Er war zwar kein Chemiker, er war ein Hund, aber auch als Hund erkannte er eine dauerhafte Bindung auf den ersten Blick.
Elizabeth Zott ist Chemikerin. Das wäre an sich nicht schlimm. Von heute aus betrachtet. Aber Miss Zott betont es in allen Situationen, versteift sich gar darauf. Sagt es bei unpassend erscheinenden Gelegenheiten, etwa beim Kochen. Sogar ihre Küche sieht aus wie ein Labor: „Roth klappte vor Verwunderung der Mund auf, als er sich den Raum ansah, der mal eine Küche gewesen sein musste. Jetzt sah er aus wie eine Kreuzung aus OP-Saal und Gefahrstofflager.„
»Es war eine unsymmetrische Ladung«, erklärte sie und schob noch irgendetwas über die Trennung von Flüssigkeiten basierend auf deren Dichte nach, während sie auf ein großes silbernes Ding zeigte. Zentrifuge? Er hatte keine Ahnung. Er öffnete sein Notizbuch wieder. Sie stellte einen Teller Kekse vor ihm auf den Tisch. »Das sind Zimtaldehyde«, sagte sie.“
Elizabeth Zott ist eine attraktive Frau. Äußerlich. (Auch wenn sie Hosen trägt!) Innerlich reißt sie alles wieder ein, denn sie ist eine dezidiert rationale Frau. Mit ihrer entschieden spröden Art irritiert sie ihre Kontaktpersonen. Es ist ihr nicht wichtig, nett, angepasst zu sein, sie will keine Kompromisse machen, die schlecht für die Benachteiligten sind. Die Benachteiligten sind in den USA der 50er-Jahre: die FRAUEN. Das ist natürlich nicht nur zu dieser Zeit und an diesem Ort so, aber im Rückblick von heute aus war das so arg, dass man sich auf einen anderen Planeten gebeamt fühlt. (Obwohl ?)
Elizabeth Zott lächelt drei Mal im Roman. „»Lächeln?«, hatte Elizabeth erwidert. »Lächeln Chirurgen während einer Blinddarmoperation?“ Sie hat aber auch nichts zu lachen. Im Chemischen Institut in Hastings veröffentlich der Fachbereichsleiter ihre Forschungsergebnisse als seine eigenen, nachdem er sexuell übergriffig geworden ist. Als sie gefeuert wird, nachdem ihr beruflicher und privater Partner gestorben ist, verunglimpft er sie beruflich und als Person (Frau). Im Amerika der 50er-Jahre ist die Rolle der Frau festgeschrieben: Hausfrau und Mutter – Kinder, Küche, Kirche. Elizabeth Zott reagiert idiosynkratisch gegen alle drei. Sie will ihren Partner nicht heiraten, weil sie sonst nicht nur ihre Selbstständigkeit verlöre, sondern auch ihren Namen: Aus Elizabeth Zott würde sie zu Mrs Calvin Evans. Die Kirche verteidigt dieses System an vorderster Front. Elizabeth Zotts ganzes Denken ist wissenschaftlich angelegt, sie bezeichnet sich als öffentlich Atheistin, in ihrer Überzeugung meint das Humanismus.
Bonnie Garmus stellt der kühl berechnenden Frau Dialogpartner zur Seite. Im Gespräch mit Reverend Wakely kann sie sich über Gott austauschen. „Glauben Sie nicht, dass es möglich ist, sowohl an Gott als auch an die Wissenschaft zu glauben?«
»Sicher«, hatte Calvin zurückgeschrieben. »Das nennt man intellektuelle Unaufrichtigkeit.« Calvins Schnodderigkeit, die schon oft viele Menschen verärgert hatte, schien dem jungen Wakely nichts auszumachen. Er schrieb umgehend zurück. »Aber Sie werden doch gewiss einräumen, dass das Gebiet der Chemie nicht existieren könnte, wäre es nicht von einem Chemiker — einem Meisterchemiker — erschaffen worden«, hielt Wakely in seinem nächsten Brief dagegen. »Genau wie ein Gemälde nicht existieren kann, solange es nicht von einem Künstler erschaffen wurde.« »Ich befasse mich mit evidenzbasierten Wahrheiten, nicht mit Spekulationen«, antwortete Calvin prompt. »Daher, nein, Ihre Meisterchemiker-Theorie ist Schwachsinn.“
Das stammt zwar aus dem Briefwechsel ihres Partners Calvin Evans, entspricht aber auch Elizabeths Denken.
Dann ist da Harriet, ihre Nachbarin und Haushaltshilfe, eine verständnisvolle und sorgende Frau, die sie in ihre Privatsphäre lässt und der sie zur „Selbstermächtigung“ gegen ihren rabiaten Ehemann verhilft. Die früh- und hochbegabte Tochter Mad (eigentlich Madeline) sucht ihrerseits den Zuspruch, sie argumentiert wie eine Erwachsene, in der Schule ist sie völlig unterfordert, ihr Lieblingsort ist die Bibliothek.
Und, ein Schmankerl des Romans, da ist noch der Hund. Halbsieben. (Six-Thirty). Halbsieben ergänzt Elizabeth Zott in emotionaler Hinsicht. Der Familientherapeut. Er spürt, wenn die Personen, ob Mutter oder Tochter, Anlehnung suchen, er übernimmt Aufgaben, holt z.B. Mad (die er für sich „das Wesen“ nennt) von der Schule ab, er kennt Hunderte von Wörtern.
Halbsieben stand auf und trabte ins Schlafzimmer. Unbemerkt von Elizabeth hatte er kurz nach Calvins Tod damit begonnen, Hundekekse unter dem Bett zu bunkern. Nicht, weil er fürchtete, Elizabeth könnte vergessen, ihn zu füttern, sondern weil auch er eine wichtige chemische Entdeckung gemacht hatte, nämlich die, dass Essen half, wenn er es mit einem ernsten Problem zu tun hatte. (…) Wie wär’s denn, das Baby nach irgendwas aus der Küche zu nennen? Topf Topf Zott. Oder aus dem Labor. Pipette Zott. Oder vielleicht etwas in Richtung Chemie — vielleicht eine Abkürzung wie, na ja, Chem? Oder besser Kim. Wie Kim Novak, seine Lieblingsschauspielerin in Der Mann mit dem goldenen Arm. Kim Zott. Nein. Kim war ihm dann doch zu kurz. Und dann dachte er: Wie wär’s mit Madeline? Elizabeth hatte ihm Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorgelesen. Er konnte es eigentlich nicht weiterempfehlen, aber eine Stelle hatte er verstanden. Die Stelle mit der Madeleine. Dem Keks. Madeline Zott? Warum nicht? »Was hältst du von dem Namen >Madeline<?«, fragte Elizabeth ihn, nachdem sie rätselhafterweise Proust aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Er sah sie an, sein Gesicht ausdruckslos.
Das ist arg fabulös. Aber Halbsieben ist eine Stellvertreterfigur, da kann man das – nach anfänglicher Irritation – schon mal durchgehen lassen. Manchmal ufern die Diskussionen etwas aus: über das Mensa-Essen oder übers Rudern müsste man nicht so viel sprechen. Es zeigt sich aber, dass die vertretenen Positionen noch gebraucht werden, um das Bild von Elizabeth Zott abzurunden. „Eine Frage der Chemie“ ist ein Roman, in dem wir Frauen lesen können, wie „erfolgreich“ die „Emanzipation“- bei allen Einschränkungen – war und in dem wir von Elizabeth Zott ohne Unterlass und mit Nachdruck auf unsere Pflicht zur Eigenständigkeit erinnert werden. „Eine Frage der Chemie“ ist aber auch ein Roman für uns Männer, denn er zeigt uns, was für Arschlöcher Männer waren und sein können, wenn man sie lässt. Was für ein Glück, dass das heute ganz anders ist. 😉
Fast vergessen: Nach ihrem Rauswurf aus dem Chemielabor wird Elizabeth Zott: Fernsehköchin! In ihrer täglichen Show „Essen um sechs“ kocht sie nicht nur kompetent, sondern gibt den Zuschauerinnen auch Lebenshilfen und ermuntert sie zum Selbstdenken und zur Infragestellung ihrer tradierten Rolle. Das Publikum reagiert fasziniert, obwohl Elizabeth Zott auch das Kochen als Chemie verkauft. »Die Kartoffelschale«, dozierte Elizabeth zehn Minuten später, »besteht aus suberinisierten Phellemzellen, die die äußere Schicht des Knollenperiderms bilden. Sie stellen die Schutzstrategie der Kartoffel dar ...« (…)
»Fordern Sie sich heraus, Ladys. Nutzen Sie die Gesetze der Chemie und verändern Sie den Status quo.« »Denn wenn Frauen Chemie verstehen, begreifen sie zunehmend, wie alles zusammenwirkt.« »Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte er höflich und zeigte ihr seinen Presseausweis. »Was gefällt Ihnen so an dieser Sendung?« »Dass ich ernst genommen werde.« »Nicht die Rezepte?« Sie sah ihn fassungslos an. »Manchmal denke ich«, sagte sie langsam, »wenn ein Mann einen Tag als Frau in Amerika verbringen müsste, würde er gerade mal bis Mittag überleben.« Die Frau auf seiner anderen Seite tippte ihm aufs Knie. »Macht euch auf einen Aufstand gefasst.«
„Eine Frage der Chemie“ ist auch Stoff für Hollywood. Sehr amerikanisch, Elizabeth Zotts Rigorismus wirkt nur im Rückblick radikal, ihre Bekundungen und Appelle sind so allgemein formuliert, dass die heute kaum Anstoß erregen dürften, und wir können uns beim Lesen prima fühlen.
Danksagung: „Meine große Zuneigung und Dankbarkeit geht an alle meine Ruderteam-Kameradinnen von Green Lake und Pocock in Seattle. (…) Zu guter Letzt danke ich meinem Hund Friday, von uns gegangen, aber unvergessen, und dem allzeit stoischen 99.“
»Ich habe Sie mit hierhergenommen«, sagte sie zu Roth, »weil ich möchte, dass Ihre Leser eines verstehen: In Wirklichkeit bin ich keine Fernsehköchin. Ich bin Chemikerin. Eine Zeit lang habe ich versucht, eines der größten chemischen Rätsel unserer Zeit zu lösen.« Sie begann, mit offensichtlicher Begeisterung die Abiogenese zu erklären, von der sie mittels präziser Beschreibungen ein umfassendes Bild malte.
„Eine Frage der Chemie“ landete 2022 auf Platz 1 der Liste der meistverkauften Bücher in Deutschland. 2023 wird bei Apple TV+ in Serie „Lessons in Chemistry“ ausgestreamt.
Verena Rossbaccher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
»Ihnen gefällt meine Frisur?« »Ja. Ich wusste allerdings nicht, dass es ein Dutt sein soll, ich fand gerade gut, dass Sie, wo heutzutage jeder einen Dutt trägt, keinen Dutt tragen. Es war eine Frisur ohne Namen, das fand ich gut.« »Und jetzt, wo Sie wissen, dass es ein Dutt sein soll, finden Sie sie plötzlich nicht mehr so gut?« »Das kann ich so nicht sagen. Da es nicht auch nur im Entferntesten an einen Dutt erinnert, hat sich an meiner Sicht auf die Dinge nicht viel verändert.« »Ach so.« Ich schwieg.
In Verena Rossbachers „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ geht es um viele Nebensächlichkeiten. Aber ist das Leben nicht die Summe einer Unsumme solcher scheinbaren Marginalien: verbrannte Croissants, Ukulelen, Hochleistungsmixer, Schnittlauchsträhnen, Familienaufstellungen, Schokoriegel, der Heimlichgriff, Esoterikpraktiken, Chräbelis und ein Chäslädeli, Handke und der „Dutt“. Und Leonard Cohen. All diese Dinge und viele mehr tauchen immer wieder auf und das ist ein Strukturmerkmal dieses lebensklugen Romans. Ausnahme: „Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen.“
Charly Benz ist 43 und hat es bis jetzt nicht geschafft, Ordnung in diese kleinen Dinge zu bringen, ihr Leben zu strukturieren, das meiste gelingt nicht wie geplant bzw. es fehlt ihr ein Plan. „Ich versuchte, die verschiedenen Teile zusammenzusetzen, aber ich konnte es nicht. Es war nur eine Ahnung, wie alles miteinander zusammenhing, nichts, was ich denken konnte. Ahnungen sind nichts, was man denken kann.“ Selbstoptimierung ist etwas anderes. Charly Benz tappert durch ihr Leben und lässt die Leserin hautnah teilhaben. Vieles kennt man und freut sich, es so treffend und amüsant aufgeschrieben zu sehen. So die Haushaltsführungsprobleme eines Lebens, wie es Charly „durchsingelt“: „Alle nahmen sich vor, am Abend was Schönes zu kochen. Entweder sie schafften es nicht, was einzukaufen, oder sie waren doch wieder zu spät dran oder es war dann einfach nicht schön, weil nicht schmackhaft.
Nach zwei Kursen Kochen für Singles wusste ich haargenau, in welchen Mengen man einkaufen musste (Obst und Gemüse stückweise, Reis und Nudeln im Großgebinde) und welche Lebensmittel man vermeiden sollte, da sie von Einzelpersonen nicht schnell genug aufgebraucht werden konnten (feine, kalt gepresste Öle, Tomatenmark im Glas), ich war mir im Klaren darüber, dass Planung das A und O eines glücklichen Ein-Personen-Haushalts war, ich kannte alle Tricks für die, die einem stressigen Job nachgingen (vorbereiten und vorkochen, damit man unter der Woche immer was zum Aufwärmen zu Hause hatte), ich war, was die Singleküche anging, ein Profi und als Profi wusste ich eines nur zu gut: Es war nicht schön.“ „»Und ich denke«, sagte ich, »ich kann damit für meine gesamte Generation sprechen.«“ „Kochen lassen, bis das Wasser nicht mehr zu sehen ist.“
Charly Benz ist eine in ihrem und durch ihr Scheitern sympathische Hauptperson, die das Glück hat, selbst erzählen und ihre Sicht auf sich und die Welt in Frage stellen zu dürfen. Sie erinnert sich an vieles, auch Produktnamen, betreibt Trend-Dropping“, berichtet meist im Detail, wendet sich immer wieder an die Leserin und schon hat sie eine(n) für sich gewonnen. Verena Roßbacher stellt ihr auch einen romaninternen Gesprächspartner zur Seite: Herrn Herbert Schabowski, „einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell „PostEngel“ erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ). „»Ach, Herr Schabowski.« »Ja, Frau Benz.“ Sie siezen sich bis zum Ende.
Der Roman verliert im zweiten Teil – vorübergehend – das Heiter-Depressive. Es geht um Leben und Tod und nichts weniger. Schabowski erkrankt an Krebs, Charly erbt ein Hotel in Bad Gastein und empfängt ein Kind. Ein „Wutzi“, für das drei Männer als Vater in Frage kommen.
Weihnachten ohne Hunde ist gar kein Weihnachten. Ohne Hunde, ohne Kinder und auch sonst ohne irgendwen, so sollte Weihnachten, das Fest der Liebe, auf keinen Fall sein, und dann lud ich alle ein. Und mit alle meine ich: wirklich alle. Schabowski und das Triumvirat, bestehend aus Quandt, Gabler und Dragaschnig — gut, das verstand sich fast von selbst, irgendwie waren wir ja fast eine Familie, Schabowski als väterlicher Freund, die anderen als befreundete Väter. Dazu lud ich aber — wie ich fand, ganz schön progressiv und auch innovativ —, haltet euch fest, Georg mit den Hundekindern Anduin und Almina und den hotten Tanguero ein. Er hieß Bernhard, wie ich bei der heimlichen Durchsicht von Sybilles Telefon erfahren hatte — Bernhard, völlig unpassend natürlich für einen Tango-Latin Lover. Vielleicht wird jetzt jemand einwenden, dass ich damit das Risiko in Kauf nahm, dass die Stimmung irgendwann kippte, aber ich kann mit gutem Gewissen berichten: Bis Sybille den Abend sozusagen mit dem Arsch einriss, war er ein voller Erfolg.
Charly Benz erzählt die Geschichte(n) geschrieben wie gesprochen. Das schafft Nähe, Glaubwürdigkeit und Vertrautheit. Das verleitet auch zum Plaudern, zum Abschweifen, zum Werben um, „keine Ahnung“, Sympathie, „Dings“, Empathie. Der Roman wird 500 Seiten lang. Zu ausführlich beschäftigt sich die Ansprache – m.E. – mit den Methoden und der Bedeutung von esoterischen Systemen und yogatischen Techniken. Durchaus ambivalent, weil Charly Benz ja von Grund auf ironische Skeptikerin ist, sich angesichts segensreicher Wirkungen in harter Zeit – Geburt und Tod – zu einer wohlwollenderen Betrachtung bekennt. Die Frage, wer oder was die „Seelen demoliert“, verfließt in elegisches Wohlgefühl. „Face the Fear“.
Ich holte ein frisches Taschentuch aus der Packung und putzte mir die Nase. Wenn etwas eine Einbahnstraße ist, dann ist es schwer. Wenn man bei einer Geburt nicht mehr zurückkann, wenn es beim Sterben kein Zurück mehr gibt. Wenn man das, was einem bevorsteht, nur noch akzeptieren kann, das ist für Menschen so schwer.
Über den Gipfeln ging die Sonne auf, kräftig und zart zugleich, jeden Tag, immer wieder wie ein Wunder nach einer langen Nacht. Es war der 26. September, die Hagebutten färbten sich rot, die Brombeeren schwarz, als Herr Schabowski, mein PostEngel, mein Freund, mein Schabowski, aufhörte zu atmen und hinüberging in eine ungewisse Zukunft.
„Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans.“ (Kristina Maidt-Zinke) Es fehlt noch die Playlist für die besten Abspannsongs:
Ich habe festgestellt«, sagte er, als er die Hörer abnahm, »dass es so eine Art geheimes Genre gibt, nämlich die Songs am Ende eines Films. Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass die letzten Stücke oft die besten sind im ganzen Film? Und sie beeinflussen die Stimmung, mit der man aus dem Kino geht, den Film ausmacht.« Er schwieg, ich überlegte, mir fiel so spontan kein Song ein. Als läse er meine Gedanken, sagte er: »Queen Bee von Johnny Flynn, bei der Neuverfilmung von Emma.« »Jesus, ja«, sagte ich, ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch bei Hänse zu Hause, unser Duell mit den Laserschwertern, ich merkte, wie ich ein wenig rot wurde, »Queen Bee! Ein Hammerstück!« »Get Well Soon, Oh Boy. Where do you go to my lovely, Darjeeling Limited. Boccherini, Master and Commander, die Bearbeitung für Cello und Geige. Wonderful life, Der Vorname — das ist ein bisschen geschummelt, es ist nicht das Lied vom Abspann, aber das letzte Stück des Films. Chapel of love, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, If you want to sing out, Harold and Maude, Du hast den Farbfilm vergessen, Sonnenallee, Sound of Silence, bei —« Ich lachte. »Haben Sie eine Playlist der Abspannsongs lustiger Filme gemacht?« »Richtig, Frau Benz. Fast alle Filme, die wir zusammen geschaut haben, enden mit einem Stück, das mich froh macht und zuversichtlich. Das ist merkwürdig, nicht? Dass ich zuversichtlich bin, obwohl es zu Ende geht.« »Das klingt gut«, sagte ich. Ich dachte ein wenig nach. Musik war sowieso rätselhaft. Ich meine, erinnern Sie sich, vor Weihnachten war ich mir noch so sicher, dass diese magic songs sozusagen jeden Mann fällten, der mir über den Weg lief, oder besser gesagt: mich fällten, aber tatsächlich funktionierte das irgendwie nicht mehr. (…) Ich war natürlich einerseits froh, weil noch mehr Männer konnte ich einfach nicht unterbringen in meinem vollen Alltag, aber andererseits war ich auch ein wenig enttäuscht.
„Lustige Frauen, das lernen wir mit Verena Roßbacher, sind einfach unwiderstehlich!“ (Buchpreis Österreich 2022) Gilt das auch für Männer, die das Buch lesen? Spricht Verena Roßbacher nicht nur für die Generation, sondern auch für den Mann? Die frühe Charly Benz würde empfehlen, zum Lesen eine Flasche Wein zu trinken.
P.S.
Ich las ein Buch, Inhalt: egal, irgendwas mit Männern und Frauen und melancholischen Verstimmungen, und sehnte mich nach einer Zigarette und — whoppa! — plötzlich lief It’s all over now, Baby Blue in der absoluten Hammerversion von Them. Und klar, damit wir uns hier nicht missverstehen, auch ich finde, Bob Dylan ist der King und Them sind im Vergleich dazu ein paar unbedarfte Lakaien, gerade gut genug, sein Silber zu putzen, aber, ehrlich, bei Baby Blue haben sie einfach die Nase vorn. Haben Sie es im Kopf?
Aber ich habe Monsieur Principaux nichts mehr zu sagen. Aber ich schäme mich vor ihm. Aber ich hasse ihn auch, was meine Scham noch steigert. Aber ich kann das alles nicht mehr entwirren. Aber er tut mir leid, aber ich hasse ihn, aber ich schäme mich vor ihm wie vor Gott.
Person A ist mit Person B verwandt, befreundet, verheiratet, steht mit ihr in einem Arbeitsverhältnis. Es reicht, dass man mit einer/einem anderen zu tun hat, dass man sich auf sie/ihn eingelassen hat. Was man auch tut oder bloß denkt, das Gegenüber greift ins eigene Leben ein, man wird unsicher, verliert die eingebildete Souveränität. Person A und Person B geraten in ein Abhängigkeitsverhältnis, jede(r) sieht sich veranlasst, eine Rolle zu spielen. Die Freiheit ist dahin. Man hasst den anderen, weil man sich selbst hasst und man hasst sich dafür, dass man aus dieser Schleife nicht herauskommt. Scham gebiert Rache.
In Marie NDiayes „Die Rache ist mein“ gibt es mehrere solcher „Paare“ Manche sind sich näher, manche existieren nur in der Projektion, es kann sein, dass man sich Gegenspieler:innen sucht, um sich in der Abgrenzung selbst zu finden. Maitre Susane, die Anrede gebührt der Rechtsanwältin und wird im Roman mit „Me“ abgekürzt, Me Susane ist ins Zentrum des Geflechts platziert. Ihre Kontrahenten sind: – ihre Eltern – der (frühere) Freund Rudy – die Zugehfrau Sharon – M. Principaux – Marlyne Principaux. Es gibt Querverbindungen: Sharon etwa putzt auch bei den Principaux‘, ohne dass das Me Susane zunächst weiß, Sharon nimmt Rudys Tochter Lila in Obhut. Herr und Frau Principaux verstehen sich nicht: Der Kindermord variiert das Medea-Motiv.
Me Susane „wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden“. (…) Denn sie wusste von klein auf, dass sie nicht hübsch war. Sie wusste, ohne dass irgendwer je ein Wort darüber verloren hätte, dass der unabänderliche Mangel an Schönheit eines geliebten kleinen Mädchens dessen Eltern nur bitter enttäuschen konnte. Sie wusste auch, dass letztere eine paradoxe, aber gängige, fatale und daher verzeihliche Neigung haben, es dem kleinen Mädchen übelzunehmen, nicht hübsch zu sein, statt vielmehr ihren eigenen Mängeln die Schuld zu geben, die sich, durch den Fortpflanzungsprozess verstärkt, eklatant und beklagenswert im Gesicht und in der Gestalt des Kindes wiederfinden. Das wusste Me Susane seit jeher!
„Doch „ihre Eltern, Monsieur und Madame Susane, brachten Lila eine aberwitzige Liebe entgegen.“ Eine Rolle spielt dabei, wie immer bei Marie Ndiaye der soziale Status. Me Susane ist „proletarischer Herkunft“, die Mutter von Lila ist reich. Reich und einflussreich ist auch der Junge, der sich Me Susane als Zehnjährige ungebührlich angenähert haben soll. Ihre Eltern nehmen den Jungen in Schutz, Me Susane bildet sich ein, er sei der junge Principaux gewesen. Auch als Leser erhält man nur Andeutungen, was einen Reiz des Buches ausmacht, was aber die „Rache“ nur bedingt erklären kann. Als Rudy, der Freund und Kollege, „voller Bestürzung feststellte, dass er Me Susane nicht mehr mit der gleichen Leidenschaft liebte, als er erhebliche Fehler an ihr entdeckte und sich wahrscheinlich an der loyalen Zuneigung stieß, die sie ihm anstelle der hohen Liebe, die er ihr geschenkt hatte, entgegenbrachte, als Rudy ihr mit aller Vorsicht ankündigte, dass er daran gedacht hatte zu gehen, da belog sie ihn erneut durch ihre Tränen und ihre betroffenen Worte, um ihn zu schonen, wie sie meinte, denn er hatte die Rolle des sensibleren von ihnen beiden übernommen“.
Auch zu Sharon, der Putzfrau ohne Papiere, hat Me Susane ein ominös zwiespältiges Verhältnis. „Me Susane spürte von Anfang an, dass Sharon auf obskure Weise eine zutiefst verworfene Frau in ihr sah — einen Morast. Und das hasste Me Susane an Sharon. Me Susane fühlte sich dessen, was Sharons schlichte Intuition ihr unterstellte, so unschuldig, wie es die anmutigen, liebenswürdigen, erlesenen Kinder waren, auf deren Schultern Sharon demonstrativ ihren schützenden, puritanischen Arm gesenkt hatte. Dieser Arm war es, so dachte Me Susane zornig, das erbauliche Gewicht dieses Armes war es, was das ehrliche Herz der Kinder verdarb.“ Der Kontrast lässt sich nicht auflösen, verworfen steht neben liebenswürdig, ehrlich neben verdorben. Me Susane wird ihren rivalisierenden Gefühlen nicht Herr, sie ist von ihnen abhängig. „Sie fühlte sich stolz, auch wenn sie tief verletzt war. Da sie sich jedoch bewusst war, verletzt zu sein, verspürte sie darüber keine Scham.“
Eines Tages besucht Herr Principaux die Anwältin und bittet sie, die Verteidigung seiner Frau zu übernehmen. Marlyne Principaux hat ihre drei Kinder in der Badewanne ertränkt.
»Das hatte ich nicht vorhergesehen, ich wollte ihm doch nichts Böses tun, ich wollte niemandem etwas Böses tun, vor allem nicht meinem geliebten Kind!«, würde Marlyne voller Verzweiflung sagen, als sie sich an die Szene erinnerte.
Allen, die sie hörten, würde es unzweifelhaft erscheinen, dass sie sich bemüht hatte, diese drei Kinder, von denen sie versicherte, dass sie sie über alles liebte, nicht mehr leiden zu lassen als nötig (da für sie klar war, dass sie sterben mussten). (…) Von welcher Natur war diese Tat? Allein der Hass, sagte sich Me Susane, kann es jemandem erträglich machen, solche Gräuel zu begehen. Denn Marlyne, das musste man sich klarmachen, hatte ihren drei Kindern Folterqualen zugefügt, nicht wahr? Me Susane fühlte sich zutiefst aufgewühlt.
Me Susane besucht Marlyne Principaux im Gefängnis. Sie merkt, dass sie die Frau hasst und sich – gerade deshalb, weil sie in ihr eine gleich Bedauernswerte sieht, zu ihr hingezogen fühlt. Marlyne Principaux verliert sich in einem langen Monolog in ihren Gefühlen. „(Me Susane hatte die Hände in einer entschiedenen, freundschaftlichen Geste über den Tisch hinweg auf Marlynes Schultern gelegt, sie hatte durch den weichen Stoff des Sweatshirts hindurch die angespannten Muskeln dieser Frau gedrückt, die ihr Schrecken und Abscheu einflößte.“
Aber es ist Monsieur Principaux, den ich in seinem schmutzigen Badewasser hätte ertränken sollen. Stattdessen habe ich ihn von einer Last befreit, aber ja. Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber Monsieur Principaux ist zu einer tragischen Figur geworden, oder? Aber das ist nicht das, was ich wollte. Aber er sagt mir, dass wir danach wieder zusammen sein werden. Me … Me Susane, Verzeihung, aber sagen Sie ihm bitte, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will, weder jetzt noch danach. Aber sagen Sie ihm, dass ich ihn hasse. Aber sagen ie ihm, dass …«
In Lëila Slimanis „Dann schlaf auch du“ tötet die Kinderfrau Louise die ihr anvertrauten Kinder. Auch hier geht es um den “erweiterten Suizid“, die „Tötung aus Liebe“. „Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner Liebe. Dabei meine ich (…) vor allem Mütter, die ihre Kinder und sich selbst töten.“ (Andreas Marneros, ZEIT) Die Frau fühlt sich unterlegen, minderwertig, glaubt, den körperlichen und sozialen Ansprüchen nicht zu genügen.
Bei Slimani liegen die Gründe in den sozialen Verhältnissen, bei Ndiaye spielen diese auch eine Rolle, doch wird das übertüncht von den aus dem Ruder laufenden Emotionen. Der Roman verstrickt sich in den Obsessionen der Figuren und wird spätestens ab der Mitte für mich zäh, uninteressant. Das Erzählen verplempert sich in Wiederholungen, neu auftauchenden Figuren (wie das Kind Lila), Abschweifungen (wie die Reise Me Susanes nach Afrika, vorgeblich um Sharons Papiere zu besorgen). „Die Rache ist mein“ seziert nicht die Gesellschaft, er vertieft sich in subjektive Psychosen, die nicht durch den Arm-Reich-Gegensatz geschaffen werden, die aber ein Korrelat zu sozialen Problemen werden können. Eine „Krankengeschichte moderner Subjektivität“, einen „Psychoirrgarten“ liest Jörg Plath (Deutschlandfunk Kultur). Der Kindermord gerät immer wieder aus dem Blick, die Rache ist vielfach motiviert. „Keine der Figuren lädt zur Identifikation ein, alle sind voller Schatten und Geheimnisse, immer häufiger verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Halluzination und Wahn. So wie die äußere Welt von Nebel, Glatteis und arktischer Kälte bestimmt ist – Dunst, Nebel, Kälte, Eis sind die am häufigsten vorkommenden Wörter –, so sind die Beziehungen der Personen untereinander bestimmt von Heuchelei, Feindseligkeit und Hass. (…) Marie NDiaye ist eine Meisterin des Suspense, der Spannung, der Zweideutigkeit. Ihre Figuren sind ohne inneren Kompass, ihre äußeren Konturen zerfließen, der Leser bleibt ratlos zurück.“ (Barbara Machui, Der Standard) Auch die Erzählung selbst „zerfließt“. Mein letzter Roman von Marie Ndiaye.
Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.
Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.
Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.
Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen. «Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?» «Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.» «Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.» «Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.» «Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!» «Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab. «Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.
Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)
Zaza und Simone
Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.
«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.» «Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage. Ich war wütend. Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer! «Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.» Andrée sah sich um. «Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.» «War Ihre Großmutter sehr streng?» «Ja..» Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach. «Mama sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.» Sie suchte meinen Blick. «Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?» «Aber ich liebe das Leben», sagte ich. «Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. » «Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.
Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.
Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.
Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.
1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang
Womit aufhören, sagte er, wir machen doch gar nichts.
Eine gnadenlose Demontage des britischen Klassensystems – mit ruhig beobachtendem Adlerblick und in sarkastischer Reflexion – Eine stilbildende Erforschung mit verheerender Eleganz. Mit exzellenter Treffsicherheit – gewaltige Bedeutung – eine atemberaubende Autorin – Packendes Stück bester Literatur!
So steht es in den Publikationen, bevorzugt in englischsprachigen. Aufgeblasen wird da immer. Doch die „Zusammenkunft“ („Assembly“) ist keine Analyse, muss nicht treffsicher sein, da es sich im Innenraum der Befindlichkeiten aufhält, der „Sarkasmus“ hält sich an Grenzen, den Atem raubt einem eher solch überzogenes Geschwurbel als das konstruierte Pathos des Debütromans von Natascha Brown.
In Bernarda Evaristas „Mädchen, Frau, etc.“ liest man von Carole, Tochter armer afrikanischer Migranten, die an einer berühmten Universität Mathematik studiert, bei einer Bank in der City zur Finanzanalytikerin wird und dann zur Vice President aufsteigt. Sie musste sich dafür aber, wie üblich, von ihrer Herkunft (Mutter Bummi ist Putzfrau) radikal ablösen und sich überanpassen. „Und dann verlobt sich Carole auch noch mit einem Engländer, der zur High Society gehört und seinen Stammbaum bis zu William dem Eroberer zurückverfolgen kann. Bei der einzigen Begegnung mit seinen hochnäsigen Eltern Mark und Pamela spürt Bummi deren Verachtung.“ (Dieter Wunderlich)
Natasha Brown schreibt auf eine solche „Begegnung“ hin, auf die „Zusammenkunft“. Die Erzählerin ist zum ersten Mal bei Lous Eltern eingeladen, zu einer „Gartenparty“, für sie eine Überschreitung der sozialen Grenzen, eine intersektionale „Transzendenz“ (Kapitel). Der schnöselige Sohn hält sich die farbige Frau, um seiner Karriere „liberale Glaubwürdigkeit“ zu verschaffen.
Die Eltern begrüßen uns an der Tür, Helen und George — sie bestehen auf die Vornamen — holen mich ins Haus. An einer Wand ihres großzügigen Eingangsbereichs steht klobig eine Heizungsbank. Sie lächeln, warm und herzlich. Die Mutter, Helen, reibt die Schulter ihres Sohnes. (…) Sie alle sprechen und ich beobachte. Die meiste Zeit über jedenfalls — ich bin geübt im Nichtssagen. Ich höre zu, reagiere, stelle hin und wieder Fragen. Sie zählen ein paar Gäste auf, die morgen kommen werden. Freunde der Familie, aus der Politik, klar, aber auch Kreative, Akademiker, Anwälte und so weiter. Ein diskret schillerndes Aufgebot.
Denn sie beobachten (uns). Man hat ihnen in der Schule beigebracht, wie das geht. Man hat ihnen beigebracht, unsere Körper (uns) als Objekte zu betrachten. Sie lernen die Unterscheidung Industriestaaten/ Entwicklungsländer als Geografie, unwiderlegbar wie Berge, Ozeane und andere Naturphänomene. Ohne Warums und Weshalbs, oder die skrupellosen, über die Weltkarte schießenden Pfeile des europäischen Imperialismus.
Das kennt man, das hat man schon in vielen Filmen gesehen. Das joviale Spiel mit dem Parvenu, hier weiblich, schwarz, Vorfahren aus Jamaica. Das macht Leiden, die individuell gespürt, aber nicht individuell aus der Welt geschafft werden können. „Doch wem sie just passieret, Dem bricht das Herz entzwei.“ Am und im Postkolonialismus leidet man zurzeit – und zu Recht – besonders gern. Lou hat sie es nicht gesagt, aber die junge Frau hat Krebs. „Er wird streuen, sagte die Ärztin, als ich sie fragte, wie er mich umbringen wird. Sie erklärte die Stadien. Sagte, wenn ich ihn zu lange lasse, wenn er zu weit streut, wird der Schaden nicht zu überleben sein. Metastase: Er streut über das Blut in andere Organe, wächst unkontrolliert, überwältigt den Körper.“
Symbolische Aufladung,Verdoppelung, transsomatische Schmerzen, Zerstörung des Ich, des Subjekts („uns“), fragwürdige Alternative. Natasha Brown instrumentalisiert die Eindrücke, verdichtet sie erzählend, versucht, sich im Partygarten außerhalb zu bewegen, sich dem gesellschaftlichen Abseits zu stellen und sich von dort aus ständig zu befragen, woher diese intersektionalen Leiden stammen und was sie im Ich bewirken.
Das Verlangen besteht darin, dein Leid zu konsumieren, sich davon unterhalten zu lassen, von der Gänsehaut, dem haarsträubenden Schauder, den es auslöst; ein Leiden, das allem, was sie bereits wissen, wieder Geltung als höhere Einsicht verschafft / das in derKehle rüttelt und kitzelt und kratzt, wenn sie es in Gänze schlucken / mit der gleichen Befriedigung wie bei einem gezogenen Faden, dem Ziehen, Entwirren, Auseinanderfallen) (…)Während des Gehens ist das Knirschen und Rascheln unter meinen Füßen zu einem staubigen Flüstern geworden. Schwerelosigkeit. Weiches Dahinschreiten. Ich habe mich verlaufen, buchstäblich und im weiteren, abstrakteren Sinne. Obwohl ich, wenn ich mich umdrehe undnach unten schaue, das Haus noch sehen kann: Der rote Backstein ragt über einer weißen Plane auf. Es scheint, als wären das Haus, das Festzelt und der Abstand die einzigen Dinge, die hier noch existieren. Warum tue ich das?
Sie geht in Schulen und sagt etwas über Diversität: „Zu den Aulas voller Kinder, die nach Inspiration suchen. Denn bis heute hat das Mutterland seinen Griff nicht gelockert. Großbritannien besitzt, beutet aus und profitiert weiterhin von Land, eingenommen durch die Taten des zwanzigsten Jahrhunderts. Es verheizt unsere Zukunft, um seine gierige Wirtschaft anzutreiben. Unter der Androhung finanzieller Gewalt.„
Gleichzeitig belehrt man uns über wirtschaftliche Unabhängigkeit. Mischt man sich in unsere Politik, unsere Demokratien, unseren Zugang zur Weltwirtschaft ein; kreiert man Entwicklungsländer.“
Die Mischung aus persönlicher Getroffenheit und Weitergabe der Erfahrungen und Gedanken darüber an Schüler, die wie selbstverständlich neugierig, aufgeschlossen sind. Sie hören von persönlichem Leid und von eher oberflächlichen Überlegungen zu Politik und Wirtschaft, zu Taten und Gier und Kreationen. Eingehauchte Inspirationen, denn die nächste Generation soll ja von den Übeln erlöst werden. Bernarda Evarista schreibt in der dritten Person, sie kann sich distanzieren, sie kann ersichtlich machen, sie erlaubt sich Ironie auf Augenhöhe. Natasha Browns „Zusammenkunft“ kommt über Betroffenheit nicht hinaus. „Natasha Browns „Zusammenkunft“ ist ein starkes Manifest, als Roman aber ein unerfülltes Versprechen. (…) „Zusammenkunft“ erscheint insofern nicht wie eine hochdosierte, sondern wie eine etwas dünnere Variante von Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“, (Judith von Sternburg, FR)
Was mache ich hier eigentlich? (…)
Die Antwort lautet: Anpassung. Der Druck ist immer da. Pass dich an, pass dich an… Lös dich auf im Schmelztiegel. Und dann fließ raus, gieß dich in die Form. Verbieg deine Knochen, bis sie splittern und knacken und du hineinpasst. Press dich in ihre Schablone. Pass dich an, sagen sie, ermutigend. Dann stirnrunzelnd. Dann wieder und wieder. Und immer präsent, leise flüsternd, unter der dringlichen Sprache der Toleranz und des Zusammenhalts — Verschwinde! Zerfließe in Londons Multikultisuppe.
Reisingers „Roman“ verteilt sich auf neun Personen, exakt: Frauen, die in kurzen Kapiteln in ihren je spezifischen Drangsalen vorgeführt werden. Fünf Tage hat Jovana Reisinger ausgewählt, in denen die Frauen auftreten, fünf „Frauen“-Tage. Ihrer Übersicht sieht man die Seelennöte nicht an. Am 14, Februar (Valentinstag!) ist Laura „erleichtert“, die anderen Frauen machen Ähnliches durch, teils Banales, teils für die Frau Einschneidendes. Die Frauen sind keine Personen, sondern Anschauungsobjekte, Facetten des femininen Leidens und ihrer Degradierung zum Objekt. Einige der Frauen gehören zusammen, treffen sich, leiden gemeinsam und hoffnungsvoll. Wie Brigitte: „Was sie jetzt braucht, sind Nährstoffe. Was sie jetzt dringend benötigt, ist Komfort. Und womöglich einen ganzen Tag lang Schlaf. Vielleicht ein kleines bisschen Hoffnung. Manchmal wird ja trotzdem alles gut.“
Die Männer sind abgehauen: weggelaufen oder gestorben, oder sie lassen sich nicht wegkriegen oder die Verbindung steht vor der Tür. Die Frau weiß nicht so genau, was besser oder schlimmer ist, sie weiß ja nicht einmal genau, was – für sie – gut oder schlecht ist. Die Männer heißen A. oder C. oder F. – der unbenannte Täter. So viel zum Spiel der Geschlechter. Aber „manchmal wird ja trotzdem alles gut.“
A. will in erster Linie Recht haben. Das Recht, über jeden Zustand und Körper in der Familie zu bestimmen. Am allerliebsten bestimmt er über den Körper und Zustand seiner Frau. Und wenn die ihn hintergeht, betrügt, belügt, manipuliert, dann darf er erst recht walten und schalten, wie es ihm beliebt. Selbst ohne stichhaltige Beweise. Er hat halt Instinkt. Menschenkenntnis. Ein Nasen für Intrigen. Und ausgerechnet seine Frau ist, das weiß A., eine besonders ausgschamte Intrigantin. Heute soll die Familie glücklich sein. A. hat sie allesamt ins Auto gesteckt, ist in die Hauptstadt gefahren, hat sie zum Einkaufen geschickt und zum Essen ausgeführt.
Die Frau und die andere Frau. „Gemeinsam werden sie sich retten.“ Frauen gemeinsam sind vielleicht stärker als die Frau allein, sie verbünden sich, sie sind Konkurrentinnen. Meist bleibt es bei Versicherungen.
Tina wird die fremde Frau suchen. Sie wird die fremde Frau finden. Und gemeinsam werden sie sich retten. Das weiß die fremde Frau noch nicht, aber Tina weiß es. Gedanklich tritt die Fremde erneut vor das Restaurant. Da steht sie. Schaut böse. Tina greift nach ihr. Sie lässt sich angreifen, die Frauen fallen sich in die Arme. Beide weinen. Happy End.
Wichtig ist auf jeden Fall, bereit zu sein, für jeden Fall. Selbstoptimierung ist angesagt, in allen Zeitschriften, ob sie jetzt Brigitte oder Tina oder Petra oder wie eine der anderen Frauen in „Roman“ heißen. (Insta gibt es noch nicht? Influencerinnen nennen sich anders, jede einzeln Massenware.)
Laura sitzt auf einem sehr bequemen Stuhl und hat neben sich eine Frau stehen, die ihre Hände massiert, und vor sich eine Frau hocken, die ihre Füße behandelt. Die Ganzkörpermassage bereits hinter sich, ist sie jetzt bereit für die Optimierung der äußeren Umstände. Schöne Hände, schöne Füße, schöne Haare, schönes Gesicht.Nur so wird in den neuen Lebensabschnitt gegangen. Laura versucht, sich zu entspannen, in ihrem Hirn rasen die Gedanken jedoch nur so dahin. Der größte Tag im Leben einer Frau. Oder war’s im Leben einer Partnerschaft? Jedenfalls wird Laura heute aufgeräumt, wie ihr Vater das nennt. Da werden die Zuständigkeiten und die Verhältnisse geklärt, und Laura wird im Anschluss einen neuen Namen tragen und wissen, wo sie hingehört. Zu ihm nämlich, zum C. Seinen Namen annehmen ist so eine Sache, findet Verena. Aber dann kommt sie gedanklich nicht weiter: Was ist schlimmer — den Namen des Vaters oder des Partners zu tragen? Aussichtslos. (…) Laura fächert sich Luft zu. Wer gackert, muss auch ein Ei legen. Die Angestellten schauen inzwischen eher besorgt als belustigt drein. Endlich kann Laura sich beruhigen. Ihr fällt schier die Maske vom Gesicht. Eine Angestellte assistiert ihr.
»Stell dir einmal vor, das war’s jetzt.«
Die Gespräche entlarven sich selbst als ambitioniertes Weibsgewäsch, Jovana Reisinger will es bloß als Klischee zitieren und, manchmal, eine kleine Pointe draufsetzen, die Frauen entlarven sich damit selbst. „Überhaupt enthält dieser Roman eine beeindruckende Sammlung von Lifestyle-Phrasen, wobei der Leitspruch des Kapitalismus, „Jeder ist doch seines eigenen Glückes Schmied“, nicht fehlen darf, so wenig wie: „Wer schön sein will, muss leiden.““ (Marie Schmidt, SZ) Hin- und wiedrige dialektale Anklänge evozieren ein schmales Schmunzeln. Reisinger behandelt ihre Personen mit sanftem Zynismus, sie tritt ihnen nahe, ich erlebe einen Reigen (ab)gedroschener Selbstdarstellerinnen. Nach Leseunterbrechungen halte ich die Frauen nicht mehr auseinander, der „Roman“ wird zur Vorführung.
Schließlich ist jede selbst für ihr Glück verantwortlich. Und für ihr Unglück ebenso. Hoffentlich schlägt jetzt die Stunde der Frauen.
»Wie, das war’s jetzt.« »Ja. Jetzt kommt nichts mehr.« »Was soll denn kommen?« »Verliebt, verlobt, verheiratet.« »Stimmt. Da kommt nichts mehr.« »Das ist das Ende.« »Das ist doch kein Ende. Ich dachte, das soll der Anfang sein.« »Wovon? « »Ja, weiß ich doch nicht. Das musst du doch wissen.« »Ich weiß es aber nicht.« »Was hast du dir denn vorgestellt?« »Eine Traumhochzeit.« »Ja, und dann?« »Ja, nichts. Weiter ging’s nicht.«
Lauras Augen füllen sich mit Tränenflüssigkeit. Verena würde sie gern streicheln, aber beide Hände stecken fest in einem Gerät zur Verjüngung.
Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren & die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn & unsere Brüder, Brethren & Bredrin & Brothers & Bruvs & unsere Männer, Men & Mandem & die LGBTQP-Mitglieder unserer Menschenfamilie
Frauen, Mädchen, Mütter, Töchter, Alte, Junge, in England Geborene, Zugewanderte, Weggezogene, London, Nordengland, 50er-Jahre, Jetztzeit, Schwarze, auf dem Land, in der Stadt, Lesben, Heteras, Künstlerinnen, Hausfrauen, Upper- und Lower-Class, Aufbegehrende, Dominante, Abhängige, Selbstbewusste und Gebrochene, Männer als Partner, als Erzeuger, als Despoten, als Abwesende, aus Afrika, aus den USA, aus der Karibik. Etc.
Bernardine Evaristo zeigt das ganze Spektrum, führt an 12 ausgewählten Frauen Schicksale, Lebenskämpfe, Scheitern und (vordergründige) Erfolge vor. In 4 Kapiteln stellt sie je 3 Frauen in den Mittelpunkt. Amma Yazz Dominique Carole Bummi LaTisha Shirley Winsome Penelope Megan/Morgan Hattie Grace. Oft 3 Generationen zusammengefasst und gegenübergestellt. Manchmal taucht eine Person in neuem Zusammenhang wieder auf, kurz im Spot, als Leser hab ich sie eigentlich schon wieder vergessen, wer war doch noch gleich Carole, Dominique? Im 5. Kapitel findet die „Premierenparty“ statt, eine Rückblende auf das neue Theaterstück der queeren Hauptperson Amma, die man zu Beginn kennenglernt hat, vielleicht die Erzählerin. Einige der Bezugspersonen finden sich zur Party ein- und haben sich selten etwas zu sagen.
Für die Mädchen, Frauen etc. sind 30 bis 50 Seiten vorgesehen, Bernardine Evaristo setzt Schwerpunkte, Exemplare in Dioramen. 12 Romane in einem, die Einzelteile weniger Erzählungen als Vorführungen, präzise komprimiert. („Roman“ ist auf dem Cover ganz klein gedruckt.) In die Texte geraten – das eigentliche Anliegen Evaristos – immer wieder Diskurse über die Identitäten. Ich fühle mich informiert und belehrt. In England schaute man früher auf Schwarze Frauen als in Deutschland, was mit dem Thema Kolonialismus zu tun hat. Im ländlichen England, vor allem im Norden, waren Schwarze selten anzutreffen, für die Frauen stand nur die Rolle als Dienstbotin offen, Einheirat in eine bodenständige Familie war seltene Ausnahme. Auch in England verlief die Tradition der Familien nicht ohne Konflikte, oft sehr konfrontativ zwischen den Generationen. Ab den Siebziger Jahren entstanden in den größeren Städten, bevorzugt natürlich in London, künstlerische Milieus, zu denen auch Schwarze Zugang fanden, zuerst als Exoten, später arbeiteten sie sich auch im Ranking hoch, zuletzt auch Frauen, sie konnten, wie Carole, Finanzanalytikerin werden, mussten sich dafür aber von ihrer Herkunft (Mutter Putzfrau) radikal ablösen und sich überanpassen. Die Kreise blieben zum Teil esoterisch. Ab der Jahrtausendwende zersplitterte der Neoliberalismus immer beschleunigter die Identitäten und versetzte nicht zuletzt die Frauen in Rollenunsicherheiten, man war gefordert, sich einer Community zuzuordnen bzw. im Zwang, sich davon abzugrenzen, die Grenzen flüssig zu gestalten. Colour, Ethnie, Gender gerieten heftig in Turbulenzen. Alle hier auftretenden Frauen sind „intersektional diskriminiert“.
zudem bezeichnet das Kind, das sie zur Feministin erzogen hat, sich neuerdings nicht mehr als solche Feminismus ist doch voll die Herdennummer, hat Yazz ihr erklärt, ganz ehrlich, heute ist es sogar schon durch, noch eine Frau zu sein, neulich hat bei uns an der Uni diese nicht-binäre Aktivistenperson gesprochen, Morgan Malenga, das war der mega Eye-Opener für mich, ichdenke, in Zukunft sind wir irgendwann alle nicht-binär, weder männlich noch weiblich, was ja alles sowieso nur Genderperformance ist, und das heißt dann auch, Mumsy, dass deine Frauenpolitik überflüssig wird, abgesehen davon bin ich Humanistin, das spielt sich auf einer viel höheren Ebene ab als Feminismus hast du davon überhaupt schon mal gehört?
Was beim Durchblättern ins Auge fällt, ist der Schriftsatz: kleine Abschnitte, das erste Wort klein geschrieben, am Ende kein Punkt. Beim lesen stört das nicht, Grammatik und Rechtschreibung sind ja wie gewohnt. Man wird durch den Text gezogen. Am Ende der Abschnitte steht oft ein Wort isoliert und wird dadurch auffällig, setzt einen Kontrapunkt.
Yazz wurde nie ausgeschimpft, wenn sie ihre Meinung äußerte, aber schon, wenn sie Kraftausdrücke verwendete, denn sie sollte schließlich einen guten Wortschatz entwickeln (Yazz, du kannst sagen, dass du Marissa unsympathisch oder nicht nett findest, aber du darfst sie nicht als vollgekackten Stinkepo bezeichnen) und obwohl sie nicht immer bekam, was sie wollte, erhöhte es doch ihre Chancen, wenn sie gute Argumente dafür vorbrachte Amma wollte ihre Tochter frei, feministisch und stark machen päter schickte sie sie zu Persönlichkeitsentwicklungskursen für Kinder, damit sie selbstbewusst und redegewandt wurde und sich in jedem Kontext behaupten konnte schwerer Fehler
Bernardine Evaristo bietet für jeden Aspekt die Vorzeigefrau – von 19 bis 90 – und erzählt mit ihr im Zentrum von den Identitätsdiskursen der Zeit. Sie erhielt dafür 2019 den Booker-Preis – als erste schwarze Schriftstellerin. Man muss sich nicht jedes Detail und jeden personalen Zusammenhang merken, man weiß aber nach dem Lesen mehr. Vorausgesetzt man interessiert sich für die Themen der Zeit und man ist offen für neue literarische Formen und man schätzt ironische Ernsthaftigkeit.
Megan erzählte Bibi, sie habe immer geglaubt, Feminismus sei ein Synonym für Männerhass, aber während sie es hinschrieb, wurde ihr klar, dass sie sich darüber eigentlich nie eine eigene Meinung gebildet hatte ach, das nun wieder! schoss Bibi zurück, natürlich hat Feminismus nichts mit Männerhass zu tun! es geht um die Befreiung von Frauen, um Gleichstellung und Freiheit von einschränkenden Erwartungshaltungen, du solltest mal anfangen, selbst zu denken, anstatt patriarchale Strukturen nachzuplappern, werd endlich erwachsen, Megan! ich dachte, du wolltest sanfter mit mir sein äh, ja, okay, ich kann halt nicht anders, aber ich verspreche, von jetzt an werde ich zuckersüß sein ich will einfach nur ich selbst sein, Bibi wow, das ist ja nicht gerade ehrgeizig, willst du denn nicht die Welt verändern? erstmal will ich meine Welt verändern, Bibi, eins nach dem andern like like like like like 🙂 jetzt verarschst du mich aber nein, ich bin total deiner Meinung, wir wollen doch alle nur wir selbst sein und dafür sorgen, dass wir in dieser Welt halbwegs klarkommen, hey, eigentlich bin ich nämlich voll superkalifragilistischexpialigetisch das lass mal mich beurteilen 0000h, jetzt teilst aber du ganz schön aus, lolMegan sah sich Bibis Profilbild genauer an, sie sah indisch aus, vielleicht in den Zwanzigern? dicke, geometrische, schwarze Brille, dickes schwarzes Haar bis auf die Schultern, ernste Miene attraktiv sehr
Bernardine Evaristo darüber, weshalb der Roman so viele Menschen anspricht: „ Obwohl es so experimentell ist, ist es leicht lesbar und Menschen können auf verschiedenen Ebenen eine Verbindung herstellen, es gibt darin zum Beispiel viele unterschiedliche Mutter-Tochter-Beziehungen. Sie können sich damit auch identifizieren, wenn sie aus einer weißen Arbeiterklasse kommen. Oder sie erkennen sich in den Erfahrungen der Frauen wieder. Einmal kam ein 80-jähriger Mann auf mich zu und sagt mir, dass er sich auch darauf beziehen könne. Das ist wunderbar, denn letztendlich geht es darum, wer wir als Menschen sind, oder? Wenn all diese künstlichen Barrieren wie Race und Gender sich im Rest auflösen und die Lesenden nur in der Geschichte involviert sind, ist das eine wunderbare Sache.“
The Booker Judges’ Comments : „‘It’s a triumphantly wide-ranging novel, told in a hybrid of prose and poetry…It’s also, to my mind, the strongest contender on the (Booker) shortlist. A big, bold, sexy book that cracks open a world that needs to be known…Evaristo’s job is to observe, broaden our minds and to be funny – often very funny indeed…’“
Ein familienhistorischer Roman. Zora del Buono begleitet das Leben ihrer Großmutter in Etappen von einigen Monaten bis zu wenigen Jahren, von 1919, der Erste Weltkrieg ist nur als politische Kapitulation vorbei, bis 1948, und da ist WK II noch stark in seinen Nachwirkungen zu spüren. Der Handlungsraum reicht vom stets umkämpften kleinen Ort Bovec im Nordosten des heutigen Slowenien, die deutschen und italienischen Namen Flitsch und Plezzo zeigen die Grenzregion an – bis zum süditalienischen Bari. Die Großmutter – auch sie heißt Zora, folgt ihrem Mann Pietro, der in Bari eine Professur für Radiologie antritt.
Zora Del Buono (das Del schreiben sie groß, um sich vom Adelsprädikat abzuheben) inszeniert sich als HERRIN der Villa mit 23 Zimmern und neun Bädern. Sie braucht Ordnung und sie verlangt Unterordnung. Das Haus ist von ihr durchgeplant und ausgestattet. Sie fährt nach Mailand, um Fliesen zu kaufen, sie arrangiert Fassaden und Zimmer und Möbel und Licht. Sie arrangiert aber auch ihre „Erscheinung“ und ihre Kinder, die sie als 1, 2, 3 einordnet.
Wenn er an Zora dachte, sah er sie stehend vor sich: stehend hinter dem Fauteuil, in dem Pietro saß und rauchte; stehend im Türrahmen zum Salon, niemals angelehnt; stehend im Gespräch mit ihren Söhnen im Garten; stehend neben dem Dienstmädchen, um die Speise, die das mehr oder minder verängstigte Mädchen brachte, kritisch zu begutachten; stehend im Sand unter einem Sonnenschirm, aufs Meer blickend, während sich die anderen Frauen auf Liegestühlen aalten und in Illustrierten blätterten (er war nur einmal mit am Meer gewesen, aber diese Szene hatte sich ihm eingeprägt: eine Frau, die den Schiffsverkehr im Auge behält und nicht die spielenden Kinder); stehend auf dem Schießplatz, wo sie Davide die Patronen reichte; stehend auf dem Rumpf eines Fischerboots im Hafen von Polignano, als sie eine Rede hielt.
Sie strahlt etwas „Aristokratisches“ aus, doch steht das in Widerspruch zu ihren politischen Präferenzen: Sie versteht sich als Kommunistin, will die Partisanen (auch mit Waffen) unterstützen, sympathisiert mit Togliattis PCI, verachtet die Schwarzhemden. Auch ihr Mann Pietro hat aus seinem Studium in Berlin linke Gesinnung mitgebracht. „Kommunismus ist Aristokratie für alle.“ (Motto) Höhepunkt für die Familie ist ein Besuch Titos in Bari, wo er sich von Pietro Del Buono behandeln lässt.
Auf der Galerie ein Hüsteln. Nino und Zora traten aus dem Dunkel nach vorne, Bruder und Schwester in seltener Eintracht, beide in Grün, er in Uniform, sie im Kleid. Zora legte die Hände auf das frisch polierte Messinggeländer. Sie lächelte. Tito ging zwei Schritte Richtung Treppenaufgang, öffnete die Arme weit, als sei er ein Tenor, der zur Arie ansetzt. «Es ist mir eine Ehre, Gast im Haus einer Genossinder Volksbefreiungsarmee zu sein, einer grande signora mit humanitärer Gesinnung, mit Liebe für die Freiheit und das Vaterland.» Alle atmeten wieder.
Faschismus und Krieg überstehen die Del Buonos relativ unbeschadet, weil der Arzt benötigt wird. Nach dem Krieg verkeilen sich die Verhältnisse, weil sich die Kommunisten nicht an die Ideale von Zora halten, weil der PCI die Familie als zu reich ausstößt. Pietro wird frühzeitig dement, Zora gerät in ein Altenheim nach Nova Gorica, wieder in Slowenien, aber im Rollstuhl, überlebt, unbrauchbar geworden. Der 1980 nachgetragene Text wechselt die Perspektive in Zora, die sich in einem langen Monolog an ihre Pflegerin Branka Blatnik wendet, dabei aber die Zeiten mischt, Personen und Ereignisse erscheinen in Sprung- und Splittergedanken, Lücken füllend und offenbarend.
Neben Zora Del Buono lernt man in den etwa 30-seitigen Kapiteln viele ihrer Umlaufpersonen kennen: Freunde aus Slowenien, Bekannte aus Bari, Hausbedienstete, den Schwiegervater Giuseppe, Bürgermeister der Gefängnisinsel Ustica nördlich von Sizilien, ihre drei Söhne, darunter Manfredi, der Vater der Autorin. Auf jeden der unterschiedlichen Charaktere fällt abwechselnd der Spot. Auch führen die anekdotischen Kommunikationen durch eine historisch bewegte Epoche. Aus der zeitlichen Distanz schrumpfen aber die Bedrückungen – und ich bin froh, dass ich mit den Auftritten der anstrengend resoluten, anziehenden, doch ungeliebten „Marschallin“ durch bin und fühle mich durch den Zeiten- und Perspektivensprung ein wenig erlöst.
Elke Heidenreich gerät außer sich: „So etwas Gutes wird selten geschrieben.“ Zu viel des Lorbeers, aber interessante Zeithintergründe, eine funkelnde Protagonistin und lebendiges Erzählen sind ja auch nicht schlecht
Er war von seiner Schwester einiges gewohnt, sie exponierte sich mit ihren Gesellschaften, die sie gab, mit Vortragsrednern, die sie zu sich einlud, sie schien sich vor der Regierung nicht zu fürchten, es war, als ob sie unangreifbar wäre, als Kind hatte er oft gedacht, sie sei eine Hexe, die ihn beschütze, manchmal dachte er das heute noch (niemand würde eine Zora Del Buono, geborene Ostan, verhaften, mit diesemGestus ging sie durch die Welt, und interessanterweise schien das jeder zu glauben).
Das Resümee: „Sie wusste, sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte. Doch die Entwicklung führt in eine andere Richtung.“
Die Begegnung mit Franklin im East Village verwirrte Constance zum Teil deshalb, weil er zwei Jahre zuvor genau eine Woche lang mit feuriger Energie versucht hatte, sie zu verführen, um sie dann wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen und eine bis dahin geheim gehaltene Verlobte zu heiraten. (Andere Faktoren) – Susan war seit fünf Jahren nicht in Manhattan gewesen, und sie hatte sich auf diesen Besuch gefreut, hatte ihn sich vorgestellt als eine Mischung aus genussvollem Schwelgen in sentimentalen Gefühlen und dem sanften Schmerz des Déjà-vu. Die ersten drei Tage waren genau das gewesen. (Verbindung) – As er ihr am Morgen auf dem Weg zur Arbeit begegnete, tat er so, als würde er sie nicht bemerken, obwohl er sie seit vier Jahren nicht gesehen hatte. Sie hatten sich an der Universität von Michigan kennengelernt. Es war eine derart kurze, chaotische Affäre gewesen, dass er sie nicht einmal als frühere Freundin betrachtete, wenn er an sie dachte. (Eine Affäre, Director’s Cut) – Sie wollte einen Mann treffen, in den sie sich kurz zuvor Hals über Kopf verliebt hatte. Sie befand sich in einem Zustand entsetzlicher Angst. Zum einen war er mit einer Koreanerin verheiratet, die er als Inbegriff von Weiblichkeit und Eleganz beschrieb. Aber damit nicht genug, eine Wahrsagerin hatte ihr prophezeit, dass eine Beziehung mit ihm sie für den Rest ihres Lebens emotional zum Krüppel machen könnte. Und schließlich quälte sie die Vorstellung, sie würde einen unvollkommenen Eindruck machen. (Ein romantisches Wochenende) – Stephanie war eigentlich keine »Professionelle«; etwa einmal im Jahr, wenn sie die Büroarbeit allzu sehr anwiderte oder wenn sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte, rutschte sie mehr oder weniger zufällig hinein ins Gewerbe. Einige ihrer Kunden mochte sie sogar, aber sie war nie auf die Idee gekommen, sich mit einem von ihnen privat zu verabreden; sie hielt ihre geheimen Vorstöße in das Reich der Prostitution sorgfältig verborgen und getrennt von ihrem sonstigen Leben. Insofern war sie ein wenig erschrocken, sich dabei zu ertappen, wie sie in Stöckelschuhen und Unterwäsche vor dem verschmierten Spiegel im »Shadow Room« stand und Bernard, dem Rechtsanwalt, ihre Telefonnummer gab. Sie spürte, dass sie tiefer in etwas hineingezogen wurde, was eigentlich nicht ihre Sache war, aber sie hatte keinen Freund, und sie mochte den Rechtsanwalt. Da er verheiratet war, würde er wahrscheinlich nur flüchtige Spuren in ihrem Leben hinterlassen. (Versuchen zu sein)
Erste Sätze. Constance, Stephanie, Susan, Daisy, Virginia – die Namen sind austauschbar wie die Schicksale, die man zu den eigenen machen möchte, in die man schlüpfen und in die man sich verbergen möchte. Die junge Frau wartet darauf, dass ihr Leben identifizierbar iwrd, dass sie sich in einem Leben wiederfindet, dass sie das Leben trägt. Doch das Schicksal ist nicht so, es nimmt keine Rücksicht auf Hoffnungen, lässt die kleine Erwartung zur Illusion verrinnen. “Versuchen zu sein” heißt eine Erzählung.
Sie stellte sich vor, wie sie in ferner Zukunft als erfolgreiche Autorin problemlos darüber sprechen könnte, dass sie einmal Nutte war, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen würde. »Ich hab in jener Zeit nicht viel geschrieben«, würde sie im Kreis von erfolgreichen Freunden sagen, die sich lächelnd mit einem Drink in der Hand um sie scharten. »Am meisten Zeit hat es mich gekostet, meine Persönlichkeit wiederherzustellen.« Und alle würden lachen angesichts dieses bewundernswerten Eingeständnisses ihrer weiblichen Verwundbarkeit.
Die Geschichten von Mary Gaitskill variieren Vorstufen des Lebens, der Traum ist zu Ende, aber noch nicht ausgeträumt. Künstlerin – es fehlen noch Beziehungen, Sekretärin – man muss Geld verdienen, “Professionelle” – nur vorübergehend, die Richtung lässt sich aber nicht umkehren, Hauptsache, in “Verbindung” zu leben. Gaitskills Stories haben entlarvend ernüchterte Titel: “Andere Faktoren”, “Was Nettes”, sogar “Ein romantisches Wochenende” beginnt mit einem “Zustand entsetzlicher Angst”. Und anstelle des Wohlfühlens stellen sich ein: Männer. Surrogate. Imaginierte Ausstiegs- oder sogar Aufstiegshilfen.
Männer haben Macht, doch das macht sie nicht sicher. Männer überbrücken ihre Ängste, indem sie ihre Position zur Geltung bringen. Und dazu brauchen sie: Frauen. Sie laden ein, sie erwecken vage Hoffnungen, sie finanzieren, und – wenn sie auch dazu zu schwach sind -, schlagen oder demütigen oder quälen sie. Gaitskill wertet nicht, sie lädt ein zur Kenntnisnahme.
Er setzte sich aufs Bett. »Stephanie, das ist sehr einfach. Ich habe viel Geld. Du hast nicht viel. Du brauchst Geld. Ich kann dir was geben. Bitte, nimm es.« »Du hast mir auch kein Geld gegeben, als wir essen gegangen sind.« Er suchte nach einer Erklärung und musste passen. »Gut, wenn wir das nächste Mal essen gehen, werde ich dir Geld geben.« »Ich werde es nicht nehmen.« »Wenn nicht, dann werde ich es dir eben schicken.« Schließlich war der Punkt erreicht, an dem es einfacher war, das Geld anzunehmen, als zu streiten. Als er gegangen war, saß sie auf ihrem Toilettentisch, starrte das Geld an und dachte: Jetzt ist es also mein wirkliches Leben. Dann stand sie auf und steckte die Scheine in ihre Brieftasche. Bei ihrem nächsten Treffen fand sie die Sache mit dem Geld nicht mehr so schlimm.
Das Zittern hörte auf. Sie schluchzte noch einmal, drehte sich auf den Rücken und sah ihn aus verwirrten Augen an. Sie blinzelte. Plötzlich überkam ihn die Müdigkeit. Ich sollte so was nicht tun, dachte er. Im Grunde ist sie ein netter Mensch. Einen Moment lang verspürte er den Impuls, sie zu umarmen. Ein stärkerer Impuls trieb ihn, sie zu schlagen. (…) Dann würde er zu seiner Frau nach Hause gehen, und sie würde ihm Abendessen machen. Es würde alles so perfekt ausgewogen sein, dass ihm schon die bloße Vorstellung Vergnügen bereitete. Am nächsten Tag würde er ihr Blumen schicken. Er nahm eine Hand vom Steuer und tätschelte ihr den Kopf. Außer sich, verkrallte sie sich in sein Hemd.
Ihre Beziehungen zu Männern waren in jener Zeit aufreibend; sie führte endlose Gespräche mit Leisha und quälte sich mit der Frage, warum sie immer wieder bei solchen schrecklichen Kerlen landete. In ihrer Erinnerung verschwammen sie alle zu einem peinlichen Klecks: der hübsche, zarte Drogensüchtige, der masochistische chinesische Junge, der angeberische italienische Journalist, der verheiratete Professor, der wichtigtuerische Jurastudent, der halbirre Clubbesitzer, der sie eines Nachts beinahe mit seinem Gürtel erwürgt hätte.
“Sie standen da, verbunden durch eine zarte Membran erinnerter Intimität. (…) Noch einmal spannte sich zwischen ihnen das dünne Netz einer Verbindung.” Die “Verbindungen” sind durchwegs volatil, müssen so sein, da ja keine fundierte psychische Basis besteht. Die Frequenzen der Oszillation sind oft extrem dicht, die ambivalenten Gefühle fallen in Eins: Freude und Schrecken, Euphorie und Abscheu.
Auf dem Höhepunkt ihrer Angst entdeckte sie ihn hinter der Glaswand der Pizzabude. Sofort bemerkte sie den boshaften Ausdruck auf seinem Gesicht. Sie erkannte, weiche kalte Geringschätzung darin lag, dass er sie beobachtete und abwartete, anstatt sie zu begrüßen. Sie litt, aber nur einen kurzen Augenblick; dann wurde sie von der Liebe fortgetragen. Sie lächelte und überquerte die Straße mit einem unsinnigen Vertrauen in die Macht ihres Lächelns.
Sex und Drogen gelten als “Mittel” der Überbrückung. Wo Liebe versucht wird, endet sie im Krampf. “Den größten Teil ihrer emotionalen Energie hatte sie auf Männer verschwendet.”
Mary Gaitskill lässt ihren Frauen die Rationalität, auch wenn die Situation anderes verlangt. Sie lässt sie genau hinschauen, weil die Oberfläche, die Kleidung vor allem, eine Äußerung von Zugehörigkeiten darstellt, aber auch Wünsche symbolisieren kann, Vor- und Selbsttäuschungen. Der Schnitt, die Farben, die Musterungen, High Heels und glitzernde Ringe, alles ist Zeichen. Auch die Sprache: Sensibles Wachen über angesagten Slang, bloß keine Fehler machen, cool wirken, sich selbst ausstellen und verkaufen. All diese Codes können natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass all anderen diese Rituale ebenfalls anwenden. (Nur die Männer scheinen auch hier beschränkt, haben das Spiel auch nicht nötig.)
Kristen Roupenian schrieb ein Nachwort. Ihre virale Erzählung“Cat Person” wurde mit Mary Gaitskill verglichen, beides #MeToo zugeordnet. Roupenian aber ist mädchenhafter, märchenhafter, auch sprachlich weniger tief. Schon das Coverbild von “Bad Behavior” ist deutlicher, dreckiger, ehrlicher als die Stories von Roupenian. Der deutsche Titel führt in die Irre.
1988 270 Seiten 2020 “Endlich wieder auf Deutsch” (Cover)
Kristen Roupenian wurde 2017 bekannt, als ihre Shoort-Story „Cat Person“ im New Yorker Magazineveröffentlicht wurde und „viral“, wie es hieß, ging. #MeToo war gerade erfunden worden, die NYT stellt die Geschichte ins Netz und ich #alterweißerMann habe sie geladen und gelesen. Auf Englisch, was heißt, dass ich für mein Textverständnis nicht bürgen kann.
Jetzt, in der deutschen Übersetzung, hat sich der Text wohl nicht sehr verändert, aber man liest ja nie zwei Mal dieselbe Geschichte. Eine junge Studentin, Margot (20), lässt sich von einem viel älteren Mann (34) ins Kino einladen und geht danach mit ihm nach Hause. Sie lässt sich beschlafen, gerät dann aber in Zweifel über ihre Entscheidung: Roberts Körper ist nicht makellos und beim Sex stellt er sich, na ja, unbeholfen an. Reaktion bei Margot: Ekel. Auch angesichts ihrer „Wahl“. Ein Mann ohne Klasse, nicht ihrer Klasse, schon die Wohnungseinrichtung hält ihrer Prüfung kaum stand.
Jetzt diskutiere ich natürlich darüber, ob Margots vorübergehende Gleichgültigkeit nicht eher ein gefühltes „Nein“ gewesen ist, ob Robert ihr Verhalten nicht als Ablehnung hätte deuten können und müssen. Ob es nicht in allen Fällen sinnvoller ist, sich gegenseitiges Einvernehmen zu versichern. „Ist es für dich OK?“ Ob es nicht besser gewesen wäre, Robert hätte für solche Situationen mehr Erfahrungen gehabt. Ob man nicht auch von einer 20-Jährigen erwarten könnte, sich zu entscheiden und nicht zu erwarten, bis die Entscheidung zu spät gekommen ist. Aber die Wirklichkeit ist wohl unübersichtlicher und schneller als die Reflexion darüber. (Unklar bleibt, ob Robert überhaupt ein Katze hatte.)
Margot saß auf dem Bett, während Robert sein T-Shirt auszog und seine Hose aufknöpfte. Er hatte sie schon bis auf die Knöchel heruntergezogen, als er bemerkte, dass er die Schuhe noch anhatte, und er beugte sich vor, um die Schnürsenkel aufzubinden. Wie sie ihn da so sah, so ungelenk vornübergebeugt, mit dem Bauch, dick und weich und stark behaart, dachte Margot: O nein. Aber der Gedanke daran, was es an Aufwand bedeuten würde, jetzt zu stoppen, was sie in Bewegung gesetzt hatte, war überwältigend. Es hätte ein Maß an Takt und Sanftmut gebraucht, das sie sich nicht vorstellen konnte, aufzubringen. Das Problem bestand nicht darin, dass er sie zu etwas zwingen könnte, was sie nicht wollte. Eher darin, dass, wenn sie jetzt daraufbestand, aufzuhören, nach allem, was sie unternommen hatte, damit es so weit kam, es sie mies und launenhaft hätte aussehen lassen. So als hätte sie in einem Restaurant eine Bestellung aufgegeben, nur um das Essen dann, als es kam, zurückgehen zu lassen. Sie versuchte, ihre Ablehnung in Unterwerfung niederzuknüppeln, indem sie einen Schluck Whiskey trank. (…) Und dann, ganz eindringlich: »Warte mal. Hast du das hier überhaupt schon mal gemacht?« Der Abend fühlte sich so seltsam und beispiellos an, dass ihr erster Impuls war, mit Nein zu antworten. Aber dann begriff sie, was er meinte, und fing laut an zu lachen. Sie wollte eigentlich nicht lachen; sie wusste nur zu gut, dass Robert zwar gern Gegenstand harmloser, koketter Neckereien war, aber es ganz und gar nicht mochte, ausgelacht zu werden. Aber sie konnte nicht anders. (…)Die Vorstellung, dass sie sich statt dieses aufwendigen emotionalen Prozesses einfach einen prätentiösen Holocaust-Film angesehen und drei Bier getrunken hätte, um dann in irgendein Zuhause mitzugehen, in dem sie ihre Jungfräulichkeit an einen Typen verloren hätte, den sie im Kino kennengelernt hatte, war so amüsant, dass Margot gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen, hysterisch zu lachen.
“Cat Person” streift die #MeToo-Frage, die Story relativiert sich aber an den anderen Erzählungen des Buches. Wann die Texte geschrieben wurden, vor oder nach “Cat Person”, ist dem Buch nicht zu entnehmen. Man liest Märchen und viele Jungmädchengeschichten, bei denen oft die Girls noch nicht zu sich gekommen sind, noch in der Selbstfundungsphase sind, die – vielleicht Vorurteil – in den USA länger anhält als hierzulande. Viele wissen noch nicht, dass sie Frau geworden sind, wissen nicht, was tun. In der Geschichte “Der Junge im Pool” versuchen einige junge Frauen ihre Kindheit weiterleben zu lassen. Zum Junggesellinnenabschied (ein “Brauch”, den sich die Mädels in scheinemanzipatorischem Meinen aufgedrückt haben) von Tayler laden sie ihren Kinderschwarm, den Schauspieler Jared, ein. Der süße “Junge im Pool” wird als Überraschungsgast gekauft, er “tanzt immer noch wie ein Trottel”. Der Mann komt nicht mit. Und die Geschichte von Anna & Ted, hilflos:
Anna sackt vornüber. »Ich weiß nicht …e, sagt sie. »Ich dachte einfach, dass … « Sie setzt neu an. »Seit Wochen reden wir darüber, wie schwierig das für mich werden würde und welche Sorgen ich mir gemacht habe, alle wiederzusehen. Du wusstest ganz genau, dass ich nicht auf die Party wollte, aber dann hast du beschlossen, mit deiner neuen Freundin hier aufzukreuzen, also musste ich auch kommen. Und dann war auf einmal Marco da, und das war supertraumatisch, und als ich nach dir gesucht und auf deine Unterstützung gehofft habe, sehe ich dich da in der Ecke, wie du mit Rachel Derwin-Finkel rummachst. Es ist einfach … unsere Beziehung hat sich verändert, ich habe dich irgendwie verloren. Ich vermisse dich, Ted.« Sie hat Tränen in den Augen. Ted hat sie nie zuvor so niedergeschlagen gesehen, und Anna sieht oft traurig aus. »Warum sagst du denn nichts?«, fragt Anna schluchzend. »Ich nehme mal an …«, antwortet Ted, »ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Unbeholfen nimmt er sie in den Arm. »Ich bin für dich da, Anna. Das weißt du doch.« »Ich weiß«, sagt sie. Sie lehnt den Kopf an seine Schulter, und für eine Sekunde fühlt es sich an wie an jenem Abend am Lagerfeuer, das kurze Ausbrechen aus dem Teufelskreis: Marco verletzt Anna, Anna verletzt Ted, Ted verletzt Rachel, diese endlosen Zirkel von Versehrung und Eifersucht. Anna sagt weinend: »Ich bin es so leid, all diesen Scheißtypen hinterherzujagen. Ich möchte mit jemanden zusammen sein, dem ich vertrauen kann. Mit jemanden, dergut zu mir ist.« Und Anna, die leuchtende, wunderschöne Anna; Anna mit ihren Grübchen, der glatten Haut und den Sommersprossen auf der Nase und ihrem hübschen, hübschen Haar; Anna, deren Duft ihn verzaubert; Anna, die ihn für all die anderen Frauen verdorben hat; Anna, für die er sterben würde; Anna, das beste Mädchen der Welt … Anna küsst ihn. Ich werde gut zu dir sein, Anna, denkt Ted und umarmt sie. Ich werde gut zu dir sein für den Rest meines Lebens. Gib mir nur eine Minute, um mit Rachel Schluss zu machen.
Manche Geschichten leben davon, dass sie die Grenzen des wohlanständigen Mädchenuniversums unschuldig tangieren. Kristen Roupenian erzählt in einfachen Sätzen und trifft dabei routiniert die Sprechweise des Milieus (was nicht für das Milieu spricht), klar, dass der Ausdruck zunächst an der Oberfläche bleibt. Nahezu jede Figur in diesem Buch verhält sich amoralisch, selbstsüchtig und zugleich genau so, wie es ihr von der Kultur aufgetragen wird. (Felix Stephan, SZ) Die „Kultur“ aber ist die US-Mädchenkultur. Wenig, was ich mir merken wollte. Bin auch das falsche Erzählziel.
Trizina liegt in der Argolis auf der griechischen Halbinsel Peloponnes. Ihr antiker Name war Troizen, die Stadt gilt als Geburtsort von Theseus. Theseus’ Vater hieß Aigeus, die Zeugung war einigermaßen rätselhaft.
Da Aigeus glaubte, dass die Königstochter Aithra von ihm schwanger sei, versteckte er ein Schwert und ein Paar Sandalen unter einem schweren Stein. Sollte Aithra ein Sohn geboren werden, so solle dieser, wenn er stark genug sei, den Stein zur Seite rollen und mit den deponierten Dingen zu ihm nach Athen kommen. Das ist von Belang, da Fran Ross Aigeus, Aithra und Theseus als „Figuren“ des Romans auflistet und ihre „Darsteller“ Samuel Schwartz, Helen Clark und Oreo nennt. Oreo (16), die eigentlich Christine heißt, also weiblich ist, ist die „Heldin des Romans“, die Familiengeschichte ist ähnlich unübersichtlich wie die die von Theseus. Oreos Vater ist Jude, ihre Mutter Schwarze. Aigeus hatte sich nach Athen verzogen, Schwartz verließ Frau und Kind nach New York.
Der erste König von Troizen soll Oros geheißen und seine Reich Oraia genannt haben. Das Mädchen Oreo nannte sich nach einem mit einer weißen Creme gefüllten schwarzen Doppelkeks. „Oreo ist aber auch ein Schmähbegriff für Schwarze, die durch höhere Bildung, Religion oder Familie vermeintlich Teil der weißen Kultur geworden sind oder es gerne sein würden.” (Max Czollek im sehr informativen Nachwort)
Auch die Autorin Fran Ross hat einen jüdischen Vater nud eine schwarze Mutter.
Das alles muss man nicht wissen, um dem Inhalt folgen zu können. Aber ein paar Informationen über jüdische Feste und Riten helfen beim Lesen. Im Buch gibt es auch einen Anhang hierzu und ein Glossar jiddischer Wörter, die Einordnung des amerikanischen Lebens in die griechische Mythologie macht die Lektüre erst (recht) zu einem Vergnügen.
Teil 1 heißt „Troizen“, meint Philadelphia und beschreibt die „Mischpoke“. Herausragend sind die Großmutter mütterlicherseits: Louise und Helen, die „Mutter der Heldin“ Christine aka Oreo. Louise ist bekannt für ihre Sprechweise und ihr Faible für Essen.
Zu Helens frühesten Erinnerungen gehört, wie sie bei Louise auf dem Schoß saß und genötigt wurde, »’bier ma diier, Tornado Bernice« (probier mal die hier, tournedos Bearnaise), ihr dabei über die Schulter sah und das erstaunlich weiße Gesicht ihrer Mutter mit dem von deren Vater verglich, dem absoluten Farbtyp 1, wenn es je einen solchen gab. Sein Porträt hing in einem ovalen Rahmen im Esszimmer. (…)
Louise sprach nur in groben Zügen, das Wer, Was, Wo, Wann, Wie und Warum mussten die Angesprochenen jeweils selbst einfügen. Namen merkte sie sich nur selten (»Da gehn Miss Hießdienoch und ihre Tochter.«), oder sie nahm erst zwei-, dreimal Anlauf, bevor sie den tödlichen Sprung auf die Beute schaffte (»Juuhuu, Jenkins … ich meine Mabel … ach nee, George!«), oder griff zu ähnlich klingenden Ersatzwörtern (das »Kiel« in »Geh in‘ Laden ’ne Flasche Kiel holn« stand für Pril). Auch im Umgang mit Zeit blieb sie vage. Stunden oder Minuten gab sie grundsätzlich nicht an. Immer nur »halb«, »vittelvö« oder »vittelnä«. Entsprechend war alles zwischen 3 Uhr 1 und 3 Uhr 25 bei ihr schlicht »vittelnä«. Woher sie die Südstaatensprüche hatte, die ihrer Sprache die Würze gaben, wusste niemand. Als Helen heranwuchs, sagte Louise oft, solange sie zwei Löcher in der Nase habe, wolle sie » verdammich« sein, wenn sie je begreifen würde, wie diese ihre Tochter derart »schlurich« (schluderig) sein könne, und dass ihre Haare aussähen »wie’n Heuhauf’m« und ihr Zimmer »wie ‚m Teufel sein Hühnerstall« und sie bloß »Stroh im Kopp« habe und sich manchmal benehme wie ein »Straßenköter« und ein »Heidenkind« sei, weil sie sich weigerte, in die Golgatha-Baptistenkirche zu gehen, und was ihr tägliches Treiben angehe, naja, man wisse ja, »Gott mach‘ hässlich nich’«.
Die Krönung von Louises Kochkunst ist “La Carte du Diner d’Helène” .
Helen schrieb (…) auf einen Zettel, welche Talente sie hatte:
Mimesis
Kopfgleichungen
Singen
Klavierspielen.
Soweit sie wusste, war die Nachfrage nach schwarzen Imitatorinnen nicht eben groß. (»Und jetzt mache ich James Cagney, wie er Mae West Steppen beibringt, und zwar Buck-and-Wing.« Cagney: Klicketi-klick, Klicketi-klick. Mae West: Umpfti-umpf, umpfti-umpf. Cagney :»Du, du, du miese Ratte – es heißt buck, mit b!«) Ihre Kopfgleichungskapazitäten kommerzialisieren wollte sie nicht. Und Nr. 3 und 4 waren die Klischee-Plusse und -Minusse. Trotzdem nahm sie die 4.
Es gibt auch noch Bruder Jimmy C, Haustiere und –lehrer und viel Sprach-WITZ (“Weg des Interstitiell Treffsicheren Zorns”), gern auch derb und feucht:
Vom anderen Ende kam ein Stöhnen, dann ein heiseres: »Ich würde doch ganz gern persönlich vorbeikommen und die komplette Untersuchung vornehmen.« »Dann tun Sie das doch«, erwiderte die Bestöhnte liebreizend. »Ich bringe meine Instrumente mit«, sagte der Doktor in einem letzten Täuschungsversuch. »Mehrere?«, fragte Oreo. »Eins reicht doch. Ach übrigens, Herr Doktor, mir sind endlich ein paar Wörter eingefallen. Weiß gar nicht, wieso mir die vorhin entfallen waren.« Sie sprudelte einen Haufen Wörter heraus, die mit F und N und P anfangen und sich auf Zicken und Hageln und Noppen reimen. Jetzt entfuhr dem Doktor ein Keuchen im Format Masters und Johnson. In einer Stunde sei er da, japste er. Oreo versprach, ihn auf der Veranda zu erwarten, bekleidet mit einem Begonienblatt. Dann lief sie schnurstracks drei Häuser weiter zu Betty Williams und erzählte ihr, sie wolle einem Bekannten einen Streich spielen. Betty Williams war die Kieznymphomanin. Sie würde für zwei Cent einen Pümpel pimpern. In West Philadelphia hatte die Geschichte von Betty und dem Freund aller Klempner Sagenstatus. Damit war jeder, der das Wort Freund nicht als Schibboleth verstand, sondern auf einen Menschen bezog, automatisch als nicht hiesig enttarnt und wurde zum Objekt von xenophobischem Hohn und Spott. Betty willigte gern ein, ihrer jungen Freundin zu helfen.
Teil 2 heißt “Mäandern” und folgt in der besagten Methode Oreos Weg zu ihrem Vater nach New York.
Dann zog sie die Kordel der schwarzen Handtasche (Modell Pferdeheusack) auf, schob die Socken beiseite, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, und zog die kaffeeverkleckerte Liste mit seinen Hinweisen heraus.
Schwert und Sandalen
Drei Beine
Der Große Riss
Sau
Tritte
Zwirbel
Größen
Down by the River
Tempel
Glückszahl
Gestrüpp
Segel
Sie strich den ersten Punkt durch. Wenn der zweite genauso weit hergeholt war wie der erste, dann konnte »Drei Beine« alles heißen, von kaputter Stuhl bis siamesische Zwillinge. Egal. Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hingehen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.
Die Kapitel beziehen sich auf die griechische Mythologie: “Oreo folgt der Theseus-Sage mit all ihren Volten.“ (Klappentext) Der Weg schlängelt sich vorbei am Bösewicht Peripetes, am Fichtenbeuger Sinis, am Krommyionischen Schwein Phaia, dem Wegelagerer Kerkyron oder dem Gliedausrecker Prokrustes. Bei Fran Ross heißen sie natürlich anders. Die Zwergenfamilie, die in gräßlichen Reimen spricht, der üble Zuhälter Parnell mit seinen 9 „Dirnelein“, eine geschmuggelte Bulldogge. Oreo besiegt sie alle mit ihren sehr speziellen Methoden. Ihr Motto: „Nemo me impune lacessit“, bzw, auf südstaatisch: „Mir saacht kein Nigger nich, was ich zu tun und zu lassen hab!“ Das alles wirkt hier wohl reichlich unübersichtlich. Aber Du solltest dich nicht abschrecken lassen. Einfach mal lesen.
“Gibt es authentisches schwarzes, jüdisches, weißes, feministisches Schreiben? Nein, antwortet Ross mit Oreo, schon die Frage verengt den Umgang mit Literatur auf eine politische Debatte um kulturelle Aneignung und Authentizität, die sich niemals für alle Teile einer Gruppe beantworten lässt. Die Realitäten jeder einzelnen Person sind so radikal vielfältig, dass es das gesamten literarischen Kanons bedarf, um sie darzustellen”. (Max Czollek) “’Oreo’ ist ein köstliches, sprachexplosives Anti-politische-Korrektheitsprogramm, und ein Genuss für alle, die schon immer postmoderne Romane mochten. Denn identifikatorisch ist hier gar nichts, eher wirkt es so, als habe die Autorin alles (…) durch einen Mythen-Fleischwolf gedreht.“ (Maike Albath, SZ) „Wir wussten es nicht, aber wir haben auf dieses Buch gewartet.” (Max Czollek)
1974 280 Seiten Deutsche Erstausgabe 2019
Für die Übersetzung erhielt Pieke Biermann den Preis der (ausgefallenen) Leipziger Buchmesse 2020
Sie hat einen Mann, den Chirurgen Richard, den Sohn Lucian, 8 und nicht anders als andere Kinder, eine gut eingerichtete Wohnung in zentraler Lage von Paris , später ein Haus am Meer, sie arbeitet bei einer Zeitung. Adèle ist 36, weshalb reicht ihr das alles nicht? Weshalb riskiert sie, „all das zu verlieren“?
Ja, es muss im Leben mehr als alles geben. Die „Unruhe des Herzens“ ergriff Jennie, Adèle ist ergriffen von der Unruhe des Körpers, wobei beides nicht zu trennen ist. Sie treibt es weg von Mann und Kind und alledem, ohne das sie – auch – nicht leben kann.
Das Kind im Arm, steht sie auf und geht in die Küche. Sie ist euphorisch, wie Betrüger es sind, die man noch nicht entlarvt hat. Voller Dankbarkeit, geliebt zu werden, und starr vor Angst bei der Vorstellung, all das zu verlieren. Nichts erscheint ihr im Moment kostbarer als das beruhigende Brummen des Rasierapparates am Ende des Flurs. Um nichts in der Welt würde sie die morgendliche Umarmung ihres Sohnes aufs Spiel setzen, diese Zärtlichkeit, dieses Bedürfnis, das er nach ihr hat und das niemand sonst je haben wird. Sie bereitet Crepes zu. Wechselt schnell die Tischdecke, die sie, trotz des gelben Flecks in der Mitte, seit einer Woche nicht erneuert hat. Sie macht Richard Kaffee und setzt sich neben Lucien. Sie sieht zu, wie er in den Crêpe beißt, seine mit Marmelade verschmierten Finger ableckt.
Während sie darauf wartet, dass ihr Mann aus dem Bad kommt, nimmt sie ein Blatt Papier und beginnt, eine Liste zu schreiben. Dinge, die sie tun will, nachholen vor allem. Sie hat eine ganz genaue Vorstellung davon, was sie vorhat. Sie wird ihr Leben ausmisten, sich nach und nach ihrer Ängste entledigen. Sie wird tun, was von ihr verlangt wird.
Leïla Slimani beschreibt die Qualen ihrer Adèle absolut nüchtern und streng, sie bedient sich keines Weichschreibers. Obsessionen sind das zentrale Thema, der Leser wird gezwungen dabeizusein. Leïla Slimani analysiert nicht, sie gibt wieder. Der Leser wird veranlasst, genau zu sein, Puzzle-Teile zu erlesen, die Adèles Verhalten erklären könnten. Die Gedanken stoßen dabei auf manches: Auto-Aggressionen, um sich selbst zu spüren, Borderline-Persönlichkeit, deren Selbstwahrnehmung schwankt und die handeln muss, auch wenn sie sich selbst schädigt. Gemeinsam ist, dass sich mit den gesuchten Mitteln keine Er-Lösungen einstellen lassen, dass nur die Wiederholung ein wenig Ruhe für den Moment ermöglicht. Sucht nach Sex.
Wie Louise, die Kinderfrau in „Dann schlaf auch du“, ist Adèle abstämmige Nordafrikanerin. Leïla Slimani sagt das, versteckt es aber so, dass man es leicht überliest. Vielleicht ist es aber auch besser, das nicht zu beachten bzw, als Grund der Abweichung außer Acht zu lassen. Wie Louise ist Adèle eine Frau, die aus ihrer sozialen Herkunft kein Selbstbewusstsein entwickeln kann, die sich als Mensch minderer Klasse erlebt und Wege zur Kompensation sucht. In beiden Fällen ist das existenziell ambivalent. Louise bringt in einer Art erweitertem Selbstmord nicht nur das Wichtigste ihrer Arbeitgeber um, deren Kinder, sondern will auch sich selbst auslöschen. Adèle überwältigt den Mann/die Männer, indem sie sich ihnen unterwirft. Allerdings steht Adèle in der urbanen Mittelschicht, doch sie kann sich in deren Gewöhnlichkeit nicht einordnen, empfindet nur Langeweile.
Adèle hat Lucien aus demselben Grund bekommen, aus dem sie geheiratet hat. Um dazuzugehören und wie die andern zu sein. Indem sie Ehefrau und Mutter wurde, hat sie sich mit einer schützenden Aura der Achtbarkeit umgeben, die ihr keiner mehr nehmen kann. Sie hat sich einen Zufluchtsort für die angsterfüllten Abende geschaffen, einen bequemen Schlupfwinkel für die Tage der Ausschweifung.
Man darf keinerlei Würde haben, denkt Adele in dem Moment, als die Haustür geöffnet wird. Jemand hat den Aufzug gerufen. Sie rührt sich nicht. Schade, dass er nicht die Treppe genommen hat. (…) Sie will ihn, ihn und seine Frau und diese Geschichte und diese Lügen und die kommenden Nachrichten und die Geheimnisse und die Tränen und selbst den unvermeidlichen Abschied. Er streift ihr das Kleid ab. Seine langen, knochigen Chirurgenhände berühren kaum ihre Haut. Seine Gesten sind sicher, geschickt, delikat. Er wirkt unbeteiligt und plötzlich wild, unkontrollierbar. Er hat ein sicheres Gespür für die Dramaturgie, stellt Adele erfreut fest. Er ist jetzt so nah, dass ihr schwindlig wird. Sein Atem lähmt ihre Gedanken. Sie ist weich, leer, ihm vollkommen ausgeliefert. (…) Einmal hat ein Mann auf ihre Scheide gespuckt. Das hat ihr gefallen.
Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, die Schreie, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlungen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Ungeheuers sein.
Das Interessante an Leïla Slimani ist, dass sie in ihrer Beschreibung drastisch radikal ist, schonungslos auch ihrem Personal gegenüber, der entwürdigten und sich entwürdigenden Frau. Das kann zum Weiterdenken führen. Das kann aber auch bewirken, dass man angesichts der Ausweglosigkeit verzweifelt. Wie lässt sich ein Leben führen, das zwei auseinanderstrebende Pole hat, das im Geheimen ablaufen muss, das alle Grenzen sprengt! Es kann einen auch kalt lassen. „Da ist nur die holzschnittartige Darstellung eines spießigen, geordneten Familienlebens und sein Gegenteil: Sex. All das kommt in einer den Inhalt spiegelnden, langweiligen Sprache daher.“ (Julia Friese, SPIEGEL)
Es hört nicht auf, Adele. Nein, es hört nicht auf. Liebe ist nichts als Geduld. Eine devote, ungeheure, tyrannische Geduld. Eine unsinnig optimistische Geduld.
Ein Drei-Generationen-Missverständnis. Nelly, fast 90, ihre Tochter Gladys, zwischen 50 und 60, und die etwa 20-jährige Charonne erzählen von sich, ihren Leben und von denen, denen sie begegnen. Den Anfang macht Charonne und sie legt gleich richtig los.
Und außerdem weiß ich, wie ich aussehe. Ich bin fett, ich habe blaue Lippen, Sommersprossen, die meine olivfarbene Haut verhageln, und von ihren Wurzeln an gezwirbelte Haare, die zwanzig Zentimeter von meinem kleinen maurischen Kopf abstehen. Selbst die Marseiller des 21. Jahrhunderts tun sich mit meiner Schnauze schwer, so, wie sie sich auch mit meinem Körper schwer tun, meinen zyklopischen Schenkeln, meinem Hottentottenhintern, meinen Trizeps eines Jahrmarktsherkules, meinem junonischen Bauch, und meinen Brüsten, meinen Brüsten vor allem, einem Bug, der die Passantenströme teilt, und mir bald Anzüglichkeiten sondergleichen einbringt, bald Ausrufe oder Nachgepfeife, das noch schwieriger zu interpretieren ist, und in das höchstwahrscheinlich ebenso viel Bewunderung einfließt wie entsetzte Fassungslosigkeit.
Charonne wurde von Gladys und Régis als Adoptivkind aufgenommen, nachdem es mit eigenem Nachwuchs wegen “Spermaallergie” und allgemeiner Vertrocknung nicht geklappt hatte. (Sie wollten Charonne wieder zurückgeben – ihre “zweite Aussetzung” -,aber auch das misslang.) Charonne stellt ihre Fleischlichkeit selbsbewusst zur Schau. “Sobald meine schwarzen Warzenhöfe unter dem hellen Baumwollstoff eines T-Shirts hindurchschimmern, ein dem Kontrast geschuldeter Effekt, den ich mir nicht versage und den ich ausgesprochen erregend finde. Aber bitte, da haben wir’s, die meisten Leute ertragen keine Erregung.”
Sie stellt bei all ihrer Jugend und Unerfahrenheit klar die Defizite von Gladys, ihrer “Mutter”, und von Nelly fest. Als Leser kann man das für frühreife Überheblichkeit halten, man lernt ja Gladys und Nelly erst später in ihren eigenen Erzählungen kennen.
Gladys stellt sich dabei wirklich als die frustrierte Person heraus, die ihre Wünsche hinter sich gebracht hat, die in Bhutan Erleuchtung suchte und die jetzt vor dem Nichts ihrer Depression steht. Sogar ihr Mann Régis enttäuscht sie, indem er sich kaum von der gewappneten Sinnlichkeit von Charonne distanziert. Ihr ganzes “Leben” war auf Vermeidung und Kompensation aufgebaut: Anstelle der Lebenslust stand die Fetischisierung des Inventars, der ausgesuchten und teuren Ausstattungen. Gladys verdammt Charonnes Fleisch, Charonne erkennt das als Neid.
Ja, das ist genau seine Vorstellung: Dass wir unsere Tage in einem Dzong zu Ende bringen, versunken in Meditation und aller materiellen Güter und Sorgen enthoben, und ich habe immer gesagt, dass ich einverstanden sei, was aber nicht heißt, dass ich es auch damit bin, dass Charonne und ihr Gigolo unter unseren Decken schlafen, wo Regis und ich doch derart viel Zeit darauf verwendet haben, aus unseren durchforsteten Wandschränken oder bei den Antiquitätenhändlern Steppdecken aus gaufrierter Baumwolle aufzutreiben, Kopfkissenbezüge mit aufgestickten Disteln, indische Überdecken aus dem 19. Jahrhundert, Daunenbetten aus der Provence, wie man sie schöner nicht bekommt, und Laken in Hülle und Fülle, aus Leinengarn, Hanfgarn, Mischgewebe: Es gibt nicht ein Bett im Haus, dem unsere Funde und Stilsicherheit nicht zugutegekommen wäre.
Sie wirkt willig, wie man williger nicht wirken kann, mitnichten weniger belästigt und noch weniger vergewaltigt, meine Tochter, die meine Tochter nicht ist – zumindest wenn ich dem Lustgestöhne glaube, das ihrem blauen Mund entfährt. Ich komme auch nicht einen Moment lang auf die Idee, kehrtzumachen, die Tür zu schließen hinter dieser Vision ihrer Körper, die wie die Körper zweier See-Elefanten auf Packeis einer gegen den anderen schlagen. Denn sie sind beide elefantös, und das Schauspiel dieser von den vereinten Anstürmen ergriffenen Fleischwuchten neigt dazu, wen auch immer unangenehm zu beeindrucken. (…) Ich bin der Meinung, dass die Fetten kein Sexualleben haben sollten.
Charonne durchschaut auch Nellys Lebenslüge. Nelly, 88, träumt immer noch ihrem Glamour und ihrem Ruhm als Schauspielerin in glatten Boulevardkomödien hinterher. Sie versucht ihren Verfall zu überschminken und lügt sich auch ihr Leben zurecht. Ihr erster Mann, Fernand, war viel älter und ein angreifender Liebhaber, der zweite, Charlie, war bloß schön, ansonsten fad und unbedarfter Rassist, jetzt ist er vertrottelt und gehört zum Hausinventar.
»Sie hat das im Blut: Da werden wir nicht dagegen angehen können. Schwarze, bei denen ist das so, das, das liebt den Schwanz! Je mehr sie davon kriegen, umso zufriedener sind sie! Und die fangen früh an, ich warne dich: In fünf Jahren wird man ihr eine Leine umlegen müssen, dieser Charonne! Ansonsten wird sie uns Krankheiten ins Haus schleppen! Oder von einem kleinen Bimbo schwanger werden. Du wirst schon sehen, und du wirst nicht sagen können, ich hätte dich nicht gewarnt!” Die ganze Familie war immer schon wohlhabend, ihre Häuser standen in vielen Regione, von Arbeit war nie die Rede.
Nelly labt sich durchaus am sichtluchen Aufblühen Charonnes. Der Roman lebt davon, dass sich die drei Lebensbeschreibungen, so unterschiedlich sie auch sind, überlagern und durchdringen. In den Angrenzung von den anderen werden deren Selbsttäuschungen und Verblendungen und Scheitern erst deutlich. Jede stellt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer privaten Welt, keine kann ihre Einbildung verlassen, ohne dass ihr Leben implodiert. Das wird von Kapitel zu Kapitel offensichtlicher und deshalb ist auch die – drittplatzierte – Jeremiade von Gladys am interessantesten.
Der Titel “Ich komme bezieht sich eindeutig auf Charonne, nicht nur des Alters wegen. Nellys Leitsatz hieße “Ich will nicht gehen”, der von Gladys: “Ich bin nichts”. Charonne hat an Schluss noch einen furiosen Auftritt.
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„Der diskrete Charme der Bourgeoisie, deren Übermaß an Reichtum die Gefühle verkümmern lässt, wird in diesem Roman erbarmungslos bloßgestellt – aber nicht moralisch verurteilt.“ (Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk) Eine überspitzte Komödie in drei Leben, spaßhaft böse, selbstbespiegelte Klischees. Das Großbürgertum im Verfall, bei Nelly im eigenen Leben, Gladys ist das Bürgertum schon zu groß und hohl geworden, sie sucht nach Sinn, hat das aber nie gelernt, die Mutter war anderweitig beschäftigt. Charonne ist in diese Familie gefallen, die Umtauschfrist war abgelaufen. Ihr gehört die Zukunft. Aber welche? Emmanuelle Bayamack-Tam ist offen für Andersartiges, will sich aber dessen Karikatur nicht verkneifen. Die Personen sprechen in ihrer eigenen Drastik, Charonne spart sich dabei selbst nicht aus. Im unbenutzten Arbeitszimmer der Villa haust ein „Besucher“, der den drei Frauen in unterschiedlicher Gestalt erscheint, gerade, wie sie ihn brauchen. Großmutter Nelly hat in einem Märchenporno das Dornröschen gespielt und ihre siebenjährige Tochter in die Vorführung mitgenommen. Das wichtigste Märchen ist aber „Petruschka“.
Sommer ´69. Die Musik stammt nicht von Bryan Adams (Sein Summer of ´69 erschien erst 1984), sondern von den Doors. Light My Fire. Tobi ist gerade 12 geworden, er ist ein “stilles, nachdenkliches Kind”. Die Doors kennt er nicht, er lernt auch nicht Englisch, sondern Latein. Oben auf seinem Sessel liegt Heinz Habers Buch „Der offene Himmel“. „Ich blickte aus dem Fenster. Irgendwo da draußen war der Mond. Ich wünschte, mein Zimmer wäre in der Düse einer Saturnrakete. Ich stellte mir vor, durch den Weltraum zu schweben.”
Rosa wird bald 13, sie „hörte die gleiche Musik wie ihre Eltern“. Tobi findet, sie habe einen „rätselhaften Charakter“, sie liest „Geschichte der O“. Tobi „fand Liebe als Thema für eine Geschichte nicht besonders reizvoll. Liebe war etwas, für das sich Erwachsene aus irgendeinem Grund interessierten. (…) Ich wollte ihr gegenüber nicht so gerne zugeben, dass mein Wissen darüber noch recht vage war.” Aber “Mädchen sind anders”.
Im zweiten Kapitel ziehen neue Nachbarn ins Haus neben Tobias’ Familie, den Ahrens. Er ist verunsichert,
als nebenan, im ehemaligen Garten von Herrn Fahlheim, eine Frau erschien. (…) Sie war etwas größer als meine Mutter und schien auch etwas jünger zu sein. Ich konnte ihr Alter aber nicht genau einschätzen. Ich unterschied in meiner Wahrnehmung nur zwischen Kindern und Erwachsenen, und in diesem System war sie eine Erwachsene. Das Einzige, was nicht in dieses Schema passte, war ihre Kleidung. Sie trug eine Jeans und darüber eine luftige, bunte Bluse, um die sie einen breiten Ledergürtel geschlungen hatte. Sie war offenbar eine Erwachsene wie die Verkäuferin in dem Jeans-Store, aber eigentlich gab es solche Erwachsenen in unserer Nachbarschaft nicht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie anders waren als meine Eltern – anders auf eine Weise, die ich noch nicht erfassen konnte.
Rosa klärt ihn auf:
«Meine Eltern sind Kommunisten.» Nach allem, was ich über Kommunisten wusste, waren sie bedrohlich, gewaltbereit und eiskalt. Mein Vater hielt es für möglich, dass sie uns irgendwann angreifen und besiegen würden, und dann müssten wir aus unserem Haus ausziehen. Das wollte ich nicht, weil es mir in unserem Haus und unserem Garten gefiel. Die Vorstellung, dass Frau Leinhard eine Kommunistin war, fiel mir schwer. «Wirklich?», sagte ich. Sie zuckte mit den Schultern. «Du kannst sie ja fragen. Sie wollen die Welt verbessern. Deswegen haben wir zwei Jahre in Griechenland gelebt. Und ich heiße Rosa wegen Rosa Luxemburg.» «Wer ist Rosa Luxemburg?»
Die beiden Elternpaare freunden sich an, die beiden Kinder auch. Ulrich Woelk hat den “Sommer meiner Mutter” mit den Lebensdingen von 1969 ausstaffiert. Bei Tobis Eltern wird gegrillt, Rosas Eltern laden zu Moussaka ein, man tanzt den Sirtaki. Politik kommt nur indirekt vor, auch wenn Rosa Tobi auffordert: “Du musst anfangen, politisch zu denken.” Die beiden Mütter fahren nach Köln zu einer Demo gegen den Vietnam-Krieg. Tobis Mutter traut sich erst spät, eine Jeans für sich zu kaufen. Sie ist 38. Ihr Mann hat ihr einen 2CV geschenkt, sie übersetzt jetzt Krimis wie Frau Leinhard. Erste Gedanken an ein anderes, ein eigenes Leben. Tobi wird mitgerissen und durchgeschüttelt.
«Die Erwachsenenwelt ist sooo langweilig», klagte ich. «Ich verstehe», sagte sie. «Deswegen kommst du lieber zu mir. Ich bin nicht ganz so langweilig.» «N-nein», stotterte ich erschrocken. «So habe ich das nicht gemeint.» «Aber gesagt hast du’s. Komm rein.» (…) Das neue Album von den Doors, das sie angekündigt hatte, hieß Waiting for the sun.
Am 18Mai, einem Sonntag, startete abends um Viertel vor sechs Apollo 10. (…) Ende Juni, an Peter und Paul, wie meine Eltern den Tag als Katholiken nannten, gab es in unserer Nähe eine Kirmes. Wir gingen jedes Jahr dorthin, und meine Mutter schlug vor, die Leinhards sollten mitkommen. Ich freute mich darauf, mit Rosa dort zu sein. Da sie den Rummel nicht kannte, konnte ich ihr alles zeigen. (…) Meine Mutter entdeckte ein Apollo-Raumschiff als Flugzeug. Man konnte sich hinter die Spitze in den geöffneten Rumpf setzen. «Sieh mal!», sagte sie zu mir. Ich war in einer schwierigen Situation. Wie gerne wäre ich in das Raumschiff gestiegen und hätte in ihm ein paar Runden gedreht. Doch Rosa sagte: «Sollen wir zu zweit fliegen?» Sie wollte, dass ich hinter ihr saß. (…) Das Karussell setzte sich in Bewegung, und wir stiegen in die Höhe. Oben angekommen, ließ Rosa den Steuerknüppel los und nahm meine rechte Hand, die wegen der Enge im Cockpit in ihrem Schoß lag. Die Lichter der Kirmes waren in der Dämmerung besonders intensiv. Es war noch warm. Rosa sagte nichts. Sie zog meine Hand unter ihren Rock und schob sie in ihre Unterhose und noch weiter hinab. Ich sagte auch nichts. Die Stelle, auf der meine Fingerkuppen schließlich lagen, war warm und weich. Ohne zu wissen, warum eigentlich, bewegte ich meine Finger hin und her. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich da tat. Aber Rosa protestierte nicht. Vielleicht machte ich das Richtige. (…) «Seid ihr zum Mond geflogen?», flachste mein Vater. «Ja, sind wir», sagte Rosa mit sonderbarer Bestimmtheit.
Es ist ganz schön ungeniert, wie Ulrich Woelk da die Körper und die Raumfahrt engführt. In jedem Satz die plumpesten Anspielungen. Andererseits ist das Spiel deshalb nicht ohne Reiz, weil Woelk ja von seinem Kinder-Ich erzählen lässt. Der junge Tobi weiß nichts, aber in ihm ahnt etwas: Des Mädchens Bestimmtheit kommt ihm “sonderbar” vor. Kindliche Reibereien, fleckenlos. Wäre es nicht doch besser, bei Apollo zu bleiben?
Rosa wies auf den Mond. «Wenn du dich entscheiden müsstest, zum Mond zu fliegen oder mich zu streicheln. Was würdest du tun?» «Darf ich dich denn wieder streicheln?» «Wie soll das gehen, wenn du zum Mond fliegst?» «Dann bleibe ich hier.» «Bist du sicher?» Ich zögerte. «Ich käme ja zurück», sagte ich. «Das ist keine sehr romantische Antwort», sagte sie. «Aber ich dürfte, ja?» «Das weiß ich noch nicht», sagte sie. «Dann hat es dir nicht gefallen?» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht Nein gesagt.» «Aber du hast auch nicht Ja gesagt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Mädchen sind so.»
„Der Sommer meiner Mutter“ ist ein raffiniertes Jugendbuch. Eher für Jungs als für Mädels. Der Stil ahmt die unbedarfte Wortlosigkeit des 12-Jährigen nach, was Woelk durchaus liegt. Dennoch lässt sich der Zwiespalt zwischen dem erwachsenen Rückblick und der gesetzten Kindersprache mit all ihrer betonten Unwissenheit nicht auflösen. Der Roman setzt natürlich auf den 50. Jahrestag der Apollo-Mission am 20. Juli. Der Kontrast zwischen den beiden Familien und den Lebensentwürfen von Rosa (♀ )und Tobi (♂ )wirkt sehr gewollt, auch hier geben Zeit und Milieu der Personen den Handlungsrahmen vor. Unbefriedigend scheint mir die Motivation des Selbstmords der Mutter von Tobi. Der erste Satz des ersten Kapitels “Am Stadtrand” heißt: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.”
Warum vergesse ich bei vielen Büchern noch schneller als den Inhalt den Anreiz, sie zu lesen – oder, früher noch, sie zu kaufen. War es bei Ottessa Moshfeghs “Eileen” eine verlockende Besprechung, eine kontroverse TV-Diskussion oder die Information, dass der Roman 2016 auf der Shortlist des Man Booker Preises stand? Das Cover hat mich nicht weiter animiert, der Titel weist nichtssagend auf eine Frau. Ich hab’s dann doch aus dem Regal gezogen und – recht schnell – gelesen. Was für das Buch sprechen kann.
Eileen Dunlop beschreibt sich über hunderte von Seiten als Frau ohne jedes Selbstbewusstsein. Und sehr früh erzählt sie, dass es “die Geschichte meines Verschwindens” ist. Das macht neugierig wie auch die Aussage, dass es jetzt, da sie erzählt, 50 Jahre später ist. Eileen inszeniert das Geschehen: “An diesem Abend – ich werde meine Geschichte an dieser Stelle beginnen”. Es ist eine Gechichte mit Eiszapfen.
Nach mir drehte niemand den Kopf um. Dabei war nichts wirklich Schlimmes oder Abstoßendes an meinem Aussehen. Im Grunde genommen war ich jung und nicht unbedingt hässlich, eher normal, durchschnittlich, könnte man sagen. Aber damals fand ich mich das Allerletzte – widerlich, abstoßend, untauglich für die Welt. Da kam es mir idiotisch vor, irgendwie Aufmerksamkeit auf mich ziehen zu wollen. Ich trug nur selten Schmuck und nie Parfüm oder Nagellack. Eine Weile hatte ich einen Ring mit einem kleinen Rubin am Finger. Der hatte meiner Mutter gehört.
Meine letzten Tage als die kleine, zornige Eileen spielten sich Ende Dezember in der grimmigen Kälte jener Kleinstadt ab, in der ich geboren und aufgewachsen war. Mehr als ein Meter Schnee war bereits gefallen und schmolz auch nicht mehr weg. Unerschütterlich lag er in allen Vorgärten und drängte wie eine Flutwelle an die Brüstung jedes Erdgeschossfensters. Tagsüber taute die oberste Schneeschicht ein wenig an, etwas Matsch floss in die Gullys und man erinnerte sich, dass es Freude und Sonnenschein im Leben geben konnte. Aber im Laufe des Nachmittags verschwand die Sonne, alles fror wieder zu und bildete nachts eine Eisschicht, die so dick war, dass sie das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes tragen konnte. Jeden Morgen streute ich Salz aus dem Eimer, der neben der Haustür stand, auf den schmalen Gartenweg von unserer Veranda zur Straße. Vom Dachsparren über der Tür hingen Eiszapfen, und wenn ich darunter stand, stellte ich mir vor, sie würden abbrechen und meine Brüste durchbohren, den dicken Knorpel an meiner Schulter durchtrennen oder sich wie eine Gewehrkugel in mein Gehirn bohren.
“An den Himmel glaubte ich nicht, aber an die Hölle schon.“ Eileen arbeitet in der Verwaltung eines Jugendgefängnisses. Sie schließt keine Kontakte oder Freundschaften, ihren Kollegen Randy träumt sie sich als Partner, wagt aber nicht ihn anzusprechen, fährt jedoch oft vor sein Haus, um sich vorzustellen, wie er lebt. Ihre Realität ist so bitter wie gewöhnlich in US-Vorstädten. Das Haus gleicht einer Müllkippe. Ihre Mutter ist gestorben, ihr Vater, früher Village-Cop, ist Alkoholiker ohne Realitätsbezug. Eileen versorgt ihn mit Gin, er missachtet und schurigelt sie dafür. ER hat Eileen auch begrapscht, ohne dass die Mutter sich darum geschert hätte. Das ist nicht unwichtig.
An diesem Abend – ich werde meine Geschichte an dieser Stelle beginnen – saß er barfuß auf der Treppe, einen Zigarrenstummel zwischen den Fingern, und trank den Sherry. »Arme Eileen«, sagte er sarkastisch, als ich zur Tür hereintrat. Er behandelte mich meist herablassend, immer hatte er etwas an meinem bedauernswerten Anblick auszusetzen und auch keinerlei Skrupel, mir das mitzuteilen. Hätten sich meine damaligen Träume bewahrheitet, hätte ich ihn eines Tages am Fuß der Treppe vorgefunden, mit gebrochenem Genick, aber noch atmend. »Das wurde auch langsam Zeit«, hätte ich dann so gelangweilt wie möglich vorgebracht und ihn gemustert, während er sterbend am Boden lag. Ja, ich verab scheute ihn, aber ich war trotzdem pflichtbewusst. Nur wir zwei wohnten in dem Haus – Dad und ich. Ich habe eine Schwester, die vermutlich noch am Leben ist, aber ich habe seit über fünfzig Jahren kein Wort mehr mit ihr gewechselt. »Hi, Dad«, sagte ich, als ich auf der Treppe an ihm vorbeiging.
In den selbstzentrierten Schilderungen des “Familien”- und – deutlich weniger – des Berufslebens erschöpft sich die Handlung des Romans weitgehend. Er beginnt am Freitag und endet am Donnerstag darauf, Heiligabend 1964. Der ideale Tag für ein Familienfest, hätte man denn eine. Eileen muss ihn zum ersten Mal nicht zuhause verbringen, denn ihre neue Arbeitskollegin Rebecca hat sie zu sich eingleladen. Eileen bringt eine Flasche Wein mit. Rebecca Saint John schiebt sich vor Randy und wird zu Eileens Sehnsucht nach dem Leben und sich selbst.
Mein Leben würde sich verändern. Endlich hatte ich eine Seelenverwandte, eine verbündete, eine Vertraute gefunden. Ich wollte ihre Hand ergreifen und Blutsbrüderschaft mit ihr schließen. So einsam, so leicht zu manipulieren war ich. Aber ich nahm die Hände nicht aus den Taschen. Dieser Augenblick markierte den Beginn des dunklen Bundes, der den Rest dieser Geschichte beherrschen wird. (…)Es war, als hätte sich mein verborgenes Leid gerade in sein Gegenteil verwandelt. Wahrscheinlich durchschaute Rebecca mein forsches Auftreten sofort, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich hielt mich für ungemein weltgewandt.
Markus Gasser liest in “Eileen” “gebändigte Redseligkeit”, ich habe in der murrköpfigen Suada manches überlesen, ließ mich von den offensichtlich eingestreuten expliziten Bemerkungen aber doch zum Fertiglesen teasern. “In „Eileen“ nun wird die Leserin lange, fast bis zum Ende des Romans, mit Andeutungen hingehalten. (…) Am Ende kommt einem die seltsame Eileen Dunlop ein bisschen zu krass, ein wenig unglaubwürdig vor. Etwas fesselt, etwas stört aber auch an dieser Figur. (Sylvia Staude, FR) Wenn man denkt, der Gram habe ein Ende, steht man dicht am Abgrund.