Niña Weijers: Die Konsequenzen
Minnie Panis wird als „Star in der niederländischen Kunstszene“ vorgestellt. Gerade hatte sie mit einer Fotoserie in der Vogue Aufsehen erregt, in der sie sich schlafen ablichten ließ und wo ein „blauseidenes Lanvin-Hemdchen eine zentrale Rolle“ spielte. In „Minnie sleeping“ zeigt sie sich „als vollkommen eigenwillige Antikünstlerin, die sich über die ganze Idee von Subversivität erhebt und genau dort, im Herzen des Kommerzes, einen ‚dritten Raum’ des Widerstands findet“. Zuvor verfolgte sie ein „Projekt“, das „exakt 2095 Fotos von ihrem eigenen Abfall“ ergeben sollte. Ende 2007 hatte Minnie, „mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen, beschlossen, alles, was sie besaß, zu verkaufen. Es hatte mit ihrer gefakten Versace-Couch begonnen; ein grässliches Ding – blauer Satin mit aufgedruckten französischen Lilien – von unglaublichen Ausmaßen, das sie einmal in einer Anwandlung bei eBay gekauft hatte. Sie war vernarrt darin gewesen, in seine protzige Dekadenz, die ausgesprochene Hässlichkeit, die zum Geschmack einer bestimmten, rasch reich gewordenen Klasse gehörte, für die dieser neu erlangte Reichtum gleichbedeutend mit allem war, was groß, glänzend und weich war – und schnell natürlich, soweit es Fahrzeuge betraf. Die Couch war, alles in allem, ein durch und durch ironisches Objekt. Alle hatten angesichts des Teils grinsen müssen; man begriff, wie die Hässlichkeit vom Kontext aufgehoben wurde, so dass jetzt sogar Schönheit von ihm ausging, auch wenn es die unprätentiöse Schönheit eines plumpen alten Hundes war”. “Nothing personal” war unerwartet erfolgreich. Pressestimme: “In erster Linie ist es ein extrem intimes und raues Selbstporträt einer Frau auf der Suche nach den äußersten Konsequenzen ihres Liebeskummers. Am Tag nach dem Verschwinden ihres Liebsten fragt sie sich, ob es gelingen könnte, ihr ‘ganzes Leben zum Verkauf anzubieten’, um ‘in der gespiegelten Leere gleichzeitig den ganzen Mistkrempel aufzulösen’. (…) Anhand ihres Besitzes rekonstruiert und dekonstruiert Panis ihr Leben.”
Und jetzt, 2012, schließt sie vor Notar Specht einen Vertrag mit einem befreundeten Fotografen: “Ab einem von [dem Fotografen] genauer zu bestimmenden Datum im Februar wird er der Unterzeichneten, Minnie Panis, an einundzwanzig aufeinanderfolgenden Tagen mit seiner Kamera folgen. Er wird mit der größtmöglichen Diskretion vorgehen und unter keinen Umständen in gleich welche Situation eingreifen. Keine der beiden Parteien wird während des Zeitraums zwischen dem 1. Februar und dem 21. März 2012 Kontakt zur anderen aufnehmen. Die Unterzeichnete wird in diesem Zeitraum Amsterdam nicht verlassen. Das einzige ihr gestattete Transportmittel ist ein Fahrrad.” “Das laut Klappentext “vielleicht riskanteste Experiment ihrer Karriere”.
Das alles ist nicht originell, aber es greift doch den Diskurs über die rasend verzweifelten Zwickmühlen von kommerzialisierter Kunst auf. Niña Weijers schreibt sich durch Namen und Aktionen, von Marina Abramović über Andy Warhol bis zu einer Barfrau, die “Dissertationen in Plastikmappen [hatte] rahmen lassen und sie als Readymades an die Wände einer Galerie im East Village gehängt. »Science 1-15«, hatte sie die Serie genannt”.
Am 15. Januar erhält sie einen rätselhaften Brief von Dr. J. Johnstone, Direktor einer Institution namens C B T H. Der Brief sollte Minnie Panis’ Leben verändern – und er verändert vor allem den Roman. Dr. Johnstone war der Arzt, der dem Frühchen Minnie ins Leben half, sie mit eigenartigen Methoden aus ihren seltsamen Absenzen lockte, und er tritt wieder in ihr Leben, als Minnie Panis “zum dritten Mal aus ihrem eigenen Leben verschwand. Es war der 11. Februar 2012, der Tag war klar und kalt, aber nicht kalt genug.” Minnie bricht beim Eislaufen ein und wird gerade noch gerettet. Es geschah im Zusammenhang mit ihrem Kunstprojekt, doch die Kunst spielt im weiteren Verlauf des Romans kaum noch eine Rolle.
In Rückblenden erzählt Niña Weijers vom Verschwinden des kleinen Mädchens, von ihrer fremden Familie, von den Therapien des esoterisch angehauchten Doktors. „Menschen, die ihr gesamtes Leben hinter sich lassen, spurlos verschwinden, ganz neu beginnen. Die Möglichkeit hat ihren Reiz: ein Leben auf rewind, alles in umgekehrter Reihenfolge, so dass es sich selbst löscht, bis man wieder ein sauberes Baby ist oder sogar noch weniger als das, ein Embryo ohne Oberhaut, ohne Fett, ohne Skelett, ohne Hirnwindungen. Ein Wesen, das sich noch für nichts entschieden hat, noch nichts unterlassen hat, noch nicht von purem Pech und ebenso irrsinnigen Momenten des Glücks überfallen worden ist. Von dort aus neu beginnen. Ohne Eltern, die einen falsch erziehen, ohne kindliche Ängste, ohne Navigationsfehler. Selbst einen Namen aussuchen, nicht langsam zu dem werden, der man ist, sondern es schon sein, ein Bausatz ohne fehlende Teile, falsche Berechnungen oder Konstruktionsfehler. Keine Willkür. Keine Verpflichtungen. Niemand sein, nirgends sein. Das Einzige, was der Fisch zu tun braucht, ist sich im Wasser zu verlieren.”
Mir gelingt es nur in Ansätzen, Minnie Panis’ Künstler-Sein mit den Verwerfungen ihres Lebens in Verbindung zu bringen, die Spuren ihrer Selbstentfremdung sind zu subjektiv, verzwirlen sich mit Esoterik und Maya-Kalender-Zyklen. Selbst der Titel, „Die Konsequenzen“, ist vieldeutig und erschließt sich nicht auf Anhieb. Für die These des Buches, die Künstlerin gehe für ihre Kunst an die Grenzen, bleiben die Belege aus, die Werke wirken wie Abziehbilder aus einer Anthologie der Gegenwartskunst, Minnie Panis’ Projekte sind nicht eigenständig und schon gar keine lebensverschlingenden Grenzfälle. Die Gedanken darüber, wo die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind und ob Leben und Kunst verschmelzen können, verlieren sich im überhobenen Anspruch von Niña Weijers. Beide Teile des Romans sind in ihrer Subjektivität interessant, sie finden nicht zusammen.
2014 360 Seiten
Das Original-Cover zeigt die junge Frau in ihrer Nackheit. Weshalb greift man das in Deutschland nicht auf?
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Joost Zwagerman: Duell
„Kennst du das Zitat des rumänischen Philosophen über Bach? Ach, wie war noch sein Name? O ja, Cioran, genau! Nun, was ich sagen wollte, ist, daß Cioran einmal folgende Behauptung aufgestellt hat: >Gott hat Johann Sebastian Bach viel zu verdanken.< Phantastisch, oder? Es ist mehr als nur eine bloße Umkehrung, finde ich. Dieser Satz berührt den Kern alles Schönen, Wahren und Guten. Über Rothko können wir dasselbe sagen: >Gott hat Mark Rothko viel zu verdanken.< Zu einem anderen Schluß kann man nicht kommen, wenn sich einem Untitled No. 18 offenbart … Und wenn schon Gott Rothko viel zu verdanken hat, wieviel haben wir dann diesem wunderbaren Mann zu verdanken? Der Gedanke, das Bewußtsein, daß die Betrachtung eines Rothkos uns einen kurzen Blick auf eine Schönheit schenkt, die sogar Gott sprachlos macht, das müssen wir in unserer Ausstellung im MoMA zeigen, mit Untitled No. 18 als pochendes Herz unserer Schau, don’t you think so, Jelmer?«
Das sind die letzten Sätze des „echten“ Epilogs der Novelle. Jelmer Verhooff ist – noch – Direktor des Hollands Museum, des “wichtigsten Museums für moderne Kunst in den Niederlanden”, das vorübergehend geschlossen werden soll. “Für die sechs Monate, die das Hollands noch geöffnet sein würde, organisierte Verhooff im Eiltempo eine letzte Ausstellung, die zunächst Reactions heißen sollte. Zwanzig junge niederländische Künstler, die nicht älter als Dreißig sein durften, sollten in einen »Dialog« mit einem klassisch-modernen Meisterwerk aus der Sammlung des Museums treten.” Zu den Ausgewählten gehört auch Emma Duiker, die “Gemälde zeitgenössischer Meister bis ins kleinste Detail kopierte, immer mit Zustimmung der betreffenden Künstler, die ihr manchmal sogar mit Informationen zu praktischen Dingen wie Farbsorten, Farbschichten, Impasto, Pigmenten, Bespannung halfen. Mitunter arbeitete Emma Duiker überdies mit Röntgen- und Mikroskopieuntersuchungen, die Restauratoren durchgeführt hatten. Sie hatte sogenannte Doubles von Arbeiten von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Jörg Immendorff, Cy Twombly und anderen weltberühmten Malern gemacht.” Sie “selbst empfand sich mehr als eine reproduzierende Künstlerin. Das sagte sie zumindest zu Verhooff, als er sie einmal besuchte. Der ‘Komponist’ Rothko könne auf unterschiedliche Weise gespielt werden, und sie versuche aus ihrer Darstellung von Untitled No.18 mehr als eine normale »Aufführung« zu machen; sie unternehme den Versuch, die Seele des Machers offenzulegen.” “Gerade durch diese Aufführung”, so ein Kritiker, “gelinge es Emma Duiker, einen Hauch der Sublimität eines der anmutigsten, fragilsten Werke Rothkos sichtbar zu machen. Und diese Leistung sei für sich ebenso sublim.”
Es begibt sich nun, dass Emma Duiker, das Werk, das sie “aufführt”, den echten Mark Rothko, entführt und an verschiedenen Orten in Europa hängen lässt, in Bibliotheken. Altenheimen, Klassenzimmern. Sie versteht das als “Kunstaktion” wider den elitären Kunstbetrieb, Untitled No. 18 soll allen gehören, seine Wirkung zeigen, sie will die „totale Demokratisierung“ der Kunst.. Emma Duiker ist Idealistin. Jelmer Verhooff ist entsetzt, das Werk ist 30 Millionen wert, er macht sich für den Diebstahl verantwortlich und entdeckt das Bild schließlich in einer Schule in Slowenien. Mit seinem schrulligen Restaurator reist er dorthin, bei der umständlichen, im Kleinkriminellen verborgenen Rettungsaktion wird das Bild aber zerstört, der Museumsdirektor selbst hat es mit der Faust durchschlagen.
Die Auseinandersetzung mit dem “Wert” von Gemälden und der Frage, inwiefern diese “echt” sein können, ist der eine Schwerpunkt von Zwagermans Novelle, eine “grandiose Meditation über Handwerk, Originalität und Genie“ (Denis Scheck). Deutlich mehr Raum nimmt die detektivische Aktion der Wiederbeschaffung ein, am Rande der Legalität, verborgen vor Medien und Kunstöffentlichkeit. Das ist stellenweise spannend, oft skurril, immer ironisch, das Hauptthema erschöpft sich aber doch recht schnell. Ich lese das Buch gern, Scheck verhebt sich aber wieder mal in seinen euphoristischen Empfehlungen.
2010 150 Seiten
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Leon de Winter: Ein gutes Herz
Theo van Gogh ist von dem Marokkaner Mohammed Bouyeri ermordet worden. „Nach seiner Ermordung wurde Theo von etwas davongetragen, was sich als »der Wind« bezeichnen ließ, und er kam hier an. Es war eine Reise durch die Dimensionen, durch alle Universen. Er war in diesem Orkan aus Luft und Licht und Destruktion und Konstruktion außer Bewusstsein. Nichts war er, und doch erlebte er Geburt und Tod und Verfall und Wiederauferstehung.
Nach einer Reise, die keine Zeit kannte, gelangte er in eine Umgebung, die er am ehesten als Kaserne beschreiben konnte.
Grau wie Amsterdam an einem Novembertag.” Das Totenreich, eine Art Vorhölle, “er hatte keinen Körper mehr. Er hatte nur noch seinen entwurzelten Kopf. Dank dieses Scheißmarokkaners”. Im Totenreich bekommt man einen “Berater” zugewiesen, denn es ist noch nicht zu Ende, sein “jetziger Berater hieß Jimmy Davis. Er war hartnäckiger als die ganze Batterie von Vorgängern, die Theo schon verschlissen hatte. Jimmy Davis. Ein attraktiver Schwarzer”. Jimmy teilt ihm mit, dass es “Möglichkeiten der Heilung” gebe.
“Wenn du Wert darauf legst, wieder eins zu werden mit deinem hässlichen Körper, wenn du dich wieder als geheilt erfahren möchtest, musst du dich dafür ins Zeug legen.”
»Ihr behandelt mich, als wäre ich ein Verbrecher.«
»Du warst unmoralisch.«
»Amoralisch. Das ist was anderes«, korrigierte ihn Theo. »Unmoralisch, finden wir«, beharrte Jimmy. »Du hast das eine und andere zu berichtigen. Unten. Also gestatten wir dir zu kommunizieren.«
»Kommunizieren?«
»Du darfst Kontakt herstellen.«
»Kontakt herstellen? Zu … zu unten?«, stammelte Theo. Jimmy nickte.
»Und unten wissen sie das?«
Jimmy schüttelte den Kopf: »Nein. Es wird eine Kommunikation geben. Aber keine direkte. Du sollst unten etwas Gutes tun.«
Theo wird zum SE, zum Schutzengel, und er darf sich eine “Kontaktperson” aussuchen: Ayaan Hirsi Ali, Leon de Winter (“ein Scharlatan”) oder Mohammed Bouyeri, seinen Mörder. Er lehnt alle drei ab und Jimmy weist ihm daraufhin Max Kohn zu, einen ehemaligen Drogenboss. Jude.
Jetzt wird’s ein bisschen schwierig. Max Kohn erhält ein neues Herz, der Spender ist Jimmy Davis. Er will sich bei Jimmys Familie erkenntlich zeigen, doch gerade ist Jimmys Schwester gestorben, Max verspricht, sich um die Kinder zu kümmern. Max fliegt in die Niederlande, um seiner ehemaligen Geliebten Sonja zu zeigen, dass das Herz des Franziskaner-Paters einen besseren Menschen aus ihm gemacht hat. Es stellt sich heraus, dass Sonja eine Zeitlang auch die Geliebte von Jimmy Davis war, jetzt lebt sie in Amsterdam mit Leon de Winter zusammen, einem “etwas stressige(n) Mann, der sich mit Phantomen herumschlug und zu allem eine Meinung hatte. Letzteres war ganz bequem, denn es entband sie davon, sich eine eigene Meinung zu bilden, sei es nun über die Palästinenser oder den US-Präsidenten, über Putin oder Angela Merkel. Leon war das komplette Gegenbild zu Max”. Sonja hat einen Sohn, Nathan, von wem, wird zunächst nicht verraten.
Jetzt sind die wichtigen Spielfiguren zusammen, die Leon de Winter, der Schriftsteller, braucht, um sein Thema in den Griff zu kriegen: Marokkanische Muslime, schwarze Katholiken, jüdische “Kaufleute” und Literaten, Tote wie Theo van Gogh und Lebendige. Der Roman dockt auf der Erde an, in Amsterdam. Max Kohn ist gerade angekommen, als Terroristen die “Stopera” in die Luft jagen, anschließend ein Flugzeug mit Geiseln kapern und die Freilassung von Mohammed Bouyeri verlangen und kurz darauf auch noch eine Schule besetzen und auch dort Geiseln nehmen. Das ist der Inhalt des Romans: Verbohrte junge Moslems – „Bartaffen“ (Theo van Gogh) – versetzen eine Stadt in Aufruhr.
Es gab 2009 einen Anschlagsversuch auf Königin Beatrix, bei dem 6 Menschen ums Leben kamen. Das Attentat muslimischer Terroristen hat Vorbilder in London 2005 und Madrid 2004, die Anschläge in Amsterdam sind fiktiv, Leon de Winter berichtet mitreißend von den Ereignissen. Dadurch, dass de Winter Fiktion mit realen Geschehnissen und Personen mischt, wirkt die Szenerie authentisch. Bürgermeister Job Cohen gibt es, ebenso den Autor de Winter, Max Kohn ist Erfindung, im Roman ist er ein Halbbruder von Job Cohen, Theo van Gogh sendet als SE einen Lichtblitz und hilft so, die Geiselnahme zu beenden. Man merkt dem Roman die Mühe der Verknüpfungen an und die Wut des Autors. De Winter kriegt gar nicht genug, die Schrecken des Anschlags auf die Stopera zu schildern, immer wieder beschreibt er die Zerstörung der Fassade und die Verwüstungen in der darunterliegenden Parkgarage. Man könnte auf den Gedanken kommen, de Winter evoziert das Attentat, wünscht es sich, um dem Terror der Muslime ein Bild zu geben, ihn auch für Amsterdam zu beanspruchen. Andererseits werden die Attentäter nicht als „Bartaffen“ vorgeführt, es sind 11 marokkanische Jungs, die sich als begabte Fußballspieler fit halten, von abstrusen Ideen aus „Asianstan“ getrieben und von den Jungfrauen im Jenseits erwartet. Jedenfalls, so die Tendenz, sind „Islamisten“ keinem Argument zugänglich und deshalb nur zu verdammen. Auch der holländische „Rechtspopulist“ Geert Wilders tritt im Roman auf; er bietet sich aus partei- und wahltaktischen Gründen an, sich für die Geiseln in der Schule eintauschen zu lassen. Alle halten Wilders’ Position für diskussionswürdig, es wird nur die radikale Verbalität moniert. Widerspruch gegen den islamophoben Populismus Wilders’ kommt nur von der eigenwilligen Außenseiterin Sonja.
Sie blieb neben dem Sofa stehen. Wilders blieb ebenfalls stehen und wartete ab.
Sie sagte mit unverhohlener Geringschätzung: »Der Wahnsinn, der hier ausgebrochen ist, hat zum Teil auch mit Ihnen zu tun.«
Wilders wollte sie unterbrechen, aber sie machte eine entschiedene Gebärde, dass er warten und den Mund halten solle.
»Es ist nicht Ihre alleinige Schuld, aber Sie haben erheblich zu dem Ganzen beigetragen. Ich kenne mich mit dem Islam nicht aus. I don’t care. Aber man kann die Leute nicht ungestraft Jahr für Jahr in ihrer tiefsten Überzeugung beleidigen. Das hätten Sie anders anstellen müssen. Klüger. Charmanter. Überzeugender. Aber Sie sind ein gnadenloser Rhetoriker. Und damit sind Sie nicht nur für sich selbst, sondern für uns alle Risiken eingegangen. Im Grunde für die gesamte Gesellschaft. Sie haben Extremisten provoziert. Die werden nicht weniger extremistisch, wenn man Reden über sie hält, wie Sie es tun. Und jetzt ist mein Sohn, mein Sohn, nicht der Ihre, denn Sie haben keinen, in dieser Schule gefangen. Eine Gruppe junger Glaubensfanatiker, von ihnen, Herr Wilders, frustriert, bis aufs Blut gereizt und zur Weißglut getrieben, hält Waffen auf ihn gerichtet, auf meinen Sohn! Und ich verspreche Ihnen, hören Sie gut zu, was ich sage, und ich weiß, dass auch die Polizei gut zuhört…« – sie schaute sich kurz zu den beiden Männern vom DKDB um, die keine Regung zeigten und ihrem Blick auswichen-, »und das ist mir ehrlich gesagt scheißegal, ich verspreche Ihnen, Herr Wilders, dass ich Sie, wenn Sie nicht tun, was Sie gerade gesagt haben, wenn Sie sich nicht im Austausch für die Kinder zur Verfügung stellen, die ein paar hundert Meter von hier als Geiseln gehalten werden, dass ich Sie, wenn Sie das nicht tun und die Sache außer Kontrolle gerät, höchstpersönlich töten werde. Und ich könnte mir vorstellen, dass ich ein paar hundert Väter und Mütter auf meiner Seite hätte. Wir lynchen Sie, haben Sie gehört? Ich bin keine Islamistin, Herr Wilders. Ich habe sogar ein gewisses Verständnis für Ihre Standpunkte, wenn man einmal von Ihrer Hysterie absieht. Aber dass die Ihre Auslieferung gefordert haben, kommt nicht von ungefähr. Sie haben nicht nur mit Ihrem eigenen Schicksal gespielt, sondern auch mit dem unsrigen. Und die Folge davon ist der Irrsinn von gestern und heute. Mein Kind wird jetzt gefangen gehalten, und wissen Sie was? Dafür mache ich diese Verbrecher verantwortlich! Und wissen Sie was? Dafür mache ich auch Sie verantwortlich! Wann melden Sie sich in der Schule?«
Sie keuchte vor Wut und Erregung. Wilders sah sie fest an.
Leon de Winter weicht dem aktuellen Thema nicht aus. Er bietet ihm in seinem überkonstruierten Roman ein Podium. Dabei setzt er sich auch literarisch dem Verdacht aus, islamophobischen Gedanken nahezustehen und sie dadurch zu befördern, dass er sich selbst in den Roman schreibt und sich dabei nicht verbiegt, dass er zu seiner Einseitigkeit steht, aber gerade dadurch glaubwürdiger wirkt. Ein durchaus faszinierender Versuch, Politik in Literatur zu verwandeln. Spannend, komisch, ironisch, vielleicht aber auch ekelhaft, politerarische Pornographie.
Viele Kritiken greifen etwas kurz, wenn sie den Zwist zwischen (dem echten) de Winter und (dem echten) Theo van Gogh in den Mittelpunkt stellen und Leon de Winter attestieren, er habe den Roman zu „keine(r) bittere(n) Abrechnung“ genutzt. „Der Grat zwischen zynischer Ironie und erbittertem Ernst fällt bei dem niederländischen Schriftsteller Leon de Winter meist schmal aus. In seinem jüngsten Roman „Ein gutes Herz“ ist das nicht anders.“ (Piotr Dobrowolski, Wiener Zeitung) „Gegen den Islamismus, im Grunde freilich gegen die in seinen Augen sich in Parallelgesellschaften verpuppenden muslimischen Migranten-Communities schreibt de Winter mit einer Verve an, die mitunter den schmalen Grat, der den Warnruf von der rassistischen Hetze trennt, überschreitet.“ (Robert Misik, taz)
Leon de Winter lässt sich in Deutschland im Umfeld der WELT vernehmen, wo er ein Blog betreibt/betrieb und sucht auch den Kontakt mit bekennenden Islamophoben wie Henryk M. Broder.
2013 500 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
Kurzartikel zu Leon de Winter auf wikipedia, auch zu de Winters “Meinungen zu Islam und Islamismus“
Robert Misik: Leon de Winter ist “Einer, der lieber übertreibt“
Leon de Winter im Gespräch mit der FAZ
Gespräche und Lesungen: Leon de Winter – Ein gutes Herz
(youtube)
Der Tag, an dem Theo van Gogh ermordet wurde
– Fernsehfilm – in 6 Teilen auf youtube
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Gerbrand Bakker: Juni
Wie lang so ein Sommertag doch sein kann.
Im Jahr 1969 war Königin Juliana zu Besuch im kleinen Ort in Nord-Holland, der Heimat auch Gerbrand Bakkers (geb. 1962). Bakker erzählt den Besuch der Königin aus deren Sicht, eine Pflichtreise, die aber im Dorf Spuren hinterlassen hat. Die Kinder von Zeeger und Anna Kaan kommen beim Königinnenbesuch zu kurz, Jan und Johan werden von anderen Kindern weggeschoben, Klaas ist beim Schwimmen, die zweijährige Hanne wird am gleichen Tag von einem Auto überfahren. Die ganze Familie tut sich schwer mit der Aufarbeitung dieses Schicksalsschlags. Die Königin ist dafür nicht verantwortlich – zu machen, vielleicht hat man selbst zu wenig aufgepasst, war zu abgelenkt. Man hat nicht die Worte, um über die Schwierigkeiten des Lebens zu reden, so schweigt man, redet aneinander vorbei, tabuisiert das, was man nicht verstehen kann, das, was geschehen ist, lässt sich aber so nicht aus der Welt schaffen.
Bakker erzählt hauptsächlich von einem Sommertag im “Juni”. Jan ist heimgekommen, um den Grabstein Hannes aufzufrischen, Johan kommt dazu, er ist seit Jugendtagen behindert, Großvater Zeeger schleicht ums Haus, fällt unmotiviert drei Kastanienbäume, Gr0ßmutter anna hat sich mit einer Flasche Eierlikör auf das Stroh im Dachboden zurückgezogen und weigert sich herunterzukommen. Klaas’ fünfjährige Tochter Dieke versteht noch zu wenig, sie kann Fragen stellen, weiß aber nicht, welche die richtigen wären. Es ist heiß.
Mehr wird von ihm nicht erwartet, zusammengefaltet oder gebügelt hat er die Wäsche noch nie. Does ist ihm wie ein Schatten gefolgt und streckt sich seufzend unterm Küchentisch aus. Zeeger schaut auf die Uhr. Halb eins. Wie lang so ein Sommertag doch sein kann. Klaas ist wieder da, sein Wagen, die schmutzige Klapperkiste, steht neben der Scheune. Wahrscheinlich ist sein Ältester auf dem Friedhof gewesen. Er stellt sich vor die verglaste Schiebewand und starrt in den Garten, in dem es mit den Jahren immer voller geworden ist. So viele Pflanzen blühen jetzt, und es gibt keine Staude, die nicht gut zu ihren Nachbarn passen würde. Trotzdem ist der Garten an einem Tag wie heute kein besonders fröhlicher Anblick. Er würde gern den Sprinkler anstellen, tut es aber nicht, er möchte keinen verbrannten Rasen. Die großen Blätter der Osterluzei sind matt und staubig. Jetzt schon, und es ist noch nicht einmal Juli. Er geht zum anderen Ende des Zimmers und schaut in den Vorgarten. Anna hat recht, sogar im Frühsommer ist es hier dunkel. Schon morgens kommt keine Sonne mehr durch. Aus irgendeinem Grund fällt es ihm schwer, etwas umzuhauen, was er selbst gepflanzt hat. Nicht nur Anna klagt, auch Klaas spricht davon, aber auf Klaas hört er nun ganz bestimmt nicht. Der sollte sich lieber um den Garten drüben kümmern, alles läßt er verkommen, es ist ihm schon zuviel, im Frühjahr mal ein Veilchen oder eine Tagetes in den Wassertrog neben der Hintertür zu pflanzen.
Was wichtig ist, deutet Bakker nur an, aber man weiß es früh genug: Dass mit Hannes Tod Unordnung in die Familie gekommen ist, dass Jan schwul ist. Bakker lässt den Leser den Junitag miterleben, das Lesen dauert fast noch länger als das Geschehen, eigentlich geschieht fast nichts. “Wie lang so ein Sommertag doch sein kann.” Es ist beschwerlich, sich auf die bedrückende Stimmung zu konzentieren, auf die Sprachlosigkeiten; Spannung stellt sich nicht ein, weil alles ja schon verraten ist. Ich sehe in der Rede der Personen keine “Lakonie” – wie viele Rezensenten -, denn die Personen würden ja anders reden, wenn sie könnten. Auch einen “Sog” in den Roman kann ich nicht verspüren, dafür hat Gerbrand Bakker letztlich doch zu wenig zu erzählen. Der Roman wirkt – wie auch die anderen Romane Bakkers, dort lohnt sich aber der Aufwand – konstruiert. Das ist nichts Schlechtes, doch bleibt der Tag im “Juni” doch zu sehr Stimmungsbild. Natürlich leben in Nord-Holland auch Tiere.
Zeeger schaut zu den Küchenfenstern des Bauernhofs hinüber. Klaas‘ Frau steht an einem Fenster, ein Geschirrtuch in der Hand. Hat er sie heute nicht schon einmal so gesehen? Die alte Warzenente kommt aus den Seitentüren der Scheune. Als der Erpel den Hof halb überquert hat, fliegt er auf. Das erstaunt Zeeger, er hätte nicht gedacht, daß der noch fliegen kann. Der Vogel landet unbeholfen im Graben, nah bei Does. Der Hund blickt endlich auf und bellt. »Eh!« ruft Johan. »Ihr verja-agt die Fische!« Jan zieht seine Angel ein. Er pult den Wurm vom Haken und wickelt die Schnur auf eine Spule.
»Du hast genug?« fragt Zeeger.
»Ich will nach Hause.«
»Nach Hause?« fragt Klaas. »Da hast du doch …« »Halt die Klappe.«
Does bellt noch einmal. Die Warzenente schwimmt im Kreis und faucht. Das hat nichts zu bedeuten. Zeeger hat einmal erlebt, wie Does lang ausgestreckt auf dem Hof lag und der Erpel ihn anbalzte. Wahrscheinlich hält Does die Ente für einen Hund und die Ente Does für eine Ente. Dirk stößt wieder mit dem Kopf gegen die Stäbe der Stierbox. »Ich will nach Hause«, sagt sein Zweitältester noch einmal. Er wirft Klaas einen kurzen Blick zu und reibt sich über die Stirn, über die Schwellung, deren Entstehen Zeeger früh am Morgen beobachtet hat. Jan läuft immer noch in kurzer Hose und T-Shirt herum.
»Jetzt hab ich a-auch keine Lust mehr«, verkündet Johan. »Dann hab ich gewonnen!« ruft Dieke.
Jan geht in die Stallscheune und kommt nach einiger Zeit mit dem grünen Eimer wieder heraus. Er war länger in der Scheune als nötig. Auf dem Rückweg kramt er im Eimer und nimmt etwas heraus. Einen Umschlag?
2010 300 Seiten
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Maarten ‘t Hart: Unterm Scheffel
Alexander Goudveyl ist Komponist und Pianist und 45 Jahre alt. Er und seine Frau haben sich nicht nur nichts zu sagen, Joanna ist die meiste Zeit auf Konzertreisen als Sängerin und er froh darüber. Die Tierärztin Sylvia nähert sich Alexander an, seltsam, denn Sylvia hat gar nichts mit klassischer Musik am Hut. Sie besucht lieber Konzerte von Popbands wie den Red Hot Chili Peppers, die Goudveyl für eine furchteinflößende Gemüsetruppe hält. Goudveyl und Sylvia haben sich erst recht nichts zu sagen, aber Sylvia ist sehr schön und 15 Jahre jünger. Goudveyl kann nicht verstehen, dass Sylvia ausgerechnet ihn ausgesucht hat, denn er stellt seine Vorzüge immer „unter den Scheffel“, hält sich weder als Mann noch als Künstler für kompetent.
Und so kommt es, wie es kommen soll: Goudveyl steht bald unter Sylvias Scheffel, er kann an nichts anderes mehr denken. Die Treffen sind zunächst häufig, werden aber bald seltener. Sylvia scheint ihn fallenzulassen, hält ihn aber hin. Goudveyl ist abhängig, zum Kasperl geworden.
Wenn ich durchs Haus ging, wollte ich in den Garten. Irrte ich durch den Garten, dann fiel mir ein: Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen, ich sollte mich eine Weile aufs Bett legen. Wenn ich es mir auf dem Bett bequem gemacht hatte, überlegte ich: Gestern habe ich sämtliche Buchenscheite verheizt, ich sollte vielleicht ein wenig Holz spalten. Wenn ich das Beil zweimal gehoben und wieder hatte herabsausen lassen, dachte ich: Warum bin ich nur so unruhig? Es ist wohl besser, ich spiele erst mal ein bisschen Bach. Am Klavier rief ich mich selbst zur Ordnung: »Ruhe, ruhe, meine Seele«, murmelte ich. Dabei schaute ich zum Telefon hinüber und dachte: Idiot, wenn du ihr wenigstens deine Geheimnummer gegeben hättest, dann könnte sie dich anrufen. Aber war das so schlimm? Schließlich konnte ja ich sie anrufen. Laut sagte ich über das Klavier hinweg: »Nein! Wir haben vereinbart, dass ich sie erst in drei Wochen anrufe.« Wütend stand ich auf. Erneut ging ich in den Garten, um Holz zu spalten, und während ich das Beil durch die Luft schwang, versuchte ich, mir ihr Gesicht vorzustellen. Das gelang mir nicht. Viel weiter als bis zu den goldenen Ohrringen und den Locken kam ich nicht. Ihr Gesicht entglitt mir jedes Mal.
Ich muss sie Wiedersehen, dachte ich, nur ganz kurz. Dann präge ich mir ihr Gesicht möglichst genau ein. Dann weiß ich für immer, wie sie aussieht. Dann kann ich sie mir jederzeit vorstellen.
Das Besondere an ’t Harts Roman – an ’t Harts Romanen – ist die Verbindung mit der Musik. Goudveyl hat für jede Situation die passende Symphonie im Ohr, das passende Zitat aus einer Kantate, er kennt die Werke und die Literatur von vorn bis hinten. Nur kann er darüber mit Sylvia nicht reden. Es gibt aber seine Duett-Partnerin Hester, die ihm als Gesprächstherapeutin unterstützt bzw. ihn berät. Unklar bleibt, wieso die oberflächliche Sylvia ausgerechnet Goudveyl auserwählt hat. Das ist eine Setzung ’t Harts, das unerhörte Ereignis und die Geschichte ist damit eher Novelle als Roman. Goudveyls, des Mannes, Schicksal ist tragikomisch, wie es die Schicksale von Männern in solchen Situationen eben sind. Dadurch, dass ’t Hart die Katastrophe zu lange verzögert, gewinnt die Lächerlichkeit aber die Oberhand und die Erzählung verliert ihren Ernst und ihre Glaubwürdigkeit. Vielleicht ist das aber auch so gedacht. „Die Liebe muss Goudveyl gar nicht mehr entgleiten, weil ihm schon eine ganze Welt entglitten ist. „Unterm Scheffel“ ist eine Liebeserklärung an all jene, die noch nie ganz sicher in der Wirklichkeit standen oder deren Möglichkeitssinn schon immer fatal viel stärker war. Kurz an alle, die Musik und Literatur gewollt oder ungewollt dem Leben vorziehen.“ (Michael Stallknecht, SZ)
Goudveyl kommt immer zu früh, Sylvia ist zeitlich eher unzuverlässig, es laufen viele Jogger vorbei, wenn die beiden spazieren gehen, auch die Tiere sind wichtig. Stilistisch ist der Text wenig ergiebig, die Sätze sind kurz, sie spiegeln ja Goudveyls Gefühlsschwurbel. Man darf die Ironie dabei nicht überlesen, sonst liest man auch Kitsch.
Da saß sie also, Sylvia, sie war ganz nah, sie war so schön, ich hatte nie einen schöneren Menschen gesehen, und auch wenn ich sie längst verloren hatte, so hatte ich sie doch in meinen Armen halten dürfen, und für einen kurzen Moment hatte sie mich sogar geliebt, und ansonsten strömte der Fluss immer weiter, und alles, was geschah, hatte nichts zu bedeuten, in einhundert Jahren waren garantiert alle, die jetzt lebten, tot, und irgendwann würde selbst Mozart vergessen sein. Was spielte es also für eine Rolle, dass jede Zelle meines Körpers vor Schmerz schrie, was spielte es schon für eine Rolle, dass ich wahrscheinlich endgültig ein gebrochener Mann war, was spielte es für eine Rolle, dass ich mich von Hester entfremdet hatte, was spielte es für eine Rolle, dass ich nie das erreichen würde, wovon ich als Kind geträumt hatte?
Auf dem Fluss zog ein eifriger Schlepper zwei riesige Leichter. Das kleine Schiff, die Mars V, schaukelte hin und her, während die Leichter ruhig dahinglitten. Der Schlepper stieß riesige Rauchwolken aus, die auch rasch verwehten. An Deck rannte ein Hund. Er sah sehr gesund aus, und in Gedanken rief ich ihm zu: Du musst nicht zum Tierarzt, du nicht!
Seltsam, dass der Roman von 1991 erst 2011 in Deutschland erschien. Wurde er vom „Wüten der ganzen Welt“ (1993) überdeckt? Auch hier spielt – ein – Alexander Goedveyl, noch jung, die Hauptrolle.
1991 285 Seiten
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Gerbrand Bakker: Der Umweg
Emilie – vielleicht heißt sie so – mietet sich ein Haus im ländlichen Wales. Sie bringt nicht viel mit, sie braucht nicht viel. Die Gänse, die zum Haus gehören, werden immer weniger. Der Fuchs? Auch andere Tiere leben in der Nachbarschaft: zottelige Kühe, schwarze Schafe, Dachse. Einer davon beißt sie ins Bein.
Von den Menschen hält sie sich fern. Notgedrungen geht sie zum Arzt, zum Bäcker, zum Haareschneiden, andere Annäherungen machen sie misstrauisch, vor allem der Nachbar Rhys Jones, dem die Schafe gehören. Tiere sind problemloser als Menschen, fast menschlich. Emiliy versucht sich ins Haus einzuleben, es gelingt nicht recht. Auch auf den wenigen Erkundungen der Umgebung verliert sie sich. Vielleicht ist sie krank? Weshalb raucht sie so viel? Sie übersetzt Gedichte von Emily Dickinson. Emiliy?
Später, als sie sich angezogen und im Kamin Feuer gemacht hatte, suchte sie im Zimmer nach Spuren. Hatte sich der kleine Bücherstapel auf dem Couchtisch irgendwie verändert, hatte er vielleicht etwas auf die leeren Blätter geschrieben, die neben dem offenen Gedichtband auf dem Tisch lagen? Sie wußte nicht mehr, ob sie selbst zuletzt diese Seiten aufgeschlagen hatte. A COUNTRYBURIAL. Wenn, dachte sie, wenn er genau hier aufgehört hat zu blättern und zu lesen, dann …
Sie setzte sich, starrte aus dem Fenster, wußte nicht, was nach dem »dann« kommen sollte. Das Meer war wieder einmal zu sehen, über den Wipfeln der jetzt kahlen Bäume. Aber weit, sehr weit entfernt. Eine Erinnerung, auch undeutlich und entfernt, ließ sie aufstehen und einen bisher ungeöffneten Bücherkarton durchsuchen. Sie hätte schwören können, daß Habeggers Biographie in ihrem Büro in Amsterdam stand, aber das Buch war im Karton. Noch einmal setzte sie sich an den Schreibtisch, schlug es auf und blätterte es rasch mit dem Daumen durch. Auf Seite 249 – hier blieb der Band wie von selbst offen – war etwas dick rot unterstrichen: since nothing is as real as »thought and passion«, our essential human truth is expressed by our fantasies, not our acts. Es ging um ein Buch, das Dickinson mit einundzwanzig gelesen hatte und das angeblich von entscheidender Bedeutung für ihr Leben gewesen war, wie dieser Hustenanfall eines Großonkels zweiten Grades und allerlei andere Bagatellen. Ein halber Satz in einer viel zu dicken Biographie voller Spekulationen und läppischer Thesen. Dieser Habegger war ein altes Waschweib, trotzdem schrieb sie, bevor sie sein Buch zuklappte, diesen Satz unten auf die beiden Seiten des Gedichtbands, die aufgeschlagen waren, ein wenig ängstlich, mit einem leeren Gefühl im Bauch. Nicht nur diese Leere empfand sie, auch Schmerzen, die heute höher als sonst zu sitzen schienen, im Hals, im Hinterkopf. Sie ging ins Badezimmer und schluckte zwei Paracetamol. Sie mußte dringend zum Arzt, viel länger hielt sie es so nicht mehr aus. Sie fragte sich, ob sie es würde tun können. Bis gestern war sie sich fast sicher gewesen.
Gerbrand Bakker ist ein Meister des langsamen Erzählens und darin der Genügsamkeit seiner Figuren ähnlich. Die Spannung entwickelt sich in den Unsicherheiten der Annäherung: an die Umgebung, ans Haus, an andere Personen, vor allem aber an sich selbst. Es knistert, Bakker braucht dafür nicht viele Worte, große schon gar nicht. Wer diese Emilie ist, erfährt man nicht, lange nicht. Woher sie kommt, weshalb die Holländerin nach Wales kam. Es gibt einige eingestreute Kapitel, in denen sich ihre Eltern und ihr Mann unterhalten. Bakker klärt aber keine Zusammenhänge. Der Mann macht sich, begleitet von einem Polizisten, auf nach Wales. Was wird er dort finden? „Gerbrand Bakker ist ein geradezu diabolisch guter Erzähler. Hinter seiner vermeintlich schmucklosen Mitteilungsprosa verbirgt sich eine Parallelwelt aus verdrängten Obsessionen, Ängsten und Aggressionen.“ (Christoph Schröder, SZ)
Eines Tages, der Roman nennt November und Dezember als Jahreszeit, kommt ein junger Mann, 20 vielleicht, an ihrem Haus vorbei. Er will Wanderwege auskundschaften. Bradwen hat seinen Hund Sam dabei, beide bleiben länger als gedacht, länger, als es gut ist, die Frau, Emily, weist ihn nicht ab. Auch Bradwen gibt nichts über sich preis. Kam er absichtlich zu ihr, wer ist er, was hat er vor? Ist sein Weg auch ein Umweg, wie der Emilys, wie der ihres Mannes, wie der aller Menschen?
Es geschieht nicht viel im „Umweg“. Das ländliche Wales ist kein schnelles Land, nur wer Nuancen registriert, sieht die Auswege oder stellt fest, dass es keine gibt. Auch Navis weisen nicht in die Gewissheit.
2010 230 Seiten
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Auch Gerbrand Bakkers Roman „Oben ist es still“ hat die leisen Helden, die abseits wohnen, die sich nicht aus ihrem Haus und ihrer Haut trauen. Die Angst haben vor der Gewissheit, vor der Liebe, vor dem Menschen. Bakker kann das gut andeuten, es könnte aber auch zur Erzählschablone führen.
Dimitri Verhulst:
Die Beschissenheit der Dinge
Muss mich das interessieren? Muss ich das lesen? Ein Rudel Bumsköpfe, bekotzt, bepisst, bekackt – alles wörtlich!, vom Leben nicht angenommen und wieder an die Mutter retourniert, welche die komatösen Kretins so gut es geht mit rohem Hackfleisch und Dosenölsardinen bekocht und ihre Ausscheidungen dann beseitigt. Voll-jährige Männer!? „Menschliche Fauna“ nennt das der Erzähler selbst, der mit seinem Vater und ein paar Onkeln Teil dieser „Kakerlaken“ ist, und menschlich ist da zunächst nur als Gattungsbegriff gemeint. Das kotzt mich an. Das soll es wohl auch.
Im Klappentext steht, diese Permasäufer hätten einen Stolz und auch die Solidarität sei hier zuhause. Der gemeine Sinn beschränkt sich aber darauf, nach jedem Zusammenbruch sofort wieder mit in die Kneipen zu torkeln. Es gibt schon ein paar lustige Ideen, etwa die, die Tour de France als Tour de Suff zu inszenieren, mit Zeittrinken und Bergwertungen, je steiler der Anstieg desto höher die Prozente und die Promille.
Die Zone der Entscheidung kam näher, die imaginären Berge dräuten am Horizont, die Gipfel der zweiten und dritten Kategorie warteten auf das Spektakel. Die Fahrt nach Mourenx, über die Gipfel des Aubisque und des Tourmalet. Ein leichter Anlauf von drei Pils. Danach ein schwieriger Parcours von sieben Glas Wein. Weiß oder rot, man durfte wählen. Und dann ging’s los. Ein Glas Tequila, ein Meskal, dann eine halbe Flasche Whisky. Bei der Abfahrt vier Glas Wasser und ein halbes Glas Milch, um die Leute zu ärgern, und dann zum zweiten Gipfel: die andere Hälfte der Flasche Whisky. Wenn man ehrlich war, alles in allem eine kurze Etappe. Doch was für eine.
Als die noch verbliebenen zwölf Trinker am Morgen den Caravan betraten, war ihnen klar, dass der Kalender ein historisches Datum anzeigte. Das ganze Grundstück stank gewaltig nach Pisse und dem Chlormittel, mit dem Jowanneke versucht hatte, die Räder des Wohnwagens vom Erbrochenen zu reinigen. Derselbe Geruch hing auch im Wohnwagen, wo das Nikotin schon von der Kunststoffdecke tropfte. Alle Elemente in richtiger Dosis vorhanden, Geschichte zu schreiben.
Der Sumpf soll so dumpf sein, damit der Ich-Erzähler Dimitri(eken) die nötige Steighöhe zum Abheben gewinnt. In den späteren Episoden ist er nämlich älter und gebildet, ja weltklug. Er lebt nicht mehr in Reetverdegem – auf Deutsch etwa „Arschdammichhausen“ (Pieke Biermann) – und reflektiert seine Verwandtschaften fast ethnologisch, ohne jedoch überheblich zu werden. Aus dem Kontrast zwischen Fäkalexistenz als Grundierung und dem Schriftstellerleben entstehen interessante Geschichten wie die über die „Psychiatrische Klinik De Pilgrim“ oder die über den „Sammler“ mit ihrem umwerfenden Schluss, aber auch sprachlich derbe und pointierte Studien über Altsein und Kinder.
Was man nicht erfährt: Wo ist die Bruchstelle, an der es dem Erzähler gelingt, der „Beschissenheit der Dinge“ zu entkommen, die „Vertikalspannung“ (Sloterdijk) in sich zu spüren und einzulösen, nicht ein solcher zu werden, wie sein Vater einer war? – Für mich ist das kaum zu glauben, aber vielleicht steht’s im nächsten Buch von Verhulst.
2006 – 220 Seiten
Danke für den Tipp, Andreas |
Die Verfilmung kommt am 20. Mai in die Kinos.
Video-Beitrag des NDR-Kulturjournals zum Film
Das flämische Original soll voller Anspielungen stecken, die sich nicht übersetzen lassen.
Klappentext: „In den Niederlanden auf Platz 1 der Bestsellerliste.“ Ist das ein Grund, ein Buch zu kaufen? Oder soll man eher die Finger davon lassen, wenn man bedenkt, was in D oben in den Charts steht?