Fragen.

Er wusste von Nietzsche, dass sich für jeden Men­schen ein Köder fand, an den er anbeißen musste. Geld, Ehre, Macht, das waren alles nette Lockspeisen gewesen, und sie hatten diejenigen, denen er den Kampf anzusagen gedachte, satt gemacht. (…)  Epiktet hatte ihn gelehrt, dass es nicht die Dinge waren, die die Menschen beunruhigten, sondern die Meinung von ihnen. Nicht der Tod, sondern die Meinung, dass er etwas Schreckliches sei, ließ die Menschen seiner angesichtig bangen. Diese Herren würde daher nicht der Ruin, den er ihnen in allen Farben ausmalen würde, son­dern die Sorge, mittellos zu werden, in die Knie zwingen, nicht die tatsächliche Herabwürdigung, sondern die Vor­stellung von öffentlicher Demütigung, nicht die Bestrafung, sondern die Angst, in die Fänge des Strafvollzugs zu ge­raten. (…) Denn von Hobbes wusste er, dass man seine Gegner entweder durch rohe Gewalt oder durch Zusagen überzeugen konnte, sichzu ergeben, und dass es immer lohnend war, dem Feind die Vorteile einer Kapitulation vor Augen zu führen. Er brauchte sich nur einen dieser Schweinehunde herauszupicken. Einer würde genügen. Und Marc würde in aller Diskretion mit ihm verhandeln. Denn verborgene Vereinigungen wa­ren, so Heraklit, besser als offene. (Auch Hannah Arendt oder Max Weber werden zitiert.)

Als Marc alle alle befragt hat, stellt sich – angedeutet – heraus, dass die schuldigen „Anderen“ gar nicht so weit entfernt gewesen waren/wären.

Auf diese Wendung muss man aber sehr lange warten und so zerfließt der Skandal in zu viele Verästelungen. Die Seiten sind souverän vollgeschrieben, Lustiger hat umfassend recherchiert, wie sie in ihrer „Danksagung“ offenbart. Die Charakteristika des Genres sind versammelt: der anstachelnde und zugleich bremsende Vorgesetzte, der eifrige Praktikant als Zuträger, die emanzipierte Geliebte („Drei Wochen hatten sie ausschweifen­den Sex gehabt, so wild und aufregend.”), die genaue Beobachtung und Bescheibung von Schauplätzen und Personen: “Erst als Marc ihr gegenübersaß, unterzog er sie einer kurzen Musterung und stellte überrascht fest, dass sie nicht schlecht aussah, ja, sogar ausgesprochen gut. Sie hatte einen blassen Teint, ein fein geschnittenes Gesicht, eine Nase, die geradezu perfekt erschien. Sie war eine dieser Naturblondinen mit schimmerndem Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und man erriet unter ihrem etwas unförmi­gen Baumwollkleid, das nichts zur Geltung brachte, weil es nichts zur Geltung bringen sollte, einen sportlichen Körper. Sie war von einer zeitlosen Attraktivität, und doch fehlte es ihr an Sinnlichkeit. Aber gerade das machte sie in seinen Augen begehrenswert.
»Sie wollen also einen Artikel über unsere Schule schreiben?«, fragte sie.”
Die Autorin als Macho-Imitat.

Sicher war Charles Riant sich im Nachhinein nur in einem: Es gab keinen Rechtsweg, keinen Staat, keine regio­nale oder nationale Instanz mehr, die die Bewegungsfrei­heit des Kapitals, die Freiheit des Marktes einschränken konnte. Es hatte eine Umverteilung der Macht stattgefun­den. Und der Freiheit. Weltweit. Und niemand hatte diese Entwicklung aufgehalten oder auch nur bemerkt.

“Es sind Wut und Verzweiflung der Autorin, die diesen Roman durchziehen.” (Martin Ebel) Das Motto  hat sich Gila Lustiger von Marx geborgt:

Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc ., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde.

2015 – 490 Seiten

Leseprobe beim Piper-Verlag

Gespräch im Lizeraturclub des SRF (10 Minuten)

Druckfrisch: Denis Scheck im Gespräch mit Gila Lustiger (ab 4:30)

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Slimani
7. Dezember 2019, 17:48
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Leïla Slimani: All das zu verlieren

slimanialldasSie hat einen Mann, den Chirurgen Richard, den Sohn Lucian, 8 und nicht anders als andere Kinder, eine gut eingerichtete Wohnung in zentraler Lage von Paris , später ein Haus am Meer, sie arbeitet bei einer Zeitung. Adèle ist 36, weshalb reicht ihr das alles nicht? Weshalb riskiert sie, „all das zu verlieren“?

Ja, es muss im Leben mehr als alles geben. Die „Unruhe des Herzens“ ergriff Jennie, Adèle ist ergriffen von der Unruhe des Körpers, wobei beides nicht zu trennen ist. Sie treibt es weg von Mann und Kind und alledem, ohne das sie – auch – nicht leben kann.

Das Kind im Arm, steht sie auf und geht in die Küche. Sie ist euphorisch, wie Betrüger es sind, die man noch nicht entlarvt hat. Voller Dankbarkeit, geliebt zu werden, und starr vor Angst bei der Vorstellung, all das zu verlieren. Nichts erscheint ihr im Moment kostbarer als das beruhigende Brummen des Rasierapparates am Ende des Flurs. Um nichts in der Welt würde sie die morgendliche Umarmung ihres Sohnes aufs Spiel setzen, diese Zärtlichkeit, dieses Bedürfnis, das er nach ihr hat und das niemand sonst je haben wird. Sie bereitet Crepes zu. Wechselt schnell die Tischdecke, die sie, trotz des gelben Flecks in der Mitte, seit einer Woche nicht erneuert hat. Sie macht Richard Kaffee und setzt sich neben Lucien. Sie sieht zu, wie er in den Crêpe beißt, seine mit Marmelade verschmierten Finger ableckt.

Während sie darauf wartet, dass ihr Mann aus dem Bad kommt, nimmt sie ein Blatt Papier und beginnt, eine Liste zu schreiben. Dinge, die sie tun will, nachholen vor allem. Sie hat eine ganz genaue Vorstellung davon, was sie vorhat. Sie wird ihr Leben ausmisten, sich nach und nach ihrer Ängste entledigen. Sie wird tun, was von ihr verlangt wird.

Leïla Slimani beschreibt die Qualen ihrer Adèle absolut nüchtern und streng, sie bedient sich keines Weichschreibers. Obsessionen sind das zentrale Thema, der Leser wird gezwungen dabeizusein. Leïla Slimani analysiert nicht, sie gibt wieder. Der Leser wird veranlasst, genau zu sein, Puzzle-Teile zu erlesen, die Adèles Verhalten erklären könnten. Die Gedanken stoßen dabei auf manches: Auto-Aggressionen, um sich selbst zu spüren, Borderline-Persönlichkeit, deren Selbstwahrnehmung schwankt und die handeln muss, auch wenn sie sich selbst schädigt. Gemeinsam ist, dass sich mit den gesuchten Mitteln keine Er-Lösungen einstellen lassen, dass nur die Wiederholung ein wenig Ruhe für den Moment ermöglicht. Sucht nach Sex.

Wie Louise, die Kinderfrau in „Dann schlaf auch du“, ist Adèle abstämmige Nordafrikanerin. Leïla Slimani sagt das, versteckt es aber so, dass man es leicht überliest. Vielleicht ist es aber auch besser, das nicht zu beachten bzw, als Grund der Abweichung außer Acht zu lassen. Wie Louise ist Adèle eine Frau, die aus ihrer sozialen Herkunft kein Selbstbewusstsein entwickeln kann, die sich als Mensch minderer Klasse erlebt und Wege zur Kompensation sucht. In beiden Fällen ist das existenziell ambivalent. Louise bringt in einer Art erweitertem Selbstmord nicht nur das Wichtigste ihrer Arbeitgeber um, deren Kinder, sondern will auch sich selbst auslöschen. Adèle überwältigt den Mann/die Männer, indem sie sich ihnen unterwirft. Allerdings steht Adèle in der urbanen Mittelschicht, doch sie kann sich in deren Gewöhnlichkeit nicht einordnen, empfindet nur Langeweile.

Adèle hat Lucien aus demselben Grund bekommen, aus dem sie geheiratet hat. Um dazuzugehören und wie die andern zu sein. Indem sie Ehefrau und Mutter wurde, hat sie sich mit einer schützenden Aura der Achtbarkeit umgeben, die ihr keiner mehr nehmen kann. Sie hat sich einen Zufluchtsort für die angsterfüllten Abende geschaffen, einen bequemen Schlupfwinkel für die Tage der Ausschweifung.

Man darf keinerlei Würde haben, denkt Adele in dem Moment, als die Haustür geöffnet wird. Jemand hat den Aufzug gerufen. Sie rührt sich nicht. Schade, dass er nicht die Treppe genommen hat. (…) Sie will ihn, ihn und seine Frau und diese Ge­schichte und diese Lügen und die kommenden Nachrichten und die Geheimnisse und die Tränen und selbst den un­vermeidlichen Abschied. Er streift ihr das Kleid ab. Seine langen, knochigen Chirurgenhände berühren kaum ihre Haut. Seine Gesten sind sicher, geschickt, delikat. Er wirkt unbeteiligt und plötzlich wild, unkontrollierbar. Er hat ein sicheres Gespür für die Dramaturgie, stellt Adele erfreut fest. Er ist jetzt so nah, dass ihr schwindlig wird. Sein Atem lähmt ihre Gedanken. Sie ist weich, leer, ihm vollkommen ausgeliefert. (…) Einmal hat ein Mann auf ihre Scheide gespuckt. Das hat ihr gefallen.

Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, die Schreie, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlun­gen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Un­geheuers sein.

Das Interessante an Leïla Slimani ist, dass sie in ihrer Beschreibung drastisch radikal ist, schonungslos auch ihrem Personal gegenüber, der entwürdigten und sich entwürdigenden Frau. Das kann zum Weiterdenken führen. Das kann aber auch bewirken, dass man angesichts der Ausweglosigkeit verzweifelt. Wie lässt sich ein Leben führen, das zwei auseinanderstrebende Pole hat, das im Geheimen ablaufen muss, das alle Grenzen sprengt! Es kann einen auch kalt lassen. „Da ist nur die holzschnittartige Darstellung eines spießigen, geordneten Familienlebens und sein Gegenteil: Sex. All das kommt in einer den Inhalt spiegelnden, langweiligen Sprache daher.“ (Julia Friese, SPIEGEL)

Es hört nicht auf, Adele. Nein, es hört nicht auf. Liebe ist nichts als Geduld. Eine devote, ungeheure, tyrannische Ge­duld. Eine unsinnig optimistische Geduld.

Das mit uns ist noch nicht vorbei.

2014            220 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Buchvorstellung beim SWR Lesenswert-Magazin (Audio – 7:30)

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Emmanuelle Bayamack-Tam
22. November 2019, 17:12
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Emmanuelle Bayamack-Tam :Ich komme

bayamacktamEin Drei-Generationen-Missverständnis. Nelly, fast 90, ihre Tochter Gladys, zwischen 50 und 60, und die etwa 20-jährige Charonne erzählen von sich, ihren Leben und von denen, denen sie begegnen. Den Anfang macht Charonne und sie legt gleich richtig los.

Und außerdem weiß ich, wie ich ausse­he. Ich bin fett, ich habe blaue Lippen, Sommersprossen, die meine olivfarbene Haut verhageln, und von ihren Wurzeln an gezwirbelte Haare, die zwanzig Zentimeter von meinem kleinen maurischen Kopf abstehen. Selbst die Marseiller des 21. Jahrhunderts tun sich mit meiner Schnauze schwer, so, wie sie sich auch mit meinem Körper schwer tun, meinen zyklo­pischen Schenkeln, meinem Hottentottenhintern, meinen Trizeps eines Jahrmarktsherkules, meinem junonischen Bauch, und meinen Brüsten, meinen Brüsten vor allem, einem Bug, der die Passantenströme teilt, und mir bald Anzüglich­keiten sondergleichen einbringt, bald Ausrufe oder Nachge­pfeife, das noch schwieriger zu interpretieren ist, und in das höchstwahrscheinlich ebenso viel Bewunderung einfließt wie entsetzte Fassungslosigkeit.

Charonne wurde von Gladys und Régis als Adoptivkind aufgenommen, nachdem es mit eigenem Nachwuchs wegen “Spermaallergie” und allgemeiner Vertrocknung nicht geklappt hatte. (Sie wollten Charonne wieder zurückgeben – ihre “zweite Aussetzung” -,aber auch das misslang.) Charonne stellt ihre Fleischlichkeit selbsbewusst zur Schau. “Sobald meine schwarzen Warzenhöfe unter dem hellen Baumwollstoff eines T-Shirts hindurchschimmern, ein dem Kontrast geschuldeter Effekt, den ich mir nicht versage und den ich ausgesprochen erregend finde. Aber bitte, da haben wir’s, die meisten Leute ertragen keine Erregung.”

Sie stellt bei all ihrer Jugend und Unerfahrenheit klar die Defizite von Gladys, ihrer “Mutter”, und von Nelly fest. Als Leser kann man das für frühreife Überheblichkeit halten, man lernt ja Gladys und Nelly erst später in ihren eigenen Erzählungen kennen.

Gladys stellt sich dabei wirklich als die frustrierte Person heraus, die ihre Wünsche hinter sich gebracht hat, die in Bhutan Erleuchtung suchte und die jetzt vor dem Nichts ihrer Depression steht. Sogar ihr Mann Régis enttäuscht sie, indem er sich kaum von der gewappneten Sinnlichkeit von Charonne distanziert. Ihr ganzes “Leben” war auf Vermeidung und Kompensation aufgebaut: Anstelle der Lebenslust stand die Fetischisierung des Inventars, der ausgesuchten und teuren Ausstattungen. Gladys verdammt Charonnes Fleisch, Charonne erkennt das als Neid.

Ja, das ist genau seine Vorstellung: Dass wir unsere Tage in einem Dzong zu Ende bringen, versunken in Meditation und aller materiellen Güter und Sorgen enthoben, und ich habe immer gesagt, dass ich einverstanden sei, was aber nicht heißt, dass ich es auch damit bin, dass Charonne und ihr Gigolo unter unseren Decken schlafen, wo Regis und ich doch derart viel Zeit darauf verwendet haben, aus unseren durchforsteten Wandschränken oder bei den Antiquitätenhändlern Steppde­cken aus gaufrierter Baumwolle aufzutreiben, Kopfkissenbe­züge mit aufgestickten Disteln, indische Überdecken aus dem 19. Jahrhundert, Daunenbetten aus der Provence, wie man sie schöner nicht bekommt, und Laken in Hülle und Fülle, aus Leinengarn, Hanfgarn, Mischgewebe: Es gibt nicht ein Bett im Haus, dem unsere Funde und Stilsicherheit nicht zugutege­kommen wäre.

Sie wirkt willig, wie man williger nicht wirken kann, mitnich­ten weniger belästigt und noch weniger vergewaltigt, meine Tochter, die meine Tochter nicht ist – zumindest wenn ich dem Lustgestöhne glaube, das ihrem blauen Mund entfährt. Ich komme auch nicht einen Moment lang auf die Idee, kehrtzu­machen, die Tür zu schließen hinter dieser Vision ihrer Körper, die wie die Körper zweier See-Elefanten auf Packeis einer gegen den anderen schlagen. Denn sie sind beide elefantös, und das Schauspiel dieser von den vereinten Anstürmen er­griffenen Fleischwuchten neigt dazu, wen auch immer unan­genehm zu beeindrucken. (…) Ich bin der Meinung, dass die Fetten kein Sexualleben haben sollten.

Charonne durchschaut auch Nellys Lebenslüge. Nelly, 88, träumt immer noch ihrem Glamour und ihrem Ruhm als Schauspielerin in glatten Boulevardkomödien hinterher. Sie versucht ihren Verfall zu überschminken und lügt sich auch ihr Leben zurecht. Ihr erster Mann, Fernand, war viel älter und ein angreifender Liebhaber, der zweite, Charlie, war bloß schön, ansonsten fad und unbedarfter Rassist, jetzt ist er vertrottelt und gehört zum Hausinventar.

»Sie hat das im Blut: Da werden wir nicht dagegen ange­hen können. Schwarze, bei denen ist das so, das, das liebt den Schwanz! Je mehr sie davon kriegen, umso zufriedener sind sie! Und die fangen früh an, ich warne dich: In fünf Jahren wird man ihr eine Leine umlegen müssen, dieser Charon­ne! Ansonsten wird sie uns Krankheiten ins Haus schleppen! Oder von einem kleinen Bimbo schwanger werden. Du wirst schon sehen, und du wirst nicht sagen können, ich hätte dich nicht gewarnt!” Die ganze Familie war immer schon wohlhabend, ihre Häuser standen in vielen Regione, von Arbeit war nie die Rede.

Nelly labt sich durchaus am sichtluchen Aufblühen Charonnes. Der Roman lebt davon, dass sich die drei Lebensbeschreibungen, so unterschiedlich sie auch sind, überlagern und durchdringen. In den Angrenzung von den anderen werden deren Selbsttäuschungen und Verblendungen und Scheitern erst deutlich. Jede stellt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer privaten Welt, keine kann ihre Einbildung verlassen, ohne dass ihr Leben implodiert. Das wird von Kapitel zu Kapitel offensichtlicher und deshalb ist auch die – drittplatzierte – Jeremiade von Gladys am interessantesten.

Der Titel “Ich komme bezieht sich eindeutig auf Charonne, nicht nur des Alters wegen. Nellys Leitsatz hieße “Ich will nicht gehen”, der von Gladys: “Ich bin nichts”. Charonne hat an Schluss noch einen furiosen Auftritt.

bayamacktam3Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys
Smashing tits going hot
Tease your daddy driving wild wild nuts Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys Smashing tits going hotTease your daddy driving wild wild nuts So kill me, kill me

„Der diskrete Charme der Bourgeoisie, deren Übermaß an Reichtum die Gefühle verkümmern lässt, wird in diesem Roman erbarmungslos bloßgestellt – aber nicht moralisch verurteilt.“ (Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk) Eine überspitzte Komödie in drei Leben, spaßhaft böse, selbstbespiegelte Klischees. Das Großbürgertum im Verfall, bei Nelly im eigenen Leben, Gladys ist das Bürgertum schon zu groß und hohl geworden, sie sucht nach Sinn, hat das aber nie gelernt, die Mutter war anderweitig beschäftigt. Charonne ist in diese Familie gefallen, die Umtauschfrist war abgelaufen. Ihr gehört die Zukunft. Aber welche? Emmanuelle Bayamack-Tam ist offen für Andersartiges, will sich aber dessen Karikatur nicht verkneifen. Die Personen sprechen in ihrer eigenen Drastik, Charonne spart sich dabei selbst nicht aus. Im unbenutzten Arbeitszimmer der Villa haust ein „Besucher“, der den drei Frauen in unterschiedlicher Gestalt erscheint, gerade, wie sie ihn brauchen. Großmutter Nelly hat in einem Märchenporno das Dornröschen gespielt und ihre siebenjährige Tochter in die Vorführung mitgenommen. Das wichtigste Märchen ist aber „Petruschka“.

2015         400 Seiten

Diskussion im Literaturclub des SRF (Video 14 Minuten)

google-books-Leseprobe

Julia Amalia Heyer im SPIEGEL über „Ich komme“

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Ernaux
31. Januar 2019, 17:11
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Annie Ernaux:
Erinnerung eines Mädchens

ernauxmaedchen

Annie Ernaux’ „Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biographie des französischen Mädchens in den 40er/50er Jahren. (Le singulier universel) In der „Erinnerung eines Mädchens“ wechselt Ernaux in ihren Singular. „Die Jahre“ waren natürlich auch die Jahre der Annie Ernaux, die „Erinnerung“ ist allein ihre, auch wenn sie weiß, dass die Identität nur in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der Umgebung der Zeit gefunden werden kann.

Ich bin ein wenig irritiert vom Titel des Buches. Das französische „Mémoire de fille“ ist korrekt übersetzt, „fille“ bedeutet aber auch „Tochter“. Ob man eine 18-Jährige in Frankreich als „fille“ = „Mädchen“ bezeichnet, weiß ich nicht. Vielleicht mag es 1958, als Annie Duchesne (ihr „Mädchenname“ !) 18 wurde, noch so gewesen sein. Oder Annie sieht sich – auch im Rückblick – als Mädchen; das subjektive Empfinden der Konvention ist hier entscheidend, aber seinerseits bezeichnend.

Im Französischen fehlt der Artikel, auch der unbestimmte. In Deutschland war und ist man mit 18 kein „Mädchen“ mehr, man kann aber mit der Bezeichung spielen – oder kokettieren -, die Verballhornung „Mädel“ hat ihre eigene Geschichte. Das Alter mag eine Rolle spielen, die entscheidende spielt aber das Geschlecht. Auch hier hat das Französische eine divergierende Übersetzung.

Annie D stammt aus kleinbürgerlicher Familie und wurde in der streng-katholischen Klosterschule erzogen/geprägt. Über dem Bett der Eltern hing ein Bild der Hl. Thérèse von Lisieux. Sie „kennt kein Lied, in dem es nicht um Gott geht“. Mit 18 lebt sie in völliger Unwissenheit und Unerfahrenheit. „Sie hat kaum Kontakt zu Jungen, ihre Mutter hält sie von ihnen fern wie vom Teufel. Sie träumt von ihnen, seit sie dreizehn ist. Sie weiß nicht, wie man mit ihnen spricht.” „Wie ihre völlige Unwissenheit rekonstruieren, ihre Erwartung an das, was für sie das absolut Fremde und zugleich Wunderbare der Existenz ist – das Geheimnis, über das seit ihrer Kindheit getuschelt, das damals aber nirgendwo beschrieben oder dargestellt wird? “ Da müsste die Tür aufgehen, auf dass man hineintreten könnte ins Erwachsenensein. Ins Frau-Werden. „In dem Moment, als Annie Duchesne an diesem 14. Au­gust 1958 durch das Tor treten soll”, der “Tür zum Festsaal des Lebens”, und “diesmal tritt sie durch das Tor”, geöffnet in der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin eingestellt ist.

Drei Motive treiben Annies Initiation an, drei Motive, die sie ausgiebig wiederholt:

– das Bedürfnis, dazuzugehören in einer Gemeinschaft jenseits von Eltern, sozialer Schicht und Kirche. Sie sieht sich als „ein von der Kop­pel entlaufenes Fohlen, zum ersten Mal allein und frei, ein wenig scheu. Begierig darauf, ihresgleichen zu tref­fen, diejenigen, die sie für ihresgleichen hält. Die sie als ihresgleichen anerkennen werden”. Ihr “Bedürfnis, dazuzugehören, (…) weil das Glück der Gruppe größer ist als die Ernied­rigung, will sie weiterhin dazugehören. Ich sehe sie, wie sie den anderen gleichen will, bis zur vollständigen An­passung. (…) Sie ist neidisch auf den stolzen, solidarischen Korps, zu dem sie sich gruppieren, Jungen und Mädchen.”

– das Wissen, eine Grenze überschreiten zu müssen, d.h. sich hinzugeben. „Sie empfindet eine wohlige Angst und kann ihm nicht in die Augen sehen. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht.” Sie erinnert “die Lust, von ihm, H, entjungfert und besessen zu werden. Er sagt – Frage oder Befehl? -, sie solle ihm auf sein Zimmer folgen. Alles fügt sich ihrem Begehren, (…) sie überkommt ein irrsinniges Glück. Eine unglaubliche Verzückung. (…) Ihr Geliebter für alle Ewigkeit. Glück, Frieden, vollzogene Hingabe. Himmel und Erde werden vergehen, aber diese Nacht wird nicht vergehen. Die Nacht der Erweckung”. Mehr religiöses Vokabular, religiöses Empfinden geht nicht.

– die orale Ersatz-Befriedigung: vom übermäßigen Essen bis hin zur Fellatio, „nachdem sie ihm freiwillig einen geblasen hat”, (…)   er ist ihr immer einen Schritt voraus. Er schiebt sie nach unten, in Richtung seines Bauchs, steckt ihr seinen Schwanz in den Mund, (…) er allein ist Herr der Situation” Unausgesprochen: die Aufnahme des Leibes des Herrn. „Ich war nicht von dem Bett aufgestanden, auf dem ich mich nackt ausgestreckt hatte, zitternd, nur um im nächsten Moment von dem Glied eines Mannes geknebelt zu werden, dem ich vom nächs­ten Tag an eine abgöttische Liebe entgegenbringen wür­de.” Sie spürt „ein immenses, unaussprechbares Begehren, (in) der Erwartung einer heiligen Erfahrung und der Angst, (…) den verzweifelten Drang nach Haut.” „Sie isst immer mehr, genießt hemmungslos den Über­fluss an Nahrung, die freie Verfügbarkeit, empfindet dabei eine Lust, von der sie nicht mehr loskommt.”

Aber alles, das Begehren, die „Erfüllung“ (!), das Glück ist unsicher. Annie Ernaux muss sich dessen vergewissern, die Traumata verarbeiten, selbstständig werden, aufsteigen. Leichter als im realen Leben geht das im Ersatz: der Aneignung von Wissen und des (literarischen) Kanons, dem Lesen, der Mehrung der Klugheit: die Beste werden. Bücher schreiben. „Ich bin es, die schreibt.“ Die Scham aber bleibt.

Schluss mit dem dilettantischen Psychologisieren über Korporationen und Inkorporierungen. In der Diskussion wurde „Erinnerung eines Mädchens“ oft heruntergezogen auf MeToo-Niveau. Aber zum einen ist das Thema (versuchte? erduldete?) Vergewaltigung hier als Teil der Identitätssuche zu sehen. Das Interesse liegt auf der Verstörung des unvorbereiteten Mädchens, das sich mit mannstypischem Gebaren konfrontiert sieht, „dem universalen Gesetz der wilden Männlichkeit„, sich dem aber auch – aus anderen Motiven – selbst aussetzt. Die Jungfräulichkeit ist nur ein mystisch-religiös konnotierter Nebenaspekt. Zum anderen wird das Thema von breiten Erzählungen über Freund*innen und über die Spurensuche gerahmt. Für mich ist das eher langweilig.

Die Methode Ernaux’ erscheint ambivalent. Einerseits ermöglicht die reflektierte Präzision der Erinnerung verbunden mit dem ständigen Infragestellen der Gedanken verblüffende Einblicke in die sozial formierte Psyche der Frau als Mädchen. Andererseits nimmt sie dem Leser das Selbstdenken ab, betreut ihn beim Mitdenken, aber seine/ihre Phantasie wird unterlaufen. Das Private im Sozialen zu suchen, kann interessant sein, zuvörderst für die Suchende selbst. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.” Zu der 18-jährigen Annie D schafft sie Distanz, indem sie von ihr in der 3. Person spricht: „sie“. Nur so kann sie sie kontrollieren, nur so kann sie die geknebelte Scham ertragen und verarbeiten. Nur so kann sie ihr Erwachsenwerden beenden, kann sie zum „Ich“ werden. „Die Jahre“ suchen stärker im Sozialen, befriedigen aber wegen ihrer Tendenz und Möglichkeit zur Verallgemeinerung verständlicherweise meine Neugier nachhaltiger.

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P.S. Das Coverfoto präsentiert das Mädchen mit den Augen zwischen Selbstbewusstsein – Das bin ich! – und distanzierender Scheu. Das Changieren lässt mich an Mona Lisa denken. Frappant ist das danebengelegte Bild der Thérèse von Lisieux.

2018            165 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

Diskussion im SRF-Literaturclub     0:52 – 15 Minuten



Slimani
13. Januar 2018, 17:38
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Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr,was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?«»Denn jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können…«

FJODOR M. DOSTOJEWSKI Verbrechen und Strafe

slimaniLouise erobert sich neues Land, Feindesland. So klein sie ist, so breit macht sie sich in der arrivierten Familie, so perfekt organisert sie ihre geliehene Welt, dass sie nicht übersehen werden kann. Sie übernimmt Kinder, Küche, Haushalt: die Supernanny, Nounou, “eine Fee”.

In den Wochen nach ihrer Ankunft verwandelt Louise die unordentliche Wohnung in ein mustergültiges bürgerliches Zuhause. Ihre altmodische Art und ihr Perfektionismus set­zen sich durch. (…) Sie bessert Rock- und Hosensäume aus, flickt Milas Kleider, die Myriam schon ohne Bedauern wegschmeißen wollte. Louise wäscht die von Tabak und Staub vergilbten Vorhänge. Jede Woche bezieht sie die Betten frisch. Paul und Myriam freuen sich. Paul sagt zu Louise mit einem Lächeln, sie erinnere ihn an Mary Poppins. Er ist sich nicht sicher, ob sie das Kompliment versteht.

Nachts, gemütlich zwischen die sauberen Laken geku­schelt, lacht das Paar ungläubig über dieses neue Leben, das jetzt ihres ist. Sie haben das Gefühl, einen seltenen Schatz gefunden zu haben, sie fühlen sich vom Glück begüns­tigt. (…) Wenn Myriam abends nach Hause kommt, steht das Essen fertig auf dem Tisch. Die Kinder sind friedlich und ge­kämmt. Louise weckt und erfüllt die Wunschträume der idealen Familie, die Myriam selbst sich nur ungern einge­steht. Sie bringt Mila bei, ihre Sachen wegzuräumen, und die Kleine hängt unter den verblüfften Blicken der Eltern ihren Mantel auf. (…) »Louises Abendessen« werden zu einer Tradition, einem bei allen Freunden von Paul und Myriam beliebten Anlass. (…) Sie hat die stille Wohnung ganz in ihrer Gewalt, wie einen Feind, der um Gnade bittet.

Wenn sie nicht immer wieder zurück müsste in ihre einsame Kümmerlichkeit.Egal wie energisch sie die Scheiben alle paar Tage putzt, sie kommen ihr immer trüb vor, bedeckt von Staub und schwarzen Schlieren. Manchmal möchte sie sie blank reiben, bis sie zerbrechen.“ Das ist die Kälte in Louises eigener winziger Wohnung – eine auch soziale Kälte. Der Kontrast könnte nicht größer sein.

Am Abend, nachdem sie den Kindern die Pyjamas angezo­gen hat, hält Louise sich noch ein Weilchen in ihrem Zim­mer auf. Myriam erwartet sie in der Diele, aufrecht. »Sie können jetzt gehen. Wir sehen uns morgen.« Louise würde so gern bleiben. Da schlafen, am Fuß von Milas Bett. Sie würde ganz leise sein, sie würde niemanden stören. Louise will nicht in ihre kleine Wohnung zurückkehren. Jeden Abend geht sie ein bisschen später nach Hause und läuft mit gesenktem Blick durch die Straße, den Schal bis zum Kinn hochgezogen. (…)Als sie in ihre Straße einbiegt, die völlig verlassen da­liegt, fühlt sie sich dennoch beobachtet. Sie schaut sich um, aber da ist niemand. Dann bemerkt sie einen Mann, der im Halbdunkeln zwischen zwei Autos hockt. (…)Als sie im Bett liegt, kann sie nicht einschlafen. Sie hat immerzu diesen Mann im Halbdunkeln vor Augen. Sie wird den Gedanken nicht los, dass ihr das auch bald be­vorsteht. Dass sie sich auf der Straße wiederfinden wird. Dass sie gezwungen sein wird, selbst noch diese abscheu­liche Wohnung zu verlassen, und dass sie auf die Straße scheißen wird, wie ein Tier.

Da ist die Welt der mittelständischen Karrieremacher: Die „Bobos“ Paul und Myriam mit ihren zwei Kindern Mila und Adam, für die sie keine Zeit haben. Da ist die Welt der Kinderfrauen, die ihre Zeit mit den Kindern auf den Spielplätzen verbringen. Die Kinder hängen an ihnen mehr als an ihren Eltern, aber sie müssen sie wieder abliefern. Die Besitzverhältnisse sind festgeschrieben. Wenn die Kinder älter werden, werden die Kinderfrauen überflüssig. Louise will sich lange nicht eingestehen, dass sie ihr überkompensierender Perfektionismus nicht vor dem finalen Scheitern bewahren wird, dem Rückfall in ihr beschissenes Leben.

Die Besitzverhältnisse sind auch ethnisch kodiert. In Frankreich sind die Reichen Franzosen, die Armen auch, aber sie stammen oft aus Nordafrika. Nur ganz beiläufig erwähnt Leïla Slimani, dass hier Myriam Immigrantin ist, aber sie hat es geschafft. Sie grenzt sich nach unten ab: „Sie möchte keine Maghrebinerin als Kindermädchen einstellen. Diese Solidarität unter Immigranten, wie sie es nennt, war ihr schon immer suspekt.“

Die Eltern „ beschäftigen sich mit Trivialitäten, sind selbstgefällig, machen sich Sorgen darüber, ob sie gute Chefs sind. Sie sind darum bemüht, die soziale Kluft zwischen ihnen und ihren Angestellten zu überdecken, so sehr, dass Myriam sogar ihre neuen Kleider versteckt, weil sie fürchtet, sie könne die Nanny durch ihren eigenen (sehr relativen) Wohlstand demütigen. Wie es wohl für diese Frau ist, den Kindern so viel Liebe zu geben, alles mit ihnen zu teilen und dabei zu wissen, dass sie irgendwann, bald, gehen muss und dann schnell vergessen sein wird – darüber macht sich Myriam keine Gedanken“. (Annabelle Hirsch, FAZ)

Die Katastrophe steht im ersten Satz: „Das Baby ist tot. (…) Adam ist tot, Mila wird ihren Verletzungen erliegen.“ Der Roman steuert auf die Katastrophe zu. „Seit sie geboren sind, hat Myriam Angst vor allem. Am schlimmsten ist die Angst, dass sie sterben könnten. (…) Nachts träumt Myriam, dass die beiden plötzlich verschwinden, mitten in einer gleichgülti­gen Menschenmenge. Sie schreit »Wo sind meine Kinder?«, und die Leute lachen. Sie halten sie für verrückt.“ Das steht weit vorn im Buch, man könnte es überlesen. “Das Schick­sal ist verschlagen wie ein Reptil, es sorgt immer dafür, dass wir auf der falschen Seite landen.« Lousie lässt das “Glück” platzen, weil sie weiß, das sie keine Chance hat. Als Woyzeck Marie – aus Liebe? – tötet, sagt er sich: „Wenn ich dich nicht haben kann, dann auch kein anderer.“ Andreas Marneros nennt die Tötung aus Liebe den “erweiterten Suizid“. „Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner Liebe. Dabei meine ich (…) vor allem Mütter, die ihre Kinder und sich selbst töten.“ (Andreas Marneros, ZEIT) Chanson douce.

Louise hat keine Mitstreiter, ihre Bekannten sind alle Verlierer. Kinderfrauen haben Einzelschicksale, sie sind, bestenfalls, geduldet. Solidarität ist nicht zu erwarten, eine politische Lösung ist nicht zu sehen, das Ende muss psychologisch motiviert sein. Besser ein schreckliches Ende als ein endloser Angsttraum. Dass die Nanny “ihre” Kinder umbringt, kommt wohl vor, dennoch überzeugt mich die Entwicklung des Romans nicht. Das tragische Ende ist nur in der Romankonstruktion bemüht unausweichlich. Es kommt auch kein Mitleid mit Louise auf, das auf ähnliche ausweglose Situationen übertragen werden könnte. Es gibt viele andere prekäre Arbeitsverhältnisse, doch nur die Nounou lebt in der Welt des Wohlstands, gestaltet sich ihr Schlaraffenland selbst. In Frankreich führte die sozialpolitische Diskussion das Buch zum Prix Goncourt 2016, in Deutschland profitierte es vom Gastländerschwerpunkt der Buchmesse 2017. Leïla Slimani kam mit 18 Jahren von Marokko nach Paris. Der Roman ist mit seinen eingestreuten Vorausdeutungen geschickt angelegt, die Sprache holpert zuweilen, was aber auch an der Übersetzung liegen könnte. „War er endlich an der Reihe, von den abenteuerlichen Aufnahmen einer Hip-Hop-Band zu erzählen, stieß sie aus: »Du hast’s gut.« Er erwiderte: »Nein, du hast’s gut. Ich würde sie so gern heranwachsen sehen.« Bei diesem Spiel gab es niemals einen Gewinner. Nachts sank Paul neben ihr in den tiefen, wohlverdienten Schlaf eines Mannes, der den ganzen Tag gearbeitet hat. An ihr nagten Bitterkeit und Reue.” Hin und wieder stört mich der Umgang mit den Zeitformen.

Langsam bändigt Louise das Kind. Jeden Tag erzählt sie ihr Geschichten, in denen immer dieselben Figuren vorkommen. Waisenkinder, verirrte kleine Mädchen, gefangene Prinzessinnen und die verwahrlosten Schlösser schauriger Menschenfresser. (…) Woher hat Louise nur diese Geschichten? Sie strömen aus ihr heraus in einem unablässigen Fluss, ohne dass sie darüber nachdenkt, ohne die geringste Anstrengung ihres Gedächtnisses oder ihrer Phantasie. Aber aus welch schwarzem See in welch tiefem Wald schöpft sie diese grausamen Erzählungen, an deren Ende die Guten sterben, nachdem sie die Welt gerettet haben?

2016           222 Seiten

Video, Leseprobe, Links beim Luchterhand-Verlag

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Ernaux
7. Dezember 2017, 19:12
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Annie Ernaux: Die Jahre

ernauxdiejahre

„Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biografie einer 1940 geborenen Französin. Der „totale Roman“ sichtet die Jahre der Erinnerung und modelliert sie in den nationalen (und globalen) Wandel der Traditionen ein.“ In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir«”. Annie Ernaux’ Buch-Ich stammt aus niedrigen sozialen Verhältnissen, kommt aus der normannischen Provinz nach Paris, sie studiert und wird Lehrerin, sie betont sich als Frau, weitet ihr Subjekt in die Geschichte. Als Leserin erkennt man sich wieder. Nostalgie – aber mehr.

Annie Ernaux erinnert sich an die Lieder, die man hörte und sang, an Fernseh- und Radiosendungen und deren Personal, an Schule und Familie, immer wieder an die Familienessen mit ihren Tischgesprächen, sie rekapituliert Wünsche und Träume, Sorgen und Sex. Auf Fotos sieht sie sich selbst oder ihr ähnliche Mädchen und Frauen und sie liest aus der Kleidung, den Frisuren, Körperhaltungen oder Gruppierungen die Zeichen der Zeiten. “Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der ande­ren.”

Die Mädchen der vorderen Reihe sitzen auf Stühlen, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie sittsam geschlossen, die Füße fest auf dem Boden oder unter dem Stuhl, nur eine hat die Beine übereinandergeschlagen. Die Schülerinnen der mittleren Reihe stehen, die der hinteren sind auf eine Turnbank gestiegen. Von ihnen sind bloß die Oberkörper sichtbar. Die Tatsache, dass nur sechs von ihnen die Hände in den Taschen haben, was damals als Zeichen schlechter Erziehung galt, ist ein Hinweis darauf, dass das Gymna­sium hauptsächlich von Bürgerstöchtern besucht wird. Alle bis auf vier Mädchen blicken mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Das, was sie sehen – den Fotografen, eine Mauer, andere Schülerinnen? – ist für immer verloren.

Es gibt Zeiten des sanften Wandels, die in der Jugend viel zu langsam vergehen, und Sprünge, die Generationen leben ihr eigenes Leben, der “Fortschritt” ist nicht offensichtlich und nicht stetig. Die Tradition entlässt die Mädchen, ohne aber eine klare Perspektive zu öffnen.

Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit, bestimmt vom regelmäßigen Läuten der Glocke, den Klassenarbeiten nach jedem Trimester, den endlosen Interpretationen von Corneilles Cinna und Racines Iphigenie und der Überset­zung von Ciceros Pro Milone, hatten die wenigen Jugend­lichen, die weiter zur Schule gehen durften, den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte. Man schrieb Sät­ze von Schriftstellern über das Leben in ein Heft und ent­deckte, wie berauschend es war, sich in Wörtern wieder­zuerkennen, »existieren ist trinken ohne Durst.« Man war überwältigt von einem Gefühl des Absurden und des Ekels. Unsere klebrigen Körper trafen auf das »Geworfen­sein« des Existenzialismus. Man klebte Fotos von Brigitte Bardot in Und immer lockt das Weib in ein Heft und schnitz­te James Deans Initialen in sein Pult. Schrieb Gedichte von Prevert und Chansons von Brassens ab, je suis un voyou und La Premiere Fille, die nicht im Radio laufen durften. Las heimlich Bonjour Tristesse und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Das Feld des Begehrens und der Verbote wurde immer größer. Es eröffnete sich die Möglichkeit einer Welt ohne Sünden. Die Erwachsenen argwöhnten, dass uns die modernen Schriftsteller »verderben« würden und wir nichts mehr »respektieren« würden.

Aber: “Ihr Leben nach dem Abitur ist eine Treppe, die in den Wolken verschwindet.

„Die Jahre“ sind französische Jahre. Die erinnerten Namen sind in Deutschland (weitgehend) unbekannt. Es gibt andere Lieder, andere Filme, in der Schule wird eine andere Literatur besprochen, mit dem gleichen Ernst wie in anderen Ländern die jeweils nationale. Man sucht nach Parallelen und fragt nach Gemeinsamkeiten. Dadurch wird das Buch auch für deutsche Leser interessant. Deutschland erzeugt in Frankreich so wenig Spuren wie umgekehrt, sobald die Jahre der Weltkriege verblasst sind. Viel präsenter ist Algerien, sind die Präsidentenwahlen, welche die (fortschrittlich gesinnten) Franzosen in kleine Hoffnungen oder Resignation stürzen. Die Freiheit nimmt zu, gerade auch für Frauen, aber sie zeitigt andere Zwänge.

Erst in den 1950er Jahren bricht in Frankreich auch die Welt ein: Auf dem Plattenspieler drehen sich Bill Haley und Elvis Presley. Einen weiteren Einschnitt sieht Ernaux im Walkman (in Frankreich: balladeur) symbolisiert. „Mit dem Walkman drang die Musik zum ersten Mal in den Körper ein, man konnte in ihr leben, und die Welt blieb außen vor.” Die jungen Leute, also die eigenen Kinder, “befanden sich in einer ironischen Distanz zur Welt. Man be­wunderte ihre Schlagfertigkeit und Redegewandtheit und fühlte sich minderwertig, weil man Angst hatte, im Vergleich zu ihnen langsam und beschränkt zu wirken. Im Kontakt mit ihnen konnte man seinen Wortschatz erweitern, man hörte sich den richtigen Gebrauch der Jugendsprache ab und ergänzte sein Vokabular um Ausdrücke wie »geil« und »abgefahren«, sodass man die Dinge auf dieselbe Weise be­nennen konnte wie sie.”

“Die Ereignisse verschwanden, bevor sie zu einer Erzählung werden konnten. Die Gleichgültigkeit wurde größer.” Annie Ernaux will die Welt vor dem Vergessen retten, weil sie zunehmend in den Erinnerungen lebt. Sie will “etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.” Sie will “ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.”

Vor Jahrzehnten, als sie in ihrem Zimmer im Studenten­wohnheim das Bedürfnis zu schreiben verspürte, hatte sie gehofft, eine unbekannte Sprache zu entdecken, durch die sie mysteriöse Dinge würde ausdrücken können, wie eine Wahrsagerin. Das fertige Buch würde, so dachte sie, ande­ren ihr geheimstes Wesen enthüllen, es würde eine Glanz­leistung werden, die ihr Ruhm brächte – was hätte sie nicht darum gegeben, Schriftstellerin zu sein, so wie sie als Kind davon geträumt hatte, eines Morgens als Scarlett O’Hara aufzuwachen. Später, als sie vor erbarmungslosen Schul­klassen mit vierzig Schülern stand, als sie einen Einkaufswa­gen durch den Supermarkt schob, als sie auf einer Parkbank neben dem Kinderwagen saß, kamen ihr diese Träume ab­handen. Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wunder­samerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kommen würde, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Ver­fügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein.

“Die Jahre” ist, ähnlich wie Didier Eribons “Rückkehr nach Reims”, eine Soziografie, nicht so vordergründig politisch, die Person verbirgt sich im “man” der Gesellschaft. Man entwickelt sich ja nie allein, nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Die “Jahre” verliefen in Deutschland sehr ähnlich. Sonja Finck hat das sehr schön übersetzt. Man muss nicht 1940 geboren sein, man muss auch keine Frau sein, um “Die Jahre” interessant zu finden, vor allem die erste Hälfte.

2008             255 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

 

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Binet
25. Juli 2017, 16:55
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Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion

binetKommissar Bayard hat einen neuen Fall. Ein Mann ist von einem Lieferwagen mit bulgarischem Kennzeichen angefahren und lebensbedrohlich verletzt worden. Der Verletzte ist nicht irgendwer, sondern Roland Barthes, der bekannte (?) Wissenschaftler, einer der renommiertesten Poststrukturalisten. Also ein Mordversuch. Barthes soll ein Papier bei sich getragen haben, es soll sich um die rätselhafte 7. Sprachfunktion des Linguisten Roman Jacobson gehndelt haben, aber der Zettel ist weg. Bayard hat von (der) Wissenschaft keine Ahnung und heuert den jungen Studenten Simon Herzog als „Gehilfen“ an. Er soll ihm die Sprache der Strukturalisten übersetzen.

Das Aufklärungsduo erfüllt natürlich alle Klischees des Genres, doch sind die kriminalistischen Ermittlungen randständig, sie legen nur einen gefälligen Faden durch die persönlichen Wirrnisse der Wissenschaft. Immer, wenn sie mögliche Betroffene befragen wollen, ergeben sich skurrile Situationen, in denen die Heroen des Poststrukturalismus an unerwarteten Orten mit ihrer dort funktionslosen Sprache allein gelassen werden. Die Linie führt zu Barthes in die Intensivstation der Klinik, auf Foucault stoßen sie in der Männersauna, zu Umberto Eco fliegen sie nach Bologna, zu John Searle ans Ithaca College, zum Personal gehören auch Philippe Sollers und seine Frau Julia Kristeva, Bernard-Hénri Levy (BHL), Jacques Lacan und ihrer mehr. Im Tross finden sich undurchsichtige Japaner und Bulgaren und die üblichen maghrebinischen Strichjungen. Die Treffen gestaltet Binet als phantasmogorische Kasperltheater mit Drogen-Sex-Strukturalen Delirien, Walpurgisnächte national- und kulturstereotypischer philosophischer Hexenmeister. Die Ermittler werden eingestrudelt, die Frauen erfüllen ihre Rolle.

Auf einmal ist aus dem Krankenzimmer Lärm zu hören. Bayard macht die Tür auf, er sieht Barthes von Krämpfen geschüttelt, er redet im Schlaf, und die Krankenschwes­ter versucht, ihn zu beruhigen. Er spricht davon, wie der Text «bestirnt» wird: «Wie bei einem winzigen Erdstoß werden die Bedeutungsblöcke auseinandergetrieben, von denen die Lektüre nur die Oberfläche wahrnimmt, die un­merklich durch den Fluss der Sätze, durch den geschmei­digen Diskurs des Erzählens, durch das Natürliche der geläufigen Sprache zusammengeschlossen wird.»

Bayard lässt sofort Simon Herzog rufen, damit er ihm das übersetzt. Barthes wird immer unruhiger in seinem Bett. Bayard beugt sich zu ihm und fragt ihn: «Monsi­eur Barthes, haben Sie Ihren Angreifer gesehen?» Barthes schlägt die Augen auf, packt ihn am Nacken und erklärt mit verrücktem Blick, heftig schnaufend, von Angst zer­fressen: «Der Bezugssignifikant wird in eine Folge sich untereinander berührender kurzer Fragmente aufgeteilt, die wir hier, weil es Leseeinheiten sind, Lexien nennen. Diese Aufteilung wird, das muss gesagt werden, eine sehr willkürliche sein. Sie wird methodologisch nichts zu verantworten haben, denn sie betrifft den Signifikanten, während die vorgelegte Analyse sich nur auf das Sgnifikat ausrichtet …» Bayard sieht Herzog fragend an, der zuckt die Achseln. (…) Barthes ist nun am Rand der Hysterie und schreit, als ob es um sein Leben ginge: «Alles ist im Text! Verstehen Sie! Den Text wie­derfinden! Die Funktion! Ach, das ist zu dumm!» Dann fällt er zurück in sein Kissen.

Jacques Bayard und Simon Herzog, ein kleines weißes Handtuch um die Lenden gebunden, flanieren durch die Saunadämpfe, zwischen lauter schwitzenden Gestalten, die sich verstohlen berühren. Seinen Dienstausweis hat der Kommissar in der Umkleide gelassen, sie sind inkognito, denn falls sie ihn auftreiben, soll sich der Stricher mit dem Ohrring nicht erschrecken.
Eigentlich geben sie ein ziemlich glaubwürdiges Paar ab: der Ältere breitschultrig, behaarter Oberkörper, der mit inquisitorischem Habitus den Überlegenen gibt, und der schmächtige bartlose Jüngling, der verstohlene Blicke wirft. Simon Herzog, die Karikatur eines verschüchterten Anthropologen, weckt Begehrlichkeiten; die Männer, die ihm begegnen, mustern ihn lang und drehen sich nach ihm um, wenn er vorüber ist. Aber auch Bayard kommt ganz gut an. (…) Hinter Bayard sitzt ein Glatzkopf mit hagerem Körper und quadratischem Unterkiefer, nackt, die Arme über dem Kopf verschränkt auf einer Holzbank, die Beine breit, wäh­rend ihm ein gertenschlanker Jüngling mit Ohrring, aber kurzem Haar einen bläst. «Haben Sie etwas Interessantes gefunden, Herr Kommissar?», fragt Michel Foucault und mustert Simon Herzog. (…)Bayard: «Ich suche jeman­den, der Roland Barthes noch kurz vor seinem Unfall ge­sehen hat.» Foucault streichelt den Kopf des jungen Man­nes, der sich zwischen seinen Beinen zu schaffen macht: «Roland hatte ein Geheimnis, wissen Sie …» Bayard fragt, was für eines. Das Stöhnen in den Backrooms nimmt zu. Foucault erklärt Bayard, dass Barthes die Sexualität abend­ländisch verstand, also zugleich als etwas Geheimnisvolles und als etwas, dessen Geheimnis man auf die Spur kommen musste. «Roland Barthes», sagt er, «ist das Schaf, das Hirte sein wollte. Das war er! Und wie! Aber für alles andere. Für die Sexualität ist er immer Schaf geblieben.» Tierschreie aus den Backrooms: «Bäh -! Bäh -! Bäh -! Bäh -!»

«Denn die Wunschmaschinen bilden die fundamentale Kategorie der Wunschökonomie, bringen selbsttätig einen organlosen Körper hervor und treffen keine Unterscheidung zwischen ihren eigenen Be­standteilen und den Agenten noch zwischen den Produktionsverhältnissen und ihren eigenen Verhältnissen … » Die Worte von Deleuze durchkreuzen den Geist des jungen Mannes im selben Augenblick, wo sein Körper sich zusam­menkrampft, wo Biancas Körper abhebt, bis sie vollkom­men erschöpft über ihm zusammensackt und ihr Schweiß sich mit dem seinen vermischt.
Die Leiber entspannen sich in abklingenden Zuckun­gen.
«So ist die Phantasie niemals individuell, sondern Grup­penphantasie.»
Dem Behandschuhten gelingt es nicht, aufzubrechen. Auch er ist erschöpft, aber es ist keine gute Ermüdung. Er hat Phantomschmerzen in den Fingern.
«Der Schizophrene hält sich an der Grenze des Kapita­lismus auf. Er verkörpert dessen entwickelte Tendenz, das Mehrprodukt, den Proletarier und den Würgengel.»
Bianca erklärt Simon den Deleuze’schen Schizo und dreht dabei einen Joint. Draußen singen die ersten Vö­gel. Die beiden unterhalten sich bis zum Morgengrauen. «Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklä­ren.»

Man könnte aus dem Roman auch lernen, denn manches wird erklärt, so auch „die siebte Sprachfunktion? Si­mon, benebelt, wie er ist, merkt erst gar nicht, dass nicht etwa Bayard, sondern Eco die Frage gestellt hat. Bayard dreht sich zu ihm. Simon nimmt zur Kenntnis, dass Bi­anca ihn noch immer an der Hand hält. Eco blickt das Mädchen leicht lüstern an. (Alles kommt ihm leicht vor.) Simon versucht sich zu konzentrieren: «Wir haben allen Anlass zu der Annahme, dass Barthes und drei andere Per­sonen wegen eines Schriftstücks umgebracht wurden, das sich auf die siebte Sprachfunktion bezieht.» Simon hört seine eigene Stimme reden und hat dabei den Eindruck, da spreche Bayard.

Nach Austin ist jedes Sprechen ein Sprechakt, weil es zum einen darin besteht, etwas zu sagen, zum anderen aber auch ein illokutiver oder perlokutiver Akt ist, der über den rein verbalen Austausch hinausgeht, weil er etwas bewirkt, also eine Handlung zur Folge hat.
Es handelt sich um die Fähigkeit bestimmter Aussagen, im Sprechakt selbst das zu realisieren (Eco sagt «aktua­lisieren»), was sie aussagen. Wenn zum Beispiel der Bür­germeister «Ich erkläre Sie zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten» sagt oder wenn der Lehnsherr jemanden adelt mit den Worten «Ich schlage dich zum Ritter» oder wenn der Richter «Ich verurteile Sie» sagt, wenn der Vorsit­zende einer Versammlung «Ich erkläre die Versammlung für eröffnet» sagt, ja selbst wenn man jemandem «Ich verspreche es dir» sagt, dann tritt mit dem Aussprechen dieser Sätze bereits das ein, was sie aussagen.
Eco setzt seine Erläuterungen fort: «Also, stellen wir uns einmal vor, die performative Funktion würde sich nicht auf diese wenigen Beispiele beschränken. Stellen wir uns eine Sprachfunktion vor, die sehr viel extensiver ir­gendjemanden davon überzeugen könnte, irgendetwas in irgendeiner Situation zu tun.»
10 Uhr o6.
«Wer diese Funktion kennt und beherrscht, wäre prak­tisch der Herr der Welt. Seine Macht wäre grenzenlos. Er könnte sich bei jeder Wahl wählen lassen, könnte die Mas­sen mobilisieren, Revolutionen auslösen, Frauen verfüh­ren, jedes beliebige vorstellbare Produkt verkaufen, Impe­rien errichten, die ganze Welt betrügen, alles bekommen, was er will.»

Binet spielt und führt seine spielerische Kompetenz vor, indem er die Hohlheit der Aussagen verdoppelt, indem er den Figuren die Schauplätze zuweist, indem er die Koinzidenzen verwirbelt. Das Jahr ist 1980: Da kam Barthes ums Leben, da forderte ein Erdbeben in Süditalien fast 3000 Opfer, in Bologna lehrte Umberto Eco und sprengten Faschisten den Bahnhof in die Luft und töteten 85 Menschen. Binets Akteure sind immer mittendrin, was manchmal makaber ist. 1980 befand sich François Mitterrand im Wahlkampf mit Giscard d’Estaing und wird zur Romanfigur:

Giscard verhaspelt sich immer mehr.
Simon zieht sein Resümee: «Mitterrand hat die siebte Sprachfunktion gefunden.» (…)
Simon versteht. Mitterrands Ziel war ein Nahziel: Giscard im TV-Duell zu schlagen.“

Und hier wird’s etwas krude und der Roman entzieht sich selbst sein Fundament und löst sich in Verkrampfungen auf. Die Verknüpfung von Politik und Sprachtheorie ist ein arg oberflächlicher Gag, den Binet auch zu lange am Köcheln hält. Die Rhetorik-Duelle im “Logos-Club” spinnt er aus, wiederholt die Treffen in der Geheimloge mit ihren humorig-blutigen Ritualen, die Lust am Parlieren weitet sich vom Jargon der Linguisten ins Englische und mit Vorliebe ins Italienische. Der Roman strotzt von Anspielungen, Referenzen und Spitzen, alles wird zum Symbol, man überliest viel. Natürlich ist “Die siebte Sprachfunktion” zu lang, aber trotz sich ähnendeln Humormechanismen wiederholt vergnüglich.

Der Roman von Binet ist eine Satire. Man muss nichts von Poststrukturalismus oder Sprachfunktionen wissen, um ihn lesen und verstehen zu können, dass Binet die Philosophen und ihre Sprachperformanzen veruzt. „Binet überzeichnet seine Figuren dabei ins Groteske: Tendenziell taktlos und mit durchaus erfrischender Respektlosigkeit entlarvt er ihre Eitelkeiten, internen Hahnenkämpfe, festgefahrenen Konflikte und unerfüllbaren Geltungsbedürfnisse. Doch vom Grotesken zum Klamauk ist es immer nur ein kurzer Weg, und Binet lässt die Phantasie ein wenig zu oft mit sich durchgehen.“(Patrick Kilian, foucaultblog)

Simon Herzog ist zum Semiotiker avanciert: „Meiner Meinung nach gibt es zwei große Herangehensweisen. Die Semiotik und die Rhetorik, verstehen Sie? (…) Die Semiotik hilft verstehen, analysieren, dekodieren – sie ist defensiv, sie ist Borg. Die Rhetorik ist dazu da, zu überreden, zu überzeugen, zu besiegen – sie ist offensiv, sie ist McEnroe. (…) Die Semiotik ist wie Borg: Es reicht, den Ball ein einziges Mal mehr zurückzuspielen als der Gegner. Die Rhetorik, das sind die Asse, Volleys, Spin- und Longline-Bälle, aber die Semiotik, das sind die Returns, Passierschläge und Lobs“ .

2015            525 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

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Manotti
10. August 2016, 15:44
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Dominique Manotti: Letzte Schicht

manottiletzteschichtDer Wirtschaftskrimi hat ein Handicap.Wirtschaft ist System, Struktur, abstrakt. Man kann analysieren, Theorien erstellen, Prozesse offfenlegen. Der Roman aber braucht Figuren, Personen, Handlungsträger, Jean Paul hat das einst Charaktermasken genannt, Typen, die ihr Handeln für autonom halten. Aber anstatt „die Wirtschaft“ zu gestalten, werden sie vom System getrieben, es wird physisch.

Als Erstes möchte er fliehen, weit, weit weg. In die Mongolei, ein alter Traum, die kleinen Pferde mit dem waagerechten Hals reiten, dem Schneetiger mit seinem dichten weißen Fell und den schwarzen Streifen endlos hinterherjagen. Aber er flieht nicht. Mehrere besorgte Gesichter fragen ihn, ob es besser gehe. Viel besser. Sehr gut sogar. Ein kleiner Schwächeanfall wegen Überarbeitung, die Anreise auf leeren Magen, es ist nichts. Er hört sich mit den Zähnen knirschen. Ermittlungen der Börsenaufsicht dauern mehrere Monate. Bis dahin … Er weiß nur, dass bis dahin nichts mehr sicher ist und dass er Angst hat.

Die Möglichkeiten liegen darin, sich an die Stelle des Konkurrenten zu drängen, noch etwas brutaler, raffzahniger, korrupter zu sein. Das ist ihre Welt. Sex und Drugs und Geld und das selbstgeglaubte Gefühl, Macht zu haben. Accessoires, Talmi.

Dominique Manotti zeigt diese „Welt“ in ihrer hemmungslosen Dürftigkeit. Wer sich ihnen in den Welt stellt, liegt dort bald als Leiche, Geld ist rigoros. Natürlich kann auch Manotti das „System“ nicht darstellen, aber sie zeigt in all ihrer Realität die vom System Getriebenen und Gezeichneten. Sie zeigt, dass hinter den Mördern Männer stehen, die das System am Laufen halten, die es für legitim halten, dass ihnen dabei viel Geld zufließt. Manotti zeigt sie als Masken, sie lässt sie nicht davonkommen. „Die Wirtschaft“ juckt das nicht, sie dreht sich weiter.

Die „Letzte Schicht“ ist keine Fiktion, die Privatisierung des französischen Rüstungs- und Elektronikkonzerns Thomson sollte 1996 erfolgen. Lothringen ist weitgehend deindustrialisiert, das Kapital verfolgt sein Hauptanliegen, Arbeitsplätze sind rar und umkämpft, auch die Solidarität ist auf der Strecke geblieben, so etwas wie Klassenbewusstsein zuckt gelegentlich noch auf. (Didier Eribon beschreibt, wie es – nicht nur in der Region – in die rechte Ecke gedriftet ist.) Die Arbeitsbedingungen in der Thomson-Bildröhrenfabrik sind desolat. Ein Unfall soll die Abläufe nicht weiter stören, doch deckt er die brüchigen Strukturen auf. Wem gehört eigentlich die Fabrik, wer hat das Sagen, wer bezahlt die Arbeiter? Weshalb werden ihnen die zugesagten Prämien versagt? Es zuckt! Betriebsbesetzungen à la française, plötzlich brennt das Werk. „Die Polizei wird sich zunächst für die Arbeiter interes­sieren.”

Alcatel, Matra und Daewoo streiten um die Übernahme, Manotti nennt die Namen. Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass die geheimen Fäden ganz oben gesponnen werden. Die Gelder kommen von der EU und die Raffzähne sorgen dafür, dass sie nicht in der Region und bei den Arbeitern ankommen. Die “oberste Liga der Korruption”, „Blut und Tod, so weit entfernt und doch so nah an der Welt der großen Geschäfte. (…) »… Es war, als wäre die ganze Fabrik eine Kulisse, und wir führten ein Stück auf, ohne es zu verstehen …«”

Er grüßt ihn mit einem Knurren, lässt sich auf die Rückbank fallen und breitet die Titelseiten der drei französischen Tageszeitungen aus, Ein und dieselbe Meldung in allen Schlagzeilen: Landesweiter Streik und Demonstrationen der Beschäftigten von Thomson Multimedia gegen die Übernahme durch Daewoo. Erleichte­rung. Nicht nötig, die Artikel zu lesen. Was kann ein Streik schon gegen die großen Deals der internationalen Finanzwelt ausrichten? Nichts. Das ist bestenfalls lachhaft. Diese Leute wer­den es nie verstehen.
Er faltet die Zeitungen wieder zusammen. Dann kehrt die Unruhe zurück. Die Presse hat vor allem Daewoo im Visier, schon zum zweiten Mal. Ohne Deckung von Matra. Riskant. Mit diesem Schnüffler in der Nähe, der sogar schon bis zu Tomaso vorgestoßen ist. Der Kommissar sagt, er ist sauber. Aber dem kann man leicht ein X für ein U vormachen. Ich werde ihn noch mal darauf ansprechen. Er lässt sich zurücksinken und betrachtet bewundernd die in Nebel gehüllten letzten Ausläufer des Waldes, die sich auflösen, als sie mit der Stadt in Berührung kommen. Die Bäume färben sich rot, bald werden die Blätter fallen, und im Forst kann gejagt werden. Ich muss mit dem Wildhüter eine Runde durch den Wald gehen, um zu sehen, wo in der Grande Commune die Fasane sind. Die Zeit vergeht.

Dominique Manotti verflicht ihr Personal zu einem – wie in der Realität – oft unübersichtlichen Knäuel von Raffzähnen, lässt die Arbeiter und mehr noch die Arbeiterinnen hilflos zappeln und leiden und sterben. Das Glück ist fern und klein und kurz. Ein paar Reste von Guten gibt es auch. Rolande Petit, die aufrechte und attraktive Frau – wie lange kann sie widerstehen? Charles Montoya, der von außen kommt und als angeblicher Journalist viel herausfindet. Letztlich aber sinn- und nutzloses Wissen, denn der Fall kann und darf nicht gelöst werden. »Damit können wir die ganze Republik hochgehen lassen, was ja nun nicht unsere Absicht war. Alle würden dabei verlieren.« Immerhin führt es zu einem “peinlichen Rückzieher” (Die ZEIT zur Privatisierung des Thomson-Konzerns) der Regierung. Das Thema ist geparkt – beim “Alumniclub”.

Manotti schreibt im Arbeitstakt, heftig, sich überschlagend, präzise. (Mehr zu ihrem Stil hier.) Die Geschichte beschleunigt, kommt nicht voran und wird dadurch immer spannender. Ein Wirtschaftskrimi, nahe an der Realität, die man sich nicht so brutal vorstellen mag, die aber wohl jedes Klischee übertrifft.

Oberkörper richten sich auf, am Ende des Bands Rolande, prü­fender Blick, ob die Lötpunkte korrekt sitzen. Klack, zischsch, das Band läuft weiter, Kopf leer, Hände und Augen arbeiten von selbst, klack, eins, zwei, drei, vier, Blick drauf, klack, zischsch, zwischen zwei Röhren Aïshas Gesicht, abgespannt, zwanzig Jahre, könnte besser gehen, klack, eins, ging’s dir mit zwanzig besser, zwei, schwanger, sitzen gelassen, drei, Mutter Alkoholi­kerin, aggressiv, vier, lag dir damals schon auf der Tasche, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, leerer Blick, brutaler Vater, klack, eins, mein Sohn, Hände streichen übers Haar, zwei, übers Gesicht, liebevoll, drei, niemals in die Fabrik, nie, vier, lerne, lerne, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, die Arbeit, sie kann nicht mehr, klack, eins, seit dem Unfall, zwei, der Unfall, das Blut, drei, überall Blut, vier, der durchtrennte Hals, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha voller Blut, klack, eins, sie hat Angst, zwei, ich auch, drei, wir alle, vier, Angst geht um zwischen den Blech­wänden, klack, zischsch, Aïsha, ihr Vater, immer am Rumbrül­len, klack, eins, greller Blitz bei der Reihe gegenüber, bis zu den Neonröhren, eine Röhre brennt durch, ein Schrei, der auf dem höchsten Punkt abbricht, fast platzt das Trommelfell, Emilienne ist starr hintenübergekippt, Rolandes flache Hand schnellt von selbst zum Sicherheitsknopf, das Band bleibt stehen. Ein Kabel brennt bis hinauf zur Neonleiste, gelb-orange Funken und ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi, Gummi oder etwas anderem, zum Erbrechen.
Stille.

 

2006            250 Seiten

Rezension der crimi-couch

Perlentaucher-Rezension

Interview mit Dominique Manotti beim Argument-Verlag



Deck
18. April 2016, 18:14
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Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville

deckvivianeIhr Mann, Julien Antoine Hermant, ein Bauingenieur, wurde vor dreiundvierzig Jahren in Nevers geboren. Am 30. September hat er einer zweijährigen Ehehölle ein Ende gesetzt. (…) Sie haben mit vollkommener Gelassenheit den Schlag eingesteckt, der Ihnen die Rippen zertrümmerte. (…)Sie haben geantwortet Nein, ich bin es, die geht. Behalte alles, ich nehme das Kind, Unterhalt brauchen wir nicht. Sie sind am 15. Oktober ausgezogen, haben eine Kinder­frau gefunden, Ihren Mutterschaftsurlaub aus gesundheit­lichen Gründen verlängert, und am 16. November, also gestern, haben Sie Ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgend­wann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Mo­dell Santoku, umgebracht. »Die einmalige Geometrie der Schneide bietet eine optimale Stabilität und ermöglicht ein leichtes Schneiden«, präzisierte die Broschüre, die Sie in den Galeries Lafayette studiert haben, während Ihre Mutter das Scheckheft zückte.

Wer ist es, der Viviane anspricht? Wer weiß so viel und so Genaues von ihr? Genaueres, als sie selbst weiß. Genaueres, als sie selbst wissen will.

Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf‘ Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzu­nehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.

Offen gestanden sind Sie nicht einmal mehr sicher, vorhin in jene Wohnung zurückgekehrt zu sein, die Sie seit Jahren heimlich aufsuchen. Konturen und Mengen, Farben und Stil verschmelzen in der Ferne. Hat es diesen Mann, der Sie dort empfing, überhaupt gegeben? Außerdem, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen hätten, säßen Sie doch jetzt nicht untätig da. Sie würden umherirren, Ihre Fingernägel unter die Lupe nehmen, und die Schuldgefühle würden Ihre Ent­scheidungsfähigkeit lähmen. Doch davon keine Spur. Trotz jener Unschärfe, die in Ihren Erinnerungen herrscht, fühlen Sie sich sehr frei.

Weshalb sind Vivianes Erinnerungen nicht zuverlässig? Weshalb fällt sie mitsamt ihrer Gedanken in ein Loch? Läuft sie jetzt durch Paris, um sich selbst zu verstecken oder doch eher um sich wiederzufinden? – Julia Decks Roman changiert, stellt neben die überpräzisen Beschreibungen und Ortsangaben – “Viviane, die an der Station Michel-Bizot ausgestiegen ist, geht die Rue de Toul, dann die Rue Louis-Braille hinunter. Die Nummer 35 ist ein durchschnittliches, irgendwann in den siebziger Jahren errichtetes Gebäude” – die verlaufenden Konturen der biografischen Sicherheit, die Versuche der Frau, sich mit Verletzungen zu spüren, sich aufzuspüren, Halt zu finden in “diesem Körper, den ich nur für so kurze Zwischenzeiten bewohne“. Sie hat nicht nur ihren Mann verloren, ist nicht darauf vorbereitet, jetzt alleinerziehende Mutter zu sein, fühlt sich durch das Baby festgezurrt. Der Roman gibt keine Sicherheiten, auch nicht für den Leser, enttäuscht dessen Erwartungen. Vielleicht ist das ein Weg, der Frau nahezukommen, näher zumindest. Leicht macht Julia Deck es dem Leser damit nicht. “Die geistige Verwirrung der jungen Frau wird stilistisch dadurch umgesetzt, dass die Perspektiven von Erzählerin, Protagonistin und Leser sich verschieben und im Verlaufe des Buches verschwimmen.“ (Sebastian Riemann, belletristik-couch.de) Wenn es einen Mord gab, wird er nicht aufgeklärt, trotz polizeilicher Ermittlungen, den Kriminalfall unterläuft Viviane und ihre Autorin steht bei ihr, steht ihr bei, “Julia Deck bildet eine psychische Erkrankung ab“ (Mara Giese, buzzaldrins.de). Ein “überweit getriebenes Vexierspiel” (Niklas Bender, FAZ)

Man kann sich darauf einlassen, weiß aber am Ende doch nichts, spekuliert über die Psyche der Heldin. Ist man einer multiplen Person aufgesessen? Treibt Julia Deck doch bloß ihr modisches Spiel? “In ihren Wahrnehmungen und Fantasien gärt das Dilemma der Großstadtfrauen von heute, dieses explosive Gemisch aus überzogenen Selbstansprüchen und dem langen Arm der Traditionen, der männlichen Gängelungen.“ (Christoph Vormweg, Deutschlandfunk) Ist damit Viviane Élisabeth Fauville gemeint – oder Julia Deck?

2012     140 Seiten

 

Übersetzt hat den Roman Anne Weber, mit deren Roman „Tal der Herrlichkeiten“ ich nichts anfangen kann.

 



Sinha
23. Dezember 2015, 17:04
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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen !

sinhaWie die Autorin Shumona Sinha stammt die Erzählerin des Romans aus Indien; sie lebt in Paris und ist an ihrer Hautfarbe als Migrantin etrkennbar. Als Dolmetscherin in der Asylbehörde steht sie zwischen dem bürokratischen Apparat und den ehemaligen Landsleuten. Zu beiden fühlt sie sich nicht zugehörig; beide erwarten Loyalität zu den Gesetzen bzw. Verständnis für ihr Anliegen, die Anerkennung als Asylberechtigte. Dieses Dilemma reibt die Erzählerin auf, sie hält den Belastungen nicht mehr stand und lässt ihre Wut in der Metro an einem Migranten aus. Sie schlägt ihm eine Flasche über den Kopf und wird festgenommen. Erschlagt die Armen! (Titel eines Gedichts von Charles Baudelaire)

Mit ihrer Zwischenperspektive beleuchtet Shumona Sinha einen besonderen Aspekt der Migration nach Europa. Sie thematisiert den Zustand zwischen Weggehen und erhofftem Ankommen im „gelobten“ Land. Ihr Herkunftsland, das ist das „Land aus Lehm“, und sie werden es auch im glatten Europa nicht los.

Sie trugen ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Religion bei sich. Sie waren verstreute Ländereien einer Nation, die durch sie weiterexistierte, in der Schwebe, wie ein Luftschloss. Ihre unbesiegbaren, uneinnehmbaren, undurchlässigen Schlösser in der Stadt und um die Stadt herum.

Im Apparat der Behörde „kommen die Dolmetscher aus verschiedenen Kontinenten und Ländern zusammen, aber es ist eine falsche, eine trennende, unberechenbare Nähe. Stacheldraht zwischen uns. Niemandsländer zwischen uns. Den anderen zu kennen, wäre genauso riskant wie die Überquerung der Grenzen, Meere und Ozeane. Jeder ist eine Welt für sich. Jeder trägt eine ganze Welt in sich, eine chaotische Welt. Hinter dem Anschein von Ähnlichkeit sind die Bewohner des globalen Dorfs unendlich weit voneinander entfernt, vereint und gleichzeitig so allein. Manchmal laufen wir einander über den Weg. Die Industriellensöhne und die Söhne der Dorfimame, die Doktoranden und die Gemüseverkäufer, die Mitteleuropäerin und die Russin, die Albanerin und der Armenier, der Inder und die Singhalesin, die Bengalin und die Chakma, die Mongolin und der Nepalese, der Kongolese und der Tschader, der Kurde und der Araber, die Türken und die Araber, die Araber und die Pakistaner, alle waten in derselben Langeweile und lauern darauf, an die Reihe zu kommen und ihre Sprachengymnastik zu beginnen.

“Sprachengymnastik” nennt sie die verlangten und für die staatlichen Stellen eingeübten Methoden, sich mit den Lebenswelten auseinanderzusetzen. Die Dolmetscherin muss auf der richtigen Seite stehen, sie muss politisch korrekt handeln und sprechen, obwohl eine solche Korrektheit nicht vorgesehen ist.

Die Dolmetscher aus den ehrgeizigen, im Wandel begriffenen Ländern, aus den nachtragenden Waisen-Ländern haben sich geschworen, nicht die Speichellecker der Länder des Nordens zu werden.

Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte, aber ich versuchte trotzdem, ihm eine langsame Entwicklung verständlich zu machen, die nichts mit familiären oder beruflichen Zwängen zu tun hatte. Ich wollte ihm das versteckte Verlangen erklären, das Verlangen, das in endlosen Stunden des Lesens gewachsen war. Die Blendung. Die Trunkenheit. Bilder eines Lebens, getragen vom Strom einer fremden Sprache. Darin schwimmen und ertrinken. Auch mein Widerstreben gegen alles, das dieses Niveau nicht erreichte, das keine Erleuchtung brachte, das unweigerlich ins geistige Elend abstürzte.

Die Bewerber wollen nur eines: anerkannt werden. Darauf lassen sie sich vorbereiten mit den “Fabeln, die hinter der Bühne, in den Kulissen entstanden”. Doch der “Körper widerlegt das, was die Worte herbeireden. Ich wusste nicht mehr, wo der Körper aufhörte und die Sprache begann.”

Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen. (…) Ich hörte mir ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen an. Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.

In der genauen Beobachtung und der präzisen Sprache für die Leiden der Menschen auf beiden Seiten – “die Verschmelzung der Zivilisationen” nennt sie „die albtraumhafte Verwirrung“ – liegt das Besondere des nachdenklichen und eindringlichen Romans. Shumona Sinha findet viele Bilder für die Entwurzelungen, auch ihrer eigenen, ihrer „traurigen Wut„. Und sie sieht ihre Rolle als Frau – die arbeitet, was die Männer, mit denen sie konfrontiert ist, nicht verstehen können.

Eleutheria, die Freiheit, beschreibt die Möglichkeit zu gehen, wohin man möchte. Ob Tier oder Mensch, der Wunsch zu gehen, wohin man möchte, ist unveränderlich. Ob Grieche oder nicht, frei ist niemand. Sie waren es nicht, keiner der Männer, die wir in unseren Büros empfingen, war frei. Sie werden es niemals sein. Aber sie werden frei sein zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie werden frei sein zu sagen, was sie für ihre Wahrheit halten. Sprechen ist eine Freiheit. Eine magere, aber immerhin.

2011         130 Seiten

Leseprobe bei Edition Nautilus

SWR – Buch der Woche (mit Audio)

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Tuil
8. Juni 2015, 16:37
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Karine Tuil: Die Gierigen

tuil2Die Büchergilde druckt drei Herzen auf den Einband. Zwei Männer, eine Frau und die Liebe. Das kennt man und wenn die „Gier“ dazukommt, sind Ekstasen und Katastrophen garantiert. So verkauft man das Buch in Deutschland. „Mit einem Mal gerät das Zusammentreffen zum Duell: Zwei Männer begehren dieselbe Frau, ihre Blicke kreuzen sich, messen sich, beurteilen sich, analysieren sich, Statussymbole werden abgefragt und geheimste Gedanken offenbar. Was für eine Anspannung! Und dazwischen die Frau, deren Anwesenheit ein wahrnehmbares erotisches Knistern auslöst. Sie taucht auf, und alles steht unter Strom.

tuilIm Original heißt der Roman „L’invention des nos vies“, die Erfindung unseres Lebens – der Plural meint, dass jede Biografie, jede Identität Resultat eigenen Betreibens ist.

Alles im Leben ist eine Frage von Entschlossenheit und Absicht. Alles dreht sich um Gelegenheiten und Begegnungen und darum, Chancen zu ergreifen. Davon bin ich fest überzeugt, und ich gehe sogar noch weiter: Ich selbst bin der lebende Beweis dafür. Was tust du, wenn sich eine Tür schließt? Du klopfst an eine andere, und schlimmstenfalls trittst du sie ein …« (…)Ich hab mich neu erschaffen, verstehst du? Durch Willenskraft und eigene Anstrengung! Ja, auf der Grundlage einer Lüge, meinetwegen, aber der Erfolg ist ganz allein mein Werk. Die wichtigen Entscheidungen für mein Leben habe ich gefällt, meinen Karriereplan habe ich entworfen, ich wollte auf keinen Fall irgendetwas passiv erdulden!

Nina ist die Frau. Sie ist die schwächste und auch farbloseste Figur im Roman, weil sie sich nur als Objekt definiert. “Die weibliche Pflicht, begehrenswert zu sein, hat die rechtschaffene, etwas scheue Nina in eine artige Puppe verwandelt, dazu abgerichtet, Männern zu gefallen und sich der männlichen Ordnung zu unterwerfen.” Und das, obwohl (oder weil) Karine Tuil sie als die Inkarnation des Weiblichen skizziert.

Sie ist, völlig objektiv betrachtet, die schönste Frau, die er je gesehen hat, was ihn jedes Mal, wenn er sie offen oder verstohlen beim An- und Ausziehen beobachtet, aufs Neue bestürzt. (…) Sie ist hochgewachsen, hat schwarzumrandete Augen, feine Gesichtszüge und einen vollen, sinnlichen Körper. Ihr Hintern ist rund und fest, sie hat ein ausgeprägtes Hohlkreuz und lange Beine und ist erstaunlich muskulös, obwohl ihre wichtigste sportliche Aktivität darin besteht, der Regionalbahn oder dem Bus hinterherzulaufen. Ihre Gesten verleihen den geringsten Alltagsverrichtungen Glanz.

Nina hat ihre Identität an den Mann gebunden und stürzt ab, wenn der Mann sie nicht mehr halten will oder kann. Sie lebt zunächst mit Samuel zusammen, einem erfolglosen Schriftsteller, der, entgegen dem Titel des Romans, keine Gier kennt.

»Du bist schwach«, wirft (Nina) ihm vor, »das muss mal gesagt werden, du gibst dich mit so wenig zufrieden, du hast keinen Ehrgeiz und keine Träume, du bist und bleibst Mittelmaß, man kann dich einfach nicht bewundern, und manchmal kann man dich auch wirklich nicht leiden.«
Samuel hört zu und widerspricht nicht, er will – feige/ schwach/entwaffnet – die Diskussion vom Vorabend nicht wieder aufwärmen und tut so, als würde nichts ihr friedliches Zusammensein stören, er stellt sich tot, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück, zieht den Kopf ein: Ich halte mir die Augen zu, dann existiere ich nicht.

Samuel säuft ab, schreibt ein Buch über sein Leben und hat damit plötzlich einen Bestseller. Ausführlich reflektiert die Autorin die Bedingungen des Schreibens und des Buchmarkts, ein weiteres Thema des Buchs. Aber Nina ist weg. Samir, der alte Freund aus Studententagen ist wieder aufgetaucht und Nina geht mit ihm nach New York, denn Samir kann ihr alles bieten.

Er ist geistig und körperlich besessen von ihr und will nur eines: sie in Besitz nehmen. Er will immer nur bei ihr, in ihr sein. Bei Nina muss er sich nicht verstellen und kein stimulierendes Kopfkino inszenieren. Sobald er an sie denkt, ist er erregt. Er betrachtet sie und begehrt sie, das ist ein Automatismus. Manchmal kann er kaum glauben, dass sie alles für ihn aufgegeben hat und er nur zum Hörer greifen und ein paar Straßen überqueren muss, um sie zu sehen.

Samir ist die Zentralfigur, er verkörpert das, was man früher selfmademan genannt hat, er hat seine Karriere zum Top-Juristen in den USA geplant und alles eingesetzt, was sie befördert hat. Er hat dazu – und hier beginnt die Katastrophe – sich eine neue Biographie gegeben. Samir, Kind tunesischer Arbeiter aus den Pariser Banlieus, ändert seinen Namen in Sam, das ist unverfänglich und könnte auch für Samuel stehen, und so nutzt er die Biografie des früheren Freundes Samuel und erklärt sich zum Juden und kann damit die Tochter eines der reichsten und einflussreichsten jüdischen Bankiers der USA, Rahm Berg, heiraten und ist in der Tophierarchie angekommen. Da ihn die Ehe mit seiner Frau Judith nicht ausfüllt, holt er eben Nina nach, die Gier.

Das Doppelleben – eine herrliche Zeit, deren Intensität Samir Flügel verleiht. Er hat den Eindruck, als lebte er doppelt so leidenschaftlich und doppelt so schnell wie früher, er kommt und geht, läuft, liebt, lügt, verheimlicht, verschweigt, fabuliert, erfindet, manipuliert, spielt, überspielt, zieht sich aus Schlingen, ist nervös, aufgedreht, schläft kaum noch, aber welch ein Rausch! Welche Freiheit, sich in zwei Parallelwelten zu bewegen, in denen er als unumschränkter Herrscher waltet (so fühlt es sich jedenfalls für ihn an), ohne das Risiko, hintergangen zu werden, das sonst immer eine Begleiterscheinung der Macht ist.

Der Rausch kann natürlich kein Dauerzustand sein und so lässt Karine Tuil ihren Helden konsequent abstürzen. Und natürlich ist es die Erfindung seiner Identität, die ihm zum Verhängnis wird. Die Volte kommt überraschend, die Konstruktion des Romans wird hier arg strapaziert, macht ihn aber auch hochaktuell. Samir hat einen nichtsnutzigen Halbbruder, François, der, obwohl er der Sohn eines französischen Politikers ist, sich dem Dschihad zuwendet und bei Atttentatsvorbereitungen in Afghanistan gefasst und in die USA gebracht wird. Die Verbindungen zu Samir sind schnell erkannt und die Erfindungen des Lebens stürzen in sich zusammen.

Er sitzt rauchend auf einem Steinpfosten. Frei. Frei und glücklich. Der Ehrgeiz ist- tot, endlich. Der Ehrgeiz und der Erfolgszwang – dieses Damoklesschwert, das von Geburt an über dem Menschen hängt, diese Klinge, die die Gesellschaft jedem an die Kehle drückt, bis er keine Luft mehr bekommt, und die sie erst wieder wegnimmt, wenn sie uns vom Platz gestellt und disqualifiziert hat. Wenn sie uns ächtet. Dann kommt das große Aufräumen, dann wird ausgeholzt! Es ist etwas Befreiendes an dieser Verbannung, von der man nie weiß, ob sie nur vorübergehend oder auf Lebenszeit gilt, diesem Augenblick, in dem man in die Bruderschaft der Erledigten/Verkrachten/Abservierten aufgenommen wird, die durch ihr Alter oder ihren Misserfolg nicht mehr dazugehören, die Ungewollten, die Ungelernten, die Kleinen und die Schlichten, die Unbekannten und die Farblosen, die Arbeitslosen und die, deren Namen keiner kennt, deren Anrufe man ignoriert, zu denen man »nein« und »später« sagt, diejenigen, für die man nie Zeit hat und zu denen man nie liebenswürdig ist, die Luschen, die Grobschlächtigen, die Schwachen, die Wegwerf-Frauen, die peinlichen Freunde. Wie gut, wenn endlich die Angst vergeht, eine Enttäuschung zu sein, wenn der Druck der Gefallsucht und der vielen Regeln nachlässt, die man sich selbst auferlegt, weil man nach Individualismus/Ehre/Anerkennung/Macht/Opportunismus/Massenverträglichkeit strebt – all die verheerenden Folgen der gescheiterten elterlichen Träume/des Determinismus/der wahnhaften Utopien und nicht zuletzt die brutale Vorschrift, die in der Gesellschaft ebenso gnadenlos herrscht wie in den intimsten Beziehungen: Bringt LEISTUNG! Seid STARK!
Samir ist ihr unterworfen wie alle anderen, aber nicht mehr so unbedingt, da niemand mehr etwas von ihm erwartet, da er selbst nichts anderes mehr erhofft, als sich seiner wiedergefundenen Identität zu erfreuen. Die Klinge ist abgerutscht. Der Nächste, bitte!

Der Nächste wird das gleiche Schicksal erleiden, auch wenn Karine Tuil so eindringlich warnt. Der umfangreiche Roman ist Parabel auf die Hybris des Lebens im Gleißen des postmodernen Neoliberalismus. Ddie Personen haben prototypischen Carakter, grenzen an Karikaturen. Da Samir dafür Extrembeispiel ist, beansprucht er auch am meisten Raum, die anderen Personen geraten immer wieder für längere Zeiten aus dem Blick, doch fängt Tuil sie wieder ein. Die Erzählung gewinnt Präsenz durch die Gegenwart als Erzählzeit, denn nur sie zählt, auch die Erzählerin muss ständig anwesend sein, ständig alles unter Kontrolle haben. Nicht zuletzt um zu zeigen, dass sich diese Zwänge rächen. Die Angst, die Herrschaft über das Geschehen und die Personen zu verlieren, verführt Karine Tuil dazu, ständig zu analysieren, den Leser auf die korrekte Lesart zu verpflichten. Auch die Romanfiguren spiegeln sich, beobachten ihre Wirkung, ihr Scheinen, auf das es einzig ankommt. Um all ihre Anliegen unterzubringen, braucht Tuil schon die fast 500 Seiten, sie strapaziert damit aber auch den Leser.

Ralph Baudach empfiehlt in titel thesen temperamente (NDR) „Die Gierigen“ als „grandioses Sittengemälde unserer Zeit“. „Bester zeitgenössischer Realismus“, meint Catarina von Wedemeyer (in der taz). Karine Tuil selbst verweist auf Balzac.

Amüsant ist die Idee, Nebenfiguren in einer kurzen Fußnote vorzustellen. (* Jacques Duval, 54, seit dreißig Jahren in seinem Beruf Sohn des Concierge aus dem Ritz. Wurde »exakt« das, was er als Kind werden wollte.)

2013          480 Seiten

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