Christos Ikonomou:
Warte nur, es passiert schon was
(Erzählungen)
Es passiert nichts in Christos Ikonomous Geschichten, außer dem Schlimmsten: dass es nicht weitergeht. „Nicht das Fallen ist das, was einen umbringt, sondern der Stillstand.“
Als ich bei Tagesanbruch dort vorbeikam, um zur Arbeit zu gehen, sah ich sie immer noch um das Feuer stehen. Es hatten sich auch noch andere Leute auf dem Gehsteig versammelt, alte Männer, Frauen, Ausländer.
Aber sie standen immer noch um die Tonne, fünf Männer mit total weißen Gesichtern vor Übermüdung und Kälte, und sie schauten stumm in das Feuer, das im eiskalten Licht des Tages verglomm.
So sitzen sie und stehen sie und warten, nachts ist die beste Zeit dafür, weil man den Horizont nicht sieht und sich mit ein paar Gläsern (oder Flaschen) Tsipouro erträumen kann, dass „was“ passiert. Das wäre gut, aber wie soll man daran glauben? Denn es ist meist die Basis des Lebens, die wggebrochen ist: das Geld. Die Arbeit, mit der man es verdienen könnte. Tagsüber ist es kalt, auch im Sommer oder wenn es an Weihnachten 20 Grad hat. Nachts wärmen die selbstgeschürten Feuer.
Meist sind es Männer, doch die Frauen warten mit. Die Sicht reicht bis zum Hafen, ein paar Straßen hinauf und hinunter. Die Planungen fürs Leben sind vage, konkrete Vorstellungen kranken daran, dass man nicht an ihr Wirklichwerden glaubt. Vielleicht gibt’s für kurze Zeit einen Job, eine Vertretung, während die Reichen wegfahren.
Er zündet sich eine Zigarette an und legt den Kopf nach hinten. Der Fuß ist ganz taub und im Stiefel geschwollen. Er spürt die Glassplitter oben auf dem Kopf, aber er will nicht hinfassen.
Er wird abwarten. Abwarten. Es wird schon was passieren. Irgendwann wird der Hund müde und verzieht sich. Er kriegt Hunger und Durst, er legt sich schlafen. Und wenn das passiert, geht er ins Haus. Und dann macht er irgendetwas.
Er wird abwarten. Er wird die ganze Nacht über im Auto sitzen und abwarten. Wird warten, dass die Nacht vergeht. Er wird die ganze Nacht über dableiben und am nächsten Tag auch und so viele Tage, wie es eben notwendig ist. Er wird abwarten.
Aufgedunsen und orange versinkt die Sonne hinter dem Berg. Es wird dunkel. Die Glasscherben an der Oberseite der Mauer verlieren den Glanz. Ein Vogel fliegt über die Mauer und verschwindet, als hätte ihn der Himmel verschlungen.
Er wird abwarten.
Und es ist immer noch erst der dritte August.
Woanders soll es besser sein, meint man gehört zu haben. Sogar in Bulgarien. Griechenland ist wieder einmal nur Herkunftsland wie in den 1960er Jahren, als viele Landgriechen in die USA emigrierten. Ikonomou zitiert aus begeistert enttäuschten Briefen, die von entwurzelten Leben künden. „Warte nur, es passiert schon was“ erschien in Griechenland 2010, als die Finanzkrise das Land schon getroffen hatte, als aber die erdrückenden Schikanen der „Troika“ noch jenseits der Vorstellungen lagen. „Warte nur, es passiert schon was“ ist nur indirekt ein politisches Buch. Ikonomous Anliegen und Stärke ist das Aufbrechen der Masken der Männer, der Blick in die Kulissen der Traurigkeit, das Sezieren der erwartungslosen Zukunft, der Anstrengungen, mit der Hoffnungslosigkeit weiterzuleben.
Es ist eine Chance, sagte er zu Niki. Du siehst doch, was hier los ist. Hier gibt’s kein Vorankommen. Schluss aus, wir sind am Ende.
Früher hat man für ein Stück Brot gearbeitet, jetzt arbeitet man für eine Handvoll Krümel. Bulgarien hin, Bulgarien her, ich hab damit kein Problem. Es soll gut sein da oben. Landleben, Berge, Wälder, Flüsse. Es gibt Heilbäder. Und Kirschen. Dort wachsen angeblich die besten Kirschen der Welt. Bei Gott. Wasserfälle gibt es auch. Hier kann man ja nicht mal mehr Leitungswasser trinken. Pro Monat geben wir einen Fünfziger für das abgefüllte Wasser aus. Schluss aus. Hier gibt es kein Vorankommen. Ich finde, wir sollten gehen. Schlimmer als hier kann es nicht sein.
Das Schönste: Ikonomou findet in der Tristesse Bilder von poetischem Zauber. Die Personen glauben daran, Mensch bleiben zu können. Auch wenn nichts passiert. Sie hören nicht auf zu reden, auch wenn sie nicht so viele Wörter haben und immer wieder dasselbe sagen. „Neben dem älteren Petros Markaris gibt es derzeit kaum einen anderen Autor, der das heutige Griechenland hierzulande so lebendig vertreten würde.“ (Kostas Kosmas, Tagesspiegel)
Ich fülle die Gläser, wir trinken. Wir schauen hinaus. Unsere Gesichter leuchten auf den großen Fensterscheiben wie die Fingerabdrücke von einer riesigen Hand. Unkenntliche Gesichter, Gesichter von anderen Menschen.
Ich finde, wir sollten die Matratze rausholen und heute im Hof schlafen, sagte er. Wir sollten heute in dieser letzten Nacht draußen im Hof schlafen. Was meinst du?
Niki zuckte mit den Schultern.
Mach, was du willst, sagte sie. Ich werde heute Nacht bestimmt nicht schlafen.
Die Sanduhr war jetzt verschwunden, das Meer wurde dunkel, ein Wind kam auf. Sie saßen lange unter dem Olivenbaum und hörten, wie seine Blätter im Wehen des Windes erschauderten. Die Sterne blinkten zwischen den Zweigen des Baumes, und er sah lange schweigend hinauf und versuchte herauszufinden, wonach die Sterne aussahen, er versuchte, etwas Heldenhaftes zu finden, etwas Romantisches, was er über sie sagen konnte, aber schließlich ließ er es sein, denn es waren nur Sterne. Sterne waren es und sonst nichts.
2010 255 Seiten
Leseprobe beim Verlag C.H.Beck
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Aris Fioretos: Der letzte Grieche
Aris Fioretos kann bei seinem Roman auf bewährte Helfer zurückgreifen: Clio, die Muse der Geschichtsschreiber. Seine „Gehilfinnen Clios“, einem Kreis älterer griechischer Damen, sind am Werke einer „Enzyklopädie der Auslandsgriechen“. Daraus bedient sich Fioretos und verwebt die „losen Enden zu einem Faden“. Der Autor erläutert seine Methode im Vorwort, er mischt sich ständig ordnend ins Erzählen ein. „WIESO DAS? Es ist nicht ganz einfach, den Menschen zu beschreiben, der Jannis gegenüber saß. Dennoch müssen wir es versuchen.” Fioretos kann so auch die Chronologie aufbrechen, weil ja die Schicksale einer anderen Logik gehorchen. “Wunderbar raffiniert und kühn konstruiert” nennt das Dennis Scheck, doch führt das bei mir zu Schwierigkeiten, die Personen und ihre Erlebnisse in einen Zusammenhang zu bringen. (Ein Stammbaum ist mit abgedruckt.) In der zweiten Hälfte des Romans macht es mir Fioretos leichter, er konzentriert sich stärker auf Jannis’ Leben in Schweden als “Gastarbeiter”.
LEKTION: GLÜCK. Unser Jannis, der immer noch in Familie Florinos‘ Keller schläft, war überzeugt, dass ein Mensch nicht nur durch die Gefühle und Ereignisse beschrieben werden sollte, die er erlebt, sondern auch durch die Personen, aus denen er besteht – ganz oder teilweise, manchmal oder stets. Sonst treten Phantomschmerzen auf. (Vergleiche hierzu »Diese Jämmerliche Sache«.) Er war nicht der erste, dem dieser Gedanke gekommen war. Aber seit er seinen Vater verloren und die Großmutter ihn zu trösten versucht hatte, indem sie ihm erzählte, was vorgefallen war, als ihr eigener Vater starb, stellte er sich vor, dass ein lebendiger Mensch nicht bei Nagelrändern oder Haarspitzen aufhörte. Mal endete er bei der Ader, die sich über den zwiebelförmigen Fußknöchel eines anderen Menschen schlängelte, mal in der klebrigen Falte hinter den Ohren eines weiteren. »Sieh mal«, hatte Despina zu dem Siebenjährigen gesagt und die Kiefer aufgesperrt. »Ich dachte, der Mund wäre da, um mir zu ermöglichen, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Aber es stellte sich heraus, dass er wie dafür geschaffen war, deinen Vater an der Hand zu halten.« Daraufhin erzählte sie, als die Hasenscharte noch ein Kind gewesen sei, habe seine ganze Faust Platz in ihrem Mund gefunden. Die Großmutter meinte, es gebe Teile von Jannis, die in ähnlicher Weise mit Personen zusammengehörten, die geboren worden waren, bevor er selbst an einem Vormittag während der Besatzungszeit um ein Haar in einer Mülltonne ertrunken wäre, aber sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass er auch Organe in sich trug, die ihren rechtmäßigen Besitzer erst in ein oder zwei Generationen finden würden. Vielleicht sogar noch später. »Bis dahin kümmerst du dich um sie. Wie ich meinen Mund für deinen Vater aufhob. Vergiss das nicht. Menschen bestehen aus anderen Menschen.«
Die Griechen tragen ihr Griechentum in und mit sich, wo sie sich auch aufhalten mögen. Das ist eine drückende Bürde und sie ist dem Erreichen des Glücks nicht unbedingt dienlich. Dabei sind die Mitglieder von Jannis’ Familie selbst Eingewanderte, stammen zum Teil aus Smyrna in Kleinasien (heute Izmir), aber man lebt in Makedonien (wie schon Alexander der Große), in Neochóri, in Áno Potamiá. Schon das Wort “Auslandsgrieche” ist bezeichnend. Jannis Georgiadis geht nach Schweden, getrieben von der heimatlichen Enge und Not, ein wenig auch von der Militärdiktatur (1967 – 1974), gezogen von der Aufnahmebreitschaft Schwedens und bereits im Norden lebenden Landleuten. Fürs Erste kommt Jannis bei der Familie des Arztes Manolis Florinos unter, die „Integration“ ist nicht einfach, nicht nur die Syntax ist verdreht, sondern auch die Vorstellungen von Ehe. Jannis’ Beziehungsglück zerbricht am griechischen Erbe, „ weder hier noch dort zu Hause, ein Wanderer und Migrant, ein zäher Träumer”.
So sah das Leben aus. Lauter Übergänge. Erst wenn man seine Erlebnisse anderen vermittelte, verwandelten sie sich. Denn wenn man ein Ereignis wiedergab, wie Jannis es am ersten Abend auf dem Weg nach Balslöv getan hatte, verwandelte sich das Leben in eine Geschichte. Und Geschichten, das wusste er, bestanden aus lauter entscheidenden Augenblicken: Herzinfarkten, Militärputschen und Blitzeinschlägen, seltener aus dem Parfümtropfen hinter einem frisch gewaschenen Ohr, struppigen Ziegen oder quakenden Gummistiefeln, und praktisch nie aus nichtigen Anlässen zur Freude oder stechender Scham, trockenen, hilflosen Winden oder heißen Nächten so eng wie Schuhkartons. Geschichten waren das, was übrigblieb, wenn man das Leben entfernt hatte. Sie verwandelten Zufälle in Furchen auf dem Handteller.
Tatsache war, dachte Jannis, dass er auch jenseits dieser Tage andauerte und man in mehrere Richtungen gleichzeitig geboren wurde und sich entwickelte, vorwärts und rückwärts, und manchmal sogar seitwärts. Das Leben war wie ein Gewässer, das in alle Richtungen expandierte. Ein Tag wurde zum nächsten gelegt und dort gelagert, wohin die Zeit gelangte, nachdem sie stattgefunden hatte, eine schwerelose, stetig wachsende Ansammlung von Nichtigkeiten, die den meisten trist und in ihrer Einförmigkeit womöglich erdrückend erscheinen würde – wenn sie denn an sie dächten. Was sie aber niemals taten.
Jannis’ Leben ist voller solcher “entscheidenden” Augenblicke, doch kann auch der Leser oft nicht erkennen, was eine “Nichtigkeit” ist, eine Abschweifung des Autors, der zu viele Geschichten für wichtig hält, zu wenig weglassen kann. Ich habe öfter überlegt, das Buch wegzulegen, weil mir die Hauptperson fremd blieb, unter zu vielen Episoden verborgen, weil ich sie nur für eine Personifizierung hielt. Und das liegt nicht nur daran, dass der Roman ein “postmodernes Spiel” ist (Sandra Kegel, FAZ), sondern daran, dass sich der Autor nicht entscheiden kann zwischen Sprachverliebtheit mit“phantastischen Mückenschwärmen“ von Ideen,überfüllten Zettelkästen, auktorialen Einschüben und – über weite Strecken – auch konventionellem Erzählen – mit einer kunstvollen Metaphorik.
2009 415 Seiten (TaBu)
Dennis Scheck im Gespräch mit Aris Fioretos in “Druckfrisch”
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