George Saunders: Lincoln im Bardo
Man kann den Boandlkramer um Aufschub bitten, aber irgendwann wird’s aus sein. When I’m dead and gone. Wolfgang Niedeken und Trude Herr sangen: Niemals geht man so ganz, es gibt Vorhölle und Vorhimmel (Limbus und Purgatorium) als der Unendlichkeit vorgelagerte Aufenthaltsräume fürs Nach-Leben. Die Buddhisten nennen diese Regionen „Bardo“ – eigentlich gibt es davon wie bei Dante mehrere –, in denen man vor der finalen Auslöschung noch ein wenig herumspuken darf. Man sieht, man wandelt auf schummrigem Gelände.
George Saunders lädt den Leser ins Bardo ein (hat nichts mit Bardolino zu tun) und setzt ihn dort dem Geplapper einiger Vortoten aus. Gesichert ist nichts. Den Hauptpart der Unterhaltungen auf dem Friedhof in Georgetown bestreiten hans vollman, roger bevins iii und ein paar reverends (Saunders lässt die Namen klein drucken), aber auch Leute wie du und ich reden mit, so die eher vulgären eddie und betsy baron, Ärzte, Geistliche, Soldaten, Nichtsnutze, bunt geschichtet.
Ah, Benjamin, Benjy! Weißte noch, dieser Sch-schnurrbart? Haben wir ihn nich mal bei McMurray festgehalten, dass der ihn kahlschert? (eddie baron) Ich hab mal mit Benjy rumgeferkelt wie Satan und Gar:… ha. (betsy baron) Ach, wer nich? Haha! Nee: soweit ich weiß, hab ich selber nie mit Benjy rumgeferkelt, aber is schon mal vorgekommen, dass so in dem allgemeinen, äh. Frohsinn bisschen sch-un klar war, wer) etzt grade mit wem rumferkelt wie der Sehsatan – (eddie baron)
Man erinnert sich an das Leben und kommentiert die aktuelle Situation, spekuliert auch über die Geschichte, 1862, Sezessionskrieg, Abraham Lincoln. Die Meinungen über den Präsidenten sind durchaus ambivalent; „Ihr habt die Zügel ergriffen und Euch zum Diktator aufgeschwungen und damit eine neue monolithische Form des Regierens eingerichtet, die die Rechte des Einzelnen übertrumpft. Eure Herrschaft sagt eine schreckliche Zeit voraus, in der all unsere Freiheiten zugunsten der Rechte des Monolithen verloren sein werden. Die Gründerväter wenden sich mit Grausen.“ (In: »Der Schurke Lincoln«, von R. B. Arnolds, Bericht von Darrel Cumberland) Der Raum des Bardo ist liquide, die Personen materialisieren sich formfrei und können sich anderen Körpern einfügen, auch durch sie hindurchgehen. Die Zeit der toten Individuen ist auch im Bardo begrenzt, wenn sie ihre Illusionen verloren haben, endlich ihr Totsein akzeptieren und loslassen können, entmaterialisieren sie sich in einer „Materienlichtblüte“, dass es nur so knallt und furzt. Die Handlung soll sich an einem Tag, einer Nacht abspielen, aber das ist egal.
Seine Gestalt (wie es manchmal mit denjenigen passiert, die kurz vorm Weggang stehen) flackerte jetzt zwischen den verschiedenen Formen, die er an jenem vormaligen Ort eingenommen hatte: purpurrotes Neugeborenes, schreiender nackter Säugling, Kleinkind mit Puddinggesicht, fiebernder Junge auf dem Krankenbett. (hans vollman) Dann, ohne seine Körpergröße im Geringsten zu verändern (also immer noch in Kindergröße), nahm er seine verschiedenen zukünftigen Gestalten an (die er leider nicht mehr er reicht hatte): nervöser junger Mann im Hochzeitsgehrock; nackter Gatte, von der gerade erlebten Lust noch feucht zwischen den Beinen; junger Vater, aus dem Bett springend, um eine Kerze anzuzünden, weil ein Kind geschrien hat; trauernder Witwer mit weißem Haar; gebeugter alter Knabe mit Ohrtrompete, breitbeinig auf einem Baumstumpf, nach Fliegen schlagend. (roger bevins iii)
Als dieser Herr durch mich hindurchging, spürte ich eine Seelenverwandtschaft.
Und beschloss, ein bisschen zu bleiben.
Da drinnen.
Und so bewegten wir uns nun gemeinsam voran, ich richtete mich Schritt für Schritt nach ihm. Was nicht leicht war. Er hatte sehr lange Beine. Ich streckte meine Beine aus, damit sie sich seinen anpassten, streckte mich komplett aus, und wir waren gleich groß, und draußen, auf dem Rücken eines Pferdes, und (verzeiht mir) die Aufregung, wieder auf einem Pferd zu reiten, war zu groß, und ich – ich blieb. Da drinnen. War das aufregend! Zu tun, was ich wollte. (thomas havens)
Zwischen die Gespräche setzt Saunders Zitate von Zeitzeugen, Texte aus Sachbüchern und zeitgenössischen Briefwechseln. Saunders nennt die Quelle, ich kann nicht prüfen, was davon authentisch ist. Auch Abraham Lincoln erscheint in dieser Nacht auf dem Friedhof, deshalb hat Saunders den Termin gewählt. Lincoln im Titel, das ist auch der Leserfang. Lincolns Sohn Willie ist mit 11 Jahren gestorben, an Tuberkulose, der Vater ist trostlos. “
Doch da die Tür nur angelehnt war und die Kranken-Gestalt seines jungen drinnen lag, konnte er offenbar nicht widerstehen, ein letztes Mal hineinzugehen. (reverend everly thomas) Wiir sprangen vom Dach hinunter und folgten ihm hinein. (hans vollman) Die Nähe der Kranken-Gestalt schien Mr. Lincoln aus einer früheren Entschlossenheit zu reißen, und er zog die Kiste aus ihrem Wandfach und stellte sie auf den Boden. (reverend everly thomas) Vie es aussah, wollte er nicht weiter gehen (roeger bevins iii) E:r hatte ursprünglich nicht einmal so weit gehen wollen (reverend everly thomas) Nur dass er sich dann hinkniete. (hans vollman) Und als er da kniete, konnte er offenbar nicht widerstehen, üe Kiste ein letztes Mal zu öffnen. (reverend everly thomas) Er öffnete sie; sah hinein; seufzte. (roger bevins iii) Griff hinein und strich zärtlich die Stirnlocke zurecht. (hans vollman) Veränderte die Stellung der blassen gekreuzten Hände ein wenig. (roger bevins iii) Auf dem Dach schrie der Knabe auf. (hans vollman)
Er nimmt seinen Sohn aus der “Kranken-Kiste“ – dem Sarg – und drückt ihn, um Abschied zu nehmen. Auch für dieses Tun gibt es Zeitungsberichte? Die Vortoten mischen sich ein. Fort?, schrie der Junge auf. Wir hatten ihn jetzt befreit. Er schob sich aus der Wand, taumelte ein paar Schritt weit und setzte sich auf den Boden. (reverend everly thomas)
Auch Willie spricht:
Ich bin Willie Ich bin Willie Ich bin sogar jetzt noch Bin nicht Willie
Nicht willie aber irgendwie Weniger
Mehr Alles ist Jetzt erlaubt Alles ist mir jetzt erlaubt
Alles ist Licht Licht Licht mir jetzt erlaubt
Aus dem Bett aufstehen, zum Empfang runtergehen, erlaubt (…)
Aus dem Fenster fliegen, erlaubt, erlaubt (die ganze lachende Gesellschaft des Empfangs steht glücklich hinter mir, drängt mich, ja, flieg los) (und sagt, oh, es geht ihm schon viel besser, er wirkt überhaupt nicht krank!)!
Alles, was der frühere Kerl (willie) hatte, muss jetzt zurückgegeben werden (wird mit Freuden zurückgegeben),
denn es war nie meins (nie seins) und wird deshalb auch nicht weggenommen, überhaupt nicht!
Da ich (der ich willies war, doch nicht mehr (nur) willies bin) nun zurückkehre
Zu solcher Schönheit.
willie lincoln
Das Buch zu lesen ist leicht und doch ungewöhnlich. Es fügen sich viele Stimmen, oft nur wenige auf einer Seite. Man liest schnell drüber hinweg, versucht Relevantes herauszufiltern, braucht dazu Zeit und hat doch bald viele Seiten hinter sich. “Es sieht nicht wirklich aus wie ein Roman.” (Thea Dorn) Die Geister ergeben keinen Chor, obwohl sie gesellschaftliche Empfindungen abbilden, aber die Stimmen begleiten nicht, sie sind das Sprechen, eher ein Drehbuch als eine Erzählung. Als “musikalische Literatur” empfindet es Thea Dorn. Auch als Mosaik lässt sich das Buch nicht lesen, ein Mosaik lebt von der Gleichzeitigkeit der Betrachtung, für den Roman braucht man Stunden oder mehr, vieles vom Gelesenen hat man bald wieder vergessen. Was natürlich auch nicht schlimm ist. Möglich, dass ein zweites Lesen manches zurechtrückt, Überblicke verschafft, das Umgehen mit der Methode erleichtert. Aber, so Andreas Isenschmid mehrdeutig: “Ein solches Buch wird man so bald nicht wieder lesen.“ (ZEIT) Ulrich Baron (SZ) hat lange kein Buch mehr gelesen, das die „Schönheit der Welt“ derart feiert wie Georg Saunders‘ erster Roman. Laut Klappentext mündet der vielstimmige Chor, “in die eine große Frage (…): Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?” In meinem Buch habe ich weder die Frage noch eine Antwort darauf gefunden. Das Buch sei ein Wunder, hört man, doch das Spirituelle ist nicht so meine Sache.
2017 450 Seiten
* Die Zitate geben nur den Text wieder, das Seitenlayout ist nicht berücksichtigt. (siehe Bild/ZDF)
Gespräch mit Hubert Winkels in der 3Sat-Kulturzeit
Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF
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Christine Wunnicke:
Die Dame mit der bemalten Hand
1759 hält Prof. Michaelis in Göttingen Vorträge über die Bibel und ihre historischen Wahrheiten.
»Der Gelehrte, ich, wir, hier, daheim in unseren Stuben«, fuhr Michaelis fort, »wir lesen aus unseren Büchern und Gedanken ab, was in den Ländern des Orients zu finden sein wird und wie es uns hilft, die heilige Schrift zu begreifen. Wir stellen nach richtigem Studium die richtigen Fragen. Wir lesen die Bibel und den Koran, sie mit dem rechten, ihn mit dem linken Auge, und stellen im Gehirn die Verbindung her. Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt ein und derselben Sprache, nicht mal völlig so weit entfernt als Obersächsisch und Niedersächsisch, und ich leiere das her wie eine Repetieruhr, bis mir das Schlagwerk erlahmt, und Sie halten immer noch Maulaffen feil. Arabien ist unsere Wiege! Dort spielt sie, die heilige Schrift! (…) Der Reisende, den wir in den Orient schicken, ist unser Rennpferd. Der Springer auf unserem Schachbrett. Unser Werkzeug, unsere Angel, unsere Linse. Unser Fernrohr ist er!«
In der Vorlesung sitzt auch Carsten Niebuhr, eigentlich Mathematiker, aber vom Theologen Michaelis so inspiriert, dass er sich einer dänischen Expedition anschließt, die sich in biblischen Landen mit Überlieferungen, Menschen und Sprachen befassen soll. Carsten Niebuhr ist eine historische Person.
Christine Wunnicke lässt allein Niebuhr die Reise überleben, allerdings findet er nicht sofort wieder nach Hause, sondern strandet auf der Flussinsel Elephanta bei Bombay – bekannt für ihre hinduistischen Höhlen. Auf Elephanta leben nur wenige Leute, aber viele Affen. Auf Elephanta wartet auch der persisch-indische Gelehrte Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri, kurz Musa, bekannt für seine selbstgefertigten Astrolabien. Niebuhr und Musa verstehen sich nicht, interessieren sich aber wegen ihrer „wissenschaftlichen“ Beobachtungen füreinander. Das Schiff, mit dem sie weiterreisen wollen, lässt auf sich warten und so ergeben sich Gelegenheiten für Kommunikationsversuche und für Insel-Erkundungen.
»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Musa.
»Mein Arabisch …«
»Dein Arabisch ist gut und ich rate, wovon du sprichst. Und dann?«
»Am tiefsten ist es bei Bahr al-Qulzum. Das schrieb ich auf, und die Maße. Dem Beduinen war der Faden der Ruhe zerrissen und er schmiss mir die Lanze um. Beduinen sind furchtbare Leute. Fragt man sie etwas, sagen sie immer >ja, ja<. >Hat Israel hier das Meer durchquert?< — >Ja, ja.< >Geschah es nicht eher dort?< — >Ja, ja<. Dann ging’s ins Gebirge. Viel Gebirge gibt es bei Sues. Staubige Wüste mit Aussicht. Doch an den Prospekten des Landes mich zu erfreuen, wurde ich nicht bezahlt. >Hat Gott hier die Leute mit dem Tod gestraft, die zu viel Salwa-Selav-Vögel verspeisten?< — >Ja, ja<. >Fängst du mir einen Vogel, guter Scheich, zwischen den vielen Bergen, die vielleicht Sinai sind, aber vielleicht auch nicht, auf dass ich ihn braten und essen kann und der Herr mich tötet?«<
»Ha, ha«, sagte Musa.
»Was?«
»Da sagte der Beduine >ha, ha<, nehme ich an. Hast du Fieber?«
»Es steht in meinem Auftrag geschrieben!«
»Samt Gott dem Allmächtigen?«
»Samt Gott dem Allmächtigen und seinem heiligen Wort!«
Musa steckte Holz ins Feuer. Als es aufflammte, rückte er näher und blickte Niebuhr mit gerunzelter Stirn ins Gesicht. Wiederum konnte Niebuhr seine Miene nicht deuten. Allerlei war dort in Bewegung, Lachlust, Mitleid, ein wenig Ekel vielleicht — Niebuhr wusste es nicht.
Christine Wunnicke nimmt sich sehr viel Zeit für dieses verständniswillige Aufeinandertreffen der Zivilisationen, viel Zeit fürs Beobachten der Affen-Population, viel Zeit für sprachliche und kulturelle Missverständnisse, für Einblicke in divergente Beziehungen zu Wissenschaft und kulturelle Traditionen, auch zu Grenzbereichen der Esoterik. „All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft.“ (Bories vom Berg) All das plänkelt vor sich hin, verplänkelt sich, es kommt lange kein Schiff, das die Protagonisten von ihrer Insel holt und damit auch den Leser erlöst.
P.S. „Die Dame mit der bemalten Hand“ ist der arabische Name eines Sternzeichens, das im Westen weniger pittoresk benannt ist.
2020 – 165 Seiten

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Niebuhrs Bericht übet seine Reise nach Arabien
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Christine Wunnicke: Katie
Da ist William Crookes. Wissenschaftler, soweit man das Ende des 19. Jahrhunderts sagen kann, er entdeckt das Element Thallium, befasst sich mit Radioaktivität, experimentiert mit Kathodenstrahlung, ist Mitglied der Royal Society und „Ich habe gestern den vierten Aggregatzustand entdeckt”, sagte William Crookes zu seiner Frau. In Alltagsdingen wie Familie oder Haushalt eher irrlichternd, zunehmend verunsichert, weshalb er sich auch dem Spiritismus zuwandte. William Crookes gab es wirklich.
Da ist Florence Cook, ein kränkelndes Mädchen von 17 Jahren mit eigenartigen Fähigkeiten.
Im Winter 1869, in ihrem dreizehnten Jahr, stellte Florence Cook fest, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust.
Es kostete wenig Anstrengung. Einmal überm Gesäß verschränkt, glitten sie mühelos immer weiter nach oben, bis zwischen die Schulterblätter, und die Schultern blieben bei alledem schön gesenkt, der Hals lang, der Rücken gerade wie ein Besenstiel; und wenn Miss Cook wollte, konnte sie auch die Unterarme bis zu den Ellenbogen zusammenlegen, ohne dass ihr Nachthemd aus der Fasson geriet.
Diese Gaben gestatteten ihr, sich in Schränken zu verkriechen und sich aus angelegten Fesseln zu befreien. Sie wurde zum Medium, denn in ihrer Zeit war es von der Begabung zur Magie noch nicht weit, das „Sitzen“ (die Séance) war beliebtes Spektakel und ließ sich auch recht profitabel vermarkten. Auch Dr. Crookes versuchte sich darin. Florence Cook gab es wirklich.
Wer bezahlte, wollte nicht betrogen sein, nicht hinters Licht geführt werden. Und so kam es, dass William Crookes einen Auftrag annnahm, das Medium Florence zu begutachten. Als Strahlenexperte war er der Mann, sich auf die Luminiszenzen des Mädchens einzulassen, auch konnte man solche Expertisen profitabel verwerten. Wissenschaft und Hirngespinst manifestierten sich in Geld. Es gibt Fotos davon.
Christine Wunnicke macht aus den Erscheinungen einen kleinen Roman. Das ist nichts aktuell Weltbewegendes, aber doch reizend, denn sie erzählt mit ersichtlicher Freude von den Beschwörungen der Aggregate und der Geister. Die spintisierenden Schlüsselfiguren kämpfen sich durch ihre physischen und psychischen Defizite, aufrecht gehalten durch wenige Pragmatiker wie Nelly Crookes, die real durch die Wohnung wandert. Oder der schüchtern-biedere Gehilfe Pratt, der sich an seinem Radiometer erfreut. „Jeremiah Pratt (…) hatte keine dezidierte Meinung über die Phänomene der Welt. Was half es einem? Was half es einem wie Pratt?” Faktenfetischismus meets Okkultismus. Damit „ist Christine Wunnicke ein Roman gelungen, der Wissen und Wünschen in ein hinreißend schummriges Verhältnis zueinander setzt (…) Kawumm!” (Jutta Person, SZ) Christine Wunnickes “Bücher kommen unscheinbar daher, entfalten beim Lesen aber größten Zauber“. (Ulrich Rüdenauer, SWR)
Und dann kommt Katie. „Katie war ein Kind der Sünde, gezeugt im Schatten des dreigegipfelten Cadair Idris” in Wales. “Katie wurde stark und schön. Wenn der Mond über dem Cadair Idris hing, schrie sie nach Elfen und Trollen. Man fürchtete sie. Männer wollten sie. Auch Frauen wollten sie; denn der Geist des Vaters war so stark in Katie, dass sie manchmal, vor allem bei Vollmond, halberlei ein Knabe war.” Das trug sich zu im 17. Jahrhundert, zur Zeit der Bukanier, und jetzt leuchtete Katie im Victorianischen Zeitalter als Geist wieder auf.
Sie trug ein weißes Kleid oder Hemd und über dem Kopf, über anscheinend offenem blondem Haar, ein weißes Tuch, das auf ihre Schultern herabfiel. Das zage Licht umspielte ihre Gestalt und ihre Konturen verschwammen darin. Sie ging langsam, lautlos, mit sicherem Schritt. Ihr Gesicht blieb im Schatten. Ihr Kleid oder Hemd war zart und beweglich, es wehte ein wenig und ein Mieder befand sich darunter nicht. In großem Abstand von Crookes, der regungslos sitzen geblieben war, hielt sie inne. Jetzt drehte sie ein wenig den Kopf. Ein weiches, schönes Profil. Sie nickte. Crookes machte ein Geräusch, eine Art Schnappen. Da lächelte die Fremde. Ihre Lippen waren schwarz im niedrigen Gaslicht, die Augen blass. Keine Farben waren in dieser Frau. Sie sah aus wie ein Lichtbild. Der Ton changierte, vom matten Sepia einer Albuminkopie bis hin zum Blauschwarz und Reinweiß eines kostbaren Chlorgoldabzugs.
»Ja oh, Pratt«, sagte der Geist.
Er sah Miss Cook ein wenig ähnlich, und dann auch wieder nicht. Er sah aus wie ein Bursche, der wie ein Mädchen aussah; zu seinen Lebzeiten, vermutete Pratt, war solches noch an der Ordnung gewesen.
»Sechzehnhundertdreiundfünfzig.« Der Geist las Gedanken. Das war das geringste Problem. Er hatte unter Pratts Decke gegriffen, unter der sich dieser weitgehend versteckt hatte, und seine Hand genommen und herausgeholt, und nun hielt er sie in der seinen. »Oh Pratt«, sagte der Geist noch einmal. Seine Hand war weich und griff fest zu.
Dies war eine Menschenhand. Ob sie verstorben und vergeistigt war? Pratt bezweifelte es. Ob sie aus soliden Atomen bestand, wie Demokrit und Boyle und Bernoulli sagten? Das bezweifelte er ebenfalls. Jeremiah Pratt hatte keine dezidierte Meinung zur Stofflichkeit des Geistes in seinem Bett. Denn dort befand er sich nun. Und lächelte. Und diskutierte nicht. Er verwirrte Pratt. Doch dann erfreute er ihn, seine Stofflichkeit, seine Atome und Nichtatome, seine newtonisch beharrliche Kraft und Masse. Er erfreute ihn, wie sich Pratt bislang nur selbst erfreut hatte – meist über Formeln gebeugt und ganz in ihnen verloren; wie ein Bursche erfreute er ihn, wie ein zweiter Pratt, der wusste, was dem ersten Pratt notwendig war, wie Pratts Geist, der Pratts Körper erfreute, wie Pratts Körper, der Pratts Geist erfreute, wie alle Zwischenstufen zwischen Energie und Materie, die einander erfreuten, in einer komplizierten, unkomplizierten, letztendlich pragmatischen Weise. So schlicht. So schön. Dunkel war es in Jeremiah Pratts schmalem, jungfräulichem Bett, und fort war das Glühen im Haar des Geistes, und Pratt dachte, oder flüsterte gar, »p-strich gleich p plus df durch dt«, und all das Schöne explodierte langsam und lautlos und lange, nach dem Gesetz der elektrischen Elastizität und oh, dem Durchflutungsgesetz.
Ob es Katie wirklich gab? Egal, solange Christine Wunnicke so viel Esprit in Geister und Körper zaubert. Eine amüsante, geistreich funkelnde Geschichte. Wird man, wenn abermals 200 Jahre vergangen sein werden, auch auf unsere Zeit als gutgläubiges graues Gestern zurückblicken? Wenn es noch Menschen mit Rückblicken gibt.
2017 175 Seiten
3SAT – Büchertip vonKatrin Schumacher
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Christine Wunnicke: Serenity
In eine reichlich exotische Welt führt auch Christine Wunnikes „Serenity“: ins Internet. Für Dr. Rüdiger Varendorf, 53, liegt hier absolutes Neuland. Der leicht verschrobene Leiter der Schopenhauer-Bibliothek habilitiert seit Jahren über die „Ideengeschichte des Nichts im abendländischen Denken“.
Zur Zeit erforschte er den Begriff der Annihilatio in Luthers Frühwerk Dictata super Psalterium. Wenn sich im Kollegenkreis oder anderswo die Möglichkeit bot, verspottete sich Varendorf gerne ausgiebig selbst, als einen gutartig weltfernen Nihilisten, der nach vielen Jahren mit Meister Eckhart nun bei Luther gelandet sei und dort auch noch eine gute Weile bleiben wolle, da ihn jeder Schritt nach vorn unweigerlich näher zu dem selbsternannten Alleinpächter aller modernen Nichtstheorie, Martin Heidegger, führen würde, den Varendorf aus dem Stegreif viertelstundenlang parodieren konnte und nicht zu seinen Idolen zählte.
Dr. Varendorf ist nicht weltfremd, er ist nur nicht mit allen technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte vertraut. Er hat eine Freundin, Marion, einen Sohn, einen Balkon, der von allerlei Düften und Geräuschen umweht wird und auf dem er entspannt und arbeitet, und er hat den Asistenten Urs, der ihm Zu Hause einen Anschluss ans Internet einrichtet.
Dr. Varendorf, 53, ist hin- und her- und ins Netz hineingerissen. Er will da rein, weil da drin eine Chatgruppe haust, die er bei seinen eher ziellosen Besuchen entdeckt hat, eine Gruppe quakender Teenies: Aprilchan,LauraAutomatic, Salli04, Prozacduckie, CaliNeko. Dr. Varendorf verliert sich is abendländische NICHTS.
Er öffnete megablogg.com. Er klickte create Journal an. Ein Formular erschien. Name? Varendorf gab seinen Namen ein. Passwort? Varendorf gab »Varendorf« ein. Wie würde Urs mit ihm schimpfen, wenn Urs das wüsste, Varendorf zündete sich grinsend eine Zigarette an.
Username?Varendorf gab »Varendorf« ein.
Hey Varendorf, rad! I buddied you! Nein. Varendorf löschte »Varendorf«. Er bezweifelte, das Aprilchan einen Varendorf auf ihrer Kumpelliste haben wollte. Er brauchte einen anderen Namen.
Ruediger?
Rudy?Marchchan?
Varendorf schüttelte den Kopf über diese idiotischste aller Aufgaben. Er tippte wieder »Varendorf«. Er löschte es erneut. Am linken Bildrand trabte das Pärchen durch Manhattan, mein Date ist so süß, und wenns nun HERPES ist?
Schopenhauer?
Gauloise?
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Nothing?
Nihil?
Nichts? Nullo? Rien?
Varendorf stöhnte. Dann tippte er »Serenity«.
Dr. Varendorf beginnt als Serenity zu leben und zu leiden, aus heiterem Gleichmut wird zehrende Sucht. Von Assistent Urs geworfen verbeißt er sich , alters- und geschlechtsblind, in die Tiefen der Chatrooms in der ersponnenen Meinung, als Wissenschaftler sei er Herr des Versuchs. Das Aufeinandertreffen des leicht verschrobenen Bibliothekars mit Aprilchan & Co. gestaltet Christine Wunnicke zu einigen schönen Episoden in parallelen Neuländern. Erzählt ist das mit Feinsinn und wohlwollender Ironie. Das Netz ist ähnlich skurril wie „Katie“s Lumineszenzen im 19. Jahrhundert, doch war die Welt damals nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich weiter entfernt und mir deshalb noch fremder und ergötzlicher.
2008 230 Seiten