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Yasmina Reza: Serge
„Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“

Die Geschwister Nana, Serge und Jean, der mittlere, alle um die 60. Nana ist unpassend verheiratet, Serge gibt sich als Griesgram, Jean ist der Erzähler und sollte als solcher ohne auffällige Eigenschaften bleiben. Dann sind da noch Kinder, Cousins, Ex-Partner, enge oder weitläufige Bekannte. „Mischpoke“ könnte man das im Jiddischen nennen, im Roman wird es zum „familiären Haufen“ erklärt.
Man kennt sich, weiß einiges voneinander, auch weniger Angenehmes. Man spricht miteinander, frei oder nicht ganz offen, gerne oder weil nichts anderes übrigbleibt. Man besucht sich, Anlässe gibt es – oft leider – genug. Familie halt, je umfangreicher, desto mehr Kommunikation, desto flacher oft auch das Gespräch. Krankheiten, Beziehungen, Kinder, Tod, Geburtstage. Yasmina Reza lässt mich am „Kuddelmuddel“ teilnehmen, obwohl mein Interesse an den Themen und Inhalten nicht größer ist als das des Familienhaufens aneinander. Die Familienverhältnisse sind unübersichtlich.
Dann kommt der Grund, weshalb Yasmina Rezas Roman von der Kritik begierig aufgegriffen und „vielgerühmt“ (Eigenwerbung) wurde. Josephine, die Tochter von Serge, kommt auf eine Idee: »Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.«
»Die haben leider zu.«
» AUSCHWITZ !«, schrie Serge auf. »Osvitz!! Wie die französischen Goys! … Lern erst mal, das richtig auszusprechen.
Auschwitz! Auschschschwitz! Schhhh…!«
»Papa …!«
»Alle können dich hören«, murmelte Nana.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Tochter Osvitz sagt! Wo hat sie das denn her?«
Auf Seite 83 treffen die Geschwister Nana, Jean, Serge und dessen Tochter Josephine in Auschwitz ein. Es scheint nicht so, dass Ausschwitz sich in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der vier Personen spiegelt, mehr geht es Yasmina Reza darum, angesichts des Konzentrationslagers die Personen und ihre Marotten vorzuführen. Der Holocaust stellt sich neben das „ziellose Geplänkel“ (Jörg Magenau, DLF), geht im Familientratsch unter. Serge, der selbstverliebte Nörgler, hält Erinnerung für schnöden Schein, für Fetischismus, die beiden Frauen fotografieren alles, naiv beflissen, Jean ist der zurückhaltende Vermittler.
Drinnen ist es sofort beklemmend. Jäh in eine dunkle Höhle versetzt, hauteng mit Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen, ärmellose T-Shirts, bunte Turnschuhe, Shorts, Kombishorts, Blümchenkleider, schieben wir uns in Minischritten unter einer niedrigen Decke auf den makabren Ort zu. Durch das grobe Gitter einer Öffnung sehe ich, in einem dünnen Strahl aus Sonne und Staub, wie draußen Serge in seinem schwarzen Anzug auf und ab tigert, er schaut den sich hineinschiebenden Menschentrauben zu, stampft mit seinen Bergschuhen auf die trockene Erde. Die Frauen, vom Strom erfasst, habe ich aus den Augen verloren.
Wir durchqueren den Vergasungsraum, die Wände sind von Kratzspuren übersät, alle Kameras klicken, wir durchqueren den Verbrennungsraum, hinter einer Absperrung sehen wir die Ofen, die Gleise, die Metallwägelchen, aus Originalteilen nachgebaut (das habe ich beim Hinausgehen auf einem Schild gelesen), dann saugen uns das Licht und das Laub an den Bäumen ins Freie.
Mit aufgelöster Miene sagt Nana zu Serge, du solltest da reingehen.
»Ich halte das Gedränge nicht aus.«
»Die Kratzspuren der Fingernägel an den Wänden, unfassbar.«
Serge zündete sich eine Zigarette an, Josephine gesellte sich wieder zu uns.
»Die Spuren an den Wänden sind schrecklich, oder?«, sagte Nana.
»Schrecklich«, sagte Josephine und machte noch ein paar Außenaufnahmen vom Krematorium.
Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen?, fragte ich mich. Ich beschloss, mich nicht zu schnell von ihnen wahnsinnig machen zu lassen. Wir betraten das eigentliche Lager.
Dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Manier das KZ den touristischen Besuchern präsentiert wird und mit welchen Motiven die Besucher anreisen, welche Funktion für sie das späte Gedenken spielen kann. Man kann das Unermessliche in Fotos wegsperren, man darf sich weigern hinzuschauen, wenn einen schon die Regelung des eigenen Lebens voll beansprucht. Yasmina Reza zeigt ein paar Weisen an, mit dem Grauenvollsten umzugehen, sie stellt sich aber nicht der Diskussion um eine „angemessene“ Bewältigung. Doch „Serge“ ist ein Roman, da haben die Personen Vorrang, auch wenn sie keine hehren Sorgen quälen, auch wenn sie ihr verbrauchtes Geschwafel, ihre Lebensbanalitäten in den Text hineintragen. Allerdings gerät der Roman damit in die Nähe der Marginalie und Langeweile.
Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort »Gedenken« berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Josephine. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob sie irgendwelche Bande mit unserer Mutter geknüpft hatte. Unsere Mutter hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen, und Josephine mit ihrer Ananas-Frisur verspürte offenbar das entgegengesetzte Bedürfnis. Während wir an Block z4a vorbeiliefen — da hatten wir ihren aufklärerischen Furor noch nicht außer Gefecht gesetzt —, informierte sie uns, dass es sich hier um das Bordell handele, dann kommentierte sie das Infoschild über das Lagerorchester. Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?, fragte ich sie. Die sind permanent, antwortete sie.
2021 – 205 Seiten

Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)
Bei Dieter Wunderlich gibt es eine Übersichtsgrafik zum Personal des Romans.
„Man muss es wollen“ – Kritische Rezension bei amazon
Henning Ahrens: Mitgift

» So ist das nun mal. So gehört es sich.«
Die Leebs. Der Hof. Sie gehören zusammen, seit sechs Generationen, seit 200 Jahren. Hans Wilhelm Leeb ist ein hitzköpfiger Mann, er herrscht tyrannisch über Hof, Frau und Kind, „die Gebote der heiligen Schrift stehen über allem“. Seit August Wilhelm Leeb den Hof 1865 an die „Mission“ vererbt, kämpfen die Nachfahren darum, den „Hof seiner Familie zurückholen“ zu können, „koste es, was es wolle“. Das sind Rückblenden.
Die erzählte Geschichtszeit beginnt im Zweiten Weltkrieg. Wilhelm („Der erste heißt immer Wilhelm.“ – Man findet die Wilhelms auf einer Übersichtsseite.) Leeb ist im Kriegseinsatz in der Ukraine. Er hat erfahren, diszipliniert zu sein und von allen anderen Disziplin zu verlangen. Die Devise »Es geht nicht darum, was du willst. Du stehst in der Pflicht, und die Pflicht, die wird schlussendlich zur Freude, mein Sohn. Wie auch …« — er sah Willi listig an — »… die Freude zur Pflicht wird. Nicht wahr?« hat die Jahrhunderte überstanden und klebt als „Mitgift“ am Hof. Es ist auch ein passendes Motto für die Kriegsbegeisterung Wilhelms, er fühlt sich als Nazi-„Herr“ bannig wohl. Gerade als er sich auf der ukrainischen Erde als Landwirtschaftsführer eingelebt hat, geht der Krieg verloren. Wilhelm sieht sich betrogen, gerade noch gelingt ihm die Flucht. Einen Ukrainer und zwei Ukrainerinnen nimmt er mit in die „Heimat“. Die Begeisterung von Frau und Kindern über die Rückkehr des Familienoberhaupts ist verhalten.
Er hätte souverän und würdevoll Einzug halten müssen! Stattdessen ist er auf den Hof gepoltert, als wäre es nicht der seine. (…)
Während er dasteht und seinen Blick über die Scheunen, die Ställe und die Kastanie schweifen lässt, die neben dem Tor zur langen Diele steht, überkommt ihn ein Gefühl der Verlorenheit: Weder hat man die Haustür zu seiner Begrüßung mit Eichenlaub geschmückt, noch lässt sich jemand blicken, und sein Sohn — sein Fleisch und Blut — hat gar Reißaus genommen.
Sein mentales Erbe erlaubt nur eine Reaktion: Disziplin und Herrschaft. Die Verbitterung über die Niederlage des Vaterlandes, womit er sich identifiziert, verschärft den Ton.
»Aufräumen!«, knurrt er. »Man muss erstmal aufräumen in dieser Weiberwirtschaft. Schluss mit dem Schlendrian! Ihr werft alles weg? Schön, dann ziehe ich hier neue Saiten auf, ihr werdet schon sehen, und mit euch …« — er zeigt der Reihe nach auf seine Kinder — »… fange ich an.« Er hält seiner Frau das Glas hin, und sie schenkt gehorsam Doppelkorn nach. Alle haben unwillkürlich den Kopf eingezogen, nur Oma Leeb nicht, die aufrecht dasitzt und ihren Sohn mit unergründlicher Miene durch die Nickelbrille betrachtet. Ihre Hände ruhen auf der im Schoß liegenden Leinenserviette mit dem eingewebten Monogramm; sie lässt ihre Daumen so rasant umeinanderkreisen, als würden sie das Räderwerk ihres Denkens antreiben.
Das sieht aber nur der neben ihr sitzende junge Wilhelm. Er gibt nicht viel auf die Worte seines Vaters, der gerade erst heimgekehrt ist und deshalb nicht erfassen kann, was sie geleistet haben, aber das wird er schon noch begreifen. Wilhelm nimmt sich ein Beispiel an der Großmutter und drückt den Rücken durch. »Wir haben gut gewirtschaftet, Vater«, widerspricht er, »gemessen an den schwierigen Bedingungen während des Krieges. Und genauso danach, ja bis heute, denn vieles ist nach wie vor ein Problem, etwa die Beschaffung von Saatgut oder Setzkartoffeln, von Dünger ganz zu schweigen, und…«
Sein Vater unterbricht ihn. »Ich bin nach all der Zeit, nach vier erniedrigenden …« — er presst das Wort zwischen den Zähnen hervor — »… Jahren nicht heimgekehrt, um mir Vorträge anzuhören, Wilhelm! Ich bin heimgekehrt, um zu handeln. Ich bin nicht heimgekehrt, um am Katzentisch zu sitzen, sondern …« — er pocht auf die Tischplatte — »… um den mir gebührenden Platz einzunehmen. Was ihr gemacht habt, ist mir gleich. Was ich ab jetzt tue — das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?« Er starrt ihn herausfordernd an.
Der junge Wilhelm ist wie vor den Kopf gestoßen. »Ja, sicher«, murmelt er, »und trotzdem …«
»Ab jetzt gibt es kein >Trotzdem< mehr. Keine Widerworte. Ab jetzt wird pariert. Und das …« — sein Vater sieht sich in der Runde um — »… gilt für alle!« Als sein Blick auf seine Mutter fällt, verstummt er. Und Oma Leeb lässt die Daumen kreisen, kreisen und kreisen, wie sich die Erde dreht.
Schon der Großvater von 1870, Willi, wollte Lehrer werden, wollte den Hof nicht übernehmen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Wilhelm von 1931, Willem genannt, wogegen er sich vergebens sträubt, kann sich mit seiner „Mitgift“ nicht anfreunden. »Du bist doch ein Leeb, also reiß dich zusammen! Was willst du denn machen, wenn du in der Hitlerjugend bist? « Der Vater ist zu laut, erwartet zu viel, die Mutter ist nur eine Frau, Willem schleicht in den Kuhstall, legt sich in die Rinderkrippe. „Da will ich lieber tot sein, denkt er, dann würde ich den Eltern weder Kummer noch Verdruss bereiten. Dieser Gedanke treibt ihm Tränen in die Augen.“
Der Ochse, es ist Kastor, der mit den Locken zwischen den Hörnern, stößt die feuchte, weiche Schnauze gegen Wilhelms Gesicht, er muss erstmal gucken, ob das, was da in der Krippe liegt, auch schmeckt, ist ja klar, und dann spürt der Junge die raue, feuchte Zunge auf der Stirn und auf den Wangen. Er beißt die Zähne zusammen, seine auf der Brust liegenden Hände verkrampfen sich, und er bekommt es mit der Angst, hoffentlich tut das nicht weh, aber alles ist besser, als das Geschrei seines Brüderchens und seines Vaters zu hören, und seiner Mutter ist er sowieso egal. Also fügt er sich in sein Schicksal und harrt des Maules, das ihn verschlingen wird.
„Mitgift“ ist kein „Dorfroman“, der Hof und seine Nachbarhöfe sind das Zentrum des Lebens, der Mühen und der Gedanken. Der Hof ist das Universum, selbst die Heiratskreise drehen sich um ihn. Der Hof wird stets als bedroht und zugleich bedrohlich empfunden. Die Menschen leben für ihn, buckeln, walten, die Männer fühlen sich zum Tyrannisieren gezwungen und empfinden kein Glück dabei. Der Krieg bringt einerseits alles ins Wanken, nur unter großem Aufwand lässt sich der Hof durch die Zeit bringen, für den Hof-Herren ändert sich gar nicht so viel, die Ideologie fußt ja in der Politik wie auf dem privaten Besitz auf dem Völkischen, auf dem Deutschtum, auf den überkommenen Hierarchien. Unerträglich wird es für den Hoferben, wenn diese eingebrannten Geisteshaltungen angezweifelt werden, wenn die alten „Werte“ plötzlich nicht mehr geachtet werden, nichts mehr gelten sollen. Angriffe auf den Mann, den Herrn.
Die niedersächsische Provinz scheint besonders bodenverbunden, exemplarisch deutsch, doch sind die Schicksale auch in anderen Regionen die gleichen. Die Katastrophen, den Krieg, ordnet man in den Lebensverlauf ein und hat sie zu ertragen. „Freiheiten“ kennt man nicht, man muss „in die Fußstapfen der Vorväter treten, so war es nun mal“. Gegen die Nöte der Frau soll „Klosterfrau Melissengeist“ helfen. „Die historisch weiter ausgreifenden Szenen liest man ein bisschen so, als blättere man in einem Familienalbum. Interessant sind die Realien. Man erfährt, wie wenig selbstverständlich Traktoren und fließendes Wasser noch bis weit in die Bundesrepublik hinein waren und wie hart, patriarchalisch, Gefühlen gegenüber indolent und dem Hof alles unterordnend das Leben war.“ (Dirk Knipphals, taz)
Henning Ahrens springt mit den Kapiteln durch die Zeit. Die Erzählordnung folgt nicht der Chronologie, sondern erzeugt historische Konnexionen, bildet Zusammenhänge ab, bebildert die Mechanismen der „Mitgift“ Zwischen diesen Geschichten aus der Vergangenheit wird auf das Ende geblendet: 1962. Die „Totenfrau“ Gerda Derking, nicht heiratstauglich, weil ohne Mitgift, wird zum Hof gerufen, einer ist gestorben, er fühlte sich der „Mitgift“ nicht gewachsen. Zusammen mit Lisbeth und Fräulein Bernhard sitzt sie in ihrem Garten und kommentiert die Hofwirtschaft wie ein griechischer Chor.„Es ist ein Buch wie Schwarzbrot. Man muss kräftig kauen, bis sich der Geschmack entfaltet. Aber ein Buch, das ins Mark geht, langsam erzählt, mit genauem, warmem Blick.“ (Peter Helling, NDR)
2021 – 340 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich
Henning Ahrens im Gespräch | #fbm21 24.10.2021 ∙ Frankfurter Buchmesse 2021
Laurent Binet: Eroberung

63. DAS KARTOFFELZEITALTER
So erlebte der Fünfte Reichsteil eine Phase des Friedens und eines nie dagewesenen Wohlstands. Und wenn diese auch nicht andauerte, so kann man sich doch gut ihrer erinnern als eines glücklichen Augenblicks in der Geschichte der Neuen Welt. Wer weiß, wie lange diese Harmonie sich hätte ausdehnen lassen, wenn nicht außerordentliche Umstände eingetreten wären und ihr ein Ende gesetzt hätten.
Atahualpa kämpfte gegen seinen Halbbruder Huáscar um die Herrschaft des Inkareichs. Das war anfangs der 1500er-Jahre. Atahualpa gewann und wurde der letzte Herrscher, dann nahmen ihn die Spanier fest und töteten ihn.
Laurent Binet erzählt eine Variante der Geschichtsschreibung. Atahualpa flieht vor Huáscar auf Schiffen nach Osten, gerät in Lissabon an Land, schlägt sich und seine recht begrenzte Truppe nach Spanien durch und wirbelt das „orientalische“ Europa der Renaissance gehörig durcheinander. Nachdem seine Frau Higuenamota Nachschub an Menschen und Schiffen aus der alten Heimat beschafft hat, ziehen die Inkas eine Spur durch spanische Städte und treffen dabei auf das bekannte Personal der – für die Inkas – Neuen Welt.
Die Neuankömmlinge finden vieles seltsam: dass die Spanier nicht wie sie selbst nackt herumlaufen, dass die Christen angesichts ihrer religiös motivierten Gnadenlosigkeit einen „Angenagelten Gott“ verehren, dass Morisken und Juden als Rechtlose verfolgt, vertrieben und getötet werden. „Ein Brief von Margarete von Navarra berichtete, in Frankreich habe eine tobende Horde von Katholiken einem Lutheraner das Herz ausgerissen, und der Bericht von diesem Verbrechen, das die Königin selbst als «abscheuliche Metzelei» bezeichnete, kursierte im Alcázar und ließ die Inkas erschaudern. Solche furchtbaren Taten seien, so Margarete, die Folge von einem schwer nachvollziehbaren Glauben; die Anhänger der alten Religion im Orient wurden anlässlich der rituellen Handlungen in ihren Tempeln von ihrem Priester eingeladen, ein kleines weißes Gebäck zu essen und einen Schluck schwarzes Gebräu zu trinken, und glaubten durch ein Wunder der Einbildungskraft, das für die Quiterios schwer nachvollziehbar war.“
Die „Söhne der Sonne“ selbst sind für Toleranz, auch zwischen Glaubensrichtungen, sie sind aber süchtig nach Macht und Erfolg, nach „Eroberung“, auch von Frauen. „Ein von Michelangelo entworfener Sonnentempel wurde in die Kathedrale von Córdoba hineingebaut. Sevilla wurde von Tag zu Tag reicher, die Bevölkerung wuchs rapide und machte Sevilla zur größten Stadt der Neuen Welt. Die Juden kamen herbei und leisteten erstklassige Arbeit, was den Wohlstand im Land mehrte. (…) Der Handel nahm solche Ausmaße an, dass Atahualpa die Gründung einer besonderen Einrichtung befahl, die die Einheimischen Casa de contratación nannten und die die Handelsbeziehungen zwischen Tahuantinsuyo und dem Fünften Reichsteil verwaltete. Niemand in Spanien oder anderswo im Land der aufgehenden Sonne war berechtigt, mit den Ländern der untergehenden Sonne auf anderen Wegen als über Sevilla Handel zu treiben.“
Karl V. wird gefangen und als Geisel genommen. Die Fugger aus Augsburg legen ihr Geld ertragreich an. Atahualpa lässt in den Pyrenäen und in der Sierra Nevada Mais und Kartoffeln anbauen. Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam schreiben sich Briefe. Laurent Binet lässt nichts aus. Die Bauernkriege, der Konflikt um Luther, die Kurfürsten, die Inquisition. Später darf auch noch Miguel de Cervantes mitspielen und wird zwischen den Inkas und den Christenmenschen zerrieben. Das alles ist aus der Sicht der „Sonne der Neuen Welt“ beschrieben, spielt aber im Europa des 16. Jahrhunderts, oft genug in den deutschen Ländern. An der Schlosskirche zu Wittenberg finden sich eines Tages
DIE 95 SONNENTHESEN
1. Die Sonne ist nicht die Allegorie für Gott den Schöpfer.
2. Sie ist der erschaffende Gott und die Quelle allen Lebens.
3. Viracocha ist ihr Vater oder Sohn und zugleich Vater oder Sohn des Mondes.
4. Der Inka ist der Statthalter der Sonne auf Erden. (…)
57. Der Sonnengott ist auf der Seite der Armen.
58. Er hat die Erde hervorgebracht, damit alle ihr Salz schmecken.
59. Sonne und Erde fordern von niemandem eine Abgabe, sei sie groß oder klein.
60. Grund und Boden darf nicht gekauft, gemietet oder gegen Zins geliehen werden.
61. Grund und Boden dürfen kein Privateigentum sein. Sie werden jedem gemäß seinem Bedarf zugeteilt.
62. Alles Wasser gehört zur Erde und ist frei.
63. Aller Fisch gehört dem Fluss an.
64. Alles Wild gehört dem Wald an.
65. Die Wälder gehören der Erde an, und sie gehört der Sonne an.
66. Der Sonnengott kennt keine Leibeigenen. Er kennt nur Menschen.
Laurent Binet hat die Geschichte tiefgehend erforscht und er erzählt sie minutiös, wobei er den Stil der Geschichtsschreibung nachbildet. Natürlich ist es die Geschichte der Herrschaft, der Kulturen, des Handels und des Militärs, die hier auflebt. Die Idee, die Ereignisse zu drehen, Alte und Neue Welt zu tauschen, mit den Folgen und Kausalitäten zu spielen, ist zwar nicht ganz neu, aber doch originell. Zumindest im Ansatz. Aber Binet erzählt einerseits leidlich Bekanntes, flicht die Söhne – und einige Töchter – der Sonne ein und ermittelt aus der Konfrontation ein verändertes System, dessen fiktive Folgen wir bewerten können und deren Mechanismen der Neuordnung auf bekannten Mustern beruhen. Schlachten, Intrigen, Inszenierungen, Pomp, Rekrutierung. Das Vergnügen ist begrenzt. Ich ertappe mich dabei, zunehmend Abschnitte zu überfliegen oder zu überspringen. Für das abschließende Kapitel mit der barocken Überschrift (VON DER WILDEN, ERSCHRECKLICHEN SCHLACHT, DIE DIE VERGANGENEN, DAS GEGENWÄRTIGE UND DIE ZUKÜNFTIGEN JAHRHUNDERTE JEMALS GESEHEN HABEN UND SEHEN WERDEN, DIE ZUGLEICH DAS GRÖSSTE UNGLÜCK FÜR DEN ARMEN CERVANTES BEDEUTETE) endlich bleibt kaum mehr Interesse.
„Eroberung“ soll als Serie kommen, was wohl Erfolg verspricht. Vielleicht geht die Serie – anders als der Roman – über das 16. Jahrhundert hinaus und spielt uns vor, wie unsere heutige Welt aussähe, wäre aus Binets Imaginationen real geworden wären. So aber bleibt „Eroberung“ ein Roman über abgehobene Macht- und Interessenpolitik, trotz Inkas europazentriert, durchsetzt mit bekannten Namen, die aber nur ihre Geschichtsbuchrolle einnehmen. Personen als Spielfiguren ohne Kern. Großer Aufwand, hin und wieder aufblitzende Überraschung, verhaltene Ironie.
2019 – 380 Seiten

Mariam Kühsel Hussaini: Tschudi

Courbet … in Berlin … Berlin ganz weit … ganz groß … und die ganze Welt kommt … und die ganze Welt staunt… und Berlin … atmet. Seine Augen küssten diese Vorstellung.
1896 wurde Hugo von Tschudi Direktor der Nationalgalerie in Berlin und kaufte als erstes Werk für die Ausstellung das Bild „Wintergarten“ von Édouard Manet. Damit war mit einem Frühwerk des Impressionismus die Moderne in Deutschland angekommen. Das gefiel nicht allen. Der Deutsche Kaiser, Wilhelmzwo, war gar nicht angetan.
«Na aber Herr von Tschudi, diese ganze neue Malweise da, in ihrer Subjektivität so höchst disziplinlos und provokant!», Wilhelm II. war erleichtert, diesen Satz, den er seit dem Morgengrauen auswendig gelernt hatte, fehlerfrei aufgesagt zu haben. «Und was höre ich da allerorts von einer Sezession? Hier in Berlin? Unfertige Bilder sind doch keine Lösung! Jeder will jetzt eine Persönlichkeit sein! Will Herr sein! Das führt in die reinste Sozialdemokratie!»
Der Ceremonienmeister wusste nicht zu handeln, weil Tschudi nun, vollkommen lässig und entspannt aber unnahbar und bedrohlich erhaben, seine Hand vor den Kaiser hielt und Einhalt gebot.
«Ihr seid doch ein moderner König, mein König. Unfertig ist der falsche Begriff— offen würde man eher sagen. Und der Kult um Persönlichkeit ist ein eigentlich aristokratisches Grundprinzip. Das sollten wir beide doch am besten wissen, nicht wahr, Eure Majestät?»
Wilhelm verlor sein gelerntes Lächeln wieder, er hatte es doch so sorgfältig vorbereitet und nun das! (…) Die Franzosen sollen sich nicht mehr blicken lassen unter denen, die Europa erst machen! Die französische Küche, die ist es wert, geschätzt zu werden, Französeleien jedoch in Form von Unverschämtheiten wird es nicht geben in den Häusern unserer edlen deutschen Malerei!
Als „edler deutscher“ Maler gelten (dem Kaiser etwa) Adolph Menzel oder Anton von Werner. „Werners Gesicht war verständnislos, aber klar. (…) «Neue Zeiten, meine Herren», räumte Werner auf. «Jetzt wichsen Franzosen auf die Leinwand und wir sollen noch davor stehen und es anbeten.»“Tschudi findet auch Unterstützer, vor allem in Max Liebermann oder Max Slevogt und anderen Mitgliedern der „Berliner Secession“. Die Anti-Impressionisten motivieren ihre Abneigung nationalistisch, die Sympathisanten geben sich „offen“, schauen genau in das Bild. Mariam Kühsel Hussaini verleiht ihnen Blick und Stimme, der Leser darf sich hineinfühlen in die Betrachter.
Schließlich, Manet.
Der Klarsteller unter den Malern.
Dschungelartige Gewächse — ein Blick — fesselnd und abgeneigt, bedrohlich, unbeherrscht.
Sie, wie sie da saß, mitten im Bild, es war die Art wie sie ihre verstörenden Linsen ins Nichts bohrte, wie ihr stummes seelenkrankes Gesicht weich schrie, sie war es, sie war das Bild.
Tschudi trat noch näher heran, neigte den Kopf, das große Werk wie ein nervöses Fenster vor sich, die Leute im Rücken, auch die vom ersten Saal waren alle gekommen, wie in Trance, gelblich ernst, Tschudis steinernen Kolossrücken abwartend und die fremden Flecken anstarrend.
Sie ist es, dachte er. Sie ist es.
Seine Zunge schmeckte die köstlichsten Früchte, allein beim Anblick solcher Malerei.
Ein rasches Frauengiftrot über ihrer makellosen Wange, eine leblose Hand, nach welcher er, der Bärtige neben ihr, der Geduldige, der Erschrockene, vor ihr Bangende doch so zart verlangte und die er nie mehr berühren wird.
Tschudi vergaß sein Dasein in diesen Minuten. Die Leinwand saugte es zu sich.
«Treibhaus», las jemand jemandem vor.
Sein Blick fiel auf ihren Schoß, da lag ein Seidenschirm. Die Farbe, irgendein ehrgeizloses und durchsichtiges CremeWeißgold, raubte alle Präsenz.
Wie in einem Zuge hingezogen und noch ein wenig abgeglitten, vollführte Manet das eigentliche Portrait, einen Gegenstand. Mittelpunkt des Universums, ein Seidenschirm. Er war Manet. In ihm vibrierte der neue Wahnsinn, vor dem Maupassant fast schon gewarnt hatte. Der Wahnsinn eines neuen Zeitalters, das sich so ungut ankündigte?
Ist der Blick in die impressionistischen Gemälde selbst impressionistisch? Kann Literatur das leisten, macht das Sinn? „So leistet dieser Roman durch seinen literarischen Eigensinn, durch eine selbst impressionistische Sprache, auch etwas für die Kunstgeschichte und lädt ein, die Werke so neu zu sehen, als sähe man sie an Tschudis Seite zum ersten Mal.“ (Niklas Maak, FAZ) Mariam Kühsel Hussaini überträgt ihren „malerischen“ Stil auf die Beschreibung von Stadt-Landschaften und Personen, wobei sie die Eindrücke abwechselnd ihren Figuren in den Sinn legt. Es entsteht ein Wechselspiel von verlebendigter Umgebung und mentalen Stimmungen.
Der Baum vor dem Fenster wippte. Tschudi stand im Zimmer und sah auf ihn. Verschlucke mich, bat er. Es war einfach nicht möglich: ein Urwald war ausgebrochen! Die Straße schäumte Smaragdgrün auf. Man konnte schon nicht mehr hindurchsehen. Hunderte Umdrehungen an nur einen Ast gebunden. Gestern Nacht, flüsterte Tschudi, trat ich hier heran und du mir entgegen, du, wild, ungeheuerlich, Ungeheuer der Liebe. Ich wich ich schritt zurück und fürchtete mich vor dir und deiner Schönheit. (…) … und der Baum war von leisem Orangegelb heimgesucht. (…) Die Gondel, die nun einmal nicht viel mehr ist als eine Wimper auf dem Wasser, schaukelte so heftig, dass sie sich gleichzeitig aneinander festhielten, festdrückten. (…) Draußen atmete Tschudi die Sprühregenluft ein. Die Straßen glänzten wie bei Caillebotte silberblau und auch die Schultern der Männer und ihre metallen aufleuchtenden Hüte, die an ihm vorüber schwebten, auf seinem Gang zum Restaurant. Wild zischende Droschken durchschnitten die Konzentration. Die Leute schwirrten an ihm vorbei, voller Hast und voller Ernst, wie Wellendruck. Was ist mit den Minuten heute, fragte er sich und sah auf, zu den hoch oben sich zu einem einzigen ewigen Innehalten verschwörenden Wolken.
Man kann dieses Sprechen auch als manieriert bezeichnen, auf jeden Fall ist der Stil auffällig, verstörend, betörend. Auch die Komposition der romanhaften Biografie orientiert sich an der Methode des Impressionismus, „die durch die stimmungsvolle Darstellung von flüchtigen Momentaufnahmen einer Szenerie gekennzeichnet ist“. (Wikipedia) „TAGE SPÄTER SPAZIERTE TSCHUDI gegen späten Nachmittag durch den kronenzwitschernden Tiergarten.“ So beginnen diese Momentaufnahmen, auf über 70 Kapitel bringt es Mariam Kühsel Hussaini auf den 320 Seiten. Alle sind voller Farben, voller Gezwitscher, voller Gespräche, voller Vergleiche. „DER VORHANG GING AUF. Er war Dunkelrot wie in der Oper.“
Hugo von Tschudi ist „hochgewachsen“. Kühsel Hussaini wird nicht müde, das zu beschwören. „Er war sehr groß von Wuchs, sehr kräftig, sehr auffällig. “Ein magischer Ausdruck, starr, voll sinnlichstem Umfang, er war so groß, in dem er da nur stand. Diese Präsenz. Diese Ergriffenheit seines Blicks in Richtung Schloss und seiner glänzenden Kuppel. Der ungeheure Körper dieses ihr unbekannten Mannes.“ „Überhaupt war er begehrenswert und zwar ganz und gar.“ „Tschudis Herz quirlte leicht und erwartungsvoll in seinem schweren Körper.“ Aber, und das macht ihn für die Schriftstellerin darüber hinaus faszinierend: Er leidet an Lupus vulgaris, kurz: Lupus.
Kühsel Hussaini malt auch diese Krankheit aus. „Tschudi schwankte kerzengerade auf ihm fort … abgewandt, den Blick in die vielgeliebte Lagune bohrend, Torcello, mit seiner teuflischen Brücke … San Francesco, die Toteninsel … mit ihrer schwarz flüsternden Mauer aus Zypressen, sich kleiner und kleiner schaukelnd in Tschudis Linsen … denen eine Träne floh, über kleine rotweiche Knötchen, die an den Rändern ihrer abgeheilten bläulich braunen Wunden neue Knötchen bilden würden … bald wieder … tief in die Haut ineingeschlängelt, über die Nase, beide Wangen, im Inbegriff, diesen Schatz von Antlitz schwer zu entstellen.“
Man kann sich über die Personen und Auseinandersetzungen im Internet informieren. Mariam Kühsel Hussaini greift sich bestimmte Aspekte heraus, um sie zu einer Tschudi-Hymne zu arrangieren. Bei Tschudi gerät sie in pathetisierte Verzückung, die „französische“ Malerei betrachtet sie durch die Augen und durch das Herz von Tschudi, Liebermann & Co. Und sieht die Bilder der Impressionisten deshalb mit deren – oberflächlicher – Euphorie. Unser Blick hat sich durch die zeitliche Entfernung abgekühlt, kann sie neutraler einordnen. Die politische Grundierung des Konflikts leuchtet die Autorin in vielen Szenen an, der nationalistisch intrigante Kaiser und der Kunstliebhaber und Leiter der „National“-Galerie treffen öfters aufeinander, der Kaiser hat gegen die selbstsichere Autorität von Tschudi keine Chance, er muss zur Macht greifen. In den Stil von Mariam Kühsel Hussaini muss man sich einlesen, er kann auch nerven, die „geradezu lodernde, unerhörte Sprache“ (Elke Heidenreich, ZEIT) drängt sich schon sehr auf. Der Roman wird dazu anregen, sich neben und nach dem Lesen weiter mit dem Thema zu befassen, vor allem die Bilder anschauen.
Malerei ist, wenn die Grundierung keinen Ausweg und die Akzente keine Ausreden mehr kennen.
Wenn sie verschwimmen,wie der Blick verschwimmt.
Wenn Grün zu Rot wird, weil es Licht sein will.
Wenn alle Zeiten in fünf Strichen vereinigt sind. Alle Menschenalter und alle Tode.
2020 – 320 Seiten
Rezension von Harry Nutt, Frankfurter Rundschau

Fridolin Schley:
Die Verteidigung

Als Kempner den Vater einmal fragte, wie er diese Mordsachen bloß mitzeichnen konnte, hat er geantwortet: Ich bezeichne sie so nicht. Statt von Ermordung der Juden sprach er von Eingriff in ihr Leben.
Der SPIEGEL nennt Ernst von Weizsäcker in einer Geschichte aus dem Jahr 2010 „Diplomat des Teufels“. Auf dem Cover des Romans ist ein ins Unscharfe vergrößertes Bild zu sehen, das zwei Männer zeigt: ein jüngeren, stehend, und einen älteren, der sitzt. Richard von Weizsäcker, Student des Rechts, und seinen Vater Ernst. Der Vater ist als Kriegsverbrecher angeklagt, Richard assistiert der Verteidigung. Nürnberg, 1947-49, die Kriegsverbrecherprozesse, speziell der „Wilhelmstraßen-Prozess“. das Urteil: sieben Jahren Haft wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit.
Fridolin Schley hat all die Recherchen und Quellen studiert und als solche vermerkt. Ihm geht es aber um mehr als die Fakten, um die Atmosphäre, um die Signaturen, um persönliche Unschärfen.
Kempner lächelt. Er schaut den Vater nicht direkt an, als er fortfährt. Beide fixieren den jeweils anderen bloß, wenn dieser spricht, so dass sich ihre Blicke nie treffen oder nur, um sich gleich wieder abzustoßen, wie bei der kurzen Entladung einer statischen Spannung. Ein belauerndes Umkreisen nach fester, aber undurchsichtiger Schrittfolge. Gestikuliert der eine, erstarrt der andere, spricht Kempner plötzlich schneller, antwortet der Vater sogleich langsamer, und wird er dabei zu ausschweifend, sieht Kempner auffällig auf seine Armbanduhr. Die Zeiger stehen auf 17.01 Uhr, und Kempner unterbricht den Vater ungeduldig, sie stehen auf 17.09 Uhr, und der Vater spricht jetzt trotzig leise und einsilbig. Bereits als Richard noch ein Kind war, denkt er, war es nie ein gutes Zeichen, wenn der Vater immer leiser wurde. Es ist ein ungleiches Duell, schon weil Kempner steht und der Vater sitzt — etwas seitlich gerückt, wie um nicht die volle Breitseite zu bieten. Er versinkt im Zeugenstand, anstatt dahinter Deckung zu finden. Stünden sie sich aufrecht gegenüber, würde er, der hochgewachsen ist, seinen Gegner deutlich überragen. Doch selbst so erniedrigt weiß der Vater sich noch zu wehren. Oft zögert er lange, bevor er auf eine Frage eingeht, als müsste er überlegen, wie er das diesem begriffsstutzigen diplomatischen Laien nun verständlich machen soll, antwortet dann aber doch in gewählten und vielleicht noch umso vornehmer verwinkelten Sätzen, als Kempners Deutsch sich nach all den Jahren in Amerika den geradlinigen Formen des Englischen und seinem vergurgelten Klang hörbar angenähert hat. Gelegentlich vermischt Kempner die Sprachen, er sagt: übers Weekend oder das lag noch far away.
Genaue Beobachtung, Blick auf Details, die Körper, das Sprechen, die Reaktionen auf Vorhaltungen, die Taktiken von Anklage und Verteidigung. Alles mit dem Hinweis, dass es so gewesen sein könnte, dass das Wissen so unscharf ist wie das Coverfoto, alles in der Perspektive Richards. Der Sohn, der nicht neutral sein kann, weil er Familie ist, weil ihm der Vater Dostojewski vorgelesen hat. Er will nicht glauben können, was er an Vorwürfen hört, er kann nicht glauben, was der Vater abstreitet oder verschleiert. „Grundsätzlich war ich nur Briefträger in all den scheußlichen Angelegenheiten.“ „Das Auffällige an ihm war weniger, dass er versuchte, seinen Opportunismus und Antisemitismus hinter der Maske des stillen, pflichtbewussten Helden zu verbergen. Sondern dass er vor sich selbst so tat, als sei „Widerstand“ im Grunde eine Frage der Innerlichkeit, nach außen nur erkennbar in guten Manieren und kultivierter Wortwahl.“ (Marianne Lieder, ZEIT) „Als Robert Kempner vor Beginn des Prozesses Marianne von Weizsäcker in Kressbronn besuchte, um sich einen Eindruck von der familiären Atmosphäre zu verschaffen, sagte sie über die abgezeichneten Deportationen: Sehen Sie sich die Hände meines Mannes an. Es ist ausgeschlossen, dass diese Finger so etwas unterzeichnet haben. Aber das war später.“
Prozesse sind vertrackt. Welche Strategie verfolgt die Anklage, geht die Überlegung der Verteidigung auf? Wie sind die Codes der Diplomatensprache zu entschlüsseln? Können die Aussagen überhaupt angemessen übersetzt werden? Finessen, aber sie können entscheidend sein. Schley lässt das alles miterleben, Sicherheit gibt es nicht.
Entscheidend vor Gericht, auch und besonders, wenn es ein Sondergericht ist und wenn es um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geht, ist die Frage nach der SCHULD. Schley spricht kein Urteil, er macht sich das gesprochene auch nicht zu eigen. Er versorgt den Leser mit Beobachtungen, Gehörtem, Gesehenem, macht ihn vertraut mit Richard von Weizsäckers Hilflosigkeit. Er zitiert auch Gutachten, was für einen Roman ja schon viel Faktizität bedeutet.
Niemals würde er Dokumente fälschen, um im Handstreich Tausende Juden zu schützen, er beschafft einzelne Visa für bedrohte Familien, rettet, wo es sich in seinem Amtsverständnis verordnen lässt, hier ein Dr. Eckstein, dort die Frau Simonson. Als ginge es um die Improvisation kurzer Tonfolgen, so schrieb es die Boveri. Statt Aktennotizen habe er sich in diesen Fällen einen Knoten ins Taschentuch gemacht. Er sei ein Fremdling in unserer Welt der Unordnung. Ein vornehmer Geist, noch im Geiste Bismarcks, mit einer Haltung aus dem letzten Jahrhundert und Erfolgen, die die Geschichte unsichtbar feiern muss, um sie aufzunehmen. Stilles Glätten, Kalmieren, noch bevor nationaler Unmut entsteht, Alarmieren nur, um friedenswillige Kräfte zu wecken.
Für Ernst von Weizsäcker gab es keine diskutable Alternative zu seinem Verhalten als Diplomat. Er kann die Kritik, er kann auch das Urteil nicht verstehen, es liegt außerhalb seiner Denkwelt. Das Vaterland, das deutsche, war für ihn sakrosankt. Er hatte Kontakte zum George-Kreis und zu Claus von Stauffenberg. Ernst von Weizsäcker kam nicht aus dieser Hypostasierung heraus, Widerstand gegen das Höchste, das „Heilige“, kam für ihn nicht in Frage. Schleys Darstellung legt einen Schuldspruch nahe, er schreibt und ich lese aber aus dem 21. Jahrhundert.
Ähnlich wie in „Die Ungesichter“ leben die Figuren unmittelbar auf, man kommt ihnen sehr nahe. Was aber auch zum Problem einer möglichen Identifikation führt. Was bei der jungen Flüchtigen Amal zum Miterleben existenzieller Strapazen führen soll und darf, weil das Mitgefühl der Schwachen gilt, darf das Urteil über einen potentiellen Nazi-Verbrecher nicht moralisch begründet sein, sich auch nicht an etwaiger menschlicher Sympathie orientieren.
Am Gitter hat der Vater zu Richard gesagt, dass sie die Kriegsjahre in Berlin vielleicht ganz weglassen sollten. Sie seien nicht allzu rühmlich. Er hätte wohl früher und stärker auf einen Tyrannenmord drängen müssen oder ihn selbst begehen, sich notfalls opfern, denn auch wenn er gescheitert wäre, hätte es doch das packendere Vorbild gesetzt, und Richard hat geantwortet, das kann man aber von niemandem verlangen, und gedacht, schon weil wir sonst wahrscheinlich hier nicht mehr miteinander sprechen könnten. Vielleicht fragt sich Richard, ob er deshalb sogar froh darüber sein darf. Dass der Vater immer zauderte, allmählich resignierte und dass alles, was sie für den Vater jetzt noch in die Waagschale legen könnten, zugleich einen Einspruch gegen sich zu erheben scheint. Vom Westfeldzug hat er abgeraten, leugnete aber gegenüber ausländischen Diplomaten die Einmarschpläne und war dann angetan von den glänzenden Siegen. Er sprach sich dafür aus, von Maßnahmen gegen ausländische Juden im diplomatischen Korps abzusehen, nicht jedoch gegen deren jüdische Angestellte. Er setzte Vertraute auf Posten im Ausland, und als Ribbentrop eine Reihe Männer aus dem Amt entfernen wollte, hat der Vater ihm seinen Rücktritt angeboten und blieb dann doch wieder, möglicherweise weil er dachte, zu einem milden Waffenstillstand beitragen zu können, möglicherweise weil er einfach noch da sein wollte, wenn Hitler abgesetzt wäre. Er erwartete, gebraucht zu werden. Er blieb, bis nur noch das Bleiben übrig war. Gegen die Invasion in Skandinavien protestierte er, indem er sich zwei Tage krank meldete.
„‚Die Verteidigung‘ ist ein Balanceakt zwischen Fakten und Fiktion, ein Justizdrama als Docufiction, ein Vater-Sohn-Szenario als Kammerspiel, das jede besserwisserische, anmaßende Geste vermeidet, das Fakten anbietet, aber eine gültige Wahrheit nie behauptet, Aufklärung im besten Sinne, in einer Zeit, in der es kaum noch Zeitzeugen gibt, von einem Autor der Urenkelgeneration, ein Generationenbuch also, ein Zwiegespräch zwischen den Generationen. Großartig!“ (Cornelia Zetzsche, BR) Ein Buch, das man nicht flott wegliest, das in Inhalt und Komposition das Mitdenken verlangt und befördert.
2021 – 260 Seiten

Fridolin Schley im Gespräch über den Roman „Die Verteidigung“ (Vorwärts, 0:30)
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Fridolin Schley:
Die Ungesichter

Fridolin Schley stellt seinem Text eine „editorische Notiz“ bei, die knappe Inhaltsangabe, mehr muss man nicht wissen.
„Die vorliegende Erzählung berichtet — literarisch gestaltet — eine wahre Geschichte und beruht auf Gesprächen mit Amal, die in Wirklichkeit anders heißt. Ihre Flucht hat sich 2009/10 zugetragen und führte Amal von So,alia über die Ukraine schließlich nach München, wo sie — ebenso wie ihr Bruder Cariim — nach wie vor lebt. Ihre Mutter und Geschwister, die vor den Milizen in Somalia nach Äthiopien fliehen konnten, hat sie seitdem nicht wiedergesehen.
Noch immer ist sie körperlich und seelisch von den beschriebenen Ereignissen gezeichnet. Sie ist heute zwanzig Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester.“
Die Raffinesse besteht in der Erzählweise. Schley versucht, Amals Getriebenheit, ihre Ruhelosigkeit, ihren Angststrom im Erzählfluss abzubilden. Die Belastung Amals hört nicht auf, auch wenn sie tagelang nur im Bett liegt, weil sie nicht vorankommt, weil sie nirgendwo Geborgenheit findet, wenn sie sich nur noch verbergen will. Ihre Hilfe, ihre Antriebskraft ist ihr Bruder Cariim –
er sitzt neben Amal, blickt hinaus, um sie nicht anzusehen, keiner spricht, der Wagen holpert über schlaglöchrige Straßen, und sie wackeln und wippen auf der Rückbank wie wirre Marionetten, einmal lachen sie kurz darüber, aber sprechen noch nichts und fragen sich beide, ob sie sich trauen können, während vorne Hanad in die Hände klatscht und weiter Balladen singt, vom Wind, der mit dem Regen auch den Segen Allahs bringt und selbst den kleinsten Ort noch bedenkt, und davon, wie er Amal und Cariim von Ort zu Ort bringen wird, nach Abu Dhabi, nach Dschibuti, in kleinen Schritten näher ans Paradies, in billigen Flügen und immer Last Minute, und wie er stets ihre Pässe verwahrt, die schwedischen Pässe, die er nie aus der Hand gibt, und wie er, als sie in Mogadischu die Flughafenhalle betreten, plötzlich mehr Geld von ihnen will, angeblich sind hinter der nächsten Schiebetür noch Beamte zu bezahlen und das Personal am Schalter und bei der Passkontrolle, und er singt davon, wie Gesichter sie ansehen, Männer in wechselnden Uniformen sie mustern und lauter als nötig in den schwedischen Pässen blättern und ihre immer gleiche Geschichte hören wollen und auf ihre Monitore blicken und wieder hoch, bis sich schließlich ihre Münder zu einem Grinsen verziehen
liegt Amal ganze Tage und Wochen nur auf ihrem Bett und blickt zur Decke — man muss sich verbünden, sagt Cariim zu ihr, alleine kommt man hier nicht durch, aber Amal ist damit beschäftigt, auf ihrem Bett zu liegen, die Augen zusammenzukneifen und an ihr Geld zu denken, immerzu denkt sie an das letzte Geld ihrer Mutter, das sie nicht mehr auf der Haut spüren kann, sie fragt sich, ob es noch in dem Büro in dem Regal in dem Karton in der Schachtel liegt oder längst verdaut ist — so
konzentriert muss sie an das Geld denken, dass sie kaum einmal zum Beten kommt, auch die Stimmen im Raum klingen bald wie sehr weit entfernt, sie stören sie nicht mehr, sondern vermischen sich zu einem gedämpft dahintreibenden Singsang, der Amal an das sanfte Rufen des Muezzin erinnert, das sie früher so gemocht hat — nur Cariim klettert manchmal zwei Stufen der Bettleiter zu ihr hinauf und hält ihr eine Schale mit Brei hin, du musst essen, sagt er und versucht, ihr etwas einzulöffeln, aber Amal weiß, sie darf sich nicht ablenken lassen von ihren Gedanken an das Geld, das dort in dem Büro in dem Regal in dem Karton in der Schachtel liegt und genau in diesem Augenblick leise schmatzend Schein für Schein verzehrt wird, und Cariim, der auch Wochen später noch auf der Leiter des Stockbetts steht, erzählt ihr flüsternd von den Tagen, die sie hier im Bett versäumt
bisder Automat räuspernd zwei Fahrkarten für sie auswirft, bis
sie im Abseits auf einer Bank warten, schweigend verfolgen, wie die Halle sich langsam füllt, der Geräuschpegel steigt, bisMenschen ratternd Koffer an ihnen vorbeiziehen, bis
Fahrstuhltüren auf- und zugehen, ganze Familien verschlingen, bisMonitore flackern mit blauen und gelben Zeichen und Nummern von Zügen nach Trnava, Zvolen, Budapest, Zagreb und Ostava, bisRolltreppen anfahren und wieder anhalten, bis Menschen sich begrüßen und verabschieden, bisDurchsagen ertönen, Pfiffe schrillen, der Saum eines Sommerkleides aufweht, bisCariim aufsteht, um von einem Bäckereistand Kaffee und Brote zu holen, bis
Amal sich fragt, ob all diese scheinbar willkürlich und auf mehreren Ebenen durcheinanderlaufenden Reisenden in Wahrheit einer geheimen Losung folgen, sich wie Insekten lautlos nach einer bestimmten Ordnung verständigen und sie selbst nur hoch genug aufschweben müsste, bis
unter das Dach der Halle, wo das stärker werdende Tageslicht sich zu einer Art Staubglitzern verdichtet, um von dort in dem planlosen Wuseln unter sich das Schwanken eines großen Schattenwesens zu erkennen, das einen Ausweg sucht aus diesem Verlies, oder auch nur ein waberndes, in sich verschlungenes und immer wieder neu sich fügendes Muster von vollendeter Eleganz, bissie sich im Zug zwei freie Sitze suchen, Vierergruppen meiden, damit keine Ungesichter sie ansehen können, bis
Wien sind es nur eineinhalb Stunden, in denen sie tief in die Sitze sinken, beklommen ihr Ticket einem Uniformmann reichen, der aber sonst nichts von ihnen wissen will, nichts von den Nachbarn und Witwen, den Patronenmännern und Pässen, und Amal überlegt, ob sie jemals ein schöneres, festeres Geräusch gehört hat als das Stanzen, mit dem er ihren Fahrschein stempelt,
„Schleys feinsinniges Erzählen ist durchaus artifiziell, er arbeitet mit Zeilenumbrüchen, mit Sprüngen und Rhythmisierungen. Nie aber überschreibt das Literarische die realen Erfahrungen der Protagonistin, stattdessen verleiht Schley der jungen Frau, die sich die Fingerkuppen versengte, um nicht kenntlich zu sein, ein Gesicht. Und er vermag der jungen Frau zumindest einen Teil der Würde zurückzugeben, die ihr die Umstände genommen haben, indem er dem Geschehen denkbar nahekommt, aber zugleich in einer respektvollen Distanz verbleibt, indem er zeigt, ohne zu entblößen.“ (Wiebke Porombka, FAZ)
Der Leser erschöpft sich mit der Flüchtenden, wird mit ihr durch den Roman wie sie durchs Leben gezogen. Gut, dass das Buch nur 100 Seiten hat.
2016 – 100 Seiten
Steffen Kopetzky: Monschau

Deutsche Geschichte – Deutsche Geschichten. Fakten & Fiktion. Der Roman spielt vor beinahe 60 Jahren, 1962, den Ort gibt’s wirklich: Monschau, Eifel, nahe an Belgien, Tuchmacherstadt. Es könnte aber auch eine andere Stadt sein, Deutschland 1962 war noch Nach-Nazizeit, die zu Mitläufern gewordenen Täter mischten überall mit, in Politik, Wirtschaft usw.
In Monschau stand die Otto Junker GmbH, die Industrieofenanlagen produziert (und die es noch heute gibt), im Roman heißt die Firma „Rither-Werke“, ist international vernetzt, ein Beispiel deutschen „Wirtschaftswunders“. Da die Inhaber verstarben, wurde sie geleitet von Richard Seuss, der alte Nazi-Seilschaften pflegt. Die junge Erbin Vera studiert in Paris, will Journalistin werden, hat wenig Interessen an der väterlichen Firma und will sie deshalb einer Stiftung überschreiben lassen. Alarmglocken bei Seuss.
Was diese 08/15-Konstellation hochaktuell macht: In der Firma in Monschau brachen 1962 die POCKEN aus! Angestellte hatten sie aus Indien eingeschleppt. Die Viren mischen die Verhältnisse auf. Erbin Vera kehrt aus Paris zurück, der Arzt Günter Stüttgen übernimmt die Eindämmung der Infektion zusammen mit seinem Kreta-stämmigen Assistenten Nikolaos Spyridakis. (Stüttgen ist real, Spyridakis heißt in echt Constantin E. Orfanos. Beide leben noch. Stüttgen war kurz vor Kriegsende in Abwesenheit von den Nazis zum Tod verurteilt worden, Spyridakis‘ Mentor Helmut Ruska gilt als Wegbereiter der medizinisch-biowissenschaftlichen Elektronenmikroskopie.)
«Die Pocken werden über die Schleimhäute aufgenommen. Aber sie führen ihr sichtbares Leben, sozusagen, unter und auf der Haut. An ihren Erscheinungen dort kann man sie diagnostizieren, und die können sehr unterschiedlich sein. Deshalb heißen sie lateinisch Variola: die Bunten.» «Das ist ja gruselig. Aber zurzeit betrifft es uns ja alle hier. Oder hoffentlich nicht. Jedenfalls – erzählen Sie mir doch etwas mehr darüber.»
Die Epidemie fällt in die Zeit des Karnevals, Quarantänemaßnahmen werden versucht, auch Kinder werden angesteckt, es fehlt angemessene Schutzkleidung. Vieles kommt einem merkwürdig bekannt vor. (Die Hintergründe erzählt Steffen Kopetzky im SPIEGEL – Bilder sind auch dabei.)
Nach gründlicher Recherche ist es Aufgabe des Autors, die Personen und Ereignisse zu verzahnen, erzähltauglich zu machen. Kopetzky erledigt das souverän, routiniert zelebriert er den Eifeler Totentanz. „Das Jahr 1962 wird zum Epochenjahr: Ende der Adenauer-Zeit, Kubakrise, die Nachwirkungen des frischen Mauerbaus – all das hat Kopetzky im Blick.“ (Christoph Schröder, ZEIT) Spyridakis gefallen die Jazzplatten, die Vera aus Paris mitbringt (Miles Davis, Cannonball Adderley), sie liebt seine Gedichte von Giorgos Seferis (der 1963 den Literaturnobelpreis erhielt), Conny Froboess singt „Zwei kleine Italiener“ für den Grand Prix, Helmut Schmidt bekämpft in Hamburg die Flut, die Illustrierte „Quick“ schickt den Reporter Grünwald (real: Johannes Mario Simmel), im Fernsehen läuft „Das Halstuch“, „die FDP hatte eine erstaunliche Integrationsfähigkeit bezüglich alter Nazi-Parteigenossen bewiesen, sofern diese fähig und zu neuen Aufgaben brauchbar waren“. All das und noch viel mehr ist drin in Steffen Kopetzkys „Monschau“.
Weshalb aber ist auf dem Cover des Romans ein verträumtes Paar abgebildet? Liebe in Zeiten der Pocken?
«Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang,
wir leben nicht mehr lang,
wir leben nicht mehr lang.»Der Hit des Eifler Pockenkarnevals schnurrte Strophe für Strophe ab, alles schrie das erlösende «vielleicht sind wir noch lange hier, und darauf trinken wir!» mit, um dann nacheinem tiefen Schluck doch wieder festzustellen, dass alles, alles vergebens war, denn «am dreißigsten Mai …».
Mitten in der Menge der die Apokalypse besingenden Twens fanden die beiden Venezianer sich schließlich wieder. Der Musketier wich vor Nikos‘ trotz Maske humorloser Erscheinung zurück, und Vera freute sich sehr, ihren eigentlichen Kavalier wieder in die Arme schließen zu können. In der Menge der anderen Karnevalisten waren sie einander so nah, miteinander fliegend, schwebend und inmitten der Menschen in einer herrlichen Intimität verschlossen, dass es dann auch geschah. Sie sahen sich in die Augen, im selben Moment ging die Karnevals-Hymne vom Weltuntergang zu Ende, die Kapelle pausierte, die wandelnden Schankkellner quetschten sich mit gefüllten Bierkränzen durch die Enthusiasmierten, und man nahm dem Wirt das Kölsch in saturnalischen Mengen ab. Inmitten der allgemeinen Begeisterung und des Tumults gab es diesen köstlichen Moment, in dem sich die zwei fanden wie in einer Blase, in welcher sie eine Weile schwebten, nur sie beide, als wären sie allein auf der Welt. Lange hatten sich beide vorgestellt, jeder für sich, wie es wäre, den anderen zu küssen. Und nun war es noch viel schöner. Und beide wussten, dass der andere genauso fühlte, und dieses Wissen verband sie, ließ sie im dichter werdenden Dschungel ihrerZuneigung zu Entdeckern und Indigenen zugleich werden.
„Über die kalkulierten Anspielungen auf das vermeintlich Triviale sollte aber nicht übersehen werden, dass Steffen Kopetzky mit seinen beiden ineinander verschränkten Romanen Propaganda und Monschau etwas gelungen ist, was ihm in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur eine singuläre Position verschafft: Er schreibt penibel recherchierte, spannend zu lesende Abenteuergeschichten, die weder pathetische Augenblicke noch ein Happy End scheuen und ernsthaft ihren historischen Kontext und die damit verbundene erzählerische Verantwortung jederzeit reflektieren.“ (Christoph Schröder)
2021 – 350 Seiten
Buchtrailer des WDR (4 Minuten)
WeitereYouTube-Videos zu Steffen Kopetzky – Monschau
Zora del Buono:
Die Marschallin

Ein familienhistorischer Roman. Zora del Buono begleitet das Leben ihrer Großmutter in Etappen von einigen Monaten bis zu wenigen Jahren, von 1919, der Erste Weltkrieg ist nur als politische Kapitulation vorbei, bis 1948, und da ist WK II noch stark in seinen Nachwirkungen zu spüren. Der Handlungsraum reicht vom stets umkämpften kleinen Ort Bovec im Nordosten des heutigen Slowenien, die deutschen und italienischen Namen Flitsch und Plezzo zeigen die Grenzregion an – bis zum süditalienischen Bari. Die Großmutter – auch sie heißt Zora, folgt ihrem Mann Pietro, der in Bari eine Professur für Radiologie antritt.
Zora Del Buono (das Del schreiben sie groß, um sich vom Adelsprädikat abzuheben) inszeniert sich als HERRIN der Villa mit 23 Zimmern und neun Bädern. Sie braucht Ordnung und sie verlangt Unterordnung. Das Haus ist von ihr durchgeplant und ausgestattet. Sie fährt nach Mailand, um Fliesen zu kaufen, sie arrangiert Fassaden und Zimmer und Möbel und Licht. Sie arrangiert aber auch ihre „Erscheinung“ und ihre Kinder, die sie als 1, 2, 3 einordnet.
Wenn er an Zora dachte, sah er sie stehend vor sich: stehend hinter dem Fauteuil, in dem Pietro saß und rauchte; stehend im Türrahmen zum Salon, niemals angelehnt; stehend im Gespräch mit ihren Söhnen im Garten; stehend neben dem Dienstmädchen, um die Speise, die das mehr oder minder verängstigte Mädchen brachte, kritisch zu begutachten; stehend im Sand unter einem Sonnenschirm, aufs Meer blickend, während sich die anderen Frauen auf Liegestühlen aalten und in Illustrierten blätterten (er war nur einmal mit am Meer gewesen, aber diese Szene hatte sich ihm eingeprägt: eine Frau, die den Schiffsverkehr im Auge behält und nicht die spielenden Kinder); stehend auf dem Schießplatz, wo sie Davide die Patronen reichte; stehend auf dem Rumpf eines Fischerboots im Hafen von Polignano, als sie eine Rede hielt.
Sie strahlt etwas „Aristokratisches“ aus, doch steht das in Widerspruch zu ihren politischen Präferenzen: Sie versteht sich als Kommunistin, will die Partisanen (auch mit Waffen) unterstützen, sympathisiert mit Togliattis PCI, verachtet die Schwarzhemden. Auch ihr Mann Pietro hat aus seinem Studium in Berlin linke Gesinnung mitgebracht. „Kommunismus ist Aristokratie für alle.“ (Motto) Höhepunkt für die Familie ist ein Besuch Titos in Bari, wo er sich von Pietro Del Buono behandeln lässt.
Auf der Galerie ein Hüsteln. Nino und Zora traten aus dem Dunkel nach vorne, Bruder und Schwester in seltener Eintracht, beide in Grün, er in Uniform, sie im Kleid. Zora legte die Hände auf das frisch polierte Messinggeländer. Sie lächelte. Tito ging zwei Schritte Richtung Treppenaufgang, öffnete die Arme weit, als sei er ein Tenor, der zur Arie ansetzt. «Es ist mir eine Ehre, Gast im Haus einer Genossinder Volksbefreiungsarmee zu sein, einer grande signora mit humanitärer Gesinnung, mit Liebe für die Freiheit und das Vaterland.» Alle atmeten wieder.
Faschismus und Krieg überstehen die Del Buonos relativ unbeschadet, weil der Arzt benötigt wird. Nach dem Krieg verkeilen sich die Verhältnisse, weil sich die Kommunisten nicht an die Ideale von Zora halten, weil der PCI die Familie als zu reich ausstößt. Pietro wird frühzeitig dement, Zora gerät in ein Altenheim nach Nova Gorica, wieder in Slowenien, aber im Rollstuhl, überlebt, unbrauchbar geworden. Der 1980 nachgetragene Text wechselt die Perspektive in Zora, die sich in einem langen Monolog an ihre Pflegerin Branka Blatnik wendet, dabei aber die Zeiten mischt, Personen und Ereignisse erscheinen in Sprung- und Splittergedanken, Lücken füllend und offenbarend.
Neben Zora Del Buono lernt man in den etwa 30-seitigen Kapiteln viele ihrer Umlaufpersonen kennen: Freunde aus Slowenien, Bekannte aus Bari, Hausbedienstete, den Schwiegervater Giuseppe, Bürgermeister der Gefängnisinsel Ustica nördlich von Sizilien, ihre drei Söhne, darunter Manfredi, der Vater der Autorin. Auf jeden der unterschiedlichen Charaktere fällt abwechselnd der Spot. Auch führen die anekdotischen Kommunikationen durch eine historisch bewegte Epoche. Aus der zeitlichen Distanz schrumpfen aber die Bedrückungen – und ich bin froh, dass ich mit den Auftritten der anstrengend resoluten, anziehenden, doch ungeliebten „Marschallin“ durch bin und fühle mich durch den Zeiten- und Perspektivensprung ein wenig erlöst.
Elke Heidenreich gerät außer sich: „So etwas Gutes wird selten geschrieben.“ Zu viel des Lorbeers, aber interessante Zeithintergründe, eine funkelnde Protagonistin und lebendiges Erzählen sind ja auch nicht schlecht
Er war von seiner Schwester einiges gewohnt, sie exponierte sich mit ihren Gesellschaften, die sie gab, mit Vortragsrednern, die sie zu sich einlud, sie schien sich vor der Regierung nicht zu fürchten, es war, als ob sie unangreifbar wäre, als Kind hatte er oft gedacht, sie sei eine Hexe, die ihn beschütze, manchmal dachte er das heute noch (niemand würde eine Zora Del Buono, geborene Ostan, verhaften, mit diesemGestus ging sie durch die Welt, und interessanterweise schien das jeder zu glauben).
Das Resümee: „Sie wusste, sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte. Doch die Entwicklung führt in eine andere Richtung.“
2020 – 380 Seiten
Gespräch im SRF-Buchclub (11 Minuten)
„Buch der Woche“ mit Materialien Leseprobe und Links beim „Freitag“
Christian Kracht: Eurotrash

Am Ohr des kantigen Mannes mit dem herrischen Blick hängen zwei Kirschen. Geht’s noch lächerlicher? Darf man dem Ernsten durch zwei hingemalte rote Kirschen seine Würde nehmen? Ja, die Seriosität bloßstellen durch schnöden Tand? Die belgische Malerin Karien Deroo findet in vielen ihrer Porträts diesen prätentiös verletzlichen Ernst. Zu Christian Krachts „Eurotrash“ fügt sich das Titelbild kongenial.
TRASH. Die ganze Familie. Der Vater der Mutter war SS-Mann, tief verbunden mit der „Naziwelt“, der Vater, „Repositorium der Geheimnisse war er gewesen, die erst nach seinem Tod an die Oberfläche kamen“. Ein „kleiner drahtiger schmaler Mann“, der die Störungen mit seinem Vermögen kompensiert, mit verstreuten Chalets in Cap Ferrat, Gstaad, Sylt, mit Bekanntschaften zu Axel Springer, Augstein, Mick und Muck Flick, Franz Joseph Strauß, mit Bildern als „Dekoration“, die er aufgerollt unter dem Bett versteckt (neben anderen Requisiten).
„Alle hatten immer geschwiegen (…) in meiner Familie, wie alle lieber alles heruntergeschluckt und verborgen und geheimgehalten hatten, ein ganzes totes, blindes, grausames Jahrhundert lang. (…) Eine zutiefst gestörte Familie.“ Ein Vorwurf, ein Einwurf, Scheinkritik, auch um des Effekts willen. Eurotrash.
„Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muß.“
Die Mutter ist dement, wann immer sie es will. Vielleicht ist ihr Gedächtnis aber auch von Zolpidem, Phenobarbital, Schlemmerfilet Bordelaise und „Gib mir mal die Wodkaflasche“ kontrolliert. Der Erzähler-Sohn holt sie aus der Anstalt und begleitet sie samt Rollator und Stoma auf eine Reise entlang der sprunghaften Erinnerungen. Mit dem Taxi lassen sie sich durch die Orte der Vergangenheit und der Fantasie bringen. Genügend Franken haben sie vom Konto abgehoben und tragen es in einer Plastiktüte an sich. Sohn Christian hatte „erkannt oder erkennen müssen, daß der einzige Weg, mit Geld vernünftig umzugehen, war,es zu verschenken“. „Ich nahm also etwas Geld aus der Plastiktüte mit der Wodkaflasche und den Tabletten, eine ordentliche Handvoll nahm ich heraus“ und schon stand ich „vor den drei indischen Damen (…) und sagte, nein, nein, ich wolle ihnen dieses Geld hier schenken. Es waren vielleicht sechzig- oder achtzigtausend Franken . (…) Und plötzlich, wie es manchmal so ist, gab es aus dem Nichts einen Windstoß.“ Es war an der Bergstation der Seilbahn in einer „Pappmaché-Schweiz“ (Jan Wiele, FAZ).
Die Road-Novel bietet viele absurde Situationen, Gespräche, Anekdoten, aber auch viele Sentmentalismen, die Monster-Mutter immer als Kristallisations-Mensch. „Das Getue einer alten Frau“: Sehen wir uns wieder, nun, so lächeln wir.“ (Shakespeare, Julius Caesar) Ein schönes Ende.
Ein hübsches Element der Geschichte: Dass der Erzähler wie der Autor heißt. Das könnte bedeuten, dass der eine der andere ist, vielleicht haben beide etwas voneinander – Autofiktion! – , vielleicht wird auch nur geschummelt, – selbstverliebt – gespielt. „Aber“, sagt mir Elke Heidenreich, „es ist egal. (…) Es ist ein Roman mit einer ganz und gar verzauberten Grundstimmung aus Trauer, Liebesversuch, in einem …, trotz eines so wahnsinnig sinnlos, durchs Geld sinnlos gewordenen Lebens.“ Vielleicht ist Elke Heidenreich aber der eitlen Performance des Autors aufgesessen. Ein Roman mit Kirsche! Eurotrash – Ironie von von vorne bis zum Schluss!?
Die Mutter kritisiert den Sohn und sein Schreiben als „belanglosen Unsinn, wie Du ihn schreibst, den ohnehin keiner lesen will. (…) Ein horrender Stuß, wie Du ihn schreibst. Lies doch mal Flaubert. Da würdest Du sehen, wie es geht. Von den Meistern lernen. Aber Monsieur denkt ja gar nicht dran. Monsieur ist ja selbstgefällig und behäbig und dann fährt Monsieur mit seiner Mutter irgendwo auf einen Gletscher.“
2021 – 210 Seiten (plus ein paar leere)
Giulia Caminito:
Ein Tag wird kommen

Nicola und Lupo. Brüder – vielleicht. Die Familienverhältnisse in Serra de’ Conti sind nicht so, dass man die Stammbäume zuverlässig zeichnen könnte. Die Not ist groß im Dorf im Hinterland der Marken, die Mutter ist fast blind, der Vater ein Tunichtgut, die Kinder sterben früh, die Bäckerei der Ceresa arbeitet am Rande der Existenz. Der Pfarrer ist nicht nur fürs Heil der Seele da, Nella, die Schwester, wird ins Kloster gesteckt – und das gewiss nicht wegen ihrer Frömmigkeit.
Nicola ist der Schwache, er lernt lieber lesen als arbeiten, fürs Leben taugt er kaum, er zieht sich in sich zurück. Lupo, der Name gebietet es, ist der Kämpfer. Serra de’ Conti ist ihm zu eng, seine Wut führt ihn zu den Anarchisten, er will die Macht der Herren, des Staates, der Kirche wegbomben, er will ein rechtes Leben für alle. Nicola und Lupo, so unterschiedlich sie in allem sind, so sehr klammern sie sich aneinander, sie schlafen in einem Bett. Unter dem Bett liegt Cane, der kleine Wolf, den Lupo aufgelesen und an sich gebunden hat.
Um vier Uhr morgens kamen sie in ein verlassenes Dorf, nach drei Stunden Fußmarsch, die Nicola wie Tage erschienen waren, noch nie in seinem Leben hatte er sich so verausgabt, doch wenn er angefangen hätte zu weinen, wenn er angefangen hätte zu schreien, hätten sie ihn mit Fußtritten an die Front befördert, so hatte man ihm gesagt, entweder er spurte oder er war tot. (…)Ihr seid hier für Italien, hieß es immer wieder, ihr seid hier für Kalabrien und Sizilien, Ligurien und die Basilicata, Ancona und Rom, ihr seid hier für Männer und Frauen, ihr seid hier für die Kinder, die Neugeborenen, für die, die erst noch kommen, für die Straßen, die Kirchen, Paläste und Felder, ihr seid hier für das Land, ihr seid hier für den König. (…) Nicola war vorher noch nicht einmal in Senigallia gewesen.
Der Krieg reicht bis in die Marken. Die Österreicher fliegen Angriffe, Lupo muss sich verstecken, Nicola aber wird eingezogen, der sanfte Nicola. Wie alle leidet er, wie alle gerät er ans Ende seiner geringen Kräfte. “Man hatte ihnen gesagt, dass der Feind, wenn es ihnen nicht gelänge, ihn zurückzuschlagen, in die Ebene und die Täler hinuntersteigen und schließlich in ihre Dörfer gelangen würde, er würde in ihre Häuser eindringen, jeder einzelne Österreicher und jeder Deutsche würden in ihren Betten schlafen.”
Alle Körper werden bestattet, sagte der Kaplan immer, alle Körper, auch die zerfetzten, denn jedes Körperteil muss gesegnet werden.
Nicola ging näher hin, er roch den Gestank von Verbranntem und schmeckte die Säure des Gebräus, das er im Magen hatte und das ihm bis zur Zunge herauf aufstieß, von den beiden waren drei Arme geblieben, ein Fuß, ein halbes Gesicht, verstreute Knochen, vor allem aber Blut und alles, was aus dem Körper nie hätte austreten dürfen, das, was ihre Mütter in neun langen Monaten in Leber, Lunge und Darm verwandelt hatten und was der Krieg jetzt über Steine und Sträucher verstreut hatte.
Nicola überlebt, kehrt vom Heimaturlaub nicht zurück an die Front, schlägt sich zu Fuß durch in sein Heimatdorf. Lupo ist nicht mehr da, die Dorfbewohner werden von der Spanischen Gripe dahingerafft. Zur sozialen Not kommt die politische, der Krieg, und dann die Pandemie. „Der Krieg ging zu Ende, aber, wie die Priester sagten: Gott war noch nicht fertig mit ihnen.”
Das Kloster bietet ein gottverschriebenes Refugium. Für Suor Clara, die dunkelhäutige Äbtissin, die aus Äthiopien in den Norden geflohen ist, für Schwester Nella, für die Dorfbewohner, denen, wenn überhaupt, nur Gott geblieben ist. Das Kloster ist, wie der Name sagt, aber auch Klause, man kommt nicht mehr heraus, auch das Verhältnis zu den Dorfbewohnern ist ambivalent. Ein archaischer Ort, ein Relikt in einer Welt, die sich am modernen Nationalismus übt und dabei im Krieg versinkt. Nella hat keine Zukunft, Nicola überlebt und weiß nicht, wozu, Lupo will seine Anarchie in Amerika weiterentwickeln und landet im Treibsand der kapitalistischen Demokratie.
Ein Land ohne König, ohne Monarchie, ohne Tyrannen, ohne Papst und mit tausend Göttern, es war riesig, es enthielt alle und alles, es konnte dich verschlingen, aber auch deine Wunden lecken, so viele schon waren aufgebrochen, und so viele brachen noch immer auf mit der Vorstellung, den Lauf ihres Lebens zu ändern, den Krankheiten zu entfliehen, den Toten, den verfallenen Häusern, den müden alten Dörfchen, die an den italienischen Berghängen klebten und das Andenken an längst begrabene Mütter bewahrten.
Die Spanische Grippe forderte weiterhin Tote, der Krieg hatte nur Luft geholt, der Faschismus würde kommen, das Große Amerika würde Unschuldige auf den elektrischen Stuhl schicken, die Anarchie würde sich verstecken müssen, schuldig, verleugnet, verpönt und erinnert nur durch Bomben und Attentate, der Glaube würde zusammenbrechen, leer, falsch, elend, denkbar nur als Zepter, Krone und Inszenierung.
Die Halbpacht dagegen würde noch lange fortbestehen, und die Felder und die Weinberge, die Nussbaumhaine und die Eicheln und das Mehl würden in den Marken noch lange herrschen.
Denn, wie man weiß: Die Erde bleibt, während die Menschen fortgehen.
Giulia Caminito kokettiert im Nachwort mit derFiktionalität, die Nähe nicht ausschließt.
Trotz gründlicher Recherchen, der Sichtung von Dokumenten, der Besuche vor Ort, gibt es in diesem Roman nicht nur einige Wahrheiten, sondern auch viele Lügen.
Ich möchte die Leserinnen und Leser also dazu ermuntern, nicht alles zu glauben und von diesen Seiten keine verlässliche historische Zeugenschaft zu erwarten, sie haben andere Wurzeln, auch meine, durch die ich versuche, mich selbst kennenzulernen und zu wachsen; denn im Grunde bin ich Nicola Ceresa, derjenige, der Angst hat und im Kopf nicht ganz richtig ist, dem die Hände zittern und der auf Lupos schaukelnden Nacken blickt, während er die Dorfstraße hinuntergeht.
Die Erzählung beschwört die Archaik des ländlichen Italien Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie lädt ihren Roman mit gewichtigen Worten und einer ruralen Metaphorik auf. “Das Bett war zu schmal und zu kurz geworden, Laken und Decken reichten nie aus, und um es beim Schlafen warm zu haben, mussten sie beide eng aneinandergeschmiegt schlafen wie die zwei perfekt zusammenpassenden Hälften eines nie gepflückten Apfels.
Lupo fühlte, wie sein Körper größer wurde und sich streckte, anders wurde, als er immer gewesen war, und für ihn ungewohnte Dinge tat, er ächzte wie ein mit Wasser vollgelaufenes Boot, bereit zu kentern, die Planken zu sprengen. (…) Lupos Schultern waren Gebirge geworden, der Körper hatte sich zu den Wolken gestreckt, die Arme waren mächtiger, beim Gehen riss er mit Gewalt das hohe Gras an den Wegrändern aus, und Nicola hatte Angst, er könne sich verletzen, könne anfangen zu bluten wegen all des Grolls, den er im Lauf der Jahre still eingesteckt hatte, wie man es mit reifem Weizen tut.“
Die Abschnitte bestehen aus einem Satz, kein Punkt hält den Lesefluss an, wenig Zeit, um Atem zu holen, der Leser wird hineingezogen in den Strudel der Geschichte.
Wüstes Gestrüpp umzingelt die Stadt,
auf Stufen voller Blut verfolgt der Mond
entsetzte Frauen. Heulend sind durch
das Tor die Wölfe hereingekommen
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich
Istituto Italiano di Cultura Berlino :
Incontro con l’autrice Giulia Caminito – Lesung (deutsch) und Gespräch (italienisch/deutsch)
2019 – 265 Seiten

Susanne Kerckhoff:
Berliner Briefe

„Briefroman“ steht auf dem Cover. Es ist ein Roman, weil die Briefe, die Susanne Kerckhoff an ihren Freund Hans schreibt, fiktiv sind – wie vielleicht auch Hans. Diese Briefe dienen dabei in erster Linie der Selbstvergewisserung der Briefeschreiberin. Die sich Helene nennt. Sie findet so die Möglichkeit, ihre politischen und weltanschaulichen Positionen kundzutun und zu überprüfen. „In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen. (…) Noch um die endgültige Erkenntnis ringen, heißt nicht, der Aktion ausweichen, sondern sich im Gegenteil auf sie vorbereiten.” (Vorbemerkung der Autorin)
Susanne Kerckhoff wurde 1918 geboren und spielte nach 1945 als Schriftstellerin, Publizistin und politische Stimme eine bedeutende Rolle im literarischen Diskurs der Nachkriegszeit. Sie wurde 1945 zunächst Mitglied der SPD, trat aber 1947 der SED bei und siedelte in den Ostsektor Berlins über. Ab 1948 war sie Feuilletonleiterin der Berliner Zeitung. Nach grundsätzlich politischen Meinungsverschiedenheiten – „Ränkespiele“ * nennt es Peter Graf im Nachwort – mit Walter Ulbricht, Paul Wandel und Stephan Hermlin nahm sich Susanne Kerckhoff 1950 das Leben.
* Susanne Kerckhoff, literarische Hoffnung des Kommunismus und Kulturressort-Chefin der östlich orientierten „Berliner Zeitung“, beging Selbstmord. Die sowjetamtliche „Tägliche Rundschau“ kommentierte, die junge Schriftstellerin habe offenbar die Nerven verloren. Zuvor war ihre „schwankende ideologische Haltung“ mehrfach in Rundschreiben der SED gerügt worden. Susannes Halbbruder Wolfgang Harich (s. SPIEGEL Nr. 1/50) hat ebenfalls einen Nervenknacks. Als sich Hannelore Schroth bei ihrem letzten Berlin-Besuch aus alter Freundschaft nach ihm erkundigte, wurde ihr sowjetamtlich mitgeteilt, Wolfgang Harich habe zur Zeit eine neue Adresse. Es handelte sich um die Anschrift einer Nervenheilanstalt in Thüringen.
SPIEGEL 23.03.1950
Ihre Selbst-Einordnung: »In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen.«
Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen:
der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besiegtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:
„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden!“ „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden!“ „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ „Unsere Konzentrationslager? Kommen Se mal nach Sachsenhausen, wo die kleinen Pgs schuften und Kohldampf schieben!“
Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten.
(Aus dem dritten Brief)
Die „Berliner Briefe“ erschienen 1948. Susanne Kerckhoff nimmt wahr, wie sich die Menschen in Berlin verhalten, hört, was sie sprechen, schließt daraus auf das Denken der Leute kurz nach dem verlorenen Krieg, verzweifelt über das, was sie nicht verstehen kann. Keine Einsicht, keine Menschlichkeit, keine Reflexion. Ihre strikte Humanität gebietet ihr, trotzdem daran zu glauben, dass diese Menschen sich zu etwas Anderem, etwas Besserem, zur Demokratie bewegen lassen müssen. Dem Brieffreund, einem Juden, nach Frankreich ausgewandert ist, schildert sie ihre Beobachtungen, lässt ihn daran teilhaben, wie sie ihre Ansprüche umtreiben. Ob es Antwortbriefe gibt, bleibt offen, zumindest nimmt sie Susanne Kerckhoff nicht in ihr Buch auf.
Sie hat ihre Illusionen von Humanität nicht aufgegeben.
Unter Hitlers Herrschaft haben sich meine Träume von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit konserviert, sie haben sich gehalten, ohne sich in positiver oder negativer Richtung zu entwickeln. Ich konnte mit dem Pfund, das ich in mir trug, nicht arbeiten. Ich mußte es vergraben – es blieb ein Pfund. Politische Naivität blieb politische Naivität. Schwarz waren die Totenkopfmachthaber für mich, die sich die Menge dienstbar machten, indem sie ihre niedrigsten und dumpfsten Triebe glorifizierten.
Nein – die Märtyrer ließen es nicht zu, daß ich mich in eine höhere Gelassenheit finden konnte! Wie ich Deinen Vater auf dem Kurfürstendamm traf. Er versuchte, grußlos an mir vorüberzugehen, um mich nicht in den vergifteten Kreis seines gelben Sterns zu ziehen. Ich ließ mir diese Rücksichtnahme nicht gefallen. Da blieb er stehen und hielt den Hut vor seinen Stern. Ich wollte sprechen, dazu hatte ich mich ihm ja in den Weg gestellt, und nun konnte ich es kaum. Ich fühlte die mechanische Zermalmung des flutenden Verkehrs um uns, die tödliche Gleichgültigkeit des Asphalts, auf dem wir standen. Sein Blick kam auf mich zu mit der grauen Größe eines Schmerzes, der ihm noch bevorstand, und den er bereits überwunden hatte. Plötzlich merkte ich, daß i c h ihm leid tat. Was soll ich daran noch schildern? Am nächsten Tag wollte ich ihn aufsuchen, aber er war nicht mehr in der Uhlandstraße. Eure Wohnung war mit einer Plombe der Gestapo versiegelt.
(Aus dem zweiten Brief)
Susanne Kerckhoff will sich einmischen, will dabeisein bei der Neuausrichtung der Gesellschaft. In ihren Überlegungen testet sie als moralische Instanz sogar die Kirche. In der politischen Welt zeichnen sich schon bald nach der Nazizeit zwei Systementwürfe ab. Kerckhoff wägt sie ab, kann aber keinen erkennen, die ihrer moralischen Rigorosität gewachsen sind.
Mich graust es vor den Folgen einer konsequenten Formal-Demokratie! Warum? Um der menschlichen Schwäche willen! Darum, weil der deutsche Nazi der gesunde Teil der Bevölkerung ist, gesund, das heißt skrupellos genug, jeden Vorteil für sich auszunutzen und den Gegner wie ein Skorpion von hinten zu stechen! Sie nehmen Gerechtigkeit in Anspruch, um desto schneller wieder zu ihrer Art von Gerechtigkeit zu gelangen! Sie lassen sich von der Demokratie schützen, werden in ihrem Schutze wie vordem korpulent und kräftig – um die Demokratie zu stürzen. Eines Tages, wenn die Alliierten es nicht hindern, werden diese „braven Jungen“ wieder Ordnung machen, eines Tages, wenn die Demokratie, die schon jetzt auf dem Wege dazu ist, sich endgültig lächerlich gemacht hat!
Aber:
Welcher Sozialist, der mit sich allein und ehrlich ist, hat sich nicht schon die bängliche Frage vorgelegt, ob die Erfassung durch materielle und geistige Planwirtschaft nicht noch grausiger ist als der Machthaber Kapitalismus?
„Gut sein – gut sein! ist viel getan;
Erobern ist nur wenig.
Der König sei der beste Mann,
sonst sei der bessre König!“
Der Claudius-Vers ist eine wunderschöne, leichte, unmögliche Lösung aller Probleme. Sind wir zu der Auffassung verführt, daß alle Systeme an der menschlichen Schwäche scheitern oder an der menschlichen Tugend gewinnen können? Daß es also gar nicht darauf ankommt, ob Kapitalismus oder Sozialismus in der Welt herrschen, sondern allein darauf, ob hochwertige Menschen oder Kreaturen regieren?
(Aus dem zehnten Brief)
Es gibt viele Fragezeichen in den Briefen. Aber keine Antwortzeichen. Die findet Helene nicht bei ihrem angeschriebenen Hans und auch bicht in sich selbst. Susanne Kerckhoff passte nicht in die SPD, nicht in die SED, nicht in einen der deutschen Nachkriegsstaaten. Und deshalb taucht sie auch nicht in den Literaturgeschichten auf, weder der BRD, noch der DDR. Erst ab 1999 wird man wieder auf sie aufmerksam, 2000 werden die “Berliner Briefe” im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis wiederveröffentlicht. Interessant ist das Buch wegen der Zeitzeugin, die durch die unmittelbare Nachkriegszeit authentisch ist un durch die existenzielle Annäherung an die Welt. Die Wiederauflage wurde teils begeistert aufgenommen, wobei der direkt politische Bezug eher ausgeblendet wurde. Auch heute tut man sich schwer, wenn man grundsätzlich wird.
Das ist es, was ich nicht möchte, aber muß: um die Probleme herumgehen, sie von allen Seiten betrachten, subjektiv, weil ich zu einer Objektivität gar nicht imstande bin! Auf meinen Wanderungen im politisch-psychologischen Mischwald gibt es dornige Flecken, wo meine Wünschelrute ausschlägt, dann wieder sehe ich gar liebliche Quellen, an denen ich mich nicht erlaben kann.
1948 – 110 Seiten
Artikel über Susanne Kerckhoff in neues-deutschland von 1998
Gespräch im Literarischen Quartett des ZDF (ab 0:34)
Lutz Wilhelm Kellerhoff:
Die Tote im Wannsee
Aus dem Autoradio klingt Jimi Hendrix mit Hey Joe und Good Vibrations von den Beach Boys. Im Kings-Club singt ein „junger Mann mit Gitarre (…) etwas von einem gewissen Orpheus“, ja, „der Mann hieß Reinhard Mey“.
Mittendrin ermittelt Kommissar Wolf Heller, „und Heller hatte das Gefühl, dass der Wahnsinn sich ausbreitete und irgendwann auch ihn befallen würde. Er war zweiunddreißig Jahre alt, unverheiratet und wohnte in Kreuzberg bei einer Mutter von zwei Kindern zur Untermiete. In seinem Ausweis stand: eins zweiundachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, blaue Augen, dunkles Haar. Die Frauen standen auf ihn.” Er steuert seinen roten Karmann-Ghia mit Stoffverdeck durch den Stadtplan Berlins. “Weil der Ku’damm wegen eines Feuerwehreinsatzes gesperrt war, nahm er die Kantstraße, was sich bald als Fehler herausstellte. Einmal pro Woche marschierten zweihundert bis dreihundert Studenten am Amerikahaus in der Hardenbergstraße vorbei, warfen Farbbeutel und Eier und riefen USA-SA-SS, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh und andere Parolen. Wolf Heller wusste nicht, was damit gemeint war. Die Studenten schienen auf Krieg aus zu sein, als würden sie bedauern, beim letzten nicht dabei gewesen zu sein. Es ging gegen die Spießer, gegen die Amerikaner, gegen Vietnam. Und vor allem ging es gegen Axel Springer und die Bild-Zeitung.”
Man ist gefangen im Fluidum der umzäunten Stadt, des Vorpostens der westlichen Welt, und das ist das Merkmal und das Besondere an den Krimis von Martin Lutz, Uwe Wilhelm und Sven Felix Kellerhoff. Die Handlung ist in diese “politisch aufgeheizten Zeiten” (Cover) hineingepflanzt und streift die Schauplätze der Weltpolitik und deren Randakteure. Louise arbeitet in der Kanzlei von Horst Mahler, Karl-Heinz Kurras hat Benno Ohnesorg erschossen, die Kommune in der Wielandstraße träumt von der Revolution und die DDR hat ihre Finger im Spiel. Heidi Gent besucht aus unerklärlichen Gründen eine Hütte an einem geheimen Ventil im Grenzzaun zur DDR. Dann fischt man sie aus dem Wannsee und sie trug als Leiche unerwartet und für ihr bürgerliches Leben unpassend rote Schuhe und schwarzes Kleid.
»Haben Sie Gummistiefel dabei?«, fragte er und deutete auf Hellers Lederschuhe. »Da unten ist alles nass.«
In den letzten Tagen hatte es geregnet wie schon seit Jahren nicht mehr. Als wollte der Wettergott all die Schuld und die Wut von der Stadt abwaschen.
Heller passierte den Eingang, stieg auf der Seeseite die Treppen hinab und lief zum Ufer. Etwa zwanzig Meter entfernt dümpelte ein Schiff der Wasserschutzpolizei mit laufendem Motor. Ein Schupo, ein Beamter der Kripo, Oskar Schubert von der Spusi und sein junger Assistent standen um eine Frauenleiche. Hellers Kollege Albert Doll grinste.
»Na, Heller, auch schon da?«, spottete er. Sein Gesicht war schief, als hätte sein Schöpfer sich einen Spaß machen wollen und zwei unpassende Hälften zusammengesetzt.
Die Tote trug ein schwarzes, knielanges Kleid mit schmalen Trägern. Es sah so ähnlich aus wie das von Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Vor einiger Zeit hatte Heller den Film zusammen mit Paula in der Filmbühne Wien am Ku’damm gesehen. Die Tote lag auf dem Bauch, Oberkörper und Kopf reichten ins seichte Wasser.
»Haben unsere Freunde mal wieder den Ku’damm stillgelegt?«, fragte Schubert.
»Das sind nicht meine Freunde«, erwiderte Heller.
»Aber du hast Verständnis für die Spinner«, sagte Doll.
Ja, das hatte er. Nicht für den Krawall und die wöchentlichen Demonstrationen, die die Gegend um den Bahnhof Zoo lahmlegten. Aber er konnte verstehen, dass die Studenten wütend waren.
Die Aufklärung des Mordes erweist sich als schwierig und zeitaufwendig. Zu viele Instanzen behindern Kommissar Heller: die Vertuschungen der Täter, die Verweigerung potentieller Zeugen, die Influencer aus der DDR, die studentischen Staatsfeinde, Hellers Familie(n) und auch seine eigene – korupte – Behörde in der Keithstraße. Das ist alles wichtig, verbreitet Atmosphäre und lässt Heller viel Raum für die Darstellung der Facetten seines Berufs und seines Lebens seiner Stadt und seiner Zeit. Aber: Ich habe selten einen Krimi gelesen, der sich für die – schließlich auch dank des weißen BMW 2000 C doch erfolgte – Lösung derart viel Zeit und Nebenwege nimmt wie “Die Tote im Wannsee”. Was mögen jüngere Leser empfinden, denen Erinnerungen an 68er Global- und Subkulturen fehlen. Ein stärker geraffter erster Serienband hätte die Neugier auf weitere Fälle erhöht.
2018 380 Seiten (incl. Glossar)
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Norbert Scheuer: Winterbienen
„Januar 1944: Egidius Arimond, ein frühzeitig aus dem Schuldienst entlassener Latein- und Geschichtslehrer, schwebt wegen seiner Frauengeschichten, seiner Epilepsie, aber vor allem wegen seiner waghalsigen Versuche, Juden in präparierten Bienenstöcken ins besetzte Belgien zu retten, in höchster Gefahr. Gleichzeitig kreisen über der Eifel britische und amerikanische Bomber. Arimonds Situation wird nahezu ausweglos, als er keine Medikamente mehr bekommt, er ein Verhältnis mit der Frau des Kreisleiters beginnt und schließlich bei der Gestapo denunziert wird.“
Der Klappentext fasst zusammen, was im Roman von Belang ist. Egidius Arimond hat alles in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen festgehalten, Norbert Scheuer musste die Blätter nur noch finden und transkribieren. „Am Tisch holte er aus einer Aktentasche ein loses Bündel Hefte, auf denen sich Bleistiftzeichnungen befanden, die er, wie er mir versicherte, beim Aufräumen seiner Scheune in einem alten Bienenstock gefunden habe. Die Dokumente erzählten, so sagte er, von einem Mann, dem er viel zu verdanken habe.“ Ein kluges Konstrukt.
Die Tageseinträge ähneln sich. Wetter, Umgebung, die blühenden Blumen, die Bienen, die Befindlichkeiten, das Tagwerk. Die Schwerpunkte variieren, was sich verändert, ist die Situation des Krieges an der „Westfront“ im Winter 1944/45. Zunehmende Zerstörung durch alliierte Bombardemants führen zu zunehmender Verstörung der Personen und ihres sozialen Gefüges. Fanatisierte Nazi-Verblendete reden sich eine Wende, eine Wunderwaffe, den Sieg ihrer Ideologie ein, sie haben ihr ganzes Leben eingesetzt, sie können, sie dürfen nicht verlieren. Alles wäre verloren. (Dass die Nazis bald wieder aus ihren Verliesen kriechen, wissen sie nicht.) Im Dorf Kall wird noch einmal der 20. April begangen, der Geburtstag Jupps.
Es regnet wieder; ich sitze im Cafe Blasius und blicke zum Marktplatz, wo Aufmärsche zu Jupps fünfundfünfzigstem Geburtstag stattfinden. Die Regale in der Bäckerei sind leer, weil kein Mehl vorhanden war, um Brot zu backen; aber es riecht zumindest immer noch ein wenig nach Sauerteig, gemahlenem Weizen- und Roggenmehl. Die Verkäuferin reicht mir einen wässrigen Ersatzkaffee aus Zichorien, der nur nach Wasser und den Bitterstoffen der gemeinen Wegwarte schmeckt. Unter der Hand bekomme ich ein kleines Stück Kuchen aus Rübenmehl, er ist ja mit meinem Honig gesüßt. Es kommt sonst keine Kundschaft, da es heute nichts zu verkaufen gibt.
Die Häuser um den kleinen Marktplatz und in der Bahnhofsfraße sind beflaggt; natürlich hängt aus der Wohnung des Apothekers auch eine Parteifahne. Jedes Mal, wenn ich zu ihm in den Laden komme, behauptet er dreist, die Preise für die Medikamente seien wieder gestiegen, aber davon ganz abgesehen, dürfe er mir gar keine Medizin geben, was ja auch stimmt; für meinesgleichen gibt es kein Recht auf Hilfe, ich muss selbst schauen, wie ich hier überleben kann.
Die kleinen Bienen geben Arimond Überlebensmut. Er hat etwas, wofür es sich zu kümmern lohnt. Er ist fasziniert von der Staatsorgansisation* der Bienen, will zu diesem Thema mit dem berühmten Bienenforscher Karl von Frisch in Kontakt treten.
Er braucht das Geld, das er für den Honig erhält, um sich Medikamente kaufen zu können (Luminal, Phenobarbital). Später muss er einen großen Teil seines Honigs als Deputat abliefern. Gleichzeitig darf er seine Epilepsie nicht offenkundig werden lassen, niemandem davon erzählen, es droht die Euthanasie. Das Leben stößt an immer mehr Grenzen, der Krieg wendet sich endlich gegen die Deutschen. Im Dezember 1944 brechen Arimons Tagebucheinträge ab.
Arimond ist kein „Gutmensch“. „Das, was ich notiere, ist nur eine Projektion meines Lebens, es ist weniger und doch gleichzeitig mehr, als ich selbst bin, wie auch die gesprochene Sprache immer mehr ist als ihre schriftliche Wiedergabe, die aber auf der anderen Seite doch vielleicht eine tiefere Wirklichkeit aufzeigt, ebenso wie eine Landkarte niemals die tatsächliche Landschaft selbst darzustellen vermag.” Er war Lehrer, er hat “Frauengeschichten”, auch mit der Frau des Nazi-Kreisleiters. (Die Zeit ist günstig für Affären, die Männer sind im Krieg.) Er präpariert seine Bienenkörbe, um darin jüdische Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien zu schmuggeln. Er steht dazu, er begibt sich in Gefahr, aber er nimmt dafür auch Geld, das er für seine Medikamente braucht. Norbert Scheuer zeigt seinen Protagonisten in dieser Ambiguität. Die Stärken des Romans sind die Vernetzungen von persönlichen Dilemmata, dörflichen Strukturen und zeitgeschichtlicher Fundierung. “Und wir können nur staunen über Norbert Scheuers Kunst: Was für ein reifes, reiches, unaufdringlich überwältigendes Buch.“ (Markus Clauer. ZEIT) Aus den zunächst betulichen Aufzeichnungen des ehemaligen Lehrers, der Hitler “Jupp” nennt und kein Nazianhänger ist, liest man seine Berührtheit, er ist aber doch letztlich unpolitisch. Aus der Kriegswelt flieht er zu seinen Bienen, trennen lassen sich die Sphären aber nicht.
Ich gehe nun täglich zur Bibliothek, um dort nach einer weiteren Nachricht zu sehen, muss wissen, wann genau die Flüchtlinge an der Übergabestelle am Malakow-Turm sein werden. Der stillgelegte Förderturm liegt inmitten des Bergschadensgebietes in der Nähe des Bleibergtrichters; es gibt nur einen befahrbaren Weg dorthin, der schließlich in einer Sackgasse am Trichter endet. Über Jahrzehnte haben Bergleute das riesige Loch mit einem Durchmesser von fünf Kilometern ausgehoben. Der Trichter führt in Terrassen bis zu einhundert Meter tief in die Erde hinein. Tausende von Arbeitern haben die bleierzhaltige Erde von einer Stufe zur nächsten im Rhythmus einer Trommel von Ebene zu Ebene nach oben geschaufelt. Im Trichter und auf den Bleisand- und Schlackenhalden gedeihen nun riesige Heidekrautfelder. Im Spätsommer ist es, als wäre das Blau des Himmels auf die Erde gefallen. Der Honig vom Heidekraut hat einen angenehmen, etwas herben Geschmack, und ich habe Kunden, die besonders diesen Honig mögen. Wenn die Bienen hier schwärmen und ins Bergschadensgebiet hinüberfliegen, um sich dort zu sammeln, muss ich sie meist verloren geben, weil die Gefahr selbst für mich viel zu groß ist, in einen der alten Stollen einzubrechen. Die Bienen suchen sich dann Nester in Baumlöchern oder Felsnischen und werden wieder zu Wildbienen.
In diesen abgeklärten Tagebuchseiten entsteht eine sich steigernde Brisanz und das macht den Roman lesenswert, auch wenn einen das Blühen der Natur und die Erstaunlichkeiten des Bienenvolkes weniger interessieren. Thea Dorn verweist (im Literarischen Quartett) auf die Problematik des “Bienenvölkischen”. * “In einigen Völkern musste ich die alte, unfruchtbare Königin töten, denn es schadet den Guten, wer die Schlechten schont.” Von Bienen, die “geschunden sind im Dienst für ihr Volk” müsse nicht erzählt werden “in einer Zeit, in der die völkische Ideologie in Deutschland für einen Massenmord gesorgt hat” (Dorn). Der Hinweis ist nicht wegzuschieben. Ich habe Arimonds Tagebuch aber nicht so gelesen. Die den Bienen einprogrammierten (Über-)Lebensaktionen können nicht auf biologistische Art auf Menschenpopulationen übertragen werden. Solchen Nazi-“Darwinismus” werfe ich Arimond und damit Scheuer nicht vor, auch wenn die Analogien, die der Autor einsetzt, bei aller Kunstfertigkeit aufmerksam gelesen sein sollen.
Eingestreut in die Tagbucheinträge sind Übertragungen aus Pergamenten aus dem 15. Jahrhundert, die von Ambrosius Arimond stammen, einem Vorfahren des Egidius. Die Methode ist kommentiert, auch Bienen kommen in den Fragmenten vor und das Herz des Nikolaus von Cues. Die Zeichnungen von Militäflugzeugen sollen von Scheuers Sohn Erasmus stammen. Das entschuldigt sie aber auch nicht.
2019 320 Seiten
Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF
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Christopher Isherwood: Leb wohl, Berlin
Der Engländer Christopher Isherwood ging, 25 Jahre alt, 1929 nach Berlin. Die Vorschriften und Sitten für Schwule waren hier (und auch in der Weimarer Republik) lockerer als anderswo. Er (er)lebte hier offenen Sinns und schrieb seine Beobachtungen in Tagbücher, die ein Panorama des Großstadtlebens Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zeigen. Da er sich in seine Skizzen selbst einchreibt, sind die Einsichten, ist die Darstellung natürlich subjektiv gefärbt, auch wenn er sagt: „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend.“ Es sind zunächst private Impressionen aus seinem Umfeld, doch Isherwood erkennt schnell, dass das Private immer auch politisch ist.
Auch Christine Nippoldt, die Illustratorin, bildet die zunehmende Infiltration – nicht nur des öffentlichen Lebens – durch die Nazis trefflich ab. Es tauchen immer mehr Uniformen und Hakenkreuze auf.
Isherwood findet sein erstes Zimmer bei Fräulein Schroeder.
Den ganzen Tag lang tappt sie in der großen, schäbigen Wohnung herum. Ungeschlacht, aber wachsam watschelt sie von Zimmer zu Zimmer, in Hausschuhen und einem geblümten Morgenmantel, der so kunstvoll mit Sicherheitsnadeln zusammengesteckt ist, dass kein Zoll Unterrock oder Mieder hervorlugt, wedelt mit ihrem Staubtuch, äugt, schnüffelt und steckt ihre kurze, spitze Nase in die Schränke und Koffer der Mieter. Sie hat dunkle, glänzende, neugierige Augen und hübsches, gewelltes braunes Haar, auf das sie stolz ist. Sie wird ungefähr Mitte fünfzig sein.
Vor langer Zeit, vor dem Krieg und der Inflation, war sie recht wohlhabend. Sie reiste im Sommer an die Ostsee und hatte ein Dienstmädchen für die Hausarbeit. Seit dreißig Jahren wohnt sie hier und nimmt Untermieter auf. Begonnen hat sie damit, weil sie Gesellschaft haben wollte.
»>Lina<, haben meine Freunde immer zu mir gesagt, >wie kannst du nur? Wie hältst du es bloß aus, Fremde in deinen Zimmern zu haben, die deine Möbel ruinieren, wo du doch das Geld hast, um unabhängig zu leben?< Und ich habe immer dasselbe gesagt. >Meine Untermieter sind keine Untermieter<, habe ich gesagt. >Sie sind meine Gäste.<
Bobby jedenfalls ist tief in Ungnade gefallen. Nicht genug damit, dass er arbeitslos und drei Monate mit der Miete im Rückstand ist, Fräulein Schroeder hat auch Grund zu der Annahme, dass er Geld aus ihrer Handtasche stiehlt. »Wissen Sie, Herr Issiwu«, sagt sie mir, »es sollte mich überhaupt nicht wundern, wenn er die fünfzig Mark von Fräulein Kost geklaut hat … Das bringt der ohne weiteres fertig, das Schwein! Dass ich mich so in ihm täuschen konnte! Möchte man das glauben, Herr Issiwu, ich hab ihn behandelt wie meinen eigenen Sohn – und das ist jetzt der Dank! Er sagt, er zahlt mir jeden Pfennig zurück, wenn er den Job als Barmann im Lady Windermere kriegt … wenn, wenn … « Fräulein Schroeder schnaubt verächtlich.
Später zieht Isherwood zu den Nowaks. Den schwulen Sohn Otto kennt er aus einer Sommerfrische auf Rügen. Nowaks leben sehr beengt, die Verhältnisse geben nicht mehr her. Die Wohnverhältnisse färben auch auf die Familienkonstellationen ab.
In den Mietskasernen teilten sich vier Parteien eine Toilette. Unsere lag ein Stockwerk tiefer. Wenn mich vor dem Schlafengehen ein natürliches Bedürfnis überkam, musste ich abermals den Weg durchs dunkle Wohnzimmer in die Küche antreten, um den Tisch herum, an den Stühlen vorbei, ohne dabei mit dem Kopfende des Nowak’schen Ehebetts zu kollidieren oder gegen das Bett zu stoßen, in dem Lothar und Grete schliefen. Ganz gleich, wie vorsichtig ich schlich, Frau Nowak wachte immer auf; sie konnte mich anscheinend im Dunkeln sehen und brachte mich durch höfliche Hinweise in Verlegenheit: »Nein, Herr Christoph – da nicht, bitte schön. Links in den Eimer am Herd.«
Wenn ich im Bett lag, in der Dunkelheit, in meiner winzigen Ecke dieses gewaltigen Kaninchenbaus der Mietskasernen, drang mit unheimlicher Klarheit jeder Laut vom Hinterhof zu mir empor. Der Hofschacht muss wie ein Grammophontrichter gewirkt haben. Da ging jemand die Treppe hinunter, wahrscheinlich unser Nachbar, Herr Müller, der Nachtschicht bei der Eisenbahn hatte. Ich hörte seine Schritte von Stockwerk zu Stockwerk leiser werden, dann überquerten sie den Hof und klatschten laut auf dem nassen Pflaster. Wenn ich mir Mühe gab, hörte ich – vielleicht auch nur in meiner Einbildung -, wie sich der Schlüssel im Hoftor drehte. Einen Augenblick später fiel das Tor hohl dröhnend ins Schloss. Und jetzt hatte Frau Nowak im Nebenzimmer einen Hustenanfall. In der darauffolgenden Stille knarzte Lothars Bett, während er sich umdrehte und im Schlaf undeutliche Drohungen murmelte. Irgendwo auf der anderen Hofseite begann ein Säugling zu schreien, ein Fenster wurde zugeworfen, irgendwo in den tiefsten Tiefen des Gebäudes schlug etwas sehr Schweres dumpf an eine Wand. Es war fremdartig, geheimnisvoll und unheimlich, als schliefe man alleine im Dschungel.
Die Landauers sind jüdische Kaufleute. Isherwood kommt zu ihnen als Hauslehrer der Tochter Natalie. Verunsichertes Bildungsbürgertum, im Oktober 1930 wird die Stimmung gegenüber den Juden immer bedrohlicher.
Eines Abends im Oktober 1930, etwa einen Monat nach den Wahlen, gab es einen großen Tumult auf der Leipziger Straße. Nazibanden versammelten sich und demonstrierten gegen die Juden. Sie misshandelten einige dunkelhaarige, großnasige Passanten und schlugen die Schaufenster aller jüdischen Geschäfte ein. Der Vorfall war an sich nicht weiter bemerkenswert; es gab keine Toten, es fielen nicht viele Schüsse, und es kam bloß zu ein paar Dutzend Verhaftungen. Ich erinnere mich daran nur, weil es meine erste Berührung mit der Berliner Politik war.
Fräulein Mayr war natürlich begeistert. »Geschieht ihnen ganz recht! «, rief sie. »Die Juden verpesten die ganze Stadt. Unter jedem Stein, den man umdreht, kommen gleich welche rausgekrochen. Sie vergiften uns das Trinkwasser! Sie erwürgen uns, sie rauben uns aus, sie saugen uns das Blut aus. Da muss man sich bloß mal die großen Warenhäuser angucken: Wertheim, KaDeWe, Landauer. Und wem gehören die? Dreckigen, räuberischen Juden! «
»Mit den Landauers bin ich persönlich befreundet«, gab ich kalt zurück und ging aus dem Zimmer, bevor Fräulein Mayr Zeit hatte, sich eine passende Antwort auszudenken.
AM TAG, ALS die jüdischen Geschäfte boykottiert wurden, ging ich zum Warenhaus Landauer. Oberflächlich be trachtet war alles wie immer. Vor jedem der großen Eingänge standen zwei oder drei uniformierte SA-Jungen. Wenn sich ein Kunde näherte, sagte einer von ihnen: »Sie wissen, dass das ein jüdisches Geschäft ist! « Die Jungen waren recht umgänglich, sie grinsten und scherzten miteinander. Passanten scharten sich zu kleinen Grüppchen und betrachteten das Schauspiel – interessiert, amüsiert oder auch nur gleichgültig; sie wussten noch nicht, was sie davon halten sollten. Es war noch nichts von der Stimmung zu spüren, von der man später aus Kleinstädten in der Provinz las, wo Käufer gewaltsam mit einem Stempelaufdruck auf Stirn und Wangen gedemütigt wurden. Recht viele Leute betraten das Gebäude. Ich ging selbst hinein, kaufte den erstbesten Artikel – eine Muskatnussreibe -, schlenderte wieder hinaus und ließ mein Päckchen baumeln. Einer der Jungen an der Tür zwinkerte und sagte etwas zu seinem Kameraden. Mir fiel wieder ein, dass ich ihn ein- oder zweimal im Alexander-Kasino gesehen hatte, als ich noch bei den Nowaks wohnte.
Christopher Isherwood schaut und hört sehr genau hin. Er sagt, die Figur “Isherwood” sei der “nicht mehr als eine zweckdienliche Bauchrednerpuppe.” „Ich bin eine Kamera mit weit geöffneter Blende, passiv aufzeichnend, nicht denkend.“ Die sechs Geschichten “Ein Berlin-Tagebuch (Herbst 1930) – Sally Bowles – Auf Rügen (Sommer 1931) – Die Nowaks – Die Landauers – Ein Berlin-Tagebuch (Winter 1932/33)” ergeben ein lebhaftes Zeit- und Sittenbild von Berlin im Übergang von den “goldenen” 20er-Jahren zu den Anfängen des Nationalsozialismus. Das Buch war die Vorlage für das Musical und den Film “Cabaret” (1966/1972). Liza Minelli spielte die Rolle der „göttlich dekadenten“ Sally Bowles, eine junge Engländerin, die in Kabaretts auftritt und eine Heerschar von Bewunderern besitzt.
IN DEN FOLGENDEN WOCHEN verbrachten Sally und ich den Großteil des Tages miteinander. Sie lag zusammen gerollt gerollt auf dem Sofa in dem großen, schmuddeligen Zimmer, rauchte, trank Prärieaustern, sprach ununterbrochen von der Zukunft. Wenn das Wetter schön war und ich nicht unterrichten musste, spazierten wir bis zum Wittenbergplatz, setzten uns dort auf eine Bank in der Sonne und redeten über die Passanten. Mit ihrer kanariengelben Baskenmütze und dem schäbigen Pelzmantel, räudig wie das Fell eines alten Hundes, zog Sally alle Blicke auf sich.
»Ich wüsste zu gern«, bemerkte sie häufig, »was die sagen würden, wenn sie wüssten, dass wir zwei alten Vagabunden eines Tages der wunderbarste Schriftsteller und die größte Schauspielerin der Welt sein werden.«
»Da wären sie wohl nicht schlecht überrascht.«
»Wenn wir dann in unserem Mercedes umherfahren und an heute zurückdenken, werden wir wohl denken: Eigentlich hatten wir es gar nicht übel! «
»Es wäre auch gar nicht übel, wenn wir den Mercedes jetzt schon hätten.«
Die Büchergilde zählt die illustrierte Ausgabe zu ihren schönsten Büchern des Jahres 2019.
1939 320 Seiten
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Lili Grün: Alles ist Jazz
Die Wienerin Lili Grün kam Ende der 1920er-Jahre nach Berlin, da war sie 25, „angezogen vom vermeintlichen Glanz und Glamour Berlins“ (Anke Heimberg im Nachwort). Die Protagonistin ihres Romans „Herz über Bord“ ist die 21-jährige Schauspielerin Elli, die sich bemüht, ein Engagement zu finden. Doch die Theater brauchen keine junge, kleine Frau mit wenig Erfahrung, davon gibt es zu viele. Ein filmproduzent lässt sich verleugnen. Die Männer sind als Freunde unzuverlässig, auch hier steht schon die nächste an der Ecke. Elli schließt sich einer Kabarett-Truppe an, man will in einem Kellerlokal Fuß fassen. Ellis Auftritte werden gelobt, doch Subkultur hat keine Zukunft.
O, Theaterdirektoren, Regisseure, Agenten, wo seid ihr alle? … Man hat sich ein schlechtes Geburtsdatum ausgesucht. Seit man lebt, sind die Zeiten groß, aber unangenehm.
In der Zeitung steht Arbeitslosigkeit in Amerika, Arbeitslosigkeit in der ganzen Welt. Es steht wenig Trost in den Zeitungen für solche Ellis, nichts steht da von Jugend, Anmut, Talent und Karrieremacken.
Die Wirtin scheint keine Zeitungen zu lesen. Sie schiebt sich in ihrer ganzen ehrfurchtgebietenden Breite ins Zimmer und sagt:
»Nu, lachen Sie mal, Freilein, wie denken Sie sich das eigentlich?«
Wie Elli sich das denkt? Ja, macht denn sie Weltgeschichte? Sie, dieses kleine Wesen voll Ehrgeiz, Arbeitsfreude, Sehnsucht und Hunger?
Die Wirtin sagt: »Nu, Sachen Sie, Freilein, wie komm‘ denn ich dazu, ich habe ja schließlich auch meine Verpflichtungen.«
Elli redet dem Wunder gut zu. Sie hat kein Geld mehr für die Straßenbahn. Es wäre gut, sich Herrn Regisseur Soundso und Herrn Direktor XYZ in Erinnerung zu bringen. Wenn ein Wunder geschieht, muß es bald geschehen. Nächste Woche ist es vielleicht schon zu spät.
„Das Goldene oder wenigstens Leuchtende der Zwanziger, es war das Licht der Moderne, das plötzlich auf die deutsche Gesellschaft fiel, aufs Ganze gesehen in dünnen Strahlen und nicht hell genug; aber es war ein ausbruch aus der Welt des wilhelminischen Obrigkeitsstaates.“ (Joachim Käppner, SZ) Ein bisschen von diesem Leuchten sollte auf junge Mädchen fallen, der „Glanz“, wie es Irmgard Keun nennt. Die „moderne“ Kleinkunst war Ende der 30er nur noch ein Abglanz, überschattet von Wirtschaftskrise, Sparpolitik, Behausungselend, Hunger, Krankheiten. Lili Grün konzentriert ihre Betrachtung auf die Personen, die ihre Not spüren, deren Ursachen aber ausblenden. „Alles ist Jazz“, so heißt der Roman in der Wiederveröffentlichung, JAZZ, das ist der Name des kleinen Kabaretts, das für Elli Lebenszauber und Lebensanker wurde.
Jazz!
»So wollen wir heißen, so wollen wir sein. Es ist der Rhythmus, der aus unseren Maschinen entstanden ist, der Rhythmus, in dem wir armen Hascherln schlecht und recht groß geworden sind und gehen gelernt haben. Jazz, so wollen wir es ihnen sagen, so wollen wir endlich, endlich zu Worte kommen. Modern wollen wir sein, Kinder, heutig wollen wir sein, aber wehe dem, der es wagt, hier mondän sein zu wollen.«
Lili Grüns Leben und Schicksal ist dem ihrer armen kleinen Heldin Elli in ihrem verzweifelten Überlebenswillen nicht unähnlich. Elli verabschiedet sich:
Angst und bange kann ihr werden bei diesem Gedanken … und sie erschrickt bei dem Wort: Zukunft! Ihr ist zu Mute, wie wenn jemand die Türe geöffnet hätte, um die Kälte hereinzulassen.
Ist es wirklich der Mühe wert: dieses Weiterleben? Gewaltsam zwingt sie das Spiegelbild einer vierfarbengeschmückten, durchs Zimmer tanzenden Elli herauf. Zu Hause stehen die gepackten Koffer … zu Hause liegt ein Vertrag … das neue Engagement! Der nächste Mann! setzt das Herz mit einem kleinen Übermutsanfall hinzu.
»Adieu, Lieber! Alles Gute …«
Keine Angst, keine Angst vor dem Leben haben, klopft das Herz. Die Nerven machen noch einmal Peng. Zu viel Gefühl auf einmal.
Lili Grün erkrankt an Tuberkulose, geht zurück nach Wien und 1933 nach Paris. 1942 wurde sie im Vernichtungslager Maly Trostinez (Weißrussland) ermordet.
1933 215 Seiten (incl. Nachwort)
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Volker Kutscher/Kat Menschik: Moabit
Im “Babylon” Berlin der Endzwanziger sind auch Volker Kutschers atmosphärische Kriminalgeschichten um die Stenotypistin Charlotte Ritter angesiedelt. Den kleinen Roman “Moabit” hat Kutscher eigens für Kat Menschick geschrieben und diese hat ihn sehr schön illustriert.
»Bist du wahnsinnig?«, war also das Erste, was sie sagte, als sie wieder zu sprechen in der Lage war. Ihre Gönner standen da schon an der Garderobe und ließen sich die Mäntel geben. Die würde sie nicht mehr wiedersehen.
»Du solltest mir danken. Die Kerle taugen nichts. Deiner noch weniger als meiner.«
»Das Problem ist nur: Mein Kerl war der, der die Rechnung bezahlen muss. Ich habe keinen Pfennig Geld.«
»Wenn es nur das ist.« Greta griff in ihre Handtasche und wedelte mit einem Bündel Banknoten. »Wer sind wir denn«, sagte sie, »dass wir uns von Männern abhängig machen?«
Der Abend wurde schließlich der lustigste, den sie jemals im Chausseepalast erlebt hat. Noch nie hat sie sich mit einem Mädchen so gut verstanden wie mit dieser selbstbewussten angehenden Studentin, die, ihrem gut gefüllten Portemonnaie nach zu urteilen, auch eine höhere Tochter zu sein schien, aber nichts gemein hat mit den arroganten Zicken am Lyzeum.
Joseph Roth: Das Spinnennetz
Der „Hitler-Putsch“, das war 1923 im November. Im Oktober und November 1923 erschien in der Wiener Arbeiter-Zeitung ein Fortsetzungsroman von Joseph Roth. Roth war 29, sein erster Roman blieb ohne Ende.
Im Mittelpunkt steht Theodor Lohse. Aber der Roman heißt „Das Spinnennetz“, denn Lohse vernetzt sich geschickt und skrupellos und fügt sich in rechtsnationale Kreise im Umfeld von General Ludendorff ein. Als WK1-Leutnant hat er keine Orientierung gefunden als den eigenen Wunsch aufzusteigen, beachtet zu werden, zur Spinne zu werden. Er mordet, intrigiert, dient sich an, sucht Verbündete. Ein geheimes Netz muss natürlich fragil bleiben, keinem ist zu trauen, auch Benjamin Lenz nicht, der als Doppelagent agiert, aber über Wissen und Geld verfügt. Immer wieder gerät Lohse an Juden und fühlt sich von ihnen gedemütigt. Schließlich heiratet er Elsa von Schlieffen, adelig, national, antisemitisch und in der Tradition erzogen, dass sie zu einem Mann „aufschauen“ muss. Man kennt die Typen aus vielen Romanen, Filmen und Geschichtsbüchern. Das besondere an Roths Roman sind seine Entstehungszeit und der Schreibstil.
Theodor Lohse:
Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen Buntheiten vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren Männern. Sooft er durch das Brandenburger Tor ging, träumte er den alten, verlorenen Traum vom siegreichen Einzug auf schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an der Spitze seiner Kompanie, von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen geküßt, von Fahnen umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich getragen und liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines freiwilligen Eintritts in die Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des Krieges. Die schmerzende Beschimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese hatte dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelangem Marsch, das brennende Weh in den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle Weiß der verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.
Der Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krankheit, die lange unsichtbar in Gelenken, Nerven, Muskeln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt, der man nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst.
Die Zeiten:
In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel. Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen waren verhaßt.
Der Hass:
Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. Er hätte gern ein Märtyrer seines Ruhmes werden, der Volkstümlichkeit des Namens sein Leben opfern mögen. Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte. Und je geringer die Kraft seiner Überzeugung wurde, desto mehr erweiterte er die Gebiete seines vorgetäuschten Hasses: Nun sprach er nicht nur gegen Arbeiter und Juden und Franzosen, sondern auch gegen den Katholizismus, die Römlinge. Er überfiel den Saal, in dem der katholische Schriftsteller Lambrecht sprach. Er saß in der ersten Reihe. An ihm vorbei rauschten Sätze einer fremden, unverständlichen Sprache. Aber ein Wort fiel nieder, das Wort »Talmud«.
Die Arbeiter:
Die Arbeiter gingen mitten im grauen Regen. Grau waren sie wie er. Unendlich waren sie wie er. Aus grauen Quartieren kamen sie wie er aus grauen Wolken. Sie waren wie ein Herbstregen. Unaufhörlich, unerbittlich, leise. Wehmut verbreiteten sie. Sie kamen, die Bäcker mit den blutlosen Gesichtern, die wie aus Teig waren, ohne Muskel und Kraft; die Menschen von der Drehbank mit den harten Händen und den schiefen Schultern; die Glasbläser, die nicht älter werden sollten als dreißig Jahre: kostbarer, tödlicher, glitzernder Glasstaub stach in ihren Lungen. Es kamen die Bürstenbinder mit den tiefen Augenhöhlen, den Staub der Borsten und Haare in den Poren der Haut. Es kamen die jungen Arbeiterinnen, von der Arbeit gezeichnet, mit jungen Bewegungen, verbrauchten Gesichtern. Es gingen die Tischler. Sie rochen nach Holz und Hobelspänen. Und die riesenhaften Möbelpacker, groß und überwältigend wie eichene Schränke. Es kamen die schweren Arbeiter aus den Brauereien, sie stampften wie große Baumstämme, die gehen gelernt haben; die Graveure kamen, in den Falten ihrer Gesichter den kaum sichtbaren Metallstaub; die Zeitungssetzer, die übernächtigten, die zehn Jahre und länger nicht eine ganze Nacht geschlafen hatten; sie haben gerötete Augen und blasse Wangen und sind nicht vertraut mit dem Licht des Tages.
Die Straßenkämpfe:
Der Zug der Arbeiter singt die Internationale. Sie singen falsch, die Arbeiter, aus vertrockneten Kehlen. Sie singen falsch, aber mit rührender Kraft. Es singt eine Kraft, die weint, eine schluchzende Gewalt.
Anders singen die jungen Studenten. Aus gepflegten Kehlen tönende Gesänge, volle runde Klänge, siegreiche Lieder, blutige Lieder, satte Lieder, ohne Bruch, ohne Qual, kein Schluchzen ist in ihren Kehlen, nur Jubel, nur Jubel.
Ein Schuß knallt. (…)
Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen. Er schmettert die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt er mit den Absätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden Hände. Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.
Es wurde Abend. Feuchte Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg der Ordnung.
Es war ein Sieg der Ordnung.
Der Sieg:
Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen hatten – der starb unterwegs, und die schwarzen, großen Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.
Das ist geschriebener Expressionismus. Stakkato-Sätze. Wortblitze. Stilversuche. Ein Text für die schnell gelesene Zeitung, ein Text für die rasend empfundene Zeit. Der Roman hat seine Aktualität nur teilweise verloren. Heute sieht man den Typ “Lohse” als verblendete Witzfigur, erklärt ihn mit dem Krieg und den Wirren der Republik, die keine “Ordnung” für sich finden konnte. Der Rahmen des Geschehens ist aktuell wie je, denn auch hinter den heutigen “Witzfiguren” stehen Netzwerke, wie sie speichelnd Uwe Tellkamp in seinem “Eisvogel” beschreibt: rechte Geheimorganisation mit terroristischen Visionen. Großes Geld, das im Hintergrund die Meute anstachelt. Natürlich ist der „Schoß“ fruchtbar.
Jospeh Roths „Das Spinnennetz“ von 1923 erschien erst 1967 (!) als Buch. 1989 machte Bernhard Wicki aus dem kurzen Roman einen über dreistündigen Film (mit Ulrich Mühe als Theodor Lohse und Klaus Maria Brandauer als Benjamin Lenz).
1923 125 Seiten (TaBu)
Romantext bei Projekt-Gutenberg
Ulrich Woelk:
Der Sommer meiner Mutter
Sommer ´69. Die Musik stammt nicht von Bryan Adams (Sein Summer of ´69 erschien erst 1984), sondern von den Doors. Light My Fire. Tobi ist gerade 12 geworden, er ist ein “stilles, nachdenkliches Kind”. Die Doors kennt er nicht, er lernt auch nicht Englisch, sondern Latein. Oben auf seinem Sessel liegt Heinz Habers Buch „Der offene Himmel“. „Ich blickte aus dem Fenster. Irgendwo da draußen war der Mond. Ich wünschte, mein Zimmer wäre in der Düse einer Saturnrakete. Ich stellte mir vor, durch den Weltraum zu schweben.”
Rosa wird bald 13, sie „hörte die gleiche Musik wie ihre Eltern“. Tobi findet, sie habe einen „rätselhaften Charakter“, sie liest „Geschichte der O“. Tobi „fand Liebe als Thema für eine Geschichte nicht besonders reizvoll. Liebe war etwas, für das sich Erwachsene aus irgendeinem Grund interessierten. (…) Ich wollte ihr gegenüber nicht so gerne zugeben, dass mein Wissen darüber noch recht vage war.” Aber “Mädchen sind anders”.
Im zweiten Kapitel ziehen neue Nachbarn ins Haus neben Tobias’ Familie, den Ahrens. Er ist verunsichert,
als nebenan, im ehemaligen Garten von Herrn Fahlheim, eine Frau erschien. (…) Sie war etwas größer als meine Mutter und schien auch etwas jünger zu sein.
Ich konnte ihr Alter aber nicht genau einschätzen. Ich unterschied in meiner Wahrnehmung nur zwischen Kindern und Erwachsenen, und in diesem System war sie eine Erwachsene. Das Einzige, was nicht in dieses Schema passte, war ihre Kleidung. Sie trug eine Jeans und darüber eine luftige, bunte Bluse, um die sie einen breiten Ledergürtel geschlungen hatte. Sie war offenbar eine Erwachsene wie die Verkäuferin in dem Jeans-Store, aber eigentlich gab es solche Erwachsenen in unserer Nachbarschaft nicht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie anders waren als meine Eltern – anders auf eine Weise, die ich noch nicht erfassen konnte.
Rosa klärt ihn auf:
«Meine Eltern sind Kommunisten.»
Nach allem, was ich über Kommunisten wusste, waren sie bedrohlich, gewaltbereit und eiskalt. Mein Vater hielt es für möglich, dass sie uns irgendwann angreifen und besiegen würden, und dann müssten wir aus unserem Haus ausziehen. Das wollte ich nicht, weil es mir in unserem Haus und unserem Garten gefiel. Die Vorstellung, dass Frau Leinhard eine Kommunistin war, fiel mir schwer.
«Wirklich?», sagte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. «Du kannst sie ja fragen. Sie wollen die Welt verbessern. Deswegen haben wir zwei Jahre in Griechenland gelebt. Und ich heiße Rosa wegen Rosa Luxemburg.»
«Wer ist Rosa Luxemburg?»
Die beiden Elternpaare freunden sich an, die beiden Kinder auch. Ulrich Woelk hat den “Sommer meiner Mutter” mit den Lebensdingen von 1969 ausstaffiert. Bei Tobis Eltern wird gegrillt, Rosas Eltern laden zu Moussaka ein, man tanzt den Sirtaki. Politik kommt nur indirekt vor, auch wenn Rosa Tobi auffordert: “Du musst anfangen, politisch zu denken.” Die beiden Mütter fahren nach Köln zu einer Demo gegen den Vietnam-Krieg. Tobis Mutter traut sich erst spät, eine Jeans für sich zu kaufen. Sie ist 38. Ihr Mann hat ihr einen 2CV geschenkt, sie übersetzt jetzt Krimis wie Frau Leinhard. Erste Gedanken an ein anderes, ein eigenes Leben. Tobi wird mitgerissen und durchgeschüttelt.
«Die Erwachsenenwelt ist sooo langweilig», klagte ich. «Ich verstehe», sagte sie. «Deswegen kommst du lieber zu mir. Ich bin nicht ganz so langweilig.»
«N-nein», stotterte ich erschrocken. «So habe ich das nicht gemeint.»
«Aber gesagt hast du’s. Komm rein.» (…)
Das neue Album von den Doors, das sie angekündigt hatte, hieß Waiting for the sun.
Am 18Mai, einem Sonntag, startete abends um Viertel vor sechs Apollo 10. (…) Ende Juni, an Peter und Paul, wie meine Eltern den Tag als Katholiken nannten, gab es in unserer Nähe eine Kirmes. Wir gingen jedes Jahr dorthin, und meine Mutter schlug vor, die Leinhards sollten mitkommen. Ich freute mich darauf, mit Rosa dort zu sein. Da sie den Rummel nicht kannte, konnte ich ihr alles zeigen. (…) Meine Mutter entdeckte ein Apollo-Raumschiff als Flugzeug. Man konnte sich hinter die Spitze in den geöffneten Rumpf setzen. «Sieh mal!», sagte sie zu mir.
Ich war in einer schwierigen Situation. Wie gerne wäre ich in das Raumschiff gestiegen und hätte in ihm ein paar Runden gedreht. Doch Rosa sagte: «Sollen wir zu zweit fliegen?»
Sie wollte, dass ich hinter ihr saß. (…) Das Karussell setzte sich in Bewegung, und wir stiegen in die Höhe. Oben angekommen, ließ Rosa den Steuerknüppel los und nahm meine rechte Hand, die wegen der Enge im Cockpit in ihrem Schoß lag. Die Lichter der Kirmes waren in der Dämmerung besonders intensiv. Es war noch warm. Rosa sagte nichts. Sie zog meine Hand unter ihren Rock und schob sie in ihre Unterhose und noch weiter hinab. Ich sagte auch nichts.
Die Stelle, auf der meine Fingerkuppen schließlich lagen, war warm und weich. Ohne zu wissen, warum eigentlich, bewegte ich meine Finger hin und her. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich da tat. Aber Rosa protestierte nicht. Vielleicht machte ich das Richtige. (…)
«Seid ihr zum Mond geflogen?», flachste mein Vater.
«Ja, sind wir», sagte Rosa mit sonderbarer Bestimmtheit.
Es ist ganz schön ungeniert, wie Ulrich Woelk da die Körper und die Raumfahrt engführt. In jedem Satz die plumpesten Anspielungen. Andererseits ist das Spiel deshalb nicht ohne Reiz, weil Woelk ja von seinem Kinder-Ich erzählen lässt. Der junge Tobi weiß nichts, aber in ihm ahnt etwas: Des Mädchens Bestimmtheit kommt ihm “sonderbar” vor. Kindliche Reibereien, fleckenlos. Wäre es nicht doch besser, bei Apollo zu bleiben?
Rosa wies auf den Mond. «Wenn du dich entscheiden müsstest, zum Mond zu fliegen oder mich zu streicheln. Was würdest du tun?»
«Darf ich dich denn wieder streicheln?»
«Wie soll das gehen, wenn du zum Mond fliegst?» «Dann bleibe ich hier.»
«Bist du sicher?»
Ich zögerte.
«Ich käme ja zurück», sagte ich.
«Das ist keine sehr romantische Antwort», sagte sie. «Aber ich dürfte, ja?»
«Das weiß ich noch nicht», sagte sie. «Dann hat es dir nicht gefallen?» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht Nein gesagt.»
«Aber du hast auch nicht Ja gesagt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Mädchen sind so.»
„Der Sommer meiner Mutter“ ist ein raffiniertes Jugendbuch. Eher für Jungs als für Mädels. Der Stil ahmt die unbedarfte Wortlosigkeit des 12-Jährigen nach, was Woelk durchaus liegt. Dennoch lässt sich der Zwiespalt zwischen dem erwachsenen Rückblick und der gesetzten Kindersprache mit all ihrer betonten Unwissenheit nicht auflösen. Der Roman setzt natürlich auf den 50. Jahrestag der Apollo-Mission am 20. Juli. Der Kontrast zwischen den beiden Familien und den Lebensentwürfen von Rosa (♀ )und Tobi (♂ )wirkt sehr gewollt, auch hier geben Zeit und Milieu der Personen den Handlungsrahmen vor. Unbefriedigend scheint mir die Motivation des Selbstmords der Mutter von Tobi. Der erste Satz des ersten Kapitels “Am Stadtrand” heißt: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.”
2019 190 Seiten
Materialien beim Verlag C.H.Beck
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