Nachrichten vom Höllenhund


Gundar-Goshen
13. Juni 2018, 18:40
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Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin

gundargoshenluegnerinNuphar ist noch nicht volljährig und um sich etwas Geld zu verdienen, arbeitet sie in den Ferien in einer Eisdiele. Eines Tages beschimpft sie ein Kunde in vulgärer Weise. Sie läuft weg in den Hinterhof, der eingebildete junge Mann hinterher. Er fühlt sich um sein Wechselgeld betrogen und hält sie an den Armen fest. Sie schreit.

Das ist das unerhörte Ereignis und daraus ließe sich trefflich eine Novelle erzählen. Es geschieht zweierlei: Die Schreie des Mädchens werden als Abwehr einer versuchten Vergewaltigung ausgelegt – und die verunsicherte Nuphar (Seerose) wird vom Mauerblümchen zur Blume. Sie erblüht. Das vermeintliche Opfer wird zur Heldin stilisiert, sie wird ins Fernsehen eingeladen, in der Schule endlich als potenzielle Freundin wahrgenommen; sie lernt einen Jungen kennen.

Ayelet Gundar-Goshen interessiert sich weniger für die Mechanismen der Öffentlichkeitsökonomie, die Quotengier der Medien, die Sensationslust der Gesellschaft, als für die Psycholgie der Personen. Die Haptperson Nuphar stand in Famlie und Peer-Group im Schatten ihrer jüngeren Schwester Maya. Erst das öffentliche Interesse wertet sie auf, macht sie wortwörtlich hübscher, anziehender, kompensiert ihre (vermeintliche) Pummeligkeit. Auch die Schwester hat an der Rollenumkehr zu arbeiten. Der junge Lavie (Löwe), der unter der dominanten Männlichkeit und den Erwartungen seines Vaters leidet, hat den Vorfall in der Eisdiele beobachtet. Er versucht Nuphar zunächst zu erpressen, freundet sich aber dann mit ihr an, weil er in dem Mädchen ihm bekannte Unterlegenheitsgefühle entdeckt. Der verkannte Schlagersänger Avischai Milner wird der versuchten Vergewaltigung angeklagt, er sieht angesichts der öffentlichen Vorverurteilung keine Möglichkeit für Rehabilitation. (Ein sehr aktuelles Thema, das aber nur am Rande aufgegriffen wird.) Nuphar könnte ihn durch ihr Geständnis retten, was ihr aber nicht nur den Makel einer „Lügnerin“ einbrächte, sondern die wieder zurück in die „Unsichtbarkeit“ stieße.

In der Maske schaute Nuphar inmitten von Pudern und Tuben in den Spiegel und verlor allen Mut. Sofort senkte sie den Blick. Die Maskenbildnerin, deren Herz so weit wie ihr Becken breit war, wusste gleich Bescheid. Es gab Leute, deren Brust anschwoll, wenn sie sich vor einen Spiegel setzten, auf andere wirkte ein Blick auf ihr Ebenbild wie die Berührung einer Qualle. Diese armen Wesen hatte die Maskenbildnerin besonders ins Herz geschlossen.
»Guck mal, du hast wunderbare Wangenknochen. Und die Lippen!«
Nuphar murmelte etwas von Pickeln.
»Die kleinen hier? Die sieht man doch gar nicht. Komm, die zaubere ich dir weg.«
Nuphar vermied es, noch einmal in den Spiegel zu blicken, und so sah sie nicht, wie die Maskenbildnerin die rötliche Schmach mit zwei Pinselstrichen verschwinden ließ. Dann zog sie aus einer Schublade einen Lippenstift und schminkte Nuphars Lippen korallenfarben. Beim Rouge schwankte sie kurz zwischen Apricot und Apfelrosa, beschloss aber, es bei der natürlichen Frische, die die Haut des jungen Mädchens ausstrahlte, zu belassen.

Ayelet Gundar-Goshen moralisiert nicht, sondern schaut genau in ihre Figuren hinein. Das ist die Stärke des Romans. Gleichzeitig stagniert dadurch die Handlung, kommt nicht zum Punkt, verzettelt sich und wiederholt, was man schon gelesen zu haben meint. Wäre die Novelle nicht doch überzeugender gewesen? Es gibt immer wieder Cliffhanger: mögliche Wendepunkte, Stuationen, die zur Aufklärung genutzt werden könnten. (Wenn dem nicht stärkere Motivationen entgegenstünden.)

Der Roman heißt „Lügnerin“, im Singular, doch lügen eigentlich alle Figuren. Nuphars Mutter sucht unter falschem Namen einen Anwalt, Lavies Mutter betrügt ihren Mann, sein Großvater sonnt sich im unverdienten Ruhm eines Kriegshelden. Als Nuphar mit ihrer Klasse Konzentrationslager in Polen besucht, erschleicht sich die unbeteiligte Seniorin Raymonde die Identität der verstorbenen Überlebenden Rivga. Vieles davon kann als Schummelei durchgehen, Nuphars Weigerung, sich der Wahrheit zu stellen, ist schlimmer, weil sie die Existenz eines anderen zerstört, des nicht unbedingt sympathischen Avischai Milner.

Der Roman ist konventionell erzählt. Ayelet Gundar-Goshen schlüpft in ihre Figuren, woran man sich etwas stören könnte, weil sie ihnen auch Analysen in die Gedanken legt.

Sucht dich das Schuldgefühl heim, hat es verschiedene Möglichkeiten. Es kann dich von hinten anspringen, dir die Klauen ins Fleisch hauen. Es kann einen Frontalangriff starten. Doch es kann dir auch wie eine Perserkatze um die Beine streichen, sich ein Weilchen auf deinen Schoß setzen tind dann weiterhuschen, weil es nicht länger bleiben will. So zermarterte Nuphar sich zwanzig Minuten lang das Hirn und litt nach Strich und Faden. Sie war drauf und dran, zum Telefon zu eilen und der Kommissarin mit den zarten Fingern alles zu beichten. Aber sie entschied sich dagegen. Diesem ekelhaften Kerl mit dem dreckigen Mundwerk war sie rein gar nichts schuldig.

Wie bei ihrem Vorgänger-Roman „Löwen wecken“, wird die intelligente Ausgangsidee etwas zu breitgetreten und braucht Füllsel, um das Buch auszufüllen. Israel als Handlungsraum wird nur insofern auffällig, als Krieg und Militär in jeder Familie als erlebte Erfahrung präsent ist. Schön geschrieben, viel Einfühlung und Verständnis für die jungen Leute und immer den Blick auf den Zauber der Dinge gerichtet.

Der Wind tanzte in den Zweigen des Orangen­baums, und die Zweige antwor­teten ihm mit anmutigen Verneigun­gen.

2017          355 Seiten

Besprechung im SRF-Literaturclub (Video – 12 Minuten)

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Grossman
28. September 2017, 17:40
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David Grossman:
Kommt ein Pferd in die Bar

grossmanpferdDovele Grinstein wird als Kind zum Affen gemacht und er macht mit, um überleben zu können, und er läuft auf den Händen, da können sie hm nichts tun, und er will doch nur sein: ein Mensch. Seine kindlichen Späße sollen auch das Holocaust-Trauma seiner Mutter lindern, die nie mehr richtig ins Leben gefunden hat.

Ich hab mein Leben lang versucht, sie zum Lachen zu bringen.(…) Ich hab gesehen, wie begeistert meine Mutter war, und die Beine nochmal hochgeworfen, ich bin ein bisschen herumgewankt, hingefallen, hab nochmal die Beine hochgeworfen, und sie hat gelacht. Ich habe sie richtig lachen gehört! Dann hab ich es nochmal und nochmal versucht, und irgendwann hatte ich meinen inneren Punkt gefunden, jetzt hatte ich’s raus. (…) Die Sache hatte noch einen Vorteil: Wenn ich auf den Händen lief, hat keiner mehr auf sie geachtet, kapiert ihr? Da konnte sie mit ihren Gummistiefeln rumlaufen, so lange sie wollte, mit gesenktem Kopf, das Kopftuch tief ins Gesicht gezogen, plötzlich hat keiner sie mehr schief ange­guckt. Das war nämlich sonst immer ihr Gefühl. (…) Und da konnte ich mich entspannen, da ging es mir gut. Ich hab mein Blut in den Ohren gehört, aber sonst war da nur Ruhe, Ruhe von allem, und plötzlich wusste ich: Ich hatte einen Ort auf der Welt gefunden, wo niemand war außer mir.

Als Erwachsener ist Dovele Grinstein Komödiant geworden, comedian, Witz-Erzähler. „Kommt ein Pferd in die Bar …“ David Grossman erzählt akribisch einen Auftritt Doveles, der an diesem Abend seinen 57. Geburtstag hat. Er hat einen Jugendfreund gebeten, speziell aus diesem Anlass die Vorstellung zu besuchen. Grossman setzt den pensionierten Richter als Erzähler ein, der an aber nicht nur Beobachter ist, sondern zum Beteiligten an Doveles Lebensgeschichte wird.

Er ist pausenlos in Bewegung. Alle paar Minuten stößt er beim Reden eine geballte Faust in die Luft, täuscht an wie ein Boxer, der seinem Gegner auszuweichen versucht, das Publikum amüsiert sich blendend, und er hält sich eine Hand über die Augen und sucht den Saal ab, der schon fast im Dunkel liegt.
Er sucht mich. (…) Der Lärm und das Geschrei werden lauter. Inzwischen macht fast der ganze Saal mit. Die Lust, sich zu prügeln, ist beinah mit Händen greifbar. Und er steht noch immer reg­los da und schaut mich an. Er braucht mich.

Im Publikum sitzt auch „eine sehr kleine Frau, die früher Doveles Nachbarin war. Auch an ihr arbeitet er sich ab, beleidigt sie, weil er das Bloßstellen gewohnt ist, auch weil es Lacher einbringt. Dovele gibt auf der Bühne alles, denn es geht um sein Leben. Er kämpft mit sich, auch physisch, er ist stets in ruheloser Bewegung. Er muss sein Leben erzählen, sein Leben, das ohne Shoah nicht denkbar ist, und er muss das Publikum binden, das nur Witze hören will und nicht weiß, in welche Situation es da geraten ist. Dovele fordert sich eine Kraftleistung ab, holt alles aus sich heraus, verausgabt sich total. Für ihn ist das hier kein Spiel.” Der Richter zeichnet alles im Detail auf, hineingezogen in diese verzeifelte Bühnen-Schau.

Dovele selbst geht ab wie eine Rakete, er sieht aus wie komplett durchgedreht, wedelt mit Hän­den und Füßen, und das ganze Publikum wird gepackt von den Wogen des Gelächters und geht in ihnen unter. Diesem Ausbruch von Wahnsinn kann man sich nicht entziehen, um mich herum sind sechzig oder siebzig Menschen, Män­ner, Frauen, junge, alte, und sie alle haben knisternde Gift­bonbons im Mund. Es beginnt mit verlegenem Brummen, mit Blicken zur Seite, doch nach und nach springt der Fun­ke über, vom Schreien schwillt ihnen der Hals, und einen Moment später hängen sie schon in der Luft, Ballons einer dumpfen Freiheit; der Schwerkraft entledigt, haben sie einen Weg gefunden, sich dem einzigen Lager anzuschlie­ßen, das garantiert immer die Oberhand behält: Applaus für den Tod! Jetzt schreien fast alle Anwesenden im Saal, klatschen rhythmisch, und auch ich mache mit, zumindest im Stillen, heimlich. Warum nicht offen? Warum kann ich nicht offen mitmachen? Warum nicht einen Moment lang Urlaub nehmen von mir, von dem Zyanidgesicht, das ich in den letzten Jahren entwickelt habe, Urlaub von den stän­dig entzündeten Augen wegen der vielen ungeweinten Trä­nen? Warum nicht auch auf einen Stuhl springen, ganz au­ßer mir, und mitschreien: App-laus-für-den-Tod!

Als Leser merke ich erst nach und nach,was gespielt wird, was auf dem Spiel steht. Vieles hab ich da schon überlesen, nicht verstanden, nicht richtig eingeordnet. Lange hab ich Dovele für einen Schauspieler gehalten, einen Hampelmann, der einerseits virtuos mit den Gefühlen der Zuschauer spielt, der zum anderen aber nach und nach sein Publikum verliert, die Vorstellung entgleist, bis nur noch der Richter und die sehr kleine Frau bleiben – und der Leser. Die Atmosphäre ist bedrückend.

Was den Roman besonders macht, ist die Konfrontation der Perspektiven. Die brüllende Not Doveles spiegelt sich in den Gedanken des Richters, der sich gefragt fühlt, wieweit er in das Schicksal Doveles hineingezogen ist. Gleichzeitig wird sich der Leserfragen, ob der Erzähler ein objektiver Beobachter sein kann, auch wenn er sich bemüht, Doveles Kapriolen nicht zu werten. Dovele erscheint nicht als sympathischer Mensch, man lässt ihn gewähren, weil man ihn als “Behinderten” empfindet, als Opfer, auch der Geschichte, auch der Shoah. Weshalb mutet er seinem auf Unterhaltung eingestellten Publikum die menschliche Katastrophe zu?

“Kommt ein Pferd in die Bar” ist auch und nicht zuletzt ein Roman aus Israel. Manche, viele der Anspielungen und Hintergründe gehen an mir als deutschem Leser aber vorbei. Ich empfinde die lange und detailliert geschilderte Autofahrt vom Jugendlager in der Wüste zur Beerdigung seiner Mutter als recht lang, die Enthüllung der gestorbenen Person wird zerdehnt, auch wenn die Qualen für den jungen Dovele real waren. Auch wenn der Richter sich angesichts seines Verhaltens Vorwürfe macht. Der Roman mutet dem Leser als Publikum zu, sich vom derben Klamauk in das Grauen des Überlebens ziehen zu lassen. Dovele ist hebräisch und heißt “kleiner Bär”.

Ich hatte mir den Teller vollgepackt und konzentrierte den Blick darauf. Trotzdem bekam ich mit, wie seine Klassenkameraden einen ganzen Streuer Salz in seine Suppe kippten, doch er schlürfte fröhlich weiter, und sie kugelten sich vor Lachen. Dann riss ihm jemand die Schirmmütze vom Kopf, sie flog vom einen Ende des Tisches zum andern, immer wieder, hin und her, ab und zu fiel sie in einen Teller, schließlich landete sie wieder auf seinem Kopf, tropfnass. Er streckte die Zunge raus und fing die Tropfen auf. Er johlte und schnitt Fratzen, aber zwischendurch glitt sein Blick leer und ausdruckslos über mein Gesicht.
Nach dem Essen stopften sie ihm eine halbe Banane in den Mund, und sofort kratzte er sich die Rippen und stieß Affenschreie aus, bis unser Abteilungskommandeur ihn anherrschte, den Mund zu halten und ruhig dazusitzen.
Abends nach dem Lichterlöschen, als wir in den Betten lagen, drängten ihn die anderen Jungen aus seiner Klasse zu erzählen, was er so von einer schon ziemlich gut entwickelten Klassenkameradin träumte. Er tat es, und nahm Wörter in den Mund, von denen ich nicht gedacht hätte, dass er sie kannte. Doch es war seine Stimme, sein Erzählfluss, seine reiche und wilde Phantasie. Ich lag reglos da, fast ohne zu atmen, ich war mir sicher, wenn er nicht hier im Zelt wäre, würden sie über mich herfallen.
Irgendwann lief ein Junge aus seiner Klasse zwischen den Bettenreihen hin und her und ahmte die Stimme von Doveles Vater nach, und ein anderer kam ihm entgegen, der vermutlich Doveles Mutter imitierte. Ich zog mir die Militärdecke über den Kopf. Die Jungen lachten, und Dovele lachte mit ihnen.

David Grossman erhielt für den Roman den Internationalen Man Booker Preis 2017.

2014            250 Seiten

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Gundar-Goshen
18. Juli 2015, 16:37
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Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

loewenweckenEtan Grien, Arzt in Beer Sheva, der staubigen Stadt am Rand der Wüste, fährt nach einem anstrengenden Schichtdienst übermüdet heim, nachts, bei Mondlicht. Er macht einen Umweg, um zu entspannen, hört Janis Joplin im Auto, denkt an seine Frau und seine Familie – und fährt einen Mann um.

Und er dachte sich gerade, dies sei der schönste Mond, den er je gesehen habe, als er diesen Mann umfuhr. Und als er ihn umfuhr, dachte er im ersten Moment immer noch an den Mond, dachte weiter an den Mond und hörte dann mit einem Schlag auf, als hätte man eine Kerze ausgeblasen. … Es war ein Eritreer. Oder ein Sudaner. Oder weiß Gott was. Ein Mann von dreißig, vielleicht vierzig Jahren, er konnte das Alter dieser Menschen nie gut schätzen.

Etan Grien ist „kein Rassist“, vielleicht ein Zyniker, er fährt weiter, lässt den Mann liegen, benachrichtigt nicht die Polizei. Es lässt sich nichts mehr rückgängig machen, nichts mehr gut machen. Etan Grien sagt nichts seiner Frau.

Das Leben des Arztes hat sich mit einem Schlag völlig verändert. Er muss mit seiner Schuld leben, allein, bis ihn eine Frau aufhält, anspricht. Sie hat den Unfall beobachtet, sie ist die Frau des getöteten Eritreers. Sirkit. Eine bestimmende Frau. Sie will schweigen, wenn Etan Grien in einer Werkstatt kranke und verletzte Flüchtlinge behandelt, Illegale, die nicht ins Krankenhaus können. Grien lässt sich darauf ein, fährt jede Nacht in die Werkstatt, lügt seiner Frau von Notdiensten und Überstunden vor, riskiert Beruf und Familie, hilft den „Beduinen“, Eritreern, Sudanesen.

Ayelet Gundar-Goshen nimmt sich – und dem Leser- viel Zeit. Sie „stöbert“ in den Menschen, hat selbst Psychologie studiert, kennt sich in der Medizin und mit Krankheiten aus.

Jetzt neigte er den Kaffeebecher und betrachtete den Satz. Schwarz und dick, wie gestern. Wie die Vögel und die Spinnen und die Sonnenstrahlen sahen offenbar auch die Kaffeebrösel keinen Grund, von ihrer Gewohnheit abzuweichen, nur weil er in der Nacht einen Menschen überrollt hatte und weitergefahren war. Habituation. Die Gesichtszüge des Eritreers wurden matter in seinem Kopf, wie ein schlechter Traum, dessen Bilder im Lauf des Tages verblassten, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als ein vages Gefühl des Unbehagens. Es gibt Schlimmeres als Unbehagen, sagte er sich, Menschen leben ein ganzes Leben lang mit dem einen oder anderen Maß an Unbehagen. Dieser Satz fühlte sich so richtig an, dass er ihn noch ein paarmal im Geist wiederholte, dermaßen konzentriert auf die befreiende neue Erkenntnis, dass er das Klopfen an der Tür zuerst gar nicht hörte.

Klar war da auch die Schuld. Seit jener Nacht fand er keinen Schlaf mehr. Vergebens suchte er ihn mit Wälzen im Bett, mit einer halben Lorivan-Tablette. Der Tote hing ihm am Hals und ließ nicht locker. Kniff ihn, sobald er einschlafen wollte. Nur in der Autowerkstatt ließ er von ihm ab. Machte der Pilgerkolonne Platz. Magere, schwarze Gesichter, die Etan kaum unterscheiden konnte. Vielleicht auch nicht zu unterscheiden versuchte. Jedes Gesicht glich dem vorigen und dem davor, im endlosen Rückwärtsgang, bis zu dem Gesicht jenes Patienten, des ersten. Bis zu dem mageren, schwarzen Gesicht des Mannes, den er getötet hatte.
Er kann diese Gesichter nicht mehr sehen. Kann den Gestank der entzündeten, dünnscheißenden, gebrochenen Körper nicht mehr ertragen. Arme Beine Achselhöhlen Bäuche Lenden Nägel Nasenlöcher Zähne Zungen Eiterbeulen Geschwülste Pusteln Ausschläge Reizungen Schnitte Brüche Infektionen Verkrüppelungen, nacheinander und manchmal zusammen, schwarze Augen danken schwanken wanken rein und raus, präsentieren ihre schwarzen Leiber mit einer Kapitulationsurkunde, einer Anklageschrift vor Dr. Etan Grien, der nicht mehr kann, es einfach nicht mehr aushält mit den Gliedern dieser Menschen, der versinkt in diesem dunklen Meer von Armen Beinen Mund aufmachen lass mich hier anfassen tut das weh und wenn ich hier drücke wie schmerzt es dann, ertrinkt in dieser Menschenflut, die ihn zu verschlingen droht.

Ayelet Gundar-Goshen ist immer wieder dabei, sich in den Wirrungen der Menschen festzuschreiben, nimmt neue Anläufe, erkennt die Nuancen, wirft Lichter in die Kindheit von Etan und seiner Frau Liat, beoachtet die schleichende Entfremdung, Liat ahnt, dass etwas nicht stimmt, erfährt Details aus ihrer Arbeit als Polizeikommissarin, wird gerade mit der Ermittlung dieser Fahrerflucht betraut. Zwischen Etan und Sirkit entspinnt sich eine uneingestandene Zuneigung, es knistert. Auf der Straße würde er eine solche Frau nicht ansehen, sähe sie für ihn aus wie alle anderen Flüchtlinge. Ayelet Gundar-Goshen verhilft ihr zu einer Identität, macht sie zum Menschen.

Und tatsächlich sieht Sirkit Etan mit vorwurfsvollen Augen an. Nicht nur, wieso warst du verschwunden, sondern auch, wieso hast du dich verändert, obwohl die Veränderungen so klein sind, dass man sie gar nicht in Worte fassen, nur spüren kann. Und neben dem Vorwurf erwacht auch die Neugier, denn wer ist der Mann da am Steuer, und warum sieht er anders aus als der Mann in ihrer Erinnerung. Und zwischen dem Vorwurf und der Neugier schlüpft, für den Bruchteil einer Sekunde, die Frage herein, ob sie für ihn genauso anders ist wie er für sie. Was er gedacht hat, als er sie erblickte. Obwohl sie es eigentlich weiß. Sie hat es an seinem Gesicht abgelesen, ob nun vertraut oder nicht: Zuerst war er erschrocken. Dann verärgert. (Und dazwischen, für einen kurzen Moment, der vielleicht seinen und ihren Augen entgangen ist, war er froh.)

Lauter interessante Perspektiven und Konstrukte, doch die Autorin kommt nicht voran. Sie wechselt zu Etan, zu Liat, zu Sirkit, alle haben ihre Probleme. Was die Spannung hält, ist die Frage nach der Katastrophe: Was geschieht, wenn Etan nicht mehr umhin kommt, seine Tat zu gestehen? Doch genau dieser Frage geht Ayelet Gundar-Goshen aus dem Weg. Liat rückt an den Rand, worauf man lange Seiten gewartet hat, ist nicht mehr von Belang. Das feine pyschologische Netz weicht einer Drogenschmuggelgeschichte, findet darin einen Showdown. (Und soll gerade verfilmt werden.)

Wie war er denn bloß in dieses finstere und bizarre Wunderland geraten, in dem es schon drei tote Männer und ein blaues Baby gab. Zwei dieser Menschen hatte er selbst umgebracht, den ersten aus Versehen, den zweiten mit Absicht, und dazwischen waren angeschossene, verletzte, blutende Eritreer gewesen und Pistolen und Messer und eine verlorene Drogenlieferung. Und all das im Schein eines riesigen, weißen Mondes, der vielleicht gar kein Mond war, sondern sein Heimatstern, die Kugel, von der aus er in diese Horrorgeschichte entführt worden war.

Das Pathos wird zum Selbstzweck, zum gut gemeinten Szenario der unglücklichen und hartherzigen israelischen Flüchtlingspolitik, die Menschen zu “Infiltranten” definiert.

2014                 425 Seiten

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Dübgen
9. September 2013, 19:30
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Hannah Dübgen: Strom

duebgenstromSchalom achschaw!“ Frieden jetzt!

Das ist der Kern von Hannah Dübgens „Strom“, darauf läuft der Roman hinaus, darauf schreibt sie zu. „Peace Now ist eine außerparlamentarische politische Bewegung in Israel. Sie hat sich nach eigenen Angaben das Ziel gesetzt, die Öffentlichkeit und die israelischen Regierungen von der Notwendigkeit und der Möglichkeit zu überzeugen, ‚einen gerechten Frieden und eine historische Versöhnung mit dem palästinensischen Volk wie den arabischen Nachbarn zu erreichen, und zwar im Austausch für eine territoriale Abmachung im Sinne der Formel Land für Frieden’.“ (wikipedia) Die Sympathien von Ada und Judith, wohl auch die der Autorin liegen bei den Palästinensern und den Israelis, die sich für einen Frieden außerhalb der offiziellen Politik einsetzen.

Hannah Dübgen betreibt einigen Aufwand mit der Romanhandlung, um ihr Anliegen einflechten zu können. Sie erzählt in vier Strängen von Personen, die in Israel leben, sich mit der Situation des Landes auseinandersetzen oder – in konstruierten Zufällen – sich in Israel treffen, absichtlich oder sich einfach über den Weg laufen. Die Berlinerin Ada „hat mit ihrer Freundin Judith einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen gedreht. Judith aber stirbt kurz nach Fertigstellung des Films“, Ada besucht Israel und den Gazastreifen erneut. Luiz, Brasilianer, lebt mit seiner jüdischen Frau Rachel in Tel Aviv, dort hat er auch ein Verhältnis mit Joana. Rachel ist in der Friedensbewegung aktiv, Joana weist ihn endlich zurück und beginnt eine Affäre mit – Ada. Vermittler ist Freund Salim, und Vermittler bemüht Dübgen häufig, um die Protagonisten zusammenzubringen bzw. eher -zuzwingen. Die japanische Pianistin Makiko lebt in Paris, reist aber für ein Konzert (Chopin) nach – Jerusalem. Ada besucht am Rande der Demonstration auch dieses Konzert und sitzt dort zufällig neben Jason. Jason hat für einen amerikanischen Konzern in Japan über Firmenübernahmen im Bereich Elektromobilität ergebnislos verhandelt und will sich jetzt in Israel über den Stand dieser Technik informieren. In Japan hat ihn seine Bekannte Mia auf das Konzert von Makiko aufmerksam gemacht, Mia ist Makikos Cousine. Ja – am Tag des Konzerts findet auch die Demonstration der Friedensbewegten statt, denn an diesem Tag trifft zu einem Staatsbesuch – der amerikanische Präsident in Jerusalem ein.

„Leben, Tod, Liebe, das große Nahostproblem, (…) die Neuordnung der Welt von Silicon Valley aus, kulturelle Differenzen zwischen Ost und West, Juden, Moslems und Christen, Amerika und Japan im Allgemeinen und Besonderen: Die vier parallel erzählten Geschichten streifen alles, was Leser von heute so umtreiben kann und umtreibt und machen es ihnen leicht, sich mit den – allesamt doch recht erfolgreichen – polyglotten und auf der ganzen Welt beheimateten Protagonisten mehr und weniger zu identifizieren.“ (Sigrid Brinkmann, BR) Die Welt ist klein geworden, die Probleme sind überall die gleichen, die Frage stellt sich aber doch, ob diese Erkenntnis und das aufrichtige Anliegen die arg strapazierte Konstruktion von „Strom“ rechtfertigt. Immerhin finden die Personen und ihre Lebenswege im Schlusskapitel in Jerusalem ihren Kulminationspunkt, hier beschleunigt sich auch Dübgens Erzählung:

Ihr Spiel ist makellos, klar geführt, präzise und dabei frei, freier noch als sonst. Makiko spürt Glück, es tut gut, das Tempo, der Strom in den Adern ist geweckt, wieder da die überscharfe Wach­heit, die Wärme der vielen Atem im Nacken, der sich aufheizende Saal. Alles ist richtig, natürlich erklimmt sie auch die schweren Läufe mit Schwung, eine Spitze jagt die nächste, bohrt sich hö­her, hebt die Kuppel des Saals, gibt den Blick frei auf den Himmel über der Stadt … Maha morgen unter welchem Himmel … mit Hanson die Karte Gazas anschauen … die ersten Vogelschwärme von Norden … Rebeckas Lächeln, ihre Hand fest um das Stück Holz gelegt … auf der Bank im Park … ein Rauschen … durch­dringendes Rauschen … darin ein Pochen … Schlagen … sein Herzschlag … Klang.

„Die (Lebens-)Linien laufen nebeneinander her, sind sich nah, ohne einander zu berühren, jede Linie bleibt eigenständig, und doch ergeben sie gemeinsam etwas anderes, Größeres.“ (Dübgen) Dieses „Nebeneinanderherlaufen“ soll auch das Cover versinnbildlichen, ein Motiv von Gerhard Richter, geometrisch gereihte Farbstreifen: Strips.

Der Titel „Strom“ ist vielfach kodiert. Strom meint die Energie, mit der die Autos künftig fahren sollen, Strom meint die Bewegung von Menschen-Massen und Ideen, Strom meint – vor allem – die Energie, die den Menschen in Bewegung hält, Kräfte aus dem Innenleben, den Herzschlag, den Klang. Abgesehen von diesem Abheben ins „Größere“ erzählt Hannah Dübgen betont sachlich, seriös, konventionell, unaufgeregt, sicher, diszipliniert, informiert. Auch bei emotionalen Themen hält sie eine sichere Distanz.

»Willkommen in Tel Aviv!«
Sie prosteten einander zu.
Joana legte ihre Füße auf die untere Ablage des Couchtisches, so dass Ada wieder das fein geknüpfte Lederband auf Joanas Fuß­knöchel, ihrer schlanken Fessel sah. Joana hatte auffallend schöne Beine, gerade, lange Zehen, kleine Füße, wohlgeformte Waden, alles an ihr war weiblich, weich und doch zart. Ein Körper, dessen Formen mit Joanas runden, lebhaften Gesten im Einklang waren. Joana war ein Mensch, der sich in seinem Körper wohlfühlte, in ihm lebte, das sah Ada sofort. Menschen mit einem derart intui­tiven Körpergefühl wurden bei Interviews viel seltener nervös, sie ließen sich nicht von der Kamera irritieren, vergaßen sie viel eher. Am schönsten war es, wenn sie in Gedanken abtauchten, ihren Körper verließen und doch jedes Wort mit ihrem Körper sprachen.
»Noch Tee?« Die Armreifen an Joanas Handgelenk, deren auf­gezogene Perlen im Sonnenlicht glänzten wie Granatapfelkerne, klapperten gegeneinander.
Ada nickte dankbar. Kühl und glatt rann der Eistee durch ihre Kehle. Dieses Getränk, das Ada in seiner industriellen Dosen­form verabscheute, das sie mit dem metallischen Nachgeschmack künstlicher Süße verband, war hausgemacht eine Köstlichkeit, kleine Zitronenscheiben schwammen in dem schwarzen, stärker als sonst nach Bergamotte schmeckenden Tee, verbanden sich mit dem Rohrzucker zu einer herben Süße.
»Ihr wart in Gaza?«, fragte Joana.
Ada wich ihrem Blick aus, fragte sich, was Joana wusste. Schließlich hatten alle Menschen, zu denen Salim sie im Laufe dieses langen Tages gebracht hatte, bereits von Judiths Tod ge­wusst. Was aber nicht unangenehm war, im Gegenteil, in der Hitze, den intensiven Stunden hatten alle diese Begegnungen et­was von der Selbstverständlichkeit eines Traumes angenommen, alles schien richtig, so, wie es geschah.
»Salim hat im letzten Jahr ein paar Mal von dir und Judith erzählt, von eurem Film«, sagte Joana. »Er nannte euch >die deutschen Amazonen«<, sie lächelte, »ein unzertrennliches Team, eine europäische Inkarnation der indischen Göttin Durga, der großen Kriegerin, die mit ihren vielen Armen für Gerechtig­keit kämpft und deren drittes Auge – die Kamera – ihr den Weg weist.«
Ada legte den Kopf schief: Waren das Salims Worte oder Joa­nas Erinnerung an ein Wesen, das sie selbst, als Salim erzählte, vor ihrem inneren Auge gesehen hatte? Salim hatte Ada gegen­über nie eine Göttin Durga erwähnt. Dass er Judith und sie als unzertrennlich beschrieben hatte, rührte in Adas Brust an einem Punkt, der stach wie eine Nadel.
»Eine Kriegerin, der jetzt zwei Arme fehlen«, erwiderte Ada leise und blinzelte durch das Fenster in die Sonne.

“Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Theater und Oper, schrieb das Schauspiel ›Gegenlicht‹ und die Libretti für mehrere Opern, u.a. ›Matsukaze‹ in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Toshio Hosokawa. ›Strom‹ ist ihr erster Roman.” (Verlagsinfo)

Auch Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ spielt in wichtigen Teilen in Israel bzw. in den Palästinensergebieten. Grjasnowa, geboren 1984, schreibt aber viel aufgeregter, empathischer, sie lässt ihre Figuren die Emotionen ausleben. Wo Hannah Dübgen informiert, stürzt sich Olga Grjasnowa in die Welt und ins Leben.

2013         265 Seiten

 Ausführliche Inhaltsangabe und Kritik von Dieter Wunderlich

 Leseprobe bei dtv

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Magén
17. August 2010, 17:33
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Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen

Anna, 13, leidet seit ihrer Geburt an Koordinationsstörungen, weil ihr Gehirn kurzzeitig von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde. Um sich einen Wunsch zu erfüllen und sich zu beweisen, fährt sie mit dem Fahrrad, was sie nicht kann und nicht darf, und stellt ihren fünfjährigen Bruder Tom auf den Gepäckträger. Was geschehen soll, geschieht: Tom stürzt, fällt auf den Schädel und ins Koma. Anna wagt nicht zu sagen, dass sie ihre Pflicht verletzt hat, sie fühlt sich mit ihrer Schuld allein.

Diese Erzählung ist aber vor allem der Aufhänger für die Gedanken über die Fragen: Was ist das Schicksal? Weshalb ist es nicht gleichmäßig oder gar gerecht verteilt? Spielt Er, Gott, dabei eine Rolle?  Der Roman ist eine Parabel, in der das Salz, das man auf den Tisch stellt oder dem anderen reicht, immer auch Metapher für das Einfache und doch so Komplizierte des Lebens ist. Auch die Tiere werden bemüht, die Vögel in der Luft und die Fische im Meer und der Kater Karniel. „Hinter der einfachen Handlung versucht Magén eine ernste Geschichte zu erzählen: Sie suggeriert, dass auch der zweifelnde Glaube helfen und auch die verratene Liebe heilen kann. Zwar verzichtet Magén sowohl auf moralisierende als auch auf psychologisierende Schlüsse, aber sie impliziert schon vom Titel an ein fast existenzielles Ausgeliefertsein des Menschen in der Welt. So ist der Roman trotz der sommerlichen Ferienstimmung von einer Abgeklärtheit durchdrungen, die sich in vielen zitierfähigen Sätzen – Alltagsweisheiten eben! – niederschlägt: «Wenn alles einen Grund hätte, wäre das Leben ein Einkaufszettel für den Supermarkt.»“ (Stefana Sabin, NZZ) Schön, aber im Roman doch etwas aufdringlich.

Die Farbe verließ das Meer und den Himmel. Die Mut­ter fragte, ob sie Lust hätten, Schakschuka zu essen, und der Vater pfiff: »Segle, segle, mein Schiff, das Meer ist so groß …« Sie aßen Schakschuka und die Mutter sagte: »Schaut her, das Leben dreht sich von einer Sekunde zur anderen, und in der nächsten dreht es sich wieder zurück.«

Der Vater sagte: »Das ist das Schicksal, Cheli, das Schick­sal.«

»Das ist Gott, Mike.«, sagte die Mutter und steckte sich eine Zigarette an.

»Weißt du was, es ist mir egal, nenne es, wie du willst.« »Vielleicht ist ja alles, wovon wir keine Ahnung haben, nur Physik und Chemie.«

Danach schwiegen sie fast die ganze Zeit. Vielleicht hat­ten sie Angst, durch Reden das Leben in seinen früheren Zustand zurückzuverwandeln. Die Mutter meinte, man könne nicht wissen, was hinter allem stehe. Sie räumten den Tisch ab, gingen in die Küche und Anna nahm eine Gabel und ritze GGT in den Tisch, Gott, Glück und Treue. Dann stellte sie den Salzstreuer darauf und verließ den Tisch. Morgen oder später am Abend würde sie diese Worte prüfen und sehen, ob sie überhaupt etwas wert waren.

Cheli und Mike nehmen sich vom Leben, was es gibt, und sie sind meist zufrieden mit dem, was sie kriegen. Neben Anna und Tom haben sie noch die jüngere Tochter Naomi, die wunderschöne, bewundernswerte, die keine Probleme zu kennen scheint.  Das ist nicht einfach für Anna, doch sie gibt nicht auf, fällt und schleppt sich auf ihren dünnen Beinen, die ihr nicht gehorchen, weiter. Edisso ist mit seiner Familie, die das nicht verkraftet hat, als Jude aus Äthiopien zugewandert. Schwarz, kraushaarig, chancenlos, aber bestrebt. Er hilft Cheli und Mike in ihrem Kiosk, den sie die Sommermonate über am Strand von Tel Aviv betreiben. Auch in ihm zeigt sich eine Facette des Schicksals. Anna freundet sich zaghaft mit ihm an, weil sie in ihm den Außenseiter erkennt, der auch keine großen Wünsche an das Leben stellen kann.

Blass vor Erregung und lachend wie ein Junge, der bei seiner Bar Mitzwa in der Synagoge auf das Podest steigt, um aus der Thora zu lesen, legte Anna ihre zitternden Hände auf den Lenker und spreizte ihre dünnen Beine über die Pedale. Aber es gelang ihr nicht, sich auf den Sattel zu setzen.

»Ich stell ihn dir tiefer«, sagte Edisso. Sie beugte sich über den Lenker. Er stellte den Sattel etwas niedriger und den Lenker etwas höher und sie wartete geduldig, bis er alles gerichtet hatte, beugte sich, das Fahrrad zwischen den Beinen, vor und zurück, ohne es auch nur eine Sekunde lang loszulassen. […] Edisso griff nach der anderen Seite des Len­kers und nun schoben sie das Rad gemeinsam zu den Um­kleidekabinen, wie Eltern, die ein Kind zum Arzt bringen.

Dieser Edisso ist ein Geschenk des Himmels, dachte Mike, sogar mehr als das. Er gehört zu den Menschen, bei denen du, wenn du ihnen in die Augen schaust und etwas Trauriges siehst, sofort bereust, dass du überhaupt geschaut hast.

Da der Roman in Israel spielt, ist Chelis Schwester Sara mit einem militanten Erez-Israel-Aktivisten verheiratet und erwartet so gerade ihr achtes Kind. In dieser orthodoxen Familie muss es klar sein, dass Er es so will. Magén platziert Sara als Gegenmodell zur leichtlebigen Cheli, lässt sie ihre Haare und damit ihre Sinnlichkeit unter dem Kopftuch verbergen. Sara muss ihr Leben maskieren, Cheli, die Schwester, darf sich die stete Kontrolle versagen.

Sie saßen in der Dunkelheit auf der Treppe und Cheli weinte unkontrolliert, sie ließ die Tränen laufen, wie sie kamen. In der ersten Runde ihres Lebens hatte es gelbe Gummienten in der Badewanne gegeben, die von kleinen Händen hin und her geschoben wurden, und die Welt war unter Kontrolle. Später verblassten die Enten, das Gummi wurde spröde und die Hände waren schon mittelgroß. Die zweite Runde hatte begonnen und alles geriet außer Kontrolle.

Es spielt keine Rolle, ob Cheli wegen der Erinnerung an die gelben Entchen weinte, oder wegen der Ohnmacht dieser Tage. Wenn jemand weint, gleicht er einem, der betet, und man muss ihm genügend Zeit geben und ihm Respekt für seine Tränen erweisen.

Mike lauschte dem Meer, dessen Stimme die Summe des Vergangenen und des Zukünftigen enthielt, Milliarden Fische schwammen darin herum und jeder Fisch war auf sich allein gestellt. Die Fische wurden geboren und niemand freute sich darüber. Sie starben und niemand trauerte ihnen nach. Man hielt keine Totengebete für sie, keine Trauertage und keine Gedenktage. Ohne zu denken, war ihnen klar, dass es ihr Schicksal war, vergessen zu werden und selbst zu vergessen. Nur die Menschen machten ihren Tod zum Ende der Welt, als hörte mit ihnen auch die Welt auf zu existieren. Als würde es für sie eine Rolle spielen, wer gegangen war und wer dazu kam … Was ist mit dir, Mensch?

2008           400 Seiten 

 

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Porträt Mira Magéns von Jeannette Villachica in der NZZ

20-seitige Leseprobe