Vladimir Sorokin:
Die rote Pyramide
(Erzählungen)

9 Erzählungen aus den Jahren 2017/18, dazu drei aus den 2010er-Jahren, sind hier versammelt. Erzählungen aus Russland, die Zeit der Sowjetunion ist immer noch gegenwärtig und das Er_Leben als solches ändert seine Muster nur schleppend.
Jura ließ den Blick durch die Umgebung schweifen. Und sah auf einmal, neben einem Flachbau aus Silikatsteinen, ein verblichenes Transparent stehen: Unser Ziel ist der Kommunismus!
Unter der Schriftzeile ein Lenin-Kopf im Profil.
»Jetzt sagen Sie bitte: Wer war Wladimir Iljitsch Lenin?«, fragte Jura laut und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
»Der Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte.«
Jura blieb der Mund offen stehen.
»Wie bitte? Die Pyramide des roten was?«
»Des roten Rauschens.«
»Von der hab ich noch nie was gehört.«
»Sie erzeugt das permanente rote Rauschen.«
»Und wo steht die?«
»Im Zentrum der Hauptstadt.«
»Wo genau?«
»Genau in der Mitte.«
»Im Kreml?«
»Nein. Auf dem Roten Platz.«
»Mitten auf dem Platz? Eine Pyramide?«
»Ja.«
»Und wo steht sie da, ganz konkret?«
»Ihre Grundfläche nimmt den gesamten Platz ein.«
»Den ganzen Platz?! …«
Jura lachte auf. Der dicke Mann blickte stoisch wie zuvor vor sich hin.
»Na wissen Sie!«, meinte Jura. »Ich wohne zufällig ganz in der Nähe vom Roten Platz, in der Pjatnizkaja. Eine rote Pyramide hab ich dort nie stehen sehen.«
»Sie können sie nicht sehen.«
»Aber Sie?«
»Ja.«
Alles klar, dachte Jura. Der Mann halluziniert.
»Und was tut die Pyramide noch mal?«
»Sie strahlt das rote Rauschen aus.«
»So was wie … ein Lautsprecher?«
»Etwas in der Art. Aber mit ganz anderen Wellen. Anderen Schwingungen.«
»Und wozu … strahlt sie die aus?«
»Um die Menschen mit dem roten Rauschen zu infizieren.«
»Wozu soll das gut sein?«
»Um die innere Ordnung des Menschen zu stören.«
»Stören? Wozu?«
»Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein.«
Ein Staatsfeind, dachte Jura und schaute sich nach allen Seiten um. Aber der Bahnsteig war menschenleer wie zuvor.(aus: Die rote Pyramide, 2018)
Solche durchaus direkten Aussagen sind aber selten in den Texten. Sorokin liebt flirrende Andeutungen, bettet sie ein in Grotesken, in karikaturhaft verzerrenden, auch stilistisch experimentierenden Erzählungen, die vom Leser Dekodierungen einfordern, ihn oft auch überfordern. „Vladimir Sorokin macht in beunruhigenden Dystopien das gegenwärtige Putin-Russland kenntlich.“ Doch so einfach wie es Mirko Martin vorschreibt, ist es nicht. Was man ‚Russland‘ als ‚Seele‘ zuschreibt, ist das Absurde der Über-Lebensanstrengungen in einem Land, das immer noch in der Vor-Moderne festhängt. Da ist die Geschichte vom Besuch bei einem „Starzen“, dem „ehrwürdigen Greis“, der sich in einer Felshöhle zumauert und dort als „Lehrer und Berater fungiert“ (wikipedia). Von Kyrill I. ist nicht die Rede, der Putin als „Wunder Gottes“ bezeichnete.
»Vater Pankrati«, sprach Alex, sein Gesicht nahe an die Luke haltend, »was sollen wir tun?«
In der Höhle stank es.
»Schlafen!«, kam die Antwort des Starzen aus der Finsternis.
»Wie … schlafen?«
»Tief und fest.«
»Wozu?«
»Damit die Träume herauskönnen.«
Alex atmete tief ein und wieder aus, er kämpfte um Fassung. Wollte den Starzen gerade fragen, was das heißen sollte, da kam der Alte ihm zuvor.
»Geh jetzt. Schlaf!«
Aus der Höhle drang ein Scharren, Ächzen, Murmeln. Dann zog Stille ein. Mit dem Becher in der Hand stand Alex vor dem finsteren Loch und starrte hinein. Es verging einige Zeit. Plötzlich wurde ein Stein in das Loch geschoben, der es vollständig verschloss. An den Fugen quoll etwas hellbraune Masse hervor. Einen Geruch konnte Alex nicht wahrnehmen.
So stand er da, sein Blick prallte ab von der geschlossenen Mauer. Der blöde Ventilator summte und blies ihm in den Rücken. Alex klopfte mit dem Becher gegen den Stein.
»Vater Pankrati.«
Kein Ton von hinter der Wand.
»Was soll denn das?«, stieß Alex ohnmächtig hervor und ließ die Hände sinken. Die Mauer mit all ihren Adern, Buckeln, Kanten und Rissen stand vor ihm wie zum Hohn. Er hätte sie bespucken mögen.
»Rede!«, brüllte Alex wutentbrannt und hämmerte mit dem Becher gegen die Wand.
Auf einmal war wieder ein Murmeln von drinnen zu vernehmen. Schwach und dumpf, aber nicht zu überhören. Alex presste das Ohr an den Stein. Doch es war nicht zu verstehen. Etwas zwischen Gemurmel und Gesang. Nach kurzem Besinnen legte er den Becher an den Stein und das Ohr an den Becher – wie er es zuletzt als Jugendlicher getan hatte, als sich seine große Schwester im Zimmer nebenan ihrem Mitschüler hingab, einem dürren, schieläugigen Typen mit Fusselbart, von dem Alex gelernt hatte, Wodka zu trinken, und der Führt mich über den Maidan zur Gitarre sang.
Der Becher half: Der Starze in seiner zugemauerten Höhle sang tatsächlich ein Lied. Es war eine simple Melodie, die jedes Kind kennt. Alex hielt sich das freie Ohr zu, um nicht das Surren des bescheuerten Ventilators zu hören, und strengte sich an. Jetzt verstand er:
Dies war des Lebens letzter Akt:
Wenig gegessen, viel gekackt.Mehr Text war nicht. Der Starze wiederholte die immer gleiche kurze Strophe. Und irgendwann verstummte er ganz.
(aus: Lila Schwäne, 2017)
Nicht alle Geschichten Sorokins lassen sich entschlüsseln, auf politische oder gesellschaftliche Verhältnisse beziehen. Manche Geschichten erscheinen schlicht exzentrisch, krude, in hrer oft auch stilistischen Exaltation effektheischerisch. Es wird vulgär, es geht um Ärsche.
Frau Frajerman lachte herzlich mit allen mit, aber dann legte sie mit versierter Geste die Wange in die auf den Tisch gestützte Hand und sprach in bedeutungsschwangerem Ton:
»Das mag alles richtig sein, meine lieben Bobrows. Aber eine Frage hätte ich noch, eine ganz kleine Frage.«
Sie spitzte die prallen, geschminkten Lippen,verengte die ausdrucksvollen schwarzen Augen zu einem Spalt und sprach leise: »Womit wische ich mir den Po?«
Alles grölte, mit Ausnahme der Bobrows. Als der Lärm verebbt war, kam von ihr die Antwort.
»Mit gar nichts.«
»Mit gar nichts geht nicht, meine Liebe.«
»Dann nehmen Sie halt den Finger.«
»Ja, warum nicht den Finger«, sagte Herr Bobrow und bekräftigte es mit einem Nicken seines kurz geschorenen Kopfes.
Die Gäste blickten einander an und lächelten betreten. Frau Frajerman fixierte die Bobrows mit strengem Blick und schluckte. Dann sprach sie:
»Meine lieben Bobrows, es kann ja sein, dass Sie das so machen, sich den Po mit dem Finger abwischen. Das ist Ihr volles Recht! Aber ich ziehe es wie alle zivilisierten Menschen vor, Papier zu verwenden. Denn nicht nur die Sauberkeit des Pos, auch die der Finger liegt mir am Herzen.«
Frau Bobrowa kaute gemächlich an ihrem Salat.(aus: Der Fingernagel, 2018)
Das Gastmahl entartet, als der Sohn der Bobrows der Frau Frajerman ins Gesicht sagt, sie habe „einen Scheißarsch“. „In ‚Der Fingernagel‘, einer derben, urkomischen Persiflage auf die Erzähltradition des russischen Realismus, endet das Abendessen in einem Desaster aus Gewalt und Fäkalhumor. (…) In allen neun Texten arbeitet Sorokin die große ideologische Leere in seiner Heimat heraus – und die verschiedenen Versuche, diese zu füllen: durch Brutalität, Sexualität, Großmannssucht, pervertierte Religiosität, Nostalgie (die pittoresken Schilderungen der Landarbeit in „Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge“!) – und durch die schillerndsten Träume.“ (Michael Schleicher, Frankfurter Rundschau)
190 Seiten
Wolfgang Kohlhaase:
Erfindung einer Sprache
und andere Erzählungen

Ich hörte ihr zu. Ich kannte sie einen Sommertag und zwei Wintertage lang, und was sie erzählte, war eine undramatische Geschichte, aber immerhin, es war die einzige, in der sie mitspielte. Ich wußte übrigens von genug Leuten zu Hause, oft jünger als ich und begabt für Träume, die sich nur schwer zurechtfanden in unserer Gegend, gerade weil sie so übersichtlich beschildert war. Aber wo kein Geheimnis ist, gibt es keine Wahrheit, wiees heißt. Der Platz für jeden schien bestimmt zu sein, der Lebensplan entworfen, man schlief unruhig mit einer dünnen Haut, den Gedanken aber war eine ruhige Bahn gewiesen. Und so gingen für manche die Jahre dahin wie ein schwaches Theaterstück: Wenn Handlung fehlt, muß Stimmung helfen. Doch Stimmungen sind so wandelbar.
„Eine undramatische Geschichte, aber immerhin“. Geschichten werden daran gemessen, ob sie für den Hörer, den Leser ‚dramatisch‘ sind, dabei geht es um die, die ihr Leben leben, erleben. Wolfgang Kohlhaase fügt keine Spannung in „die Jahre“, die man mitmacht, er macht aus dem Leben „nicht das große konstruierte Drama, es sind all die banalen, kleinen, traurigen, lustigen Geschichten, die Alltag bedeuten.“ (Andreas Dresen, Nachwort)
Auch das bloße Leben wird zum Drama, wenn die Umstände dem Leben zusetzen. Straat soll einem Mann, der nach Persien auswandern will, die Sprache beibringen. Straat ist Student, kann aber kein Farsi und so erfindet er halt Wörter, die der Mann für die richtigen halten kann. Aus der lustigen Episode wird tödlicher Ernst, denn Straat ist im Nazi-Lager und der Mann ist Kapo. Wenn der Schwindel auffliegt, ist Straat tot, denn es
„ist April, im Jahr vierundvierzig. Straat, der zehnte in der Reihe, die sich aufstellt, mit dem Gesicht zur Wand, ist zum Sterben müde, obwohl es früh am Tag ist, obgleich er so jung ist. Der Himmel, in den er sieht, wenn er den Blick über das Dach des Wachhauses hebt, ist niedrig und naß. Ein Stück unter den Wolken entlang, ein Stück um die Erde herum, liegt Holland. Von dort hat man Straat hergebracht, mit fünf anderen, vor hundert Tagen, vor langer, langer Zeit. Warum? Damit er schwitzt, damit er friert, damit er Steine trägt, Prügel kriegt, im Dreck liegt, auf Brettern schläft, faules Gemüse frißt und endlich aufhört zu sein. Aber vorher, noch atmend, noch blickend, soll er vergessen, wer er war.“ (Erfindung einer Sprache)
Kohlhaase muss nicht pathetisch werden, nicht sentimental, der Schrecken ist so total, dass er nüchtern erzählt werden kann. Für das „Mädchen aus P.“ entwickelt sich die Welt zum Horror, weil die Geschichte unbarmherzig ist. Die einzelne hat keine Handlungsmöglichkeit und alle werden vereinzelt, die nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehören.
Bis zum Krieg wollte Rejka Studentin werden. Es war ein unbestimmter Wunsch, sie war ja kaum vierzehn.Was sie studieren wollte, wußte sie gar nicht. Sie las gern. Sie besaß ein paar Bücher, in die sie mit kindlicher Sorgfalt ihren Namen schrieb. An einem Julitag, nachmittags, kamen die graugekleideten Soldaten, von denen jeder wußte, daß es der Feind war, aber nicht jeder wußte, daß es der Tod war, der da in die Stadt fuhr, mit gebräunten, verschwitzten Gesichtern und weißen Zähnen, auf Motorrädern, die auf den trockenen, nicht gepflasterten Wegen lange Staubfahnen hinter sich herzogen.
Bald nach den Deutschen kamen schreckliche Nachrichten. Man hörte von Kiesgruben, die sich mit menschlichem Fleisch füllten, von Benzinfeuern in offenen Gruben, von streng bewachten Wäldern, in denen unablässig geschossen wurde. Die Erwachsenen sprachen mitleiser Stimme davon, niemand schickte die Kinder hinaus
P. blieb, keiner wußte, warum, verschont.
Aber das Grauen verschont keine. Rejka wird schwanger, das bedeutet: Tod. Das Leben hat keinen Ausweg. (Das Mädchen aus P.)
Dann fiel ihr Blick auf die Kiste neben Rejkas Bett, und sie trat mit einem Ausdruck von Rührung darauf zu. Sie sah die fahle, sehr trockene Haut des Kindes und erschrak. Sie berührte sein Gesicht, und ihre Hand spürte die Kälte. Sie sah ratlos zu Rejka und beugte sich wieder über das Kind, dann rief sie entsetzt: »Was ist denn? Es ist ja tot!«
Rejka nickte und sagte einfach: »Ja, es ist tot.«
In späteren Erzählungen weicht das Schwere, die Schicksale schweben, oft nicht einmal von den Akteuren registriert, „die Stimmungen sind wandelbar“, man überlässt sich der Ungewissheit, vielleicht bloß ein Zufall, der das Leben wendet – oder nicht. Egal.
„Fast aphoristisch die Sprache, Gefühle verstecken sich scheu zwischen den Zeilen und überraschenden Wendungen.“ (Andreas Dresen) „Hoffentlich gelingt es nun, diesen Band in den Kanon der Nachkriegsliteratur aufzunehmen. (…) Ein Meister lässiger Lakonie konnte es eben auch bei diesen Proben belassen. Die hier erreichte Dichte lebt ja auch vom Weggelassenen.“ (Gustav Seibt, SZ)
1977 – 200 Seiten
Knut Cordsen (BR) über den „Poet der kurzen Form“
Biographie bei Stiftung-DEFA-Filme
Film „Persian Lessons“ (auf Deutsch, von Vadim Perelman mit Lars Eidinger) – 2:07
Dazu:https://de.wikipedia.org/wiki/Persischstunden
Jeffrey Eugenides:
Das große Experiment
● Kendall hatte nie so leben wollen wie seine Eltern. Das war der Leitgedanke, die hochtrabende Rechtfertigung für die Schneekugelsammlung und die Flohmarktbrillen. Aber als Max und Eleanor größer wurden, dämmerte es ihm, dass ihre Kindheit dem Vergleich mit seiner eigenen nicht standhielt. Und sein Gewissen begann sich zu regen. (…)
Wie war das innerhalb einer Generation möglich gewesen? Das Schlafzimmer seiner Eltern hatte so nie ausgesehen. Die Wäsche seines Vaters lag stets gefaltet in einer Kommode, Hemden und Anzüge hingen frisch gebügelt im Schrank. Das Bett, in das er abends stieg, war immer akkurat gemacht. Wenn Kendall heutzutage so leben wollte, wie sein Vater gelebt hatte, müsste er eine Waschfrau, eine Putzfrau, eine Privatsekretärin und eine Köchin einstellen. Er müsste eine Ehefrau einstellen. Wäre das nicht phantastisch? Stephanie könnte auch eine gebrauchen. Jeder konnte eine Ehefrau gebrauchen, aber niemand hatte eine.
Um aber eine Ehefrau einzustellen, musste Kendall mehr Geld verdienen. Die Alternative war, so zu leben, wie er es tat: als verheirateter Junggeselle im bürgerlichen Elend.
Das Ende des amerikanischen Traums. Was man aber nicht wahrhaben will und eine Scheinfirma gründet. Kebdall hat ein Buch über Toqueville geschrieben (“Die Taschendemokratie”), findet dafür aber nicht genügend Käufer und tut sich mit seinem “Verleger” Piasecki zusammen und erwirbt viel Geld mit gefaketen Rechnungen für nicht gedruckte Bücher. (Das große Experiment, 2008)
● Die Eltern des Erzählers lassen sich von Misserfolgen nicht entmutigen. Sie ziehen von Ort zu Ort, um einen Platz zum Leben und Geldverdienen zu finden.
Dann kamen die Rückschläge. Eines seiner Projekte in North Carolina, ein Skihotel, ging pleite. Wie sich herausstellte, hatte sein Partner hunderttausend Dollar unterschlagen. Mein Vater musste ihn vor Gericht bringen, was noch mehr kostete. Unterdessen verklagte ihn eine Sparkasse, weil er mit Hypothekenzahlungen in Verzug geraten war. Weitere Anwaltskosten türmten sich. Die Millionen versickerten rasch, und noch während sie verschwanden, versuchte er sich an allen möglichen Unternehmungen, um sie zurückzubekommen.
Schließlich kaufen sie mit Krediten eine Art heruntergekommenes Motel, nennen es “Timesharing-Residenz”, und päppeln es auf. Es wird nie fertig werden, aber die Hoffung darf nicht sterben. USA. (Timesharing, 1997)
Die Sonne geht unter. Wir veranstalten unseren Grillabend, sitzen auf Klappstühlen auf dem Dach.
«Das wird noch schön hier oben», sagt meine Mutter. «Als wäre man mitten im Himmel.»
«Mir gefällt», sagt mein Vater, «dass man hier keinen sieht. Privater Meerblick, auf dem eigenen Haus. Ein so großes Haus am Wasser würde dich unverschämt viel Geld kosten.»
«Sobald wir das abbezahlt haben», fährt er fort, «ist das unser Penthouse. Das bleibt dann in der Familie, von einer Generation zur nächsten. Immer wenn du in deinem eigenen Florida-Penthouse wohnen willst, kannst du kommen.»
«Toll», sage ich und meine es auch so. Zum ersten Mal übt das Motel eine starke Anziehung auf mich aus. Die unerwarteten Freiheitsgefühle auf dem Dach, der salzbedingte Verfall der Küstenbebauung, die angenehme Absurdität Amerikas, alles kommt zusammen, sodass ich mir vorstellen kann, wie ich in kommenden Jahren Freunde und Frauen mit auf dieses Dach nehme.
Die Frauen sind raffinierter, wenn sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.
● Tomasina – ich wiederhole, wie eine tickende Uhr – war vierzig. Sie hatte so ziemlich alles im Leben, was sie wollte. Sie hatte einen tollen Job als stellvertretende Produzentin der C B S Evening News mit Dan Rather. Sie hatte ein sagenhaftes, großzügiges Apartment an der Hudson Street. Sie verfügte über gutes, größtenteils intaktes Aussehen. Ihre Brüste waren vom Lauf der Zeit zwar nicht unberührt geblieben, hielten jedoch tapfer die Stellung. Außerdem hatte sie neue Zähne. Einen ganzen Satz nagelneuer, blitzender, hübsch beieinanderstehender Zähne. Zuerst, bevor sie sich an sie gewöhnt hatte, hatten sie gepfiffen, aber inzwischen waren sie ausgezeichnet. Und Bizeps hatte sie. Auf ihrem privaten Rentenkonto hatten sich stattliche einhundertfünfundsiebzigtausend Dollar angesammelt. Doch ein Baby hatte sie nicht. Keinen Ehemann zu haben konnte sie ertragen. Keinen Ehemann zu haben war in mancher Hinsicht sogar besser. Aber ein Baby wollte sie.
Sie veranstaltet eine “Fruchtbarkeitsparty”.
Es waren eine Menge Leute da, vielleicht fünfundsiebzig. Es sah aus wie eine Halloween-Party. Frauen, die sich das ganze Jahr über insgeheim gern sexy anziehen würden, hatten sich sexy angezogen. Sie trugen tief ausgeschnittene Playboy-Oberteile oder seitlich geschlitzte Hexengewänder. Nicht wenige streichelten provokativ die Kerzen oder fummelten an dem heißen Wachs herum. Sie waren nicht jung. Niemand war jung. Die Männer sahen aus, wie Männer in den letzten zwanzig Jahren immer ausgesehen haben: verlegen, aber liebenswürdig ergeben. Sie sahen aus wie ich.
Im Badezimmer steht ein Becher bereit, in den die ausgewählten Herren ihre Spende abgeben sollten.
Das Rezept kam per Post:
Samen von drei Männern mischen. Kräftig verrühren. In die Bratenspritze füllen. Sich zurücklegen. Tülle einführen. Zusammendrücken.
Es funktioniert. (Die Bratenspritze, 1995)
● Die indischstämmige Schülerin Prakrti soll bei einem Besuch in der Heimat ihrer Eltern nach Landesbrauch mit einem Jungen verheiratet werden. Um dem zu entgehen, plant sie, sich in den USA entjungfern zu lassen, dann käme sie für die arrangierte Ehe nicht mehr in Frage. Sie sucht sich für die “Tat” den – viel älteren – Physikprofessor Matthew aus. Das hat auch für diesen Folgen. (Nach der Tat, 2017)
● Della und Cathy sind alt geworden. Sie lesen ein Buch wieder, das sie durchs Leben begleitet hat (Klagende, 2017):
Das Buch beruht auf einer alten athabaskischen Legende, die die Autorin, Velma Wallis, als Kind gehört hat. Die Legende, die «Mütter an ihre Töchter weitergeben», erzählt die Geschichte der beiden alten Frauen Ch’idzigyaak und Sa‘, die in einer Hungersnot von ihrem Stamm zurückgelassen werden.
Und das bedeutet: zum Sterben zurückgelassen werden. Wie es der Brauch war.
Nur sterben die beiden alten Frauen nicht. Im Wald kommen sie miteinander ins Gespräch. Wussten sie nicht früher, wie man jagt und Fische fängt und im Wald auf Nahrungssuche geht? Könnten sie das nicht wieder tun? Sie tun genau das. Sie lernen wieder neu, was sie als jüngere Frauen schon konnten, sie jagen und gehen eisfischen, und einmal verstecken sie sich vor Kannibalen, die ihr Revier durchqueren. Solche Sachen halt.
Als sie wieder aus dem Fenster sieht, ist Cathys Auto weg, und sie nimmt das Buch in die Hand, das Cathy ihr mitgebracht hat. Der bläuliche Gebirgszug auf dem Umschlag verwirrt sie noch immer. Aber der Titel ist unverändert: Zwei alte Frauen: Eine Legende von Verrat undTapferkeit. Sie schlägt das Buch auf und blättert darin, hin und wieder hält sie inne, um eine Zeichnung zu bewundern.
Della verbringt viel Zeit allein im Haus. Die Menschen, die ihr helfen, fahren nachmittags nach Hause, oder sie habenden Tag frei, und Bennett kann nicht kommen. Es ist wieder Winter. Zwei Jahre sind vergangen. Sie ist fast neunzig. Sie scheint nicht dümmer zu werden, oder nur ein bisschen. Jedenfalls nicht so dumm, dass man es bemerken würde.
Eines Tages schneit es wieder. Della bleibt am Fenster stehen, da verspürt sie den Drang hinauszugehen, geradewegs in das Schneetreiben hinein. So weit ihre alten Füße sie tragen. Sie bräuchte dazu nicht einmal ihre Gehhilfe. Sie bräuchte überhaupt nichts. Della sieht, wie der Schnee vor dem Fenster wirbelt, und ihr ist, als würde sie in ihr eigenes Gehirn blicken. Genau so sind ihre Gedanken jetzt, sie kreisen und wirbeln, sie bewegen sich hierhin und dorthin, in ihrem Kopf herrscht ein einziges riesiges Schneegestöber. Es wäre gar nichts Neues für sie, in den Schnee hineinzugehen, in ihm zu verschwinden. Es wäre, als würden das innere und das Äußere aufeinandertreffen. Eins werden. Alles weiß. Einfach nur hinausgehen. Immer weiter. Vielleicht würde ihr dort draußen jemand begegnen, vielleicht auch nicht. Eine Freundin.
“Man muss sie nehmen, wie sie sind”, heißt es am Schluss von “Das Orakel der Vulva” (1999). Viele der Geschichten enden versöhnlich, mit Geduld und Verständnis für die anderen, die Eltern, die Partner, für andere Sitten und Bräuche, auch für die Zumutungen des Lebens und des Landes. Eugenides versteckt in seinem nüchternen Erzählen die Anteilnahme, die Empathie mit seinen Figuren. Am reizvollsten sind die Geschichten mit zunächst exotisch scheinenden Sujets und Personen, die Themen des amerikanischen Storybooks sind doch schon vielfach beschrieben – auch von Eugenides selbst – und bekannt. Wie es so ist bei Kurzgeschichten, vergisst man beim Lesen der nächsten das Geschehen der vorhergehenden. Die Texte stammen von 1988 bis 2017.
330 Seiten
![]() 2- |
T.C.Boyle: Good Home (Stories)
Früher, als sie noch Kurzgeschichten hießen, hatten sie es leichter. Da war komprimiertes Leben, zugespitzt auf eine Wende, die Katastrophe (in) der Person, das bestärkte Weiterleben oder die erdrückende Niederlage. Heute ist die Katastrophe das gewöhnliche Leben, der Absturz hieße: weiter so!, mehr ist nicht zu erwarten, etwas Besseres findest du nirgendwo. Man richtet sich ein, was allein schon zumindest Ausdauer erfordert, das Leben verspricht nichts mehr, ist allenfalls Zeit-Vertreib. Die Geschichte nennt sich, auch bei Boyle: story.
Stories sind eigentlich nurmehr denkbar im Plural, die Sammlung bildet das Mosaik, in dem sich der Zustand des Menschen in „seiner“ Welt spiegelt, die Person erkennbar abhebt von der Masse, mögliche Entwicklungen erhellt, wenn es denn solche überhaupt noch gibt. Boyles Stories versammeln sich unter dem Rubrum „Good Home“, gutes – ja, wie soll man das übersetzen? Da, wo man lebt ,mehr nicht, Pathos wäre vermessen. Es ist ein para-politisches Amerika, das in den 20-30-seitigen Stories vorgeführt wird. Was oft schrullig erscheint, ist wohl die Normalität. Das Leben am Rande der Norm(alität). Es ist schlimm: Nennen wir’s Good Home, wir haben kein (anderes) Zuhause.
Es sind (fast) nur Männer, die sich in Situationen geworfen finden, die sie kennen, die sie aber nicht als die ihnen gemäßen akzeptieren mögen. Oft geht ein Verlust voraus, dessen Kompensation keinen Weg sieht. Der angedachte Ausbruch ist so verfranst wie ihre Männlichkeit. Es gibt kein Vorn, Pläne vernebeln sich im Rausch. Ein Kurier, der Spender-Lebern zu den Empfängern bringen soll, wird durch einen Bergrutsch auf der Küstenstraße aufgehalten. (La Conchita) Ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann, wird für Geld in einer Schaubude ausgesellt. (Sin Dolor) Der Vater zwingt sich zum Elternabend und trifft auf eine Evolutionsleugnerin. Darf er sich mit ihr anfreunden? (Hieb- und Stichfest) Ein Nichtsnutz entschuldigt sich bei seinem Arbeitgeber für sein Fernbleiben mit der Lüge, sein Baby sei gestorben – und treibt sich in Bars rum. (Die Lüge)
Um zwei gab es einen Film, der mich interessierte, aber da es erst kurz nach zwölf war und ich nach meinem Holzfällerfrühstück an Essen nicht einmal denken konnte, fuhr ich nach Hause, parkte und ging die Straße hinunter zu einer Bar, die ich kannte, wobei ich immer nasser wurde und jeden Augenblick genoss. Die Tür öffnete sich zu einer Szene von verdichteter Zielgerichtetheit: Acht oder neun Versager waren auf ihren Barhockern an der Theke aufgereiht, ich roch geschnittene Limonen und die im Rum eingefangene Sonne, vermischt mit einem guten Schuss Lysol aus der Toilette an der Rückseite des Lokals. Es war warm. Dunkel. Auf dem Bildschirm über der Kasse lief ein Basketballspiel der College-Liga. »Ein Bier«, sagte ich und präzisierte meine Bestellung, indem ich den Markennamen nannte.
Der 13-jährige Dill „grillt“ eine Ratte und seine japanisch-stämmigen Nachbarn setzen die ganze Siedlung in Brand. (Aschermontag) Gerard Loui’s Frau stirbt, er verwahrlost, legt sich als Gefährtin eine Schlange zu und besorgt als Futter Ratten, die sich explosiv vermehren. (Dreizehnhundert Ratten) Normbürger auf einer kleinen Insel stellen einen neuen Arzt ein, der sich als sehr schrullig, unsauber und nachlässig erweist. So erzählt es zumindest die amerikanische Hausfrau. (Was uns von Tieren unterscheidet) Geshe, der Guru im Wüstencamp, verbietet jeden „Luxus“ und so stirbt die Frau des Erzählers an einem Schlangenbiss, weil es weder Medizin noch Auto noch Telefon gibt. (Das Schweigen)
Er durchstreifte die Wüste ohne Absicht und ohne Ziel. Er kam an dem Hügel vorbei, auf dem seine Frau die weggeworfene Wasserflasche gefunden hatte, an der Stelle, wo der grüne Lkw am Horizont aufgetaucht war, über den Berg, auf dem er das Eisenholz gesammelt hatte, und hinunter in die heiße, gebleichte Ebene jenseits davon. Er brauchte ein Mantra, aber er hatte keins. Das Mantra, das der Geshe ihm gegeben hatte, fiel ihm ein, aber er bekam es nicht zu fassen, sein Kopf war jetzt völlig leer. Die Sonne war das Auge Gottes, wach und glotzend. Nach einer Weile schienen seine Beine nachzugeben, und er ließ sich schwer in den Schatten eines zerklüfteten Felsens fallen.
Boyles Geschichten vernetzen sich nicht zum Mosaik, bilden eher ein Kaleidoskop, es gibt kein (end)gültiges Bild, zu viele Variationen sind denkbar. Es gibt nichts, die Leere zu füllen. Es bleibt wenig hängen, die Personen tauchen auf, nach wenigen Seiten folgt die nächste, man muss zurücklesen, spätestens nach der übernächsten Story hat man die vorausgehenden vergessen. Ja, so wird US-Land sein: penetrant bodenständig in seinen Normen, das Skurrile ist als Kontrast unausweichlich und naheliegend. Die Ironie scheint unter der Empathie mit den Figuren durch. Die Zivilisation ist rissig, das Heim eher Bude, auf die Natur ist nur in ihrer Widrigkeit Verlass. Oft spielen Tiere eine wichtige Rolle. Geschichten als Schreibübungen, wobei die stilistische Souveränität beeindruckt. Routiniert setzt Boyle mit seinen ersten Sätzen Themen und Personen, etwa in der Geschichte „Admiral“:
Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass es ein Fehler war, aber sie hatte ihren Job verloren, sie brauchte das Geld, und ihre Erinnerungen an die Strikers waren insgesamt eigentlich positiv, und darum hatte sie, als Mrs Striker angerufen hatte – Hallo, hier ist Gretchen … Mrs Striker-, gesagt, ja, sie werde gern vorbeikommen und sich ihren Vorschlag anhören. Vorher, auf dem Weg durch die Stadt, musste sie sich allerdings das Husten und Stottern ihres Wagens anhören (Benzinpumpe, lautete das Urteil ihres Vaters, gesprochen in jenem ausdruckslosen Ton, der sagte, das sei nicht sein Problem, jetzt nicht mehr, nicht, seit sie erwachsen sei und nach dem gescheiterten Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, wieder bei ihnen wohne), und als sie in die Straße einbog, in der die Strikers wohnten, hätte sie beinahe den Motor abgewürgt. Und dann würgte sie ihn tatsächlich ab, als sie, gegen jede vernünftige Aussicht auf Erfolg, versuchte, vor dem riesigen, festungsartig aufragenden Haus einzuparken.
Stories aus den Jahren 2005 bis 2011 – Deutsche Ausgabe 2018
430 Seiten
![]() 3 |
David Constantine: Wie es ist und war
Nach der Einäscherung luden die beiden Töchter von Mr Carlton die Leute zum Tee in seinem Haus ein. Es kamen nicht viele, und es lag nichts von der Heiterkeit – oder Erleichterung – in der Luft, wie man sie bei solchen Gelegenheiten manchmal spürt. Nach etwa einer Stunde waren nur noch die Töchter und ihre Familien da. Sie spülten das Geschirr, räumten auf, stellten Tisch und Stühle wieder dorthin, wo sie vorher gestanden hatten. Dann sagte Mr Carlton: Geht nur. Mir geht’s gut. Seine Töchter waren sich nicht so sicher. Doch, doch, sagte er. Ich muss jetzt allein zurechtkommen. Und am besten fange ich gleich damit an.
Sobald sie weg waren, ging Mr Carlton nach oben. Im Schlafzimmer blieb er kurz stehen. Dann nahm er die Tasche, die er zwei Tage zuvor gepackt hatte, verschloss das Haus und fuhr nach Norden. Es war Mittsommer, die Abende waren lang. An der ersten Raststätte schrieb er, im Wagen sitzend, eine SMS an seine Töchter: Ich bin für ein paar Tage weg. Mach Dir keine Sorgen – alles wird gut. Alles Liebe, Dad. Da er nicht wusste und auch gar nicht wissen wollte, wie man eine SMS gleichzeitig an zwei Empfänger schickt, schrieb er sie zweimal und schickte die eine nach Westen, die andere nach Süden. Danach stieg er aus, legte das Handy vor das rechte Vorderrad, fuhr langsam darüber hinweg, legte den Rückwärtsgang ein und überfuhr es erneut.
So einschneidend das Ereignis, so hektisch der Aufbruch, so bald der Bruch. Kurz hinter Manchester gerät Mr Carlton in einen großen “Stillstand”, eine Betonung auf “Stille”. „Der milde Nachmittag neigte sich dem Sonnenuntergang und dem fernen Abend entgegen.”
Mr Carlton blickt um sich und stellt fest, dass das Stück Straße auf Pfeilern steht und ihm einen weiten Blick erlaubt, den
Eindruck eines Sichöffnens, Sichweitens, einer Fluchtmöglichkeit gehabt; aber von dort, wo Mr Carlton stand, sah man eine zunehmende Verengung und den Verschluss. Doch die seltsame Stille und das milde Licht der untergehenden Sonne lagen wie ein Segen oder eine Erinnerung oder ein Spuk über diesem übrigen Stück Land.
In David Constantines Geschichten ist die Landschaft, ist das Licht, ist der Klang immer ein Spiegel der Seele. Der Blick wird begrenzt, geht in die Weite, nach oben und unten, all das ist bedeutsam, so sehr, dass man es gern überliest, dass man es als Marotte verflucht. Die Landschaft ist stets allegorisch, die Insel, die Höhle, die Küste, die Mauer, das Wasser. Hier findet man auch des eigentliche Geschehen. Wo sich die Personen bewegen, bewegen sie sich in diesen Sinnbildern.
Er spürte, wie Gwens Herzschlag mit dem seinen verschmolz, wie sie einander durchdrangen, ein Zusammenfluss von pulsierendem Blut. Der Tag hatte etwas Grandioses wie eine heldenhafte Expedition, ein Mythos. Dann gingen sie im Sonnenlicht, beschienen von der tief stehenden Sonne eines Vorfrühlingsmorgens, die sie wärmte und die Grün- und Goldtöne aufleuchten ließ, sie spürten beim Aufstieg die sanfte Wärme auf dem Rücken, sie tasteten mit den Gesichtern danach, wenn sie innehielten und sich umdrehten, sie war wie ein Wispern des unvergänglichen irdischen Lebens, wie ein Atemhauch, eine Andeutung, unendlich zart und rührend vor den unermesslichen Wassermassen hinter der Mauer, an der entlang sie aufstiegen.” (Unter der Mauer)
Mystisch, schwebend, fast möchte man das Religiöse darin aufspüren. Enigmatisch, mythisch, nicht zeitgemäß. Mühsam, sich von den komprimierten Verästelungen der Psyche einfangen zu lassen. Aber doch lohnend.
Mr Carlton nahm sich wahr im Verhältnis zu den verstummten Straßen und dem Moor, spürte die Seltsamkeit von Ort und Augenblick und sah dann erst hinunter. Dort unten, kaum dreißig Meter vom nächsten Pfeiler entfernt, stand ein Haus, ein bewohntes Haus.
Ein Idyll, im harten Kontrast zum Stillstand der rasenden Welt. Liebevoll und voller Sehnsucht beschreibt er das “echte” Leben der beiden Alten:
Der Mann im Küchengarten goss seine Bohnen. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte das Wasser wie reines Silber. Offensichtlich befriedigte ihn diese Arbeit, denn er ließ sich Zeit, sehr viel Zeit. Mr Carlton hatte das Gefühl, noch nie zuvor bei einer so bedächtigen, befriedigenden Arbeit zugesehen zu haben. Drei Mal ging der Mann und füllte die Gießkanne. Der Klang, der sich verändernde Klang des in die blecherne Kanne strömenden Wassers, drang wie eine Erinnerung an sich selbst bis hinauf zu Mr Carlton. Und der Mann im Garten stand da, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah zu, wie das Wasser aus der grünen Tonne durch den schwarzen Schlauch in die grüne Gießkanne floss.
Auf der Autobahn gesellen sich ein dicker Mann und eine junge Frau zu Mr Carlton. Der Mann pinkelt über die Leitplanke und erzählt Mr Carlton, dass sich seine Frau “verpisst” habe, die junge Frau ist schwanger und will sich Mr Carltons Handy ausleihen. Sie “nahm Mr Carltons Arm. Darf ich?, sagte sie. Ich habe Angst.” (…)
Sie weinen, sagte die junge Frau, die Mr Carltons Arm hielt. Was ist denn? Weinen Sie? Was ist denn los? Nein, nein, sagte Mr Carlton. Ich habe zwei erwachsene Töchter, älter als Sie, und sie haben Kinder, das ist eine große Freude, die Sie auch bald erleben werden. Nein, nein, alles ist gut. Das Licht im Schlafzimmer erlosch. Sie gehen schlafen, sagte die junge Frau. Ist es das? Ist das der Grund, warum Sie weinen? – Ja, sagte Mr Carlton. Das ist der Grund.
Es war nur ein Zwischenspiel, er würde bald weiterfahren müssen und nie zurückkehren, und was er von diesem Ort wusste, war so wenig und so hastig aufgenommen – wie sollte es da etwas anhaltend Gutes bewirken?
Constantines Geschichte „In einem anderen Land“ wurde 2015 verfilmt. („45 Years“) Der Körper einer Frau, seit Jahrzehnten im Gletscher-Eis konserviert, bricht aus der Vergangenheit in die schon fünfzig Jahre währende Ehe der Mercers ein und bringt sie ins Wanken. (Klappentext) Hauptdarstellerin Charlotte Rampling „schweigt sich vielsagend durch diesen Film, und gerade weil sie so wenig sagt, spürt man, wie sehr das alles in ihr brennt, wie unaufhaltsam ihre Welt aus den Fugen gerät. Mit wenigen Gesten und mit subtilen Bewegungen verdeutlicht sie, dass die fürsorgliche Routine dieses alten Ehepaares hohl geworden ist, dass sie erkannt hat: Ihre gemeinsame Basis hat womöglich nie existiert.“ (Holger Zettinger, Deutschlandfunk) Sie „zeigt mit perfekt gesetzten Gesten und kleinsten mimischen Regungen Kates Stolz und ihre Angst vor dem emotionalen Abgrund, der sich plötzlich auftut“ (Fabian Wallmeier, RBB).
2015 330 Seiten
Leseprobe (40 Seiten) beim Kunstmann-Verlag
David Constantine reads ‚In Another Country‘ (englisch)
![]() 3 |
Callan Wink: Der letzte beste Ort
Die Menschen sind Steppenläufer. Entwurzelte Wesen, die der Wind dahin und dorthin weht, die sich verhaken und weitergetrieben werden, in der vagen Erwartung, eine neue Pflanzheimat zu finden. Der „letzte beste Ort“ ist die Station vor dem Nichts, so gut und schlecht wie jeder andere Ort, von hinten bläst ein Wind, vorne könnte man die Freiheit vermuten, würde einem die Lebenserfahrung nichts anderes sagen. Das Schicksal serviert nicht im „Crow Country“ zwischen Prärie und Bergen. Indianerland.
„Im Nachhinein“ ist die längste der Strories von Callan Wink. Laurens Leben, die Skizze eines Romans auf 50 Seiten. Was Lauren von den Perrys, James’, Rands unterscheidet: „Lauren hatte vier Hektar Land“, auf denen aber „nicht ein Baum wuchs“. Fast ein Zuhause. “Wenn der Wind blies, wurden große Staubwolken aufgewirbelt, die ihr ins Haus krochen.”
„Sie wollte vielleicht Krankenschwester werden. Großartig Gedanken machte sie sich nicht darüber, aber sie hatte die vage Vorstellung, dass Krankenschwestern im Allgemeinen optimistisch und kompetent waren und auch nie lange nach einem Arbeitsplatz suchen mussten.” An Berufe festgebundene Existenzen gibt es hier nicht, ein Job ist mehr, als man erwarten kann. Eine Beziehung ist mehr, als man erwarten kann. “Er fand nicht, dass seinem Leben irgendetwas fehlte, auf jeden Fall gab es keine Löcher, die ein Hund nicht füllen könnte. Ihre Hunde (…) waren ein paar Jahre vorher zusammen aufgekreuzt und hatten beschlossen zu bleiben. Beide kastrierte Rüden, anscheinend gute Freunde und alte Weggefährten. Lauren hatte ihnen einen Gemeinschaftsnamen gegeben, weil sie sich sowieso nie von der Seite wichen. Sie hießen Elton John.” Gekommen, gegangen. “Lauren legte sich wieder ins Bett. Als sie mehrere Stunden später aufwachte und ihre Morgenarbeit anstand, war Elton John nicht vor der Tür. Auf dem Hof waren die beiden auch nicht. Sie sah sie nie wieder.” Unspektakulär auch das Ende. “Hätte sie ein Gewehr, wäre sie runtergefahren und hätte Jason und seinen schwarzen Hund erschossen. Hätte sie ein Gewehr, hätte sie sich vielleicht aufs Sofa gesetzt und wäre nie wieder aufgestanden.” “Sie wollte, dass alle ihre Sachen vor ihr starben. Sie wollte mit nichts aus dieser Welt scheiden außer einem Paar bequemer Wollsocken, gut eingetragenen Jeans und einem dicken Flanellhemd.”
In den anderen Stories werden Mäner verblasen. Sie hängen nicht fest an einem “Zuhause”, sie verhaken sich nicht für lange, wo auch, an wem auch. Steppenläufer kennen keine “Heimat”. Callan Wink skizziert kurze Zwischenstationen, die für das stehen, was man Leben nennt. Rand findet Arbeit bei der Baustelle von Chalets für reiche Schifahrer (“Sonnentanz”), James ist eigentlich Lehrer, er verlässt Beruf und Frau für einen Ferien-Job auf einer Ranch für exotische Tiere, die von geldigen Kunden “gejagt” werden (“Exoten”), Perry jobbt saisonal als Reenactment-Darsteller (“Noch eine letzte Schlacht”), er telefoniert mit seiner Partnerin Andy, während er mit seiner Kollegin Kat im Motelbett liegt. Abends TV: Wetter oder Sport. Leben. „Du musst nicht nach Hause gehen, aber hier kannst Du nicht bleiben.“
Callan Winks Stories sind klassische Kurzgeschichten. Nüchtern und geradlinig erzählt, ohne Emotionen, die doch nichts helfen, aber mit viel Verständnis und Lebensklugheit. (Wink ist 1984 geboren.) Viel hilflose Gewalt, viel leerlaufendes Sinnieren. Oft taucht das Titelthema nur als Episode auf, meist gibt es kein besseres Vorn. Amerikanische Zustände, 2016.
Rand saß ganze Nachmittage mit dem Kopf in den Händen in seinem Container, die aufgerollten Pläne auf den Tischen um ihn herum, während der Wasserkühler gelegentlich gurgelte. Manchmal zog ein Schatten vor der Sonne vorbei, ein Schwarm Stare, die sich in den Bäumen niederließen und zwitscherten.
Es war Frühlingsanfang. Seit das Eis sich weit genug zurückgezogen hatte, fuhr er mit dem Boot hoch auf das Bighorn Reservoir. Er hatte immer gerne geangelt, konnte sich aber nicht mehr so recht darauf konzentrieren. Irgendwann nahm er nicht mal mehr eine Rute mit. Er packte sich ein Sandwich ein, eine Thermoskanne Kaffee und ein Sixpack Bier. Er füllte einen Ersatzkanister Benzin auf und fuhr gegen die beschauliche Strömung flussaufwärts nah an den steilen Canyonwänden und hörte nichts als das Dröhnen des Außenborders.
Wenn es Zeit zum Mittagessen war, stieß er mit dem Boot in einen Seitencanyon und machte im Windschatten eines Felsens fest. Nach dem Dauerlärm des Motors genossen seine Ohren die seltsame Stille des Canyons, und Rand hatte einen Augenblick lang das Gefühl, er hätte eine Gnadenfrist bekommen. Dann saß er absolut still da, bis etwas die Stille brach – bis das Boot am Felsen kratzte, ein Rabe im Vorbeifliegen krächzte, ein Fisch draußen auf dem See sprang -, dann war der Bann gebrochen, und er packte sein Sandwich aus und trank sein Bier. Danach starrte er die wilden Streifenstrukturen der Sandsteinwände des Canyons an und dachte sich Leben für die vier Männer aus, die er getötet hatte.
2016 280 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Matt Rives reads Callan Wink’s story „Crow Country Moses“ at Stories on Stage Davis
![]() 2 |
Lucia Berlin:
Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin war Tochter eines Bergbauingenieurs und lebte in wechselnden Minenstaaten der USA. Mit zehn Jahren erkrankte sie an Skoliose, was sie später zwang, ein Korsett zu tragen und ihre Atmung stark beeinträchtigte. Sie zog mit ihrer Familie und ihren Männern nach Mexico und Chile. Nach 1968 arbeitete sie kurze Zeit als Aushilfslehrerin an der University of New Mexico und schlug sich dann lange Jahre in Berkeley und Oakland in schlecht bezahlten Jobs als Telefonistin, Krankenhauspflegerin, Putzfrau, Arzthelferin und Lehrerin durch, zog alleinerziehend ihre vier Kinder groß und wurde zusätzlich zu ihren Gesundheitsproblemen noch alkoholabhängig. (nach Wikipedia)
Ihre Geschichten folgen diesem Leben an die Stationen, folgen ihm auch in die persönlichen Beeinträchtigungen, folgen ihm in die Abgründe zwischen selbstbestimmtem Leben und gesellschaftlicher Deprivation. Lucia Berlin hat wohl viel erlebt und kann deshalb so nahe und wirklich, so hart erzählen. Wobei: Die meisten Stories sind eher Beobachtungen. Voller Leid, voller Einsicht in die Gegebenheit der Lasten, voller Verständnis für Krankheit, Drogen, zerstörte Beziehungen. Das „Schicksal“ meint es nicht gut mit ihren Personen, die Personen nehmen das ihnen Zugemutete aber an, Lucia Berlin schreibt, als wäre das Stigma das Normale. Die Ich-Erzählerin ist immer mittendrin. Es wird auch viel geweint.
Als ich anfing, hier zu arbeiten, dachte ich, es sei eine riesige Verschwendung von Steuergeldern, zehn, zwölf OPs an Crack-Babys durchzuführen, die merkwürdige Anomalien hatten, nur um sie mit ihren Behinderungen am Leben zu halten und nach einem Jahr im Krankenhaus von einem Heim ins nächste zu schieben. So viele waren ohne Mütter, noch mehr ohne Väter. Die meisten Adoptiveltern sind großartig, aber manche machen einem Angst. So viele Kinder mit Einschränkungen oder Gehirnschäden, Patienten, die nie älter werden als ein paar Jahre.
Viele Patienten mit Downsyndrom. Ich glaubte, dass ich nie ein solches Kind haben könnte.
Jetzt mache ich die Tür zum Wartezimmer auf, und Toby, der entstellt ist und zittert, Toby, der nicht reden kann, ist da. Toby, der in Beutel pinkelt und scheißt, der durch ein Loch im Bauch ernährt wird. Toby kommt und umarmt mich, lachend, mit offenen Armen.
Wenn ich hinausgehe, stelle ich meine Augen gewissermaßen unscharf, und wenn ich die Namen der Patienten aufrufe, lächele ich der Mutter, Großmutter oder Pflegemutter zu, schaue aber auf ein drittes Auge in ihrer Stirn. Das habe ich in der Notaufnahme gelernt. Es ist die einzige Möglichkeit, wie man hier arbeiten kann, bei den vielen Crack-Babys und Aids- und krebskranken Säuglingen. Babys, die nur wenige Jahre vor sich haben. Wenn du den Eltern in die Augen siehst, dann wirst du ihre ganze Angst, ihre Erschöpfung und den Schmerz mit ihnen teilen, sie darin bestätigen. Andererseits, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast, kannst du manchmal nichts weiter tun, als ihnen in die Augen zu sehen mit all der Hoffnung und der Traurigkeit, die sich anders nicht ausdrücken lassen. (…) Es ist eine lohnende Arbeit, anders als in einem normalen Büro. Sie hat auf jeden Fall meine Wahrnehmung der Dinge verändert.
Lucia Berlin hat den Vorteil, durch ihre Bildung außerhalb der Personen stehen zu können, über ihnen, genau hinzusehen und die Wörter für die Beschreibung zu haben. Oft wird zwischen Englisch und Spanisch vermittelt, sie kehrt das nie hervor, betont aber stets ihre Erkenntnisse. Die Geschichten treten auf der Stelle, sind aber doch strukturiert, leben von einem nüchternen, einfühlsamen, lakonischen Schlusssatz, wie in der Geschichte von „El Tim“, dem renitenten Schüler:
Seine dunklen Augen suchten mein Gesicht. Für einen Augenblick war der Schleier verschwunden. »Ich schätze, dann sind wir quitt«, sagte er. »Ja«, sagte ich, »lass uns zum Unterricht gehen.« Ich ging mit Tim den Flur entlang und gab mir Mühe, mich nicht dem Rhythmus seiner Schritte anzupassen.
Oder “Carmen”: »Wo ist mein Baby? Wo ist sie?« Die Schwester verließ das Zimmer. Ich war an die Seiten des Bettes gefesselt. Ein Arzt kam herein. »Bitte binden Sie mich los.« Er tat es und war so liebevoll, dass ich Angst bekam. »Was ist los?«
»Sie wurde zu früh geboren«, sagte er, »wog nur wenige Pfund. Sie hat nicht gelebt. Es tut mir leid.« Er streichelte meinen Arm, so unbeholfen, als würde er ein Kissen streicheln. Er sah sich mein Krankenblatt an. »Ist das Ihre Telefonnummer? Soll ich Ihren Mann anrufen?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist niemand zu Hause.« – Ende. Keine weiteren Aussichten.
Antje Rávic Strubel hat 30 Stories aus den Jahren 1977 – 1999 ausgewählt und treffsicher übersetzt in ein sachliches Deutsch. Die meisten Geschichten kreisen um Krankendienste, Putzhilfen, Alkohol, Familiendesaster, es ergeben sich viele Ähnlichkeiten, Überlagerungen und Verknüpfungen, auch Ermüdungen. Mit der Hälfte der Texte hätte man ein ebenso gutes Bild vom Schreiben Lucia Berlins. Sie ergeben ein Kaleidoskop, den Schritt zum Roman hat Lucia Berlin nicht geschafft. Nur wenige Geschichten durchbrechen die Thematik, etwa “Toda Luna, Todo Año” vom Tauch-Erleben auf “La Isla”, eine der wenigen Stories, die nicht in Ich-Form geschrieben sind. Ein Buch, auf dessen heitere Härte man nicht gefasst ist. Ein Buch auch über Leben in Amerika (“Wie Heroin die amerikanische Mittelschicht zerstört – Eine nie da gewesene Drogenepidemie hat die ländliche US-Bevölkerung erfasst”, schreibt der Spiegel im August 2017). Vom allgemeinen Rezensentenjubel lassen sich die Kritiker gerne anstecken: „Man muss sie einfach mögen “ (Susanne Mayer, ZEIT)
Erwischte er das Ende einer Geschichte, dachte er sich aus, was vorher passiert war, oder versuchte, es aus anderen Seiten in der Hütte zusammenzustückeln. Sobald er den gesamten Raum durchgelesen hatte, lief er tagelang hin und her und fing dann wieder von vorn an. Ich war nicht dabei, als mein Vater dann im Frühjahr zum ersten Mal hochging und den alten Mann tot auffand. Auch die Ziegen und der Hund waren tot, alle in seinem Bett. »Wenn mir kalt wird, hol ich mir einfach noch eine Ziege dazu«, hatte Hancock immer gesagt. (“Phantomschmerz”)
Ich weiß nicht, wie ich überhaupt darauf komme. Elstern blitzen jetzt blau und grün vor dem Weiß des Schnees auf. Sie haben ein ähnliches herrisches Kreischen. Natürlich könnte ich in einem Buch nachsehen oder jemanden anrufen und nach den Nistgewohnheiten von Krähen fragen. Aber was mich stört, ist, dass ich sie nur zufällig bemerkt habe. Was habe ich sonst noch verpasst? Wie oft war ich in meinem Leben gewissermaßen auf der hinteren Veranda statt auf der vorderen? Was hat man mir gesagt, ohne dass ich es hörte? Welche Liebe mag es gegeben haben, die ich nicht spürte?
2015 380 Seiten
Das Literarische Quartett vom Juni 2016 (0:17)
SRF-Literaturclub vom Mai 2016
Kritik von Christopher Schmidt in der SZ
![]() +3 |
Eva Menasse:
Tiere für Fortgeschrittene
Dass Tiere zu den beliebtesten Arten von Menschen gehören, kann man milliardenfach auf youtube anschauen. Menschen sind schließlich auch – nur – Tiere – mit dem nicht belegten Unterschied, dass Tiere für ihre Versuche, das Leben zu überleben, nicht verantwortlich gemacht werden. Menschen dagegen sollen ihr Schicksal selbst gestalten.
Eva Menasses Geschichten haben nichts mit Tieren zu tun. Aber auch die Menschen als „fortgeschrittene“ Spezies tun sich schwer, wenn sie selbstbestimmt zu agieren gedenken. Sie stoßen sich an „Nächsten“, die dasselbe für sich beanspruchen, sie zappeln in ihrer Genealogie und in den aus- wie unausgesprochenen Erwartungen. Meist sind sie sich selbst im Wege.
Eva Menasses Geschichten sind dann gut, wenn sie diese Themen am Rande des Alltags ansiedeln. Krisen von Künstlern in der Kolonie in Italien interessieren mich eher weniger (Geschichte: „Schafe“). Auch der Regisseur Charlie Reincke ist mir wurscht, selbst wenn er in erwarteter Eigenüberhöhung vom Weg abkommt und ein Reh totfährt. („Opossum“) Der hohe Stil wirkt angesichts der blasierten Leere der Hauptperson wie eine (gewollte?) Karikatur. Kitsch?
Am Maul hatte es ein wenig weißen Schaum. Er fand das nicht abstoßend. Aufsteigende Todesnebel. Er klopfte dem Tier vorsichtig auf die Flanke. Es fletschte die Zähne, aber es versuchte nicht einmal, zu beißen. Dann wurde es ruhiger und hörte auf zu treten. Stattdessen riss es die Augen auf, als erblickte es schon die himmlischen Scharen. Er starrte auf das Leben in diesen Augen, denn die Seele war unverkennbar noch darin. Tränen wurden noch produziert, die Augen glitzerten und bewegten sich, sie waren zu diesem unerklärlichen Wunder, einen anderen Blick zu finden und zu halten, immer noch imstande.
In der abschließenden Geschichte („Enten“) versuchen Ben und Jenna ihre Ehe durch eine (letzte?) Familienfahrt in den Süden noch in den Griff zu kriegen. Genau bespiegelt Eva Menasse, wie Jenna sich das Leben ihrer – jüdischen – Vorfahren als Last auferlegt und sich Ansprüche daraus ableitet, die sie erdrücken. „In ihrer Vorstellung, die vermutlich naiv war, hatten ihre Großeltern gar keinen Alltag gehabt, an dem sie sich hätten aufreiben können. Alltag? Das war ein Luxusproblem, das gab es damals nicht.“
Ich weiß wirklich nicht, was du schon wieder hast, sagte Ben.
Mami hat Stress, sagte Sammy von hinten. Und da sah Ben sie zum ersten Mal richtig an. Warum schwitzt du so, fragte er, ist dir nicht gut?
Alles in Ordnung, sagte Jenna und wandte das Gesicht ab, draußen ist es überraschend schwül. Sie nahm den Handballen vorsichtig wieder zwischen die Zähne, versuchte, genau in die noch vorhandenen Zahnabdrücke zu beißen, und verzweifelte einen Moment an der Vorstellung, dass sie das den Rest ihres Lebens aushalten sollte, obwohl es gar nichts gab, was man als konkretes Problem hätte benennen können.
Jennas Eltern akzeptierten kein Unglück. Ein Unglück war ein plötzlicher Todesfall, aber nicht einmal eine Krebsdiagnose musste gleich ein Unglück bedeuten – solche Sätze zückten Vater und Mutter allzeit geschmeidig. Krebs kam in Jennas Verwandtschaft kaum vor, wir Juden sterben entweder jung oder so gut wie nie, sagte ihr Vater gern. (…)Wie sich schon an seinen Eltern gezeigt hatte, starben sie erst, wenn es gar nicht mehr anders ging. Sie wurden steinalt, dann stürzten sie und starben leicht und rasch an den Folgen. So war es auch mit dem älteren Bruder des Vaters gewesen, Jennas Onkel.
Wenn er nur nicht gestürzt wäre, sinnierte ihr Vater von Zeit zu Zeit, so ein Pech, man muss wirklich höllisch aufpassen.
Aber wegen alldem war auch undenkbar, ihm zu sagen, dass sie in letzter Zeit mit dem Gedanken spielte, Ben zu verlassen. Vermutlich konnte man etwas, das man dem eigenen Vater nicht sagen konnte, auch nicht tun. Warum, würde er fassungslos fragen, was hast du für einen Grund?
Dennoch waren sie selbst Teil dieser ängstlichen Gesellschaft, Jenna wusste das genau, und sich durch Ironisierungen abzuheben war zwar bequem, aber unlauter. Sie wäre ja gern kompromisslos anders gewesen, unerschrocken und wild, aber gerade sie konnte das nicht. Sie musste weit hinter den Linien bleiben und alle Gefahren berechnen. (…) Womöglich machte das ihr selbst inzwischen am meisten Spaß. Der unbeteiligte Blick von oben.
Wie existenziell waren die Bedrohungen der Eltern, wie banal sind die Problemchen von Jenna, als wie erbärmlich muss sie ihr Luxus-Scheitern erleben? Eine Geschichte, die länger sein könnte als die ihr zugedachten 45 Seiten.
In der Geschichte “Raupen” versucht Konrad so gut es geht, seine demente Frau Grete zu betreuen.
Jede Deckung vor ihm hatte sie aufgegeben, das, wusste er, war der größte Vertrauensbeweis. Wahrscheinlich sogar: die Essenz von Liebe. Nichts funktioniert mehr, nur das Wissen um die Richtung, aus der die Hilfe kommt.
– Sag mir, Konrad, ich hab doch schon lange nicht mehr genäht?
Nur hier war sie sicher, auf diesen zwölf Quadratmetern. Manchmal wusste sie nicht mehr, in welcher Richtung das Bad lag. In einer der schlimmen Nächte fand er sie, wie sie stattdessen an der Schranktür rüttelte, die Augen riesengroß und panisch. Jemand ist drin, wimmerte sie, jemand hat sich eingesperrt und lässt mich einfach nicht rein.
Als Enkel Joshe zu Besuch kommt, stellt er die aufwändig austarierte Pflegebeziehung auf die Probe, indem er seine Oma wie einen “normalen” Menschen behandelt. “Sein Enkel Joshe lotste mit seinem Gesang Grete gerade von der Leiter herunter, einmal hin, einmal her, runtersteigen ist nicht schwer. Als sie den letzten Schritt hinunter auf festen Boden machte, begann Joshe zu klatschen, und Grete klatschte begeistert zurück.” Konrad hat die Folgen dieses kurzen Glücks zu tragen, der traurige Alltag bleibt an ihm und Grete hängen. Eva Menasse gelingt es auf den wenigen Seiten ein unauflösbares Dilemma ungleichzeitigen Alterns zwischen familiären Resten und den anonymen Zumutungen einer neoliberalen “Dienstleistungsgesellschaft” zu skizzieren.
Die erste Geschichte – “Schmetterling, Biene, Krokodil” schürft nicht so tief, beleuchtet aber auch ein Thema der modernen Patchwork-Familie. Alt- und Neu-Mama konkurrieren um die Kinder, wobei sie der jeweils anderen viel Übelwollendes unterstellen. Es ist amüsant zu lesen, wie die übernehmende Mama in der fordernden Urlaubssituation versucht ihre Contenance zu bewahren.
Obwohl die Scheidung Jahre zurückliegt, verkehrt seine Exfrau mit Georg weiterhin im immer-und-nie-Modus, den jeder, der schon einmal eine Eheberatungskolumne gelesen hat, als Melodie des Finales erkennt. Der letzte hochinfektiöse Satz seiner Ex, den Georg in dem Moment vergisst, in dem er ihn bei Tom abgeladen hat, lautet: Nie haben die Kinder etwas Sauberes an, wenn sie zu mir zurückkommen, immer sind die Sachen, die ich gekauft habe, zerrissen und kaputt.
Eva Menasse hat richtige Themen, auch aus eigenem Erleben. Nach 40-50 Seiten findet man sich aber nicht so in die Personen hinein, wie es bei einem durchlaufenden Roman sein könnte. “Das Wesen kann man an der Sprache sehr genau erkennen. Österreichisch ist sehr sprachkreativ. Immer wird herumgewitzelt, immer schaut man, was kann man mit dieser Redewendung noch anders machen, wie kann man dieses Wort verdrehen. Der Deutsche spricht dagegen sehr gern in Floskeln. Wenn ich in Wien bin, blühe ich sofort auf, da werde ich sprachkreativer. In Deutschland wird man leicht erschlagen von Sprachmüll wie „über den Tellerrand schauen“, „Luft nach oben“, „das regeln wir dann zeitnah im Vorfeld“, sagt Eva Menasse im Interview. Ihre Erzählsprache liegt dazwischen. Gewitzelt wird wenig, Floskeln findet man kaum, selten zeigt sich Schöpferisches, immer sucht sie nach Treffgenauigkeit. Wo sich die nicht einstellen will, fügt sie Kommentare ein.
Da gingen sie nun, unsere beiden, unpassend vergnügt angesichts einer Situation, die durch den braunen Papierbeutel voller Medikamente zwar hinlänglich beschrieben, von ihnen aber vorübergehend nicht zur Kenntnis genommen wurde. An der menschlichen Natur gibt es viel Erstaunliches, aber besonders bemerkenswert ist, wie schnell sie manchmal von einem Augenblick auf den nächsten genau das Unentbehrliche gefunden zu haben vermeint, das sie davor niemals vermisst hat.
2017 320 Seiten
Seite des Verlags Kiepenheur & Witsch mit Leseprobe und Lesevideo
![]() 3 |
Saša Stanišić: Fallensteller
(Erzählungen)
Saša Stanišić’ Geschichten werden gerühmt für ihre Sprache und ihre Dichte. Stanišić ist einer, dem die Sprache viel bedeutet. Er setzt sie präzise ein, spielt mit ihr, fragt nach ihrer Zuverlässigkeit und macht sie dadurch fremd, ehe man sie neu entdeckt. Stanišić erfindet auch neue Sprache. Seine Geschichten sind dicht, weil sie in „Echtzeit“ spielen, sie bilden das Geschehen ab und offenbaren dabei die Skurrilitäten von Gedanken und Handlungen. Man ist dabei und wundert sich.
Stanišić’ Geschichten sind nur oberflächlich dicht, weil sie zu wenig verdichten. Natürlich ist Fiktion immer Eigenwerk des Autors, aber Stanišić reflektiert wenig, komprimiert wenig, lässt die Geschichten laufen und verliert die Hoheit, die Personen machen sich selbstständig, finden sich, selbst überrascht, in der schwedischen Taiga oder im brasilianischen Dschungel wieder. Was sie dort wollen/sollen, ist nicht von Belang, wird nicht infragegestellt. Die Windungen der Handlung sind sich selbst genug, das Anliegen erschöpft sich in der Darstellung, ein erkenntnisartiger Mehrwert ist kaum auszumachen. Spannung und Interesse lassen nach.
In einer mehrteiligen Story bewegen sich der Erzähler und sein Kumpel Mo durch das Flachgelände des Kulturbetriebs, beginnend auf dem Rhein, endend in Skandinavien. Die entlarvenden Formulierungen zünden nicht, das eingestreute Flüchtlingsthema wirkt beliebig, bloß modisch. „So, wie Mo und ich gestern Abend in einer kleinen Galerie in Södermalm auf das Wohl der ausstellenden syrischen Surrealistin gern angestoßen hätten, wären wir nicht vor ihrem zentralen Werk, das zwischen Ruinen spielende Flugmarschkörper in Kinderkleidung zeigte, von einer diskutablen Verzagtheit ergriffen gewesen, die solcherlei Gesten verbot.”
Um wahrgenommen zu werden, stelle ich mich zu dem Fliegenträger und gehe ein wenig in die Knie, sodass ich mit den Augen auf Höhe seiner Fliege bin. Alles, was mir in der sofort unbequemen und unnötigen Körperhaltung einfällt – da mir eine laue Brise über die Frisur streichelt -, ist dies: “Das Wetter heute auf dem Rhein würde man gemeinhin als mildes Wetter beschreiben.”
Vorhin kein Smalltalk wollen, nun dieses meteorologische Bonmot. Meine Einsamkeit wird sofort größer, mein Mut zur Gruppe kleiner. Zudem bin ich mir auf einmal auch unsicher, welche Grußformel die Etikette vorschreibt bei älteren Menschen in Cordhosen.
Jetzt stehe ich aber schon blöd da, die gucken auch alle drei, es gibt kein Zurück: Ich lasse das Sprechen spontan von der Leine des Denkens, worauf ein dreistimmiges »Hallo Guten Tag Grüß Gott« aus mir in die Runde spritzt. Was für ein Schock, aber auch Erfolg: Gebildete Menschen lassen alles stehen und liegen, wenn sie jemandem mit einem Haltungsschaden und einem Sprachfehler begegnen.
Georg Horvath reist in Geschäften nach Brasilien, weitere Gründe und Zwecke sind nicht erkennbar. Ein Wortspiel verwechselt die Brauerei Vogel mit autochthonen Vögeln und ersetzt weitere Absichten. Die Welt bloß als Kulisse.
Die Titel- und längste Erzählung „Fallensteller“ spielt wie Stanišić’ Roman „Vor dem Fest“ in der Uckermark. Der Fallensteller, ein in den märkischen Sand transkribierter Rattenfänger, soll die verbliebenen Bewohner vom Wolf befreien. Doch der Wolf und die Angst vor ihm sitzen in den Köpfen der Menschen, das führt zu Missverständnissen und Konflikten. Auch hier tauchen Flüchtlinge als arg bemühte Metapher auf, ansonsten beschreibt Stanišić sehr ernüchternd und lakonisch – wie im Roman – die Implosion des Lebenssinns in der Post-DDR.
Gölow trank erst in Ruhe sein Bier aus und bezahlte es auch noch. Inhaltlich fackelte er nicht lang. Diejenigen, denen die Wölfe zusetzten, sagte er, trügen selbst Schuld daran, sofern sie die erforderlichen Schutzmaßnahmen nicht getroffen hätten. Er nehme sich selbst da nicht aus. Der Wolf sei ein Raubtier, sein Überleben verdankt sich der Jagd. Also müsse man ihm die Jagd so schwer wie möglich machen.
Das war schon mal ein Einstieg, mein lieber Herr Jagdverein! Die Versammlung hat an ihren Getränken ganz schön kräftig nippen müssen, um all das Unverständnis runterzuspülen, das in ihr aufstieg. Dass ein dramaturgisch wohlgesetztes >aber< kommen könnte, hing noch als Hoffnung in der schweren Luft, gleich neben der Hoffnung, es möge einer mal kurz ein Fenster aufmachen.
Der Wolf an sich, rief Gölow und zerstörte die Hoffnung, sei gar nicht das Problem. Menschen gebe es, die seien schlimmer als Wölfe. »Die hetzen erst und schießen dann und denken nicht erst danach, sondern gar nicht.« Gölow klopfte mit dem Zeigefinger gegen den Tresen, als wollte er andeuten, wo sich solche gerade aufhielten, das aber nur als Vermutung unsererseits.
Das war es auch schon gewesen. Bisschen abruptes Ende, aber gut, ein Rhetoriker vor dem Herrn ist hier niemand, auch Gölow nicht. Er verließ den Jägerstand, nicht ohne sich öffentlichkeitswirksam in der Tür umzudrehen und in die Runde zuwerfen: »Schönen Abend noch.«
Das war natürlich der entscheidende Tropfen: Ironie. Dem Letzten wurde nun klar, dass hier einer Kritik geäußert hatte. Man hätte wetten können, Gölow wäre als Schweinezüchter automatisch auf der Seite der Schweine, ist ja irgendwo logisch. Umso schwerer wog, dass er jetzt anderen Züchtern die Schuld gab. Brudermord, sozusagen. Und Schuld kannst du uns Deutschen eigentlich in keinem Zusammenhang zumuten, ohne dass es Gegenwind gibt, aber gehörigen.
Normal also, dass die Nutztierhalter gefühlsmäßig ordentlich ramponiert waren und keinen großen gruppendynamischen Umweg nehmen mussten, um zu einer negativen Einstellung gegen den Abtrünnigen zu gelangen, das kennt man ja machtstrukturell aus der DDR oder dem Radsport. Herr Kessel erklärte Gölow zu einer »Persona non Krater«.
Gölow war zu streng gewesen, finden auch wir. Unfair obendrein, dem Menschen wegen der Natur des Wolfes einen Vorwurf zu machen. Klar, es gibt unter den Wölfen auch welche, die wahrscheinlich nie auffällig werden. Aber wer will das garantieren? Ein Wolf ist ein Wolf, der kann sich doch schon rein von seiner Kultur her nicht an unsere Sitten halten, da kann der Naturschutz noch so viele Broschüren drucken, die liest der Wolf nicht. Der Wolf ist eine Gefahr, und eine Gefahr darfst du nicht schönreden.
Die vielleicht überzeugendste Geschichte umfasst gerade sechs Seiten. „Die Fabrik“. Hirten in der Romanija, einer Gebirgsregion im Osten von Bosnien und Herzegowina (nahe Višegrad, der Geburtstadt von Stanišić) ergeben sich in ihre Hoffnungslosigkeit und Enttäuschung über die leuchtenden Zentren der Welt. Hier ist Stanišić poetisch, nicht so vordergründig prätentiös.
Die sagen das nicht ganz so, die Hirten.
Im Wald ist es leichter, die Bäume kämmen den Wind gegen den Strich, Tannen, schwarz und unverwundbar wie das Kinderlied. Ich frage die Hirten, ob es hier Minen gibt, und einer wirft mir einen Schneeball gegen die Brust, dass ich mein Herz spüre.
Der Hirten Bärte aus Tannennadeln.
Auf der Romanija hat sich ein Gebäude geräuspert und zögert seitdem, groß und rechteckig ist es, und steht am Waldrand, nackte Betonmauern hinter Drahtzaun, lose Bretter, zwei, drei aufgeplatzte Säcke mit Splitt, eine verrostete Säge, ein löchriger Eimer. Im Schutt schweigt ein Radio.
Der kleinste Hirte rennt über Schnee, als läge keiner, jauchzt, vielleicht vor Freude, vielleicht vor Angst, verschwindet im Gemäuer.
Der Hirten Augenbrauen aus Eiskristallen.
Einer kümmert sich um die Hunde, befreit ihre Pfoten mit Melkfett vom Eis.
Die Hirten erzählen: Wasser sollte hier abgefüllt und verladen werden. Der Sheriff habe in der Nähe zwei Quellen gefunden, habe daraufhin EU-Gelder beantragt und bekommen, für die Grundstücke, für die Brunnen, für die Abfüllanlage, und, und, und. Sheriff, weil er immer den Hut und die Jeans trug, Ami war der, sagen sie, Kroate, sagen sie.
Mit Lady, sagt einer, Busen.
Der Hirten Grinsen aus Karies.
Kurz nach dem Krieg war das. Bauauftrag ging an eine Firma aus der Region, der Sheriff stellte persönlich Handwerker aus den umliegenden Dörfern ein. Arbeitsplätze, Kapital, Wiederbelebung der Wirtschaft, zählen die Hirten im Chor auf, und während sie zählen und erzählen, schmilzt um uns der Schnee. Satzzeichen schneit es ins unwahrscheinliche Grün.
Auf dem Cover reden sie von einer „fast unverschämten Meisterschaft“ (Le Monde). Ich finde dafür zu wenig Erhellendes, Unerhörtes, Aufklärendes. Die Geschichten sind Skizzen aus irgendwelchen Alltagseinöden, sie bleiben oft in Sprachmühe stecken. Das ist nicht wenig, aber auch nicht viel. Man versäumt nicht viel, wenn man Stanišić nicht liest.
2016 280 Seiten
![]() 3-4 |
Karen Köhler:
Wir haben Raketen geangelt
(Erzählungen)
„Ich suche meine Koordinaten.” – Wer täte das nicht. Die Koordinaten der Frauen aus Karen Köhlers Erzählungen liegen außerhalb ihrer selbst. Sie gehen weit, oft an den Rand der Welt, an den Rand der Existenz, ins Nirgendwo. “Reach out and touch faith” fordern Depeche Mode und Karen Köhler nimmt sich die Songzeile zum Motto. Aber das Schicksal wartet nicht.
Es sind starke, anlehnungsselige junge Frauen. Frauen, die an Krankheiten (Sick Lit), Liebe, Verlassenwordensein, Einsamkeit leiden und die so stark sind,sich den Malaisen bewusst zu stellen. Frauen, die sich aber auch auf verständnisvolle Partner einlassen, Partner aber meist nur für kurze Lebensabschnitte. „Il Comandante“ verleiht der Krebspatientin neuen „Kampfgeist“ . Er wirkt wie ein Paradiesvogel in der realistisch und derb beschriebenen Klinikwelt.
Ein älterer Mann kurvt im Rollstuhl herein. Eine Wollmütze thront auf seinem Kopf, unter der sich seine schwarzen Locken beulen, seine Augen verdeckt eine große Designer-Sonnenbrille. Er rollert ungeübt, aber zielstrebig auf einen Fenstertisch zu, ein Lächeln findet den Weg durch seinen grauen Rauschevollbart. Was lächelt der, er ist in einem Krankenhaus, warum hat der so gute Laune. Er überstrahlt alles, was ich in den letzten Wochen hier gesehen habe, ach Quatsch, er überstrahlt auch vieles außerhalb dieses Krankenhauses. Kann mich gar nicht Sattsehen. Der kann doch gar nicht krank sein.
»Hello, my friend«, ruft ihm der Cafe Bistro-Chef zu. »Buenos dias, amigo«, sagt er, schiebt umständlich einen Stuhl zur Seite und platziert sich aufwendig am Fensterplatz des Tisches. Rückwärts Einparken in siebenundzwanzig Zügen. »What can you offer me today?« Seine Stimme ist wie ein Instrument, laut und tief.
»Fish and Pommes mit Salad?«, stümpert der Bistro-Chef. »Pescado y patatas fritas, muy bien, Dankeschön«, sagt er und legt sein Smartphone auf den Tisch.
Tom und ich biegen um die Kurve. Er hält meine Hand. Keiner da. Das ist gut. Ich ziehe mir die Perücke vom Kopf, nehme gleich alle Steine aus der Schale, und befülle die Perücke damit, steige auf die runde Holzbühne, hocke mich vor den Altar und lege den Perückensteinbeutel vor mich hin. Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzes Nest der Schwere. Hole mein Telefon raus und fotografiere das Nest mit einer Polaroid-App. Ich klicke: Nachrichten. Klicke: Cesar. Klicke auf das kleine Fotosymbol. Lade das Bild und schreibe: I even did my hair for you. I hope they serve Banana Split in heaven. Klicke: Senden. Mache dann Musik an. Interpret: Buena Vista Social Club. Volle Lautstärke Hasta Siempre Comandante. Für immer. Augen zu.
(Il Comandante)
Der Indianer Bill ist der Begleiter für ein paar Tage auf der USA-Tour der Erzählerin. Er sieht aus und verhält sich wie der Klischee-Indianer aus der Kindheit der Erzählerin. Der Indianer ist der Gute. Er tut einem nichts, man kann sich anlehnen. Das taffe Mädchen und ihr Seelenverwandter. Der Stellertreter für den zurückgelassenen oder noch nicht gefundenen Freund. Realität und Traum in einem. Zudem gibt es die Songs (Enter Sandman) und die Smartphones (KlickKlickKlick). Karen Köhlers Frauen sind von heute.
Vor mir steht ein Indianer. Ich bin nicht in der Einkaufsstraße einer mittelgroßen deutschen Stadt. Ich höre auch keine Panflöten, kein El Condor Pasa. Ich bin im Death Valley und sitze auf einem Stein neben einer Tankstelle, der einzigen an diesem Highwayabschnitt, und vor mir steht ein Indianer. Er trägt eine Federhaube, ein Gewand mit einem Brustschmuck aus Knochenstäbchen, die ein Muster ergeben, er trägt perlenbestickte Mokassins und eine Pilotensonnenbrille, in der ich mich spiegeln kann. Ich denke, dass ich spinne, ich denke, dass der Indianer nur in meinem Kopf ist. Ich schließe meine vom Wüstenstaub wunden Augen. Verschwinde, Indianer, sage ich, du bist nur in meinem Kopf. Aber der Indianer verschwindet nicht, der Indianer spricht. Er sagt, dass mein Kopf krank von der Sonne ist, und dass ich trinken soll. Ich öffne die Augen und der Indianer hebt seine Hand, ich erwarte ein Howgh, aber er reicht mir nur eine kleine, halbvolle Wasserflasche.
Trink es langsam, sagt der Indianer.
Okay, sage ich.
Wo willst du hin?, fragt der Indianer.
Nach Hause, sage ich.
Wo ist das?, fragt der Indianer.
Das wüsste ich auch gerne, sage ich.
Bist du allein hier?, fragt der Indianer.
Ja, sage ich.
Dann schweigen wir. Ich im Sitzen, langsam trinkend, der Indianer im Stehen, schauend. Heißer Wind weht. Ein Dornengestrüpp wird über die Ebene gerollt. Kakteen stehen in der Landschaft. Irgendwo schreit ein Raubvogel. Der Highway kommt zu uns ins Tal gekrochen wie eine flimmernde Schlange. Ich habe mit ihr gerungen und bin ihrem Würgegriff entkommen.
(Cowboy und Indianer)
Die Erzählerin will ihre Gefühle für den Ex-Freund loswerden und arbeitet als Animateuse auf einem Nordmeer-Kreuzfahrtschiff. Sie verliert sich im Grau des Inselgestrüpps. “Ein Regenbogen spannt sich auf. Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut.
Drei Mal tutet das deutsche Schiff. Und fährt.” Der Stil ist nicht ohne Attitude. Weiß ich auch nicht mehr weiter, so bin ich doch nicht so wie die Masse: “Verwöhnte, meist übergewichtige, weiße Menschen, die alles in sich reinstopfen, weil es hier auf dem Schiff all inclusive ist.”
(Starcode Red)
Einige der Ezählungen sind Einträge in das Tagebuch, Texte auf Postkarten, meist muss man auf Reisen sein, um ankommen zu können. Die Themen sind natürlich nicht ganz neu, die Schreibweisen frisch. „Weit entfernt von aufgesetzt lakonischer Befindlichkeitsprosa sind ihre Erzählungen emanzipatorisch engagiert und verteidigen die Idee der romantischen Liebe.“ (Jochen Rack, SWR2) „Das Ungeheure kann noch in der allergrößten Schwere befreiend wirken.“ (Peter Czoik, Literaturportal Bayern) Die Rezensionen loben das „Debut“ hoch, man wird abwarten. Karen Köhler ist immerhin schon 40.
Karen Köhler liest auf zehnseiten.de
Schöne Rezension mit Textproben von caterina
Alice Munro: Tricks (Geschichten)
Alice Munros Geschichten wirken altmodisch. Das liegt zum einen an ihrer Erzählweise. Munro folgt ihren Personen penibel in die Schlingen ihrer Gedanken und Stimmungen, bewahrt sie nicht vor Verirrungen, hat Geduld und gönnt ihnen am Ende doch ein kleines Glück. Diese Art von Betulichkeit ist heute selten geworden, der Leser braucht Geduld für Nuancen.
Auch die Figuren sind nicht aus unserer Zeit, obwohl das Geschehen nicht so weit zurückliegt. Es ist noch nicht üblich, unverheiratet zusammenzuleben und Kinder zu haben, der Gedanke daran verunsichert, blockiert, die Traditionen wehren sich dagegen, aufgebrochen zu werden. Es sind junge Frauen, “späte Mädchen”, die den Winkel im Leben suchen, der für sie gemacht sein könnte, in den sie mit ihren Eigenheiten, ihren Biografien, ihrem Ballast, ihren verschämten Träumen hineinpassen. Das Glück, die Zufriedenheit zumindest, scheint kurz greifbar, schwindet aber so unerwartet, wie es gekommen scheint. Die Frauen sind gebildet, haben einen Beruf oder Job, was fehlt, ist der Partner, der die eigene Existenz teilen und schützen könnte. (Alice Munro wagt durchaus den Gedanken an eine Partnerin.) Die Chancen verflüchtigen sich, wenn man zu lange zögert.
In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, wurde ihre Art von Intelligenz in dieselbe Kategorie gesteckt wie ein lahmes Bein oder ein zusätzlicher Daumen, und alle Nachbarn waren immer schnell damit bei der Hand, auf die unvermeidlichen Nachteile hinzuweisen – ihre Unfähigkeit, mit einer Nähmaschine umzugehen oder ein Paket ordentlich zu verschnüren oder zu merken, dass ihr Unterrock hervorguckte. Was sollte nur aus ihr werden, war die Frage.
Eine Frage, die sich sogar ihre Mutter und ihr Vater stellten, die stolz auf sie waren. Ihre Mutter wollte, dass sie beliebt war, und hatte sie zu diesem Zweck gedrängt, das Schlittschuhlaufen und das Klavierspielen zu erlernen. Sie tat beides weder gern noch gut. Ihr Vater wollte nur, dass sie hineinpasste. Du musst hineinpassen, sagte er ihr immer, sonst wird man dir das Leben zur Hölle machen. (Dabei verschwieg er die Tatsache, dass er und namentlich Juliets Mutter selbst nicht sonderlich gut hineinpassten und keineswegs unglücklich waren. Vielleicht bezweifelte er, dass Juliet ebensolches Glück haben konnte.)
Die Frauen haben nicht gelernt zuzugreifen, selbstbewusst ja zu sagen. Sie stehen vor Entscheidungen und zwei Wahlmöglichkeiten sind oft schon zu viel, um das Richtige zu tun oder sich überhaupt entscheiden zu können. Die Umgebung behindert das Selbstwerden, das sowieso bloß schüchtern angelegt ist, zusätzlich. Freundinnen, Eltern, Männer, Geschwister, Kinder schnüren die Freiheit zur Entscheidung ein. Fluchten (Originaltitel der Sammlung: Runaways) werden zurückgenommen, Emanzipation könnte es schon geben, doch auch hier zeigen sich Munros Frauen zu traditionell, zu altmodisch, zu gestrig.
Carla hielt den Kopf gesenkt, bis der Bus die Stadt verlassen hatte. Die Fensterscheiben waren getönt, niemand konnte hineinschauen, aber sie musste sich davor in Acht nehmen, hinauszuschauen. Für den Fall, dass Clark plötzlich auftauchte. Aus einem Laden kam oder an einer Kreuzung wartete, ohne jede Ahnung, dass sie ihn verlassen hatte, überzeugt, dies sei ein ganz normaler Nachmittag. Nein, überzeugt, dies sei der Nachmittag, an dem der Plan – sein Plan – in die Tat umgesetzt wurde, neugierig darauf, wie weit sie damit vorangekommen war.
Sobald der Bus das Umland erreicht hatte, schaute sie auf, holte tief Luft und nahm die Wiesen und Felder wahr, durch die violetten Scheiben leicht eingefärbt. Mrs. Jamiesons Fürsorge hatte ihr ein Gefühl von völlig neuer Sicherheit und Klarsicht gegeben, sodass ihr die Flucht als das Vernünftigste erschienen war, das sich denken ließ, sogar das Einzige, was jemand in ihrer Lage tun konnte, um sich die Selbstachtung zu bewahren. Carla hatte sich fähig gefühlt, ein ungewohntes Vertrauen aufzubringen, sogar einen reifen Sinn für Humor, als sie Mrs. Jamieson ihr Leben auf eine Weise geschildert hatte, die ihr Sympathie eintragen musste und doch ironisch und wahrheitsgemäß war. Und angepasst an Mrs. Jamiesons – Sylvias – Erwartungen, soweit sie die erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es möglich war, Mrs. Jamieson, die ihr wie ein ungemein feinfühliger und anspruchsvoller Mensch vorkam, zu enttäuschen, aber ihrer Meinung nach war sie nicht in Gefahr, das zu tun.
Ein Leben, ein Ort, genau aus diesem Grunde gewählt – dass Clark nicht darin vorkam.
Das Seltsame und Schreckliche, das ihr über diese Welt der Zukunft klar wurde, so wie sie ihr jetzt vor Augen stand, war, dass sie dort nicht existieren würde. Sie würde nur umhergehen, den Mund aufmachen und sprechen, dies und jenes tun. Sie würde nicht wirklich dort sein. Und das Seltsame daran war, dass sie all das tat, dass sie in diesem Bus mitfuhr in der Hoffnung, wieder zu sich selbst zu finden. Wie Mrs. Jamieson sagen würde – und wie sie selbst vielleicht voll Genugtuung gesagt hätte: ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Ohne dass jemand ständig ein finsteres Gesicht zog, ohne dass jemand sie mit seiner schlechten Laune ansteckte.
Aber was würde ihr am Herzen liegen? Woher würde sie wissen, dass sie am Leben war?Während sie von ihm weglief, behauptete Clark immer noch seinen Platz in ihrem Leben. Aber wenn sie das Weglaufen hinter sich hatte, wenn sie einfach ihres Weges ging, was würde sie an seine Stelle setzen? Was sonst – oder wer sonst – konnte sie je so intensiv herausfordern?
(Ausreißer)
Die Geschichten sind nicht verzeitet. Die Personen leben im Rahmen des ihnen Gegebenen, auch “Ausreißer” bleiben in diesem Rahmen, Kritik weitet sich in keinem Fall auf soziale, politische, historische Konstellationen.
Das Leben ist immer so vollgestopft. Erwerbend und ausgebend erschöpfen wir unsere Kräfte. Warum sind wir nur immer so geschäftig und versäumen es darüber, die Dinge zu tun, die wir lieber hätten tun sollen oder lieber getan hätten? Weißt Du noch, wie wir die Butter mit den alten hölzernen Kochlöffeln geklopft haben? Mir hat das Spaß gemacht. Das war der Tag, an dem ich Ollie mitgenommen habe, damit er Dich kennenlernt, und ich hoffe, Du bedauerst es nicht.
Die Geschichten spielen am Rande der Zeit. Sie sind aber nicht zeitlos, sondern – schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens – veraltet, altmodisch, bieder in ihrer detailllierten Genauigkeit. Vielleicht wollen sie genau das zeigen. Munro versteht es, „aus der schieren Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse großes Drama zu destillieren“ (NZZ). Das Drama spielt sich in der Frau ab.
Jonathan Franzen gibt eine Inhaltsangabe für alle 8 Geschichten: HERE’S the story that Munro keeps telling: A bright, sexually avid girl grows up in rural Ontario without much money, her mother is sickly or dead, her father is a schoolteacher whose second wife is problematic, and the girl, as soon as she can, escapes from the hinterland by way of a scholarship or some decisive self-interested act. She marries young, moves to British Columbia, raises kids, and is far from blameless in the breakup of her marriage. She may have success as an actress or a writer or a TV personality; she has romantic adventures. When, inevitably, she returns to Ontario, she finds the landscape of her youth unsettlingly altered. Although she was the one who abandoned the place, it’s a great blow to her narcissism that she isn’t warmly welcomed back — that the world of her youth, with its older-fashioned manners and mores, now sits in judgment on the modern choices she has made. Simply by trying to survive as a whole and independent person, she has incurred painful losses and dislocations; she has caused harm.
Sie müssen in die Welt hinaus, hatten sie gesagt. Als wäre sie bisher im Nirgendwo gewesen.
Trotzdem war sie in dem Zug glücklich.
Den Literaturnobelpreis 2013 habe sie bekommen “für uns als Frauen“ (Munro).
2004 380 Seiten
Sylvia Plath: Zungen aus Stein
(Geschichten)
Sylvia Plaths Literatur wird zumeist im Kontext ihrer Lebensgeschichte gewertet, weiß wikipedia. Die Geschichten in „Zungen aus Stein“ sind zwischen 1952 und 1963 entstanden, Sylvia Plath war da gerade in ihren Zwanzigern. Die ersten Erzählungen sind auch noch Familiengeschichten, über einen Vater, der unverwundbar erscheint und dann plötzlich stirbt, wie ihr eigener, über Geschwister, die sehr unterschiedlich beschrieben werden, eines kränklich und verletzlich, das andere mutig und weltzugewandt. Mädchen und Jungen tauschen sich hier in ihren Rollen, ein Kind heißt Warren, wie Sylvias jüngerer Bruder. Viele Geschichten handeln vom Zögern, sich verstecken, von der Unsicherheit von jungen Mädchen, Studentinnen, dem Gefühl von Überforderung, obwohl die Erwartungen oft gar nicht ausgesprochen werden. Jungen Frauen, die ihr Verhältnis zu den Männern ausprobieren wollen oder müssen. Die Konventionen scheinen noch bedrückend. (Hat sich da aber wirklich so viel verändert – in den USA?)
Schlafen können, sich wärmen, das sind häufige Wünsche am Ende der Geschichte, Hoffungen auf ein gutes Ende.
Die Kälte ergriff ihren Leib wie ein Tod. Keine Faust schlug durchs Glas, kein Haareraufen, keine verstreute Asche und blutige Finger. Nur eine einzige, schwache Geste für den unzerstörbaren Steinknaben im Garten, der, ironischerweise mit Leonards Blick, auf seinem gemeißelten Fuß verharrte und sich an seinen Delphin klammerte. Augen mit Steinlidern waren auf eine Welt hinter der beschnittenen Ligusterhecke gerichtet, blickten hinter die Buchsbaumgrenzen und den geharkten Kies der engen, strengen Gartenwege. Eine Welt, in der es keine Verschwendung gab, sondern Rettung und Zärtlichkeit: eine Welt der Liebesentfacher und Liebesverfechter. Als Orion ging, seine festbestimmte Bahn zum Rand dieser unsichtbaren Welt beschritt und sein Glanz im fahlen Unterwasserlicht verblaßte, krähte der erste Hahn.
Sterne löschten ihre brennenden Strahlen vor der aufgehenden Sonne.
Dody schlief den Schlaf der Ertrunkenen.
Sah auch nicht oder ahnte nicht, wie jetzt unten in der Küche Mrs. Guinea einen neuen Tag begann. Retterin, Spenderin. Sie war keine Verschwenderin. Die Heringe in die schwarze Eisenpfanne schneidend, den fettriefenden Toast im Ofen röstend, summte sie fröhlich. Fett zischte und spritzte. Sonnenstrahlen spiegelten sich jungfräulich in den stahlgefaßten Brillengläsern, und aus ihrem Witwenbusen stieg klares Licht auf, das dem Tag seine Reinheit zurückgab.
Ihren Hyazinthen, die auf der Fensterbank in der raren, erdentrückten Scholle von Perlmuscheln knospten, versicherte Mrs. Guinea, würde ihnen immer versichern, daß es, abgesehen vom Winter, doch trotz allem ein netter, zauberhafter Tag sei. (Steinknabe mit Delphin)
Man merkt den Geschichten die 50er-Jahre an. Alles wirkt noch überschaubar – und wird doch zu viel -, alles scheint noch langsam, und geht für die Bedrängten doch zu schnell. Die Geschichten wirken eher bieder in ihrer sozialen Positionierung, es passiert nicht viel. Das kann aber für die Person schon mehr sein, als sie ertragen kann. Sylvia Plath beobachtet genau, die Interieurs, die Farben, die Garderoben. Die anspruchsvolle Sensibilität für Außen- und Innenwelt. Vielleicht liegt hier die Stärke ihres Erzählens. Ansonsten muss man die Texte auch angesichts des 50 Jahrestags ihres Selbstmords (1963) nicht unbedingt lesen.
»Wir haben lange darauf gewartet«, sagte Mrs. Patterson, beugte sich über das Bett, um den Becher wegzunehmen, und ihre Worte waren warm und rund, wie Äpfel in der Sonne. »Möchten Sie warme Milch? Ich glaube, Sie werden heute nacht schlafen. «
Und das Mädchen lag im Dunkeln, hörte der Stimme der Dämmerung zu und spürte mit jeder Faser ihres Verstandes und Körpers den immerwährenden Sonnenaufgang. (Zungen aus Stein)
Monique Schwitter:
Wenn’s schneit beim Krokodil
(Geschichten)
Oft ist es ja in den Kurzgeschichten so, dass die Kommunikation nicht gelingt. In Monique Schwitters Erzählungen kommt es dazu gar nicht. Die Personen, meist Frauen, stellen sich zwar noch Situationen vor, setzen sich auch in Bewegung, werden aber von den gedachten Möglichkeiten überfordert, analytisch gelähmt. Eine Stufe weiter auf dem Weg zum Vereinzeln. Schwitter hält oft in der Handlung inne und schaltet in den Kopf der jungen Frau.
Ich kann mir nicht vorstellen, ihn zur Begrüßung zu küssen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, von ihm zur Begrüßung geküßt zu werden. Ich kann mir auch keine andere Begrüßung vorstellen. Ein Händedruck wäre schön. Aber undenkbar. Wahrscheinlich wird es dann doch so was wie ein Kuß werden, so ein Kuß, den ich mir jetzt gar nicht vorstellen kann. Aber wir werden uns küssen, weil wir denken, das sei passend. Passender als ein Händedruck. Wir werden uns küssen, um so zu tun, als kennten wir uns. Um keine Unklarheit aufkommen zu lassen über den Grund unserer Verabredung, über den Zweck unserer Verabredung. Wir werden uns küssen, um die Kluft zwischen uns zu vertuschen. Ein Händedruck schließt einen Blick ein, beim Küssen braucht man sich nicht anzuschauen. Ein Händedruck wäre uns wahrscheinlich peinlich. Hier bin ich, da bist du, das ist ein Händedruck. Hier bin ich, um nicht lang zu fackeln, nimm dies, das ist ein Kuß. (Ein Anflug)
Sie wartet in der Ankunftshalle, nervös und sehnsüchtig, sie ist zu früh dran, natürlich, sie setzt sich zu einem Fremden an den Tisch, all ihre Lebenskraft wird aufgesogen von dieser Situation. Als der Erwartete schließlich kommt, verschwindet sie. Ähnlich in der Geschichte “Wenn’s schneit beim Krokodil”:
Ich mag Tierparks nicht. Ich mag keine zoologischen Gärten.
Da ist ein Brief für dich gekommen, sagte meine Mutter am Telefon.
Mach ihn auf, sagte ich. Meine Mutter zögerte. Ich weiß ja nicht, was drinsteht, und von wem.
Eben, antwortete ich gereizt, deshalb sollst du ihn ja öffnen.
Also ich weiß nicht, sagte meine Mutter, und ich hörte es rascheln. Schweigen.
Und, fragte ich barsch. Schweigen.
Hallo, rief ich, hörst du mich? H ö r s t d u m i c h?
Ich bin sicher dort. Zoo, 1. Januar, neun Uhr. Wenn’s schneit beim Krokodil, sonst beim Kamel.
Und weiter, fragte ich.
Nichts weiter, sagte meine Mutter. Kommst du an Weihnachten?
Seit elf Tagen mache ich Weihnachtsurlaub in meiner Heimatstadt.
Vor elf Tagen, zu Winterbeginn, am 21. Dezember, dem dunkelsten Tag des Jahres, stand ich neben dem Eingang zum Zoo und erkundigte mich an der Kasse nach dem Eintrittspreis.
Erwachsene, Tageskarte, 22 Franken, sagte die Kassenfrau.
Gibt es ein Krokodil, fragte ich. Sie schob mir ein Faltblatt entgegen. Hier, sagte sie.
Und ein Kamel, gibt es das auch, fragte ich, während ich nach dem Faltblatt griff.
Wollen Sie rein oder nicht, fragte die Kassenfrau.
Ich glaube nicht, sagte ich.
Den großen Stein neben dem Eingang gibt es nicht mehr. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Kasse und schlug das Faltblatt auf. Die Stufen waren kalt.
Jeden Tag geht sie zum Zoo, hypernervös, und dann, kurz vor Schluss: “Es war mir plötzlich egal, wer mir den Brief geschickt hatte. Ich hatte keine Lust mehr, mühsam eine Fährte aufzuspüren, um eine Spur zu verfolgen, die in meine Vergangenheit führt. Mir reichte mein Erinnerungspaket vollständig.” Auch die Mutter hat aufgegeben: „Ich mag nicht mehr, sagte meine Mutter. Ich weiß nicht, ob sie den Sekt meinte, oder alles andere. Bald darauf hat sie sich schlafen gelegt.
Ich weiß nicht, ob das Typisch für die Zeit ist, ob Monique Schwitter geneigte Leserinnen findet. Man könnte denken, dass auch das nicht mehr wichtig ist. Das Leben ist Suche, vor dem Finden hat man Angst. Man schreckt davor zurück, verkleidet sich, um nicht womöglich dorch erkannt zu werden. “Vom Scheitern des Nichtstuns“ überschreibt der STERN ein Interview mit Monique Schwitter.
Alles nie so wie gedacht, alles immer anders und irgendwie und verunsichert und mal schauen, was das wird. Und doch nie neu. Doch nie jetzt geht’s los, doch immer abwarten, kommen lassen, reagieren. Versuchen, richtig zu reagieren. Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, wenn das Angebot sich längst schon wieder verändert hat und der Favorit nicht mehr zur Wahl steht. Sich wieder eine Entscheidung abringen müssen, weil die beherzte Entscheidung nicht mehr möglich ist. Eingeschränkte Wahl, Vorteile, Nachteile, immer auch Nachteile, vor allem Nachteile. Abwägen. Also nicht die Frage: Was will ich. Immer nur die Frage: Was ist am wenigsten schlimm. Immer nur die Frage: Womit kann ich leben. Kann ich damit leben. Und das ist genau die Frage, die mal einer beantworten soll. Kann ich damit leben. Womit kann ich leben. Das soll mal einer beantworten. Mehr als ein irgendwie kommt da nicht raus. Irgendwie damit leben. Und das soll dann eine Entscheidung sein. Ha.
Spieltheorie. Lakonisches Hyperventilieren. Die Hauptperson der schönsten Geschichte ist ein Mann: „Wendel wartet“. Das sagt alles.
2005 177 Seiten
Urs Widmer: Vor uns die Sintflut
(Geschichten)
In Widmers Geschichten tummeln sich Götter und Fabelwesen und allerlei Gemensch und natürlich auch Erzähler, dass es eine wahre Freud ist und ein wahres Entsetzen. Die Götter sind natürlich den Menschen überlegen, aber sie sind halt auch nur Menschen und so werden sie nach und nach von den Menschen verstört und vertrieben. Denn die Menschen machen Krach, sie kennen keine heiligen Orte mehr, vermüllen die Strände und haben überhaupt keinen Respekt nicht vor nichts und niemand. Dafür hat Widmer umso mehr Phantasie und plaudert munter und mit alten und großen Worten von Anfang und Ende: Vor uns die Sintflut.
Das Titelbild von Henri Rousseau zeigt deshalb das Kentern der Costa Concordia.
Noch sangen die Göttinnen allein, mit den Gnomen zuweilen, deren Grölen sie mochten, denn sie waren in einer Weise weitherzig, die es heute nicht mehr gibt. Sie lachten, wie sie sangen, und sie sangen, wie sie atmeten. – Was die Götter und Göttinnen aßen, wissen wir nicht. Ich denke, nichts. Vielleicht hat unser Unglück – ich meine, unser Menschenunglück – überhaupt erst damit begonnen, daß ein erster Affe Speise in sich hineinstopfte, aus Blödheit und Spielerei, nicht aus Notwendigkeit, und wir taten es ihm sogleich nach, weil wir jede Blödheit nachahmen. Kaum acht Stunden später hatten wir Bauchschmerzen. Seitdem hocken wir, Mann und Frau, Bettlerin und Kaiser, in langen Reihen am Wegrand, rund um den Erdball, hilflos. Es hilft uns nichts, unsere Schwäche zu verbergen. Machtvoll zu tun, unabhängig. Noch vom prunkvollsten Staatsempfang stürmen wir aufs Klo und reißen uns im Laufen die Orden weg, um noch rechtzeitig die Hosenträger zu lösen. Durch uns und nur durch uns kam der Dreck auf die Erde, der Abfall, die Ökologie. Hätten wir, wie die Götter, nichts gegessen, hätten wir uns gerettet. Vielleicht. Sicher. Nichts hinein, nichts heraus. Keine Bedürfnisse. Es gäbe keine Restaurants und kaum Ladengeschäfte. Hie und da ein paar Jeans, Hemden und Socken, das vielleicht. – Als der Tod noch gerecht war, in alten Zeiten, nahm er genau so viele Greise mit sich, wie Säuglinge hinzukamen. Keinen mehr, keinen weniger. Damals noch wären wir vielleicht, wenige nur und immer gleich viele, mit den Göttern ausgekommen, mit den Elfen und den Kobolden, die, den Göttern hierin gleich, auch keine Losung hinterlassen. Kein Gott geht in die Büsche, keine Göttin kauert sich ins Schilfgras. Auch die Urtiere kannten kein Fressen. Die Kartoffeln wucherten vor sich hin. Die Orangen fielen, überreif, von den Bäumen und verfaulten, Dünger für die nächsten Orangen. Die Kontinente, die noch nicht auseinandergebrochen waren, hätten uns überreichlich Platz geboten. Da einer, dort eine, weite Ebenen, am Horizont ein paar Giraffen und ein Gnu. (Der Müll an den Stränden)
Die Kaukasen leben so lange, weil sie gern leben! Logisch, daß sie alt werden wollen; logisch eigentlich auch, daß sie es tatsächlich werden. Sie freuen sich, anders als wir in unserer Kultur, auf jeden neuen Tag und stehen voll frischer Begeisterung mit der Sonne auf, außer nach den Nächten des vollen Monds, wenn sie eines ihrer rauschenden Feste gefeiert haben. Dann schlafen sie bis tief in den Tag hinein, Männer und Frauen ineinander verknäuelt, Mund an Mund, lächelnd in schönen Träumen, die sie sich sofort erzählen, wenn sie aufwachen. Sie kennen siebenunddreißig Wörter für Wasser, das ja tatsächlich aus ungezählten Quellen sprudelt. Sie singen mit reinen, blechernen Stimmen. Oft sitzen sie in Wiesen voll rotem Mohn und schauen den Schmetterlingen zu, die in Schwärmen über den Blüten tanzen. Tiere jagen sie keine oder nur zum Spaß; die im Flug erhaschten Bären lassen sie gleich wieder frei. Ihr Beef, das ist wahr, schmeckt ihnen am besten, wenn sie ein paar Stunden darauf herumgeritten sind. Es gibt Restaurants, die zehn oder mehr Zureiter beschäftigen, die in ewigen Kreisen ums Lokal herumreiten, die Steaks unterm Sattel. Ihr monotones Getrappel gehört zu jenen Geräuschen, die man gar nicht mehr hört; so wie bei uns der Straßenverkehr oder kleinere Schußwechsel. Die Alten erzählen gern Geschichten von früher, aber nie, daß es da schöner gewesen sei. Kein Kaukase reist. Wieso denn. Alle bleiben gern da, wo sie sind. Nur wenn sie einen Russen erblicken, springen sie auf ihre Pferde. Sie essen kein Joghurt, nie. (Das Geheimnis der Greise vom Kaukasus)
1998 165 Seiten
Stefanie Sourlier: Das weiße Meer
(Erzählungen)
Das Leben – kein Roman. Soweit tragen die flatterhaften Erzählungen nicht. Das Leben bietet keine Kontinuitäten, keine Sicherheiten, keine verlässlichen Beziehungen. Man trifft sich, macht diffuse Pläne, die man so schnell vergisst wie die Namen der verhuschenden Partner. Gespräche werden meist in der Kneipe geführt, damit sie unverbindlich bleiben, damit man sie schnell abbrechen kann. Es scheint Leute zu geben, die Wohnungen haben, andere leben in Hinterzimmern oder zur „Untermiete“, dauernd auf dem Sprung. Da einen nichts dort hält, wo man ist, kann man genauso gut woanders sein, in Manchester oder New York oder in einem Bergdorf oder Archangelsk, am Weißen Meer. Das Weiße Meer aber ist Sperrgebiet. Man kommt nicht an, auch nicht „Nach Italien“.
Ich habe deine Nummer gelöscht, sagte Leo. Sie sagte nicht: versehentlich. Ich überlegte, dass ich darauf etwas sagen sollte, doch mir fiel nichts ein. Hast du was zu trinken da, sagte Leo anstelle einer Erklärung, und ich meinte: Apfelsaft gibt es, vielleicht auch Bier, und sie sagte: Apfelsaft und öffnete den Kühlschrank. Sie goss den Rest der Flasche in ein Glas und trank es in einem Zug leer. So, sagte sie und stellte das Glas hin. Was ist eigentlich mit Archangelsk? fragte sie dann. Was soll mit Archangelsk sein, sagte ich leicht trotzig, keine Ahnung, wie Archangelsk ist. Tja, wir können ja mal hinfahren, meinte Leo, schauen, wie es da ist. […] Leo sieht aus wie ein verkleideter Junge auf dem Foto. Sie sieht aus wie mein Bruder, als er noch jünger war und schmal wie ein Mädchen.
Auch die Zeit verfließt: „Morgen ist schon wieder heute“ nennt Sourlier eine Geschichte. Daneben wird aber erzählt von Familie, von Brüdern, Großvätern, Onkel Georg, auch hier sind die Beziehungen fragil, die Sehnsucht nach Sicherheit, auch Geborgenheit und Rückhalt scheint aber durch. Diese Geschichten vom Früher, das gerade endet, werden eingeflochten, angedeutet, falls man einen Zuhörer findet, aber keinen, der zu ernste, zu definierte Absichten haben wird.
Paul sitzt mir gegenüber und starrt an mir vorbei in das Blau des Schwimmbeckens. Er ist ganz blass, seine Haut sieht aus wie durchsichtiges Papier und wahrscheinlich fühlt sie sich auch so an, glatt und kühl. Aber das weiß ich nicht, ich habe meinen Bruder nie berührt, seit Jahren habe ich ihn weder umarmt noch geküsst oder auch nur seine kalte trockene Hand gehalten. Ich weiß nicht einmal, ob seine Hand kalt und trocken ist, ich kann es mir nur vorstellen.
„Dass die Allgegenwart des Todes […] nie impertinent wirkt, ist sensationell und hängt mit der Gelassenheit der Ich-Erzählerin zusammen.“ (Judith von Sternburg, FR) Und Tobias Becker (SPIEGEL): „Sourlier erwähnt den Tod beiläufig, in einem unaufgeregten Ton, wie im Dämmerzustand.“ Falls das Leben heute so ist, wie es Stefanie Sourlier skizziert, kann es keine Romane mehr geben. Dafür sind die „Schicksale“ zu inkonstant, zu kurzlebig, zu bodenlos. Solche Erzählungen sind nicht neu. Stefanie Sourlier verwebt sie noch etwas stärker, was sie einander ähnlicher werden lässt. Vielleicht sind sie auch noch fragiler als anderswo. Aber: „Worüber sollen wir weinen.“
2011 170 Seiten
![]() 2- |