Nachrichten vom Höllenhund


Reza
28. August 2022, 17:20
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Yasmina Reza: Serge

„Was soll das sein, die Judenrampe. Ihr geht mir auf den Sack mit eurer Judenrampe“

Die Geschwister Nana, Serge und Jean, der mittlere, alle um die 60. Nana ist unpassend verheiratet, Serge gibt sich als Griesgram, Jean ist der Erzähler und sollte als solcher ohne auffällige Eigenschaften bleiben. Dann sind da noch Kinder, Cousins, Ex-Partner, enge oder weitläufige Bekannte. „Mischpoke“ könnte man das im Jiddischen nennen, im Roman wird es zum „familiären Haufen“ erklärt.

Man kennt sich, weiß einiges voneinander, auch weniger Angenehmes. Man spricht miteinander, frei oder nicht ganz offen, gerne oder weil nichts anderes übrigbleibt. Man besucht sich, Anlässe gibt es – oft leider – genug. Familie halt, je umfangreicher, desto mehr Kommunikation, desto flacher oft auch das Gespräch. Krankheiten, Beziehungen, Kinder, Tod, Geburtstage. Yasmina Reza lässt mich am „Kuddelmuddel“ teilnehmen, obwohl mein Interesse an den Themen und Inhalten nicht größer ist als das des Familienhaufens aneinander. Die Familienverhältnisse sind unübersichtlich.

Dann kommt der Grund, weshalb Yasmina Rezas Roman von der Kritik begierig aufgegriffen und „vielgerühmt“ (Eigenwerbung) wurde. Josephine, die Tochter von Serge, kommt auf eine Idee: »Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.«
»Die haben leider zu.«
» AUSCHWITZ !«, schrie Serge auf. »Osvitz!! Wie die französischen Goys! … Lern erst mal, das richtig auszusprechen.
Auschwitz! Auschschschwitz! Schhhh…!«
»Papa …!«
»Alle können dich hören«, murmelte Nana.
»Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Tochter Osvitz sagt! Wo hat sie das denn her?«

Auf Seite 83 treffen die Geschwister Nana, Jean, Serge und dessen Tochter Josephine in Auschwitz ein. Es scheint nicht so, dass Ausschwitz sich in den unterschiedlichen Betrachtungsweisen der vier Personen spiegelt, mehr geht es Yasmina Reza darum, angesichts des Konzentrationslagers die Personen und ihre Marotten vorzuführen. Der Holocaust stellt sich neben das „ziellose Geplänkel“ (Jörg Magenau, DLF), geht im Familientratsch unter. Serge, der selbstverliebte Nörgler, hält Erinnerung für schnöden Schein, für Fetischismus, die beiden Frauen fotografieren alles, naiv beflissen, Jean ist der zurückhaltende Vermittler.

Drinnen ist es sofort beklemmend. Jäh in eine  dunkle Höhle versetzt, hauteng mit Leuten, die fast schon Strandkleidung tragen, ärmellose T-Shirts, bunte Turnschuhe, Shorts, Kombishorts,   Blümchenkleider, schieben wir  uns in  Minischritten unter einer niedrigen Decke auf den makabren  Ort zu. Durch  das grobe Gitter einer Öffnung sehe ich, in einem dünnen  Strahl aus Sonne und Staub, wie draußen Serge in seinem schwarzen  Anzug  auf  und ab tigert, er schaut den sich hineinschiebenden    Menschentrauben zu, stampft mit seinen Bergschuhen auf die  trockene Erde. Die Frauen, vom  Strom erfasst, habe ich aus den Augen verloren.
   Wir durchqueren den  Vergasungsraum, die Wände sind von Kratzspuren übersät, alle Kameras klicken, wir durchqueren den Verbrennungsraum,   hinter einer Absperrung  sehen wir die Ofen, die Gleise, die Metallwägelchen, aus Originalteilen nachgebaut (das habe ich beim Hinausgehen auf einem Schild gelesen), dann saugen uns das Licht und das Laub an den Bäumen ins Freie.
   Mit  aufgelöster Miene sagt Nana zu Serge, du solltest da reingehen.
   »Ich halte das Gedränge nicht aus.«
   »Die Kratzspuren der Fingernägel an den Wänden, unfassbar.«
   Serge zündete sich eine Zigarette an, Josephine gesellte sich wieder zu uns.
   »Die Spuren an den Wänden sind schrecklich, oder?«, sagte Nana.
   »Schrecklich«, sagte Josephine und machte noch ein paar Außenaufnahmen    vom   Krematorium.
   Werden sie jetzt bei jeder Gelegenheit schrecklich, unfassbar usw. sagen?, fragte ich mich. Ich beschloss, mich nicht zu schnell von ihnen wahnsinnig  machen zu lassen. Wir betraten das eigentliche Lager.

Dabei spielt schon eine Rolle, in welcher Manier das KZ den touristischen Besuchern präsentiert wird und mit welchen Motiven die Besucher anreisen, welche Funktion für sie das späte Gedenken spielen kann. Man kann das Unermessliche in Fotos wegsperren, man darf sich weigern hinzuschauen, wenn einen schon die Regelung des eigenen Lebens voll beansprucht. Yasmina Reza zeigt ein paar Weisen an, mit dem Grauenvollsten umzugehen, sie stellt sich aber nicht der Diskussion um eine „angemessene“ Bewältigung. Doch „Serge“ ist ein Roman, da haben die Personen Vorrang, auch wenn sie keine hehren Sorgen quälen, auch wenn sie ihr verbrauchtes Geschwafel, ihre Lebensbanalitäten in den Text hineintragen. Allerdings gerät der Roman damit in die Nähe der Marginalie und Langeweile.

Wir wollten das Grab unserer ungarischen Verwandten besuchen. Menschen, die wir nie kennengelernt, von denen wir bislang nichts gehört hatten und deren Unglück das Leben meiner Mutter anscheinend nicht weiter erschüttert hatte. Aber das war unsere Familie, sie waren gestorben, weil sie Juden waren, sie hatten das Verhängnis dieses Volkes erlebt, dessen Vermächtnis wir trugen, und in einer Welt, die sich an dem Wort »Gedenken« berauschte, wirkte es ehrlos, nichts damit zu tun haben zu wollen. So verstand ich jedenfalls das fieberhafte Engagement meiner Nichte Josephine. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob sie irgendwelche Bande mit unserer Mutter geknüpft hatte. Unsere Mutter hatte auf keinen Fall ein Glied in einer Kette sein wollen, und Josephine mit ihrer Ananas-Frisur verspürte offenbar das entgegengesetzte Bedürfnis. Während wir an Block z4a vorbeiliefen — da hatten wir ihren aufklärerischen Furor noch nicht außer Gefecht gesetzt —, informierte sie uns, dass es sich hier um das Bordell handele, dann kommentierte sie das Infoschild über das Lagerorchester. Sag mal, falsche Wimpern, musste das sein, heute?, fragte ich sie. Die sind permanent, antwortete sie.

2021 – 205 Seiten

3-4

Leseprobe beim Hanser-Verlag

Gespräch im Literaturclub des SRF (17 Minuten)

Bei Dieter Wunderlich gibt es eine Übersichtsgrafik zum Personal des Romans.

„Man muss es wollen“ – Kritische Rezension bei amazon



Altaras
3. Juni 2020, 16:45
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Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

altarassouffleuseSissele („wie die Süße“) Chaimberg arbeitet als Souffleuse am Theater. Dort heißt sie Susanne, aber ihr eigentliches Lebens-Anliegen ist: „Ich möchte meine Familie finden.“ Sie ist Jüdin und ging in den Nachkriegs-„Wirren“ verloren. Als Adriana Altaras, die Ich-Erzählerin, für eine Inszenierung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ans Theater kommt, sieht Sissele eine Hoffnung: „Ich habe dein Buch gelesen (…). Du bist mutig und schonungslos vorgegangen, du hast gefragt, recherchiert und bist herumgefahren. Das will ich auch. Aber mit dir.

Adriana Altaras ist auch Jüdin, aber sie fühlt sich durch die forsche Art Sisseles zunächst überrumpelt, dennoch kann sie ihr Interesse nicht loslassen. Vielleicht unterscheidet sich Sisseles Lebensgeschichte nicht grundlegend von der jüdischer Kinder zu dieser Zeit. Als sie bei einer nächtlichen Autofahrt zu den Lager-Stationen ihrer Kindheit zu erzählen beginnt, ist Adriana doch beeindruckt, vor allem von ihrer Wanderung durch verschiedene Familien, zu denen sie ihr Vater Fischel nach seiner Emigration vom Lager für Displaced Persons in Deggendorf nach Kanada „abgeschoben“ hat.

Es waren alles in allem nette Familien. Die erste war sogar mehr als das, sie war für mich der Himmel auf Erden. Wir fuhren mit einem kleinen Bus aus der Stadt heraus. Nicht weit, der Schnee lag meterhoch, der Himmel war von einem unwirklichen, strahlenden Blau. So etwas Schönes hatte ich lange nicht gesehen. Die Familie wohnte in einem großen, alten Haus. Hunde bellten, ein paar Gänse liefen aufgeregt davon. Als wir aus dem Bus stiegen, kam uns eine alte Frau entgegen, sie schaute meinen Vater gar nicht an, umarmte mich, sie sprach Jiddisch und Französisch: »La pauvre petite, armes Maidele, sie bot a soi scheine blonde Hu’er di bist avade hingerik?«, dann rannte ein Mädchen auf mich zu, nahm meine Hand und ließ sie für ein paar Wochen nicht mehr los. Das Mädchen sprach Französisch: »A partir d’aujourd’hui tu es mon amie! «, sagte sie. »N’aies pas peur! Ca c’est ma Brand-mere, et tu restes avec nous!« Von heute an brauchst du keine Angst mehr zu haben, ich bin deine Freundin, und du wirst bei mir und meiner Großmutter leben.

Es waren alles in allem nette Familien. Die erste war sogar mehr als das, sie war für mich der Himmel auf Erden. Wir fuhren mit einem kleinen Bus aus der Stadt heraus. Nicht weit, der Schnee lag meterhoch, der Himmel war von einem unwirklichen, strahlenden Blau. So etwas Schönes hatte ich lange nicht gesehen. Die Familie wohnte in einem großen, alten Haus. Hunde bellten, ein paar Gänse liefen aufgeregt davon. Als wir aus dem Bus stiegen, kam uns eine alte Frau entgegen, sie schaute meinen Vater gar nicht an, umarmte mich, sie sprach Jiddisch und Französisch: »La pauvre petite, armes Maidele, sie bot a soi scheine blonde Hu’er di bist avade hingerik?«, dann rannte ein Mädchen auf mich zu, nahm meine Hand und ließ sie für ein paar Wochen nicht mehr los. Das Mädchen sprach Französisch: »A partir d’aujourd’hui tu es mon amie! «, sagte sie. »N’aies pas peur! Ca c’est ma Brand-mere, et tu restes avec nous!« Von heute an brauchst du keine Angst mehr zu haben, ich bin deine Freundin, und du wirst bei mir und meiner Großmutter leben.

In keiner dieser “alles in allem netten Familien” kann sie länger bleiben, was ihre Sehnsucht nach “ihrer” Familie erklärt und verstärkt. Es erklärt auch, weshalb sie sich sehr an Adriana “klammert”. Die Nachforschungen bringen allerdings kein Ergebnis, bis Adriana wieder mal mit hrem Bekannten Robbi in Israel telefoniert.

Altaras erzählt launig und beredt. Sie vergisst nicht, ihre Vorzüge und Meriten zu erwähnen, spielt sie aber nicht in den Vordergrund, versteckt auch ihre Schwachstellen nicht. Man erfährt – natürlich subjektiv grundiert – manches über den Theaterbetrieb: die Hintergedanken der Inszenierung, die persönlichen Stärken und Schwächen der multinationalen Darsteller, vom Solisten bis zum Chor, Eigenheiten von Bühnengestaltern, Kostümbildnerinnen und Dramaturginnen. Und – nicht zuletzt – darf über der Theaterarbeit mit ihren ungeplanten Seitenwegen zu Sisseles Familiensuche auch Adriana Altaras’ eigene Familie nicht zu kurz kommen. Ein kleiner Roman, in den Adriana Altaras – wie gewohnt –ihre Lebendigkeit überträgt. Es gehört schon eine gehörige Portion erzählerische Chuzpe dazu, über dem Abgrund der Schoa ein derart barock überdrehtes, zugleich mutwillig unglaubwürdiges und furchtlos realitätsgesättigtes Stück Literatur aufzuführen, wie Adriana Altaras es in ihrem Roman ‚Die jüdische Souffleuse‘ tut.“ (Ursula Scheer, FAZ)

»Ich werde mich endlich damit abfinden müssen«, sagt Sissele, als ich sie wenig später am Hauptbahnhof raus­lasse. »Für mich gibt es wohl keine Familie mehr. «
Ist Sissele ein weiblicher Hiob? Alles, was ihr wider­fährt, wird zu einer Prüfung.
Sie ist mit Abstand die erstaunlichste Person, die ich je getroffen habe, und von ihrer Lebensgeschichte werde ich mich lange nicht erholen können.
Ich winke der kleinen Gestalt hinterher, die Richtung Eingang verschwindet.

2018               200 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch



Ross
25. März 2020, 14:52
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Fran Ross: Oreo

franrossoreoTrizina liegt in der Argolis auf der griechischen Halbinsel Peloponnes. Ihr antiker Name war Troizen, die Stadt gilt als Geburtsort von Theseus. Theseus’ Vater hieß Aigeus, die Zeugung war einigermaßen rätselhaft.

Da Aigeus glaubte, dass die Königstochter Aithra von ihm schwanger sei, versteckte er ein Schwert und ein Paar Sandalen unter einem schweren Stein. Sollte Aithra ein Sohn geboren werden, so solle dieser, wenn er stark genug sei, den Stein zur Seite rollen und mit den deponierten Dingen zu ihm nach Athen kommen. Das ist von Belang, da Fran Ross Aigeus, Aithra und Theseus als „Figuren“ des Romans auflistet und ihre „Darsteller“ Samuel Schwartz, Helen Clark und Oreo nennt. Oreo (16), die eigentlich Christine heißt, also weiblich ist, ist die „Heldin des Romans“, die Familiengeschichte ist ähnlich unübersichtlich wie die die von Theseus. Oreos Vater ist Jude, ihre Mutter Schwarze. Aigeus hatte sich nach Athen verzogen, Schwartz verließ Frau und Kind nach New York.

Der erste König von Troizen soll Oros geheißen und seine Reich Oraia genannt haben. Das Mädchen Oreo nannte sich nach einem mit einer weißen Creme gefüllten schwarzen Doppelkeks. „Oreo ist aber auch ein Schmähbegriff für Schwarze, die durch höhere Bildung, Religion oder Familie vermeintlich Teil der weißen Kultur geworden sind oder es gerne sein würden.” (Max Czollek im sehr informativen Nachwort)

Auch die Autorin Fran Ross hat einen jüdischen Vater nud eine schwarze Mutter.
Das alles muss man nicht wissen, um dem Inhalt folgen zu können. Aber ein paar Informationen über jüdische Feste und Riten helfen beim Lesen. Im Buch gibt es auch einen Anhang hierzu und ein Glossar jiddischer Wörter, die Einordnung des amerikanischen Lebens in die griechische Mythologie macht die Lektüre erst (recht) zu einem Vergnügen.

Teil 1 heißt „Troizen“, meint Philadelphia und beschreibt die „Mischpoke“. Herausragend sind die Großmutter mütterlicherseits: Louise und Helen, die „Mutter der Heldin“ Christine aka Oreo. Louise ist bekannt für ihre Sprechweise und ihr Faible für Essen.

Zu Helens frühesten Erinnerungen gehört, wie sie bei Louise auf dem Schoß saß und genötigt wurde, »’bier ma diier, Tor­nado Bernice« (probier mal die hier, tournedos Bearnaise), ihr dabei über die Schulter sah und das erstaunlich weiße Ge­sicht ihrer Mutter mit dem von deren Vater verglich, dem ab­soluten Farbtyp 1, wenn es je einen solchen gab. Sein Porträt hing in einem ovalen Rahmen im Esszimmer. (…)

Louise sprach nur in groben Zügen, das Wer, Was, Wo, Wann, Wie und Warum mussten die Angesprochenen je­weils selbst einfügen. Namen merkte sie sich nur selten (»Da gehn Miss Hießdienoch und ihre Tochter.«), oder sie nahm erst zwei-, dreimal Anlauf, bevor sie den tödlichen Sprung auf die Beute schaffte (»Juuhuu, Jenkins … ich meine Mabel … ach nee, George!«), oder griff zu ähnlich klingenden Ersatz­wörtern (das »Kiel« in »Geh in‘ Laden ’ne Flasche Kiel holn« stand für Pril). Auch im Umgang mit Zeit blieb sie vage. Stun­den oder Minuten gab sie grundsätzlich nicht an. Immer nur »halb«, »vittelvö« oder »vittelnä«. Entsprechend war alles zwi­schen 3 Uhr 1 und 3 Uhr 25 bei ihr schlicht »vittelnä«. Woher sie die Südstaatensprüche hatte, die ihrer Sprache die Würze gaben, wusste niemand. Als Helen heranwuchs, sagte Louise oft, solange sie zwei Löcher in der Nase habe, wolle sie » ver­dammich« sein, wenn sie je begreifen würde, wie diese ihre Tochter derart »schlurich« (schluderig) sein könne, und dass ihre Haare aussähen »wie’n Heuhauf’m« und ihr Zimmer »wie ‚m Teufel sein Hühnerstall« und sie bloß »Stroh im Kopp« habe und sich manchmal benehme wie ein »Straßenköter« und ein »Heidenkind« sei, weil sie sich weigerte, in die Golgatha-Bap­tistenkirche zu gehen, und was ihr tägliches Treiben angehe, naja, man wisse ja, »Gott mach‘ hässlich nich’«.

Die Krönung von Louises Kochkunst ist “La Carte du Diner d’Helène” .

Helen schrieb (…) auf einen Zettel, welche Ta­lente sie hatte:

    1. Mimesis
    2. Kopfgleichungen
    3. Singen
    4. Klavierspielen.

Soweit sie wusste, war die Nachfrage nach schwarzen Imitato­rinnen nicht eben groß. (»Und jetzt mache ich James Cagney, wie er Mae West Steppen beibringt, und zwar Buck-and-Wing.« Cagney: Klicketi-klick, Klicketi-klick. Mae West: Umpfti-umpf, umpfti-umpf. Cagney :»Du, du, du miese Ratte – es heißt buck, mit b!«) Ihre Kopfgleichungskapazitäten kommerzialisieren wollte sie nicht. Und Nr. 3 und 4 waren die Klischee-Plusse und -Minusse. Trotzdem nahm sie die 4.

Es gibt auch noch Bruder Jimmy C, Haustiere und –lehrer und viel Sprach-WITZ (“Weg des Interstitiell Treffsicheren Zorns”), gern auch derb und feucht:

Vom anderen Ende kam ein Stöhnen, dann ein heiseres: »Ich würde doch ganz gern persönlich vorbeikommen und die komplette Untersuchung vornehmen.«
»Dann tun Sie das doch«, erwiderte die Bestöhnte liebrei­zend.
»Ich bringe meine Instrumente mit«, sagte der Doktor in einem letzten Täuschungsversuch.
»Mehrere?«, fragte Oreo. »Eins reicht doch. Ach übrigens, Herr Doktor, mir sind endlich ein paar Wörter eingefallen.
Weiß gar nicht, wieso mir die vorhin entfallen waren.« Sie sprudelte einen Haufen Wörter heraus, die mit F und N und P anfangen und sich auf Zicken und Hageln und Noppen rei­men.
Jetzt entfuhr dem Doktor ein Keuchen im Format Masters und Johnson. In einer Stunde sei er da, japste er. Oreo ver­sprach, ihn auf der Veranda zu erwarten, bekleidet mit einem Begonienblatt.
Dann lief sie schnurstracks drei Häuser weiter zu Betty Williams und erzählte ihr, sie wolle einem Bekannten einen Streich spielen. Betty Williams war die Kieznymphomanin. Sie würde für zwei Cent einen Pümpel pimpern. In West Phil­adelphia hatte die Geschichte von Betty und dem Freund aller Klempner Sagenstatus. Damit war jeder, der das Wort Freund nicht als Schibboleth verstand, sondern auf einen Menschen bezog, automatisch als nicht hiesig enttarnt und wurde zum Objekt von xenophobischem Hohn und Spott. Betty willigte gern ein, ihrer jungen Freundin zu helfen.

Teil 2 heißt “Mäandern” und folgt in der besagten Methode Oreos Weg zu ihrem Vater nach New York.

Dann zog sie die Kor­del der schwarzen Handtasche (Modell Pferdeheusack) auf, schob die Socken beiseite, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, und zog die kaffeeverkleckerte Liste mit seinen Hinweisen heraus.

    1. Schwert und Sandalen
    2. Drei Beine
    3. Der Große Riss
    4. Sau
    5. Tritte
    6. Zwirbel
    7. Größen
    8. Down by the River
    9. Tempel
    10. Glückszahl
    11. Gestrüpp
    12. Segel

Sie strich den ersten Punkt durch. Wenn der zweite genauso weit hergeholt war wie der erste, dann konnte »Drei Beine« alles heißen, von kaputter Stuhl bis siamesische Zwillinge. Egal. Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hinge­hen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.

Die Kapitel beziehen sich auf die griechische Mythologie: “Oreo folgt der Theseus-Sage mit all ihren Volten.“ (Klappentext) Der Weg schlängelt sich vorbei am Bösewicht Peripetes, am Fichtenbeuger Sinis, am Krommyionischen Schwein Phaia, dem Wegelagerer Kerkyron oder dem Gliedausrecker Prokrustes. Bei Fran Ross heißen sie natürlich anders. Die Zwergenfamilie, die in gräßlichen Reimen spricht, der üble Zuhälter Parnell mit seinen 9 „Dirnelein“, eine geschmuggelte Bulldogge. Oreo besiegt sie alle mit ihren sehr speziellen Methoden. Ihr Motto: „Nemo me impune lacessit“, bzw, auf südstaatisch: „Mir saacht kein Nigger nich, was ich zu tun und zu lassen hab!“ Das alles wirkt hier wohl reichlich unübersichtlich. Aber Du solltest dich nicht abschrecken lassen. Einfach mal lesen.

“Gibt es authentisches schwarzes, jüdisches, weißes, femi­nistisches Schreiben? Nein, antwortet Ross mit Oreo, schon die Frage verengt den Umgang mit Literatur auf eine politische Debatte um kulturelle Aneignung und Authentizität, die sich niemals für alle Teile einer Gruppe beantworten lässt. Die Rea­litäten jeder einzelnen Person sind so radikal vielfältig, dass es das gesamten literarischen Kanons bedarf, um sie darzustellen”. (Max Czollek) “’Oreo’ ist ein köstliches, sprachexplosives Anti-politische-Korrektheitsprogramm, und ein Genuss für alle, die schon immer postmoderne Romane mochten. Denn identifikatorisch ist hier gar nichts, eher wirkt es so, als habe die Autorin alles (…) durch einen Mythen-Fleischwolf gedreht.“ (Maike Albath, SZ) „Wir wussten es nicht, aber wir haben auf dieses Buch ge­wartet.” (Max Czollek)

1974        280 Seiten           Deutsche Erstausgabe 2019

Für die Übersetzung erhielt Pieke Biermann den Preis der (ausgefallenen) Leipziger Buchmesse 2020

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Schnerf
17. Januar 2020, 13:35
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Joachim Schnerf:
Wir waren eine gute Erfindung

schnerferfindungDie Melodie überkommt mich, und meine Lippen murmeln vergessene Wörter: »Wenn morgen wieder Licht wird, zeig uns die Klarheit des Himmels.« Ich will mich Strecken, doch mein Körper reagiert nicht mehr. Ich, Salomon, Sohn Davids, Sohn Jakobs. Ich, Salomon, der ich nicht mehr weiß, ob meine Lieder wirklich sind, ob mein letzter Ruf im Zimmer nachhallt. »Möge diese Nacht nicht die letzte sein …« Michelles Gesicht ist neben mir, aber es ist Sarah, die zu mir spricht. Sie tröstet mich, verspricht mir, dass morgen wieder Licht werde. Dann werden wir zusammen sein. Ein Liebespaar mit verschlungenen Schenkceln, beide endlich wieder aneinandergefügt. Und unsere Flügel werden nachwachsen, wie überhaupt alles. Und wir werden uns ein wenig vom Boden erheben. Werden ein wenig fliegen.

Das geschieht in dieser Nacht. „Cette nuit“ heißt der Roman im französischen Original. Vielleicht geschieht es aber auch nicht. Fliegen, wenn auch nur ein wenig, kann der Geist am besten, wenn er nicht mehr vom Körper beschwert ist, ganz zuletzt, wenn sich alles vermischt, alles gleich wichtig ist. Wenn es nicht mehr wichtig ist.

Diese Nacht, das ist der Abend vor Pessach, der Sederabend, ein gewichtiger Abend im jüdischen Festkalender, ein Abend, an dem sich die gesamte Familie trifft, um ungesäuertes Brot zu essen. Streng nach jüdischem Ritual, ein Abend wie geschaffen, um die Zeit fließend werden zu lassen, das Geschehene mit dem Erträumten zu verbinden. Den Holocaust und die Flügel.

Salomons Frau Sarah ist gestorben. Er kann sie aber nicht fortlassen, sie sitzt mit am Seder-Tisch, ist anwesend wie die Gedanken ans KZ, an das Grauen.

Ich frage mich, was Sarah jetzt wohl täte, wo sie gerade wäre. Wahrscheinlich würde sie leise durchs Zimmer ge­hen und versuchen, sich fertig zu machen, ohne mich zu wecken. Ihre Füße streiften die Parkettleisten, streichel­ten sanft den Boden. Ich frage mich das, obwohl ich doch weiß, dass Sarah überall ist. Sarah. Ich mag es, ihren Na­men zu flüstern, sie in meine Gedanken einzumauern, um das Vergessen an seinen Streifzügen zu hindern. Ich wickle meine Frau in unsere Teppiche und in unsere Vor­hänge ein, ich zerstückle ihr Bild, damit kein Nazi sie ganz erwischen kann. Statt der Lampenschirme sehe ich ihre bläulichen Pupillen, statt der Kopfkissen ihre warmen Hände.
Und ich höre sie schimpfen: »Warum die Nazis, immer noch?« Sie hatte genug von der ständigen Shoah, aber ist es überhaupt möglich, eine Gedächtniswunde zu heilen?

Die Kinder haben ihre eigenen Sorgen, eigene Probleme mit ihrem Leben, sie hören nur halb hin, lachen über die bemühten Shoah-Witze, streiten sich über Dinge, die sie für wichig halten. Die Töchter haben sich unterschiedlich entwickelt, können sich nicht mehr leiden, die Enkel sind wie Enkel, was geht sie die Geschichte an, was der Schrecken, sie haben die Austauschschülerin Leyla mitgebracht, die sich als deutschtürkisch erweist.

Das Familienoberhaupt braucht den Afikoman, um den Sederabend zu beschlie­ßen, und die Tradition besagte, dass ich ihn versteckte, während er ihn wieder aufspüren musste … oder gegen ein Geschenk auslösen.

Mit den Jahren sind meine Enkel zu Spezialisten ge­worden, sie agieren rasch und präzise. Doch während ich mir die Hände wasche, macht sich für gewöhnlich tiefe Langeweile am Tisch breit, wie Sarah mir berichtete. Ich wage mir gar nicht das diesjährige Unbehagen vorzustel­len, wenn unsere Töchter plötzlich ohne die Kinder und ohne mich im Esszimmer sitzen. Ohne Sarah. Der stille Raum. Sie haben sich seit Jahren nichts mehr zu sagen.

Joachim Schnerf hält die Erzählung in der Schwebe – zwischen Tod und Leben, zwischen Erinnerung und Alltagsproblemen, zwischen Überlebenden und Nachgeborenen, zwischen Ritual und Müdigkeit. Die Geschichte durchzieht ein leiser Witz, eine Unbeschwertheit, die hilft, die Trauer zu überstehen. Zu fliegen. Kein politischer Roman, sondern eine warmherzige Annäherung an die Familie und sich selbst.

Geschrei, Tränen und Exkremente, diese Nacht wird all den anderen gleichen. Ich sollte sie gar nicht nach ihrer Meinung fragen, sondern ihnen Sarahs Erbe einfach auf­zwingen, ohne über Geld zu sprechen. Tief in meinem Her­zen weiß ich, was ihr gefallen hätte, ich weiß, was ihr diese Festabende bedeuten, und ich bin überzeugt, dass sie an diesem Seder keine Wehmut gewollt hätte. Es wird diese Nacht ohne sie geben, und die morgige. Aber nächstes Jahr und das darauffolgende? Ich will ihr keinen Wein mehr ein­schenken ohne Hoffnung, ich will nicht mehr hier sitzen, essen und betrübt aus Ägypten ausziehen. Es hat diese vielen Sederabende mit Sarah gegeben, nun wird es diese erste Osternacht ohne sie geben, danach werden wir die Befreiung woanders besingen müssen, damit sich die Trau­eranlässe nicht überschneiden, damit sie nichts von ihrer heiligen Regelmäßigkeit verlieren.

2018            140 Seiten

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Meyer
15. Dezember 2019, 17:17
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Thomas Meyer:

Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse

meyerwolkenbruchDie jüdische Familie ist eingebettet in eine Hülle von Regeln, von Dos and Don’ts, Festen mit Riten, Vorgaben für Kleidung und Autokauf, Schabbes und koschere Speisen wollen eingehalten werden, von Heiratszwängen gar nicht zu reden. (613 Ge- und Verbote soll es geben.)

Auf dem Tisch standen riesige Schüsseln mit chrojsses, Zwiebel mit Ei und gefiltem fisch, bewacht von zwaj massiven Matzentürmen. Es gab auch ein Depot von seks flaschn israelischem Rotwein, das ich bereits zu einem Zwölftel geplündert hatte.

Das tisch-tech, auf dem sich all diese Dinge befanden, war gänzlich mit Matzenkrümeln übersät, und irgendwo fand sich auch noch der traditionelle sederteler mit Petersilie als Zeichen der Frucht der erd, ein kleines Gefäß mit Salz-waser als Zeichen des Meeres, als Zeichen der Bitterkeit etwas Meerrettich, als Zeichen des Lehms etwas chrojsses, als Zeichen der Gebrechlichkeit ein hartgekochtes Ei und als Zeichen des Pessach-Lammes ein gerösteter Knochen mit eppes Fleisch daran.

Lauter Zeichen und lauter Essen; alles sejer jiddisch.

Bei den Wolkenbruchs ist es mame Judith, geborene Eisengeist, die über alles wacht, besonders über Sohn Mordechai, genannt Motti. Motti ist schon 25 und hat noch immer keine Frau, denn alle, die ihm die mame zuführt, gefallen ihm nicht, denn alle sehen sie so aus wie die mame. Die Frau muss jüdisch sein, alles alle ist egal, eine gojete kommt nicht in Frage.

Ich fuhr mir mit der hant in den bort, denkend: Jetzt kannst der eigenen Mutter ja schlecht sagen, das mejdl gefelt mir nicht, die sieht aus wie du.
Also sagte ich: »Da war nischt kejn funk zwischen uns, mame
»Kejn funk!«, rief die mame. »Was brauchst du a funk! Du brauchst a froj

Vieles deutete darauf hin. So brachte mich meine mame einige teg schpejter unter einem Vorwand mit dem ojto nach Basel. Angeblich sollte ich ihr helfen, bei einer alten froj, die ihre Wohnung räumte, ballenweise Stoffe für mames wöchentlichen Nähabend abzuholen. Tatsächlich war aber die froj gar nicht so alt und auch weit davon entfernt, ihre Wohnung aufzugeben; und es gab auch keine Stoffe, dafür eine Tochter, zu der ich kurzerhand in ein stockiges zimer gescheucht wurde. Die tir blieb sittsam offen.

Die junge froj, Hannah ihr Name, war von fesselnder Hässlichkeit und sah nur kurz auf, als wir miteinander bekannt gemacht wurden. Danach schaute sie nur noch auf ihre fis hinab. Zudem sprach sie sejer leise, so dass ich immer wieder nachfragen musste, was sie gesagt hatte.

So muss es früher im Königsschloss mit der ungestalten Prinzessin gewejn sein, dachte ich; man sperrte sie ins Turmzimmer und schleuste Prinz um Prinz hinauf, in der hofenung, einer habe schlechte ojgn.

Das Grundgerüst des Romans ist simpel: Der lebenstechnisch etwas unbedarfte Ich-Erzähler lässt sich immer wieder überrraschen von der Verstocktheit der jüdischen Innnenwelt in der sich abkapselnden Community in Zürich, er stutzt aber ebenso über das, was er nicht weiß von der Außenwelt. Da gibt es bunte Kleidung, alkoholische Getränke, unkoscheres Essen, Led Zeppelin, WGs – und eben Schicksen wie die Kommilitonin Laura mit ihrem tuches.

Ein paar Schritte weiter vorn drehte sich ein mejdl um. Sein hell-brojnes, langes hor tat einen frischen Schwung und brachte große, grüne ojgn hervor, die in einem punem von solcher Anmut, von solchem Liebreiz und solcher Lebendigkeit leuchteten, dass ich mit staunendem Mund stehen blieb. Noch nie hatte ich eine derart schejne froj erblickt, und unwillkürlich sprach ich leise den Segensspruch beim Sehen von Bäumen oder anderen Geschöpfen von außergewöhnlicher Schönheit: »Baruch ata adonai, elohenu melech ha’olam, schekacha lo be’olamo«; gelobt seist du, Ewiger, unser G’t, König der Welt, dies alles ist Bestandteil seiner Welt. (…)

Allein schon der Tatsache, dass sie hojsn trug – wohlgemerkt auffallend sportlich geschnit­tene -, war zu entnehmen, dass es sich bei dieser froj um eine schikse handelte; auch ihr unjüdischer Name verriet, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit regelmäßig Schweine aß und am schabbes hemmungslos elektrische Gerätschaf­ten in Gang setzte. Dennoch empfand ich den Namen Laura als Wohlklang, und ich muss gestehen, dass sich die Achse meiner jiddischkajt an diesem frimorgn leicht ver­schob.

Wenn Innen- und Außenwelt aufeinanderstoßen, springt Lustiges heraus. Je klischeehafter, desto lauter will man lachen, die leisen Skrupel verflüchtigen sich in Meyers komödiantischer Darstellung. Jeder kriegt sein Fett weg, am meisten die mame, aber eben auch Motti, der notgeile Erzähler mit seiner jarmelke.

Alle Juden tragen die erwarteten Namen: Blattgrün, Grünstern, Silberzweig. Man erheitert sich über die vielen jiddischenWörter und Sentenzen und erkundigt sich gerne im Glossar über ihre Bedeutung. Vieles versteht man auch so, denn das Jiddische ist ein mittelalterlicher deutscher Dialekt. (Erfunden hat Meyer den blizbrif.)

Am Schluss landet Motti in Lauras Schoß zum schtup. Der ganze Roman ist eine Lachnummer.

2012          280 Seiten (TaBu)

Jiddisch-Glossar und Wolkebruchs Jiddisch-Kurs als Video auf
Thomas Meyers Homepage

Da sie nicht gestorben sind, wurde der Roman 2018 von Michael Steiner verfilmt, 2019 erschien die Fortsetzung „Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin“. „Wolkenbruch“ (…) beruht darauf, dass die jüdischen Figuren die Anderen sind und sich der Protagonist vor ihnen in die Mehrheitsgesellschaft retten kann. Meyer inszeniert kulturelle Differenz als Lachnummer. Bis heute sind in der Schweiz die ältesten antisemitischen Stereotype wirksam.“ „Bei Meyer sind „die Männer durchgehend notgeil und haben die Frauen entweder einen „guten“, einen „sehr guten Tuches“ oder einen „Übertuches““. (Caspar Battegay, ZEIT) Laura heißt jetzt Hulda.

Caspar Battegay, ZEIT: Der zweite Wolkenbruch-Roman: Dümmlicher Kitsch

Wolkenbruch – der Film

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Boschwitz
12. April 2018, 19:23
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Ulrich Alexander Boschwitz:
Der Reisende

boschwitzOtto Silbermann wird abrupt aus seinem Leben gerissen. 1938 bei den Novemberpogromen stürmen und verwüsten Nazis die Wohnung ds Geschäftsmanns, er kann gerade noch durch den Nebenausgang entkommen. Damit aber steht er auf der Straße, die Verbindungen zur Familie und zu Bekannten sind gekappt. Er ärgert sich, zu lange mit der Ausreise gewartet zu haben, er fühlte sich als Deutscher und WK1-Teilnehmer sicher. Er will seine Hoffnung nicht aufgeben: „Es muss doch Leute geben, die trotz aller Gelegenheiten anständig und Menschen bleiben. Die nichtzum Schwein werden, nur weil sie eine Pfütze sehen, in der es sich suhlen lässt.“ Jetzt sind Grenzen und Fluchtwege verschlossen.  Kein Einzelschicksal. Der Versuch, nach Belgien zu kommen, endet in einem Wald.Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären im die Grenzwächter.

Silbermann trägt in seiner Aktentasche Geld bei sich, das ihm Möglichkeiten und Sicherheiten zu versprechen scheint. Es bindet aber auch seine Aufmerksamkeit. Schnell stellt er fest, dass seine Kompagnons sich von ihm abwenden. Sein Prokurist Becker raubt Silbermann Geld, Boschwitz beschreibt ihn als Prototyp des „arischen“ Profiteurs, als „Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren? (Alex Rühle, SZ). Silbermanns Sohn in Paris kann oder will nichts für ihn tun, seine Frau ist zu ihrem Nazi-Bruder an die Ostsee gefahren. Jeder Kontaktversuch stellt ein Risiko dar, Silbermanns bisheriges Leben hat ihn nicht auf diese Art von Gefahr vorbereitet. Er fühlt sich isoliert, hilflos, er beginnt zu hyperventilieren, zu strampeln und da kann man natürlich nichts richtig machen, da fällt man auf.

Silbermanns Lebensraum verengt sich zusehends. Da er sich auf offener Straße beobachtet fühlt und stets fürchtet, als Jude erkannt zu werden, setzt er sich in den Zug. Überall ist es besser als dort, wo man gerade ist; man möchte reden, sich absichern, doch jeder Versuch kann in der Finalität des KZs enden. Er sieht nicht wie ein Jude aus – damals schien man Juden auf den ersten Blick zu erkennen -, doch in seinem Pass steht sein Name und der „J“-Stempel, eine Kontrolle wäre das Aus.

Zornig warf er die Zigarette, die er sich angesteckt hatte, fort. Was ich auch getan habe, dachte er, heute be­kommt es ein neues Gesicht, denn heute bin ich ein an­gezweifelter Mensch, ein Jude.
Er stieg in den inzwischen eingelaufenen Zug ein.
Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Rei­sen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprü­gelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweif­lung, und dort lassen sie einen stehen.
Er sah vom Fenster aus ein vorbeifliegendes, sauberes, reizvolles kleines Bauerndorf.
Das ist alles nur Kulisse, dachte er. Das einzig Wirk­liche ist die Jagd, die Flucht.
Er lehnte sich zurück.

Ich möchte schwätzen, dachte Silbermann. Ich möchte ununterbrochen schwätzen. Er lehnte den Kopf an seinen aufgehängten Mantel und schloss die Augen. Er lauschte auf das Rattern der Räder.
Berlin – Hamburg, dachte er.
Hamburg – Berlin
Berlin – Dortmund
Dortmund – Aachen
Aachen – Dortmund
Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender.
Ich bin überhaupt schon ausgewandert.
Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland.
Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied. Wieder hörte er auf das Sto­ßen der Räder, die Musik des Reisens.
Ich bin in Sicherheit, dachte er, ich bin in Bewegung. Ja, und es ist beinahe gemütlich.
Räder rattern, Türen gehen, geradezu vergnüglich könnte das sein, man denkt nur zu viel.
Dann lächelte er. Früher veranstaltete die Reichsbahn Fahrten ins Blaue, erinnerte er sich. Jetzt veranstaltete sie die Reichsregierung.

Ulrich Alexander Boschwitz schrieb den Roman 1939 im Exil in Australien, er war 27 Jahre alt. „Der Reisende“ erschien 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman vergeblich seinem Hausverlag Middelhauve. 2018 gibt Peter Graf das Buch erstmals auf Deutsch heraus. (Mehr Informationen)

Wenn man den Roman liest, ist man im Jahr 1938. Heute können wir zurückblicken auf das, was nach 1938 folgte. Boschwitz sah nur, was sich anbahnte, doch das war deutlich genug. Aber man musste es auch sehen wollen. „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“, sagt Silbermann. „Heutzutage mordet man wirtschaftlich.“ Boschwitz lässt den Leser hautnah miterleben, was das bedeutet. Er führt die Mitreisenden vor als „Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil „jüdisch“ aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin“ (Andreas Kilb, FAZ). „Alles Verräter, dachte er, alle, alle, alle. Keiner hält stand. Sie ducken sich, und sagen: Wir müssen, aber sie wollen auch. Was sind denn die berühmten Gelegenhei­ten ohne diejenigen, die sie ausnützen?“ Dabei sind nicht alle Nichtjuden böse, sind nicht alle Juden sympathisch. Aber darauf kommt es nicht mehr an, wenn einem mit dem Stempel der Makel aufgedrückt ist. Das Weglaufen vor der Gefahr ist in die Gedanken gewandert, auch sie kreisen ohne Ziel, ausweglos. Deprimierend, intensiv. Vergleichbar mit Anna Seghers. Leider aktuell.

Es gab Epochen, in denen viele Menschen vor Lebensträgheit fast an sich selbst erstick­ten und sich darum verzweifelt in abenteuerliche Affä­ren stürzten und mit den Stühlen, auf denen sie allzu bequem saßen, zu ihrer eigenen Erheiterung recht ge­fährlich hin und her wackelten. Man holte sich seine Emotionen von der Börse. Nun aber werden sie einem ausreichend geliefert. Als Kind träumte ich den Zügen nach. Wie gerne wäre ich mitgefahren, immer weiter ge­fahren.
Jetzt fahre ich. Jetzt fahre ich.

Das logische Ende ist, dass das Überleben nur noch möglich scheint, wenn man seine Humanität opfert.

»Sie kompromittieren mich ja«, stieß Silbermann ge­reizt und verdrossen hervor.
Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Aus­druck des Behagens, das es beim Essen angenommen hatte, seine Augen weiteten und sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Er neigte den Kopf, bis er fast auf seiner rechten Schulter auflag. Dann stand er wortlos auf, nahm von dem neben ihm stehen­den Stuhl Hut und Mantel und kleidete sich an.
»Hamburger«, sagte Silbermann. »Ich habe das nicht so gemeint. Es ist mir nur so rausgerutscht.

Mit verstörten Blicken sah er sich in dem Lokal um. Was trennt mich denn eigentlich noch von euch, dachte er. Wir gleichen uns auf geradezu beängstigende Weise.
Er aß zu Ende, bezahlte und verließ dann das Lokal.

 

1939/2018           305 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

 

Ulrich Alexander Boschwitz:
Menschen neben dem Leben

Ein Großstadtroman. Anfang der 1930er-Jahre, Berlin natürlich. Kriegsbehinderte, Arbeitslose, Bettler, Entwurzelte, verfallendes Bürgertum, Frauen, die, da sie sonst nichts haben, ihre Körper für billiges Geld verkaufen. Wohnen ist ein prekäres Gut, da muss schon einmal ein fensterloser Kellerraum neben dem Lager des Gemüsehändlers reichen. So ein Roman hat sein Personal schnell beieinander, die Handlung ergibt sich aus den Scharmützeln des Überlebens. Allianzen täten not, doch wem kann man trauen.

Als Referenzen nennt Herausgeber Peter Graf Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (von 1929), Falladas Romane von Anfang der 1930er-Jahre, daneben Irmgard Keun, Vicky Baum, Kästner, Tergit, etwas früher die Bilder von Heinrich Zille, Walther Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt“. Ulrich Alexander Boschwitz’ „Menschen neben dem Leben“ erschien 1937, zuerst auf Schwedisch. Peter Graf hat ihn wiederentdeckt und ihn 2019 publiziert.

Die Tauentzienstraße bebte. Die riesigen, zweistöckigen Autobusse sausten wie fahrende Häuser von Haltestelle zu Haltestelle. Straßenbahn folgte auf Straßenbahn. Sie surrten vorbei, klingelten und benahmen sich so anspruchsvoll wie nur möglich. Die Ketten der Autos rissen nicht ab.
Um die Mittagszeit fuhren alle Direktoren und Direktörchen zum Essen. Sie hatten es eilig und zeigten es auch. Sie hupten und tuteten wild durcheinander und fraßen die Nerven der Leute, die zu Fuß gingen.
Benzingestank und Auspuffgase verpesteten die Luft.
Wie schön ist es, bequem in einem Auto zu sitzen. Hinten aus dem Auspuffrohr kommt der Qualm in schmutzigen Schwaden hervor. Man selbst sitzt vorne, man selbst merkt nichts davon, man selbst gibt Gas und braust davon. Nur die anderen, die Unbekannten, die Uninteressanten bekommen das Gas mit Luft vermischt in die Lungen. (…)

Die Autos standen in Reih und Glied. Das Verkehrs­signal verbot die Weiterfahrt. Endlich wechselten die Far­ben. Wie eine Herde wilder Tiere brüllten die Autos auf. Vorwärts. Der Schlachtruf der Großstadt ertönte.
Hysterisch klingelten die Straßenbahnen. Dumpf grollten die großen Autobusse. Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder. Die Autos und Lastwagen stie­ßen eine dunkle, mit hellen Tönen gemischte Musik aus. Vorwärts!
Berlin hatte keine Geräuschverbote. Man merkte es.

Auf einer Bank, die auf einer in den Asphalt ge­quetschten, kümmerlichen Grünanlage stand, saß Frau Fliebusch und sah verständnislos auf den Verkehr. Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht. Frau Fliebusch war die Frau von gestern. (…)
Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht mehr, und das war ihr Unglück. Ihre Vorstellungswelt bewegte sich im­mer noch in der Vorkriegszeit. Alles, was später gekom­men war, all das Fliebusch-Feindliche, der Krieg und die Inflation und alle Ergebnisse des Krieges, all die Übel der letzten Neuzeit, waren an Frau Fliebusch vorüberge­rauscht wie ein entsetzlicher Traum.
Sie glaubte nicht daran. Sie glaubte nicht, dass dies alles Wahrheiten, nüchterne, alltägliche Wahrheiten wa­ren. So wie sie bis heute noch nicht begriffen hatte, dass Fliebusch, Wilhelm Fliebusch, der kraftvolle, schöne Wil­helm, einer Granate zum Opfer gefallen war. Auch dass ihr Geld, ihre sechzigtausend Mark, entwertet worden waren, glaubte sie nicht. (…)
Unentschlossen sah sich Frau Fliebusch um. Wo sollte sie hingehen?

Aber „Wahrhaftigkeit, das weiß Boschwitz, erlangen seine Figuren vorderhand nicht durch einen scheinbar objektiven Realismus, sondern durch das gleichzeitige Sichtbarmachen der naiven, gefühlsgesteuerten, mal rücksichtsvoll, oft rücksichtslos ichbezogenen und von Traumata durchzogenen Lebenswirklichkeit von Fund­holz und seinen Freunden, bei denen Irrationalitäten, Selbstbetrug und Verdrängung notwendiger Bestandteil der Überlebensstrategie sind.” (Peter Graf im Nachwort)

Der Arbeitslose Grissmann stand gegen den Blinden Sonnenberg.
Zwei geprügelte Menschen standen vor der Explosion. Sie explodierten gegeneinander. Sie sahen in sich gegen­seitig den Todfeind. Den Feind, dessen bloße Existenz das Leben vergiftete. Sie lagen beide unter den Rädern des Lebens. Ihre Revolte gegen das Leben wurde zu einer Revolte gegen sich selbst.
Die Räder zerquetschten sie, verkrüppelten sie, kör­perlich oder geistig. Aber die Räder standen jenseits ih­rer Fassungskraft.
Das Leben war gegeben, wie es war. Es zu ändern, stand nicht in ihrer Macht.
Sie konnten nur einer den anderen zerstören. Sie konnten sich nur sekundenlang befreien von dem Druck, der auf ihnen lastete, indem sie den anderen ver­nichteten.Sie konnten sich nur ein Ventil schaffen, ein Ventil für erlittene Enttäuschungen und für alle Leiden.
So wie zwei Nationen plötzlich ohne scheinbare Not­wendigkeit übereinander herfallen, sich begeistert in Kriege treiben lassen für die Interessen Unbekannter und Ungenannter, so gab es auch für Menschen Augen­blicke, in denen sie sich hemmungslos dem Vernich­tungstrieb unterwarfen.

Boschwitz beschreibt seine Figuren nicht nur, er analysiert sie, erklärt ihre psycho-sozialen Defizite, Getriebenheiten. Er setzt sie als Spielfiguren ein, führt sie, lässt sie leiden und scheitern. “Sie bewegen sich in einem tragischen, immer wieder aber auch komischen und von einer überwältigenden Menschlichkeit grundierten Ereignisgeflecht ungelenk und doch stetig aufeinander zu, bis sie sich schließlich alle eingefunden haben an dem Ort ihrer schicksalhaf­ten Begegnung” (Peter Graf), im »Fröhlichen Waidmann«.

In “Der Reisende” focussiert sich Boschwitz auf das Einzelschicksal, treibt seinen Otto Silbermann in die ausweglose Verzweiflung. Das geht einem näher.

1937 / 2019 300 Seiten



Kapitelman
8. November 2016, 17:38
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Dmitrij Kapitelman:
Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters

kapitelmanDmitrij Kapitelman ist mit seiner Familie nicht nach Israel ausgewandert, sie haben sich 1994 ohne rechte Überzeugung von Kiew nach Deutschland aufgemacht. Als russisch-jüdische Kontingentflüchtlinge sind sie in einem sächsichen Asylbewerberheim glelandet. Das war, als „man die Nazis noch an ihren Glatzen erkannte und der junge Dima vor ihnen davonlaufen musste. Jetzt sind die Nazis in Gestalt von Pegida wieder auf den Straßen und die Kapitelmans wissen immer weniger, ob ihre „Identität“ wirklich deutsch ist bzw. ob sie überhaupt eine haben.

Sie haben sich irgendwie eingelebt: der Vater als Verkäufer im „Magazin“  für östliche Lebensmittel, der Sohn hat studiert, er macht (als Dheema) Musik und schreibt Bücher. Im Mittelpunkt von   „Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ steht eine Reise nach Israel. Ich „wollte wissen, wer ich bin und ob es einen Ort gibt, an den ich gehöre. Und hoffte, dass Israel vielleicht beide Antworten bereithalten würde“. Er müsste sich entscheiden, sich in das Land einzufühlen oder es zu analysieren. Als Student ist ihm der Kopf näher.

Ich verstehe Borja. Ja, Israels Gesellschaft, die so viele Feinde hat, muss beispiellos selbstsüchtig sein, um zu überleben. Aber selbst aus Motiven der reinen Selbsterhaltung ergibt der Sieg des Likud keinen Sinn. Er verspricht Sicherheit, aber verneint Frieden. Alles, was die Regierung im Wahlkampf aufbot, war Angst. Angst vor dem Atom-Iran, Angst vor einem Palästinen­serstaat. Aber eine außermilitärische Strategie im Atomkon­flikt blieb der Likud schuldig. Statt deeskalierender Verhand­lungen versprach Netanyahu großspurig noch mehr Härte gegen Palästinenser. Und diese Anti-Agenda genügte, um zu siegen. In einem von Angst und den Nutznießern der Angst regierten Heiligen Land.

Dima fährt auch in die besetzten Gebiete, nach Ramallah, nach Nablus, ohne den Vater, der sich zu unsicher fühlt. Er trifft dort auf junge Araber, die, erstaunlich, auch Menschen sind, er trifft auf Dina, eine Computerworkerin, die zwischen Haar und Kopftuch wechselt, einme Hoffnung, unerfüllbar, das Misstreun ist zu groß. Aber romantisch. Dima Kapitelman entdeckt in Israel nicht sich selbst. Wie sollte er. Aber die Reise mit seinem Vater hat ihn sensibler gemacht. Auch gegenüber seinem Vater, der nüchtern zu bleiben versucht. Voller „philosophischer Schwermut“ und „argumentativer Widersprüchlichkeit“ (Alex Rühle, SZ), unsichtbar, wenn man sich an ihm festhalten will, aber mit großem Herz. Der Vater, der nur Zahlen gelten lassen will und beteuert, er glaube an gar nichts, beginnt an der Klagemauer zu beten. Eine der vielen irritierenden Erfahrungen des Erzählers.

Als wir an diesem lag zum dritten Mal beim gleichen Gra­natapfelsaftdealer unseren Stoff kaufen, möchte er wissen, wo wir herkommen. Und was uns nach Israel gebracht hat. Mitt­lerweile geht mir die Antwort seltsam kompakt von der Zun­ge: »Wir schauen uns das Leben an, das wir um eine Ausreise verpasst haben. Wir waren eigentlich schon fast Neuisraelis, dann hat mein Vater uns doch nach Deutschland geschleppt.« Später im Bus nimmt Papa den Faden wieder auf: »Ich habe uns also nach Deutschland geschleppt?«
»Hast du das etwa nicht?«
»Doch. Und ich hatte sehr gute Gründe dafür.« »Dass Mutter keine Jüdin ist?« »Ja, denn du wärst -«
»Ja, ich weiß schon. Jude zweiter Klasse. Was ist, wenn ich dir sage, dass ich mich momentan sehr jüdisch fühle? Genau hier in Israel.«
»Hier bist du kein Jude, in Deutschland bist du einer.« Papas ewig widersprüchliche Relativierungen über seine, vor allem aber meine Zugehörigkeit zum Judentum nerven und irritieren mich. Ich schalte auf Trotz.
»Ach, so einfach ist das also? Und wenn ich hier aufgewach­sen wäre und Hebräisch sprechen würde?«
»Dann wäre das anders. Du hast auf jeden Fall mehr jüdi­sches in deiner Seele als Moldawisches.«
»Und diese Seelenanteile bemisst man noch mal wonach?« »Das merkt man dir an.«
»Woran?«
»Daran, was für eine Art Mensch du bist.« »Und was für eine Art Mensch bin ich?« »Ein jüdischer Mensch.«
Gut, dass wir in aller Klarheit drüber gesprochen haben, Papa.

„Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ ist kein Roman, sondern eine Spurensuche (auch in die Zukunft) mit autobiografischem Hintergrund. In einer Zeit, wo mancher vom Weg Abgekommene nach der Leitlinie der nationalen Zugehörigkeit sucht, stellt sich die Frage für Juden (in Deutschland) in extremer Form. Katja Petrowskaja erforscht die Spuren ihrer Familie, die auch nach Kiew führen („Vielleicht Esther”), Adriana Altaras hat ihre Flucht aus Jugoslawien nach Deutschland beschrieben und ist überrascht, wie sehr ihre jüdische Identität braucht und die Rituale zelebriert („Titos Brille”). Dmitrij Belkin hat jüngst ein Buch mit ähnlichem Thema, der „Grauzone verschiedener Identitäten“ (Robert Probst, SZ) veröffentlicht. Dmitrij Kapitelman erzählt amüsant, ist offen für Wendungen, lässt den Leser in vielen oft heiteren, in Palästina auch bedrückenden Episoden die oft skurrilen Wege des „Identitätskaters“ miterleben.

 2016         285 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag



Tuil
8. Juni 2015, 16:37
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Karine Tuil: Die Gierigen

tuil2Die Büchergilde druckt drei Herzen auf den Einband. Zwei Männer, eine Frau und die Liebe. Das kennt man und wenn die „Gier“ dazukommt, sind Ekstasen und Katastrophen garantiert. So verkauft man das Buch in Deutschland. „Mit einem Mal gerät das Zusammentreffen zum Duell: Zwei Männer begehren dieselbe Frau, ihre Blicke kreuzen sich, messen sich, beurteilen sich, analysieren sich, Statussymbole werden abgefragt und geheimste Gedanken offenbar. Was für eine Anspannung! Und dazwischen die Frau, deren Anwesenheit ein wahrnehmbares erotisches Knistern auslöst. Sie taucht auf, und alles steht unter Strom.

tuilIm Original heißt der Roman „L’invention des nos vies“, die Erfindung unseres Lebens – der Plural meint, dass jede Biografie, jede Identität Resultat eigenen Betreibens ist.

Alles im Leben ist eine Frage von Entschlossenheit und Absicht. Alles dreht sich um Gelegenheiten und Begegnungen und darum, Chancen zu ergreifen. Davon bin ich fest überzeugt, und ich gehe sogar noch weiter: Ich selbst bin der lebende Beweis dafür. Was tust du, wenn sich eine Tür schließt? Du klopfst an eine andere, und schlimmstenfalls trittst du sie ein …« (…)Ich hab mich neu erschaffen, verstehst du? Durch Willenskraft und eigene Anstrengung! Ja, auf der Grundlage einer Lüge, meinetwegen, aber der Erfolg ist ganz allein mein Werk. Die wichtigen Entscheidungen für mein Leben habe ich gefällt, meinen Karriereplan habe ich entworfen, ich wollte auf keinen Fall irgendetwas passiv erdulden!

Nina ist die Frau. Sie ist die schwächste und auch farbloseste Figur im Roman, weil sie sich nur als Objekt definiert. “Die weibliche Pflicht, begehrenswert zu sein, hat die rechtschaffene, etwas scheue Nina in eine artige Puppe verwandelt, dazu abgerichtet, Männern zu gefallen und sich der männlichen Ordnung zu unterwerfen.” Und das, obwohl (oder weil) Karine Tuil sie als die Inkarnation des Weiblichen skizziert.

Sie ist, völlig objektiv betrachtet, die schönste Frau, die er je gesehen hat, was ihn jedes Mal, wenn er sie offen oder verstohlen beim An- und Ausziehen beobachtet, aufs Neue bestürzt. (…) Sie ist hochgewachsen, hat schwarzumrandete Augen, feine Gesichtszüge und einen vollen, sinnlichen Körper. Ihr Hintern ist rund und fest, sie hat ein ausgeprägtes Hohlkreuz und lange Beine und ist erstaunlich muskulös, obwohl ihre wichtigste sportliche Aktivität darin besteht, der Regionalbahn oder dem Bus hinterherzulaufen. Ihre Gesten verleihen den geringsten Alltagsverrichtungen Glanz.

Nina hat ihre Identität an den Mann gebunden und stürzt ab, wenn der Mann sie nicht mehr halten will oder kann. Sie lebt zunächst mit Samuel zusammen, einem erfolglosen Schriftsteller, der, entgegen dem Titel des Romans, keine Gier kennt.

»Du bist schwach«, wirft (Nina) ihm vor, »das muss mal gesagt werden, du gibst dich mit so wenig zufrieden, du hast keinen Ehrgeiz und keine Träume, du bist und bleibst Mittelmaß, man kann dich einfach nicht bewundern, und manchmal kann man dich auch wirklich nicht leiden.«
Samuel hört zu und widerspricht nicht, er will – feige/ schwach/entwaffnet – die Diskussion vom Vorabend nicht wieder aufwärmen und tut so, als würde nichts ihr friedliches Zusammensein stören, er stellt sich tot, zieht sich in sein Schneckenhaus zurück, zieht den Kopf ein: Ich halte mir die Augen zu, dann existiere ich nicht.

Samuel säuft ab, schreibt ein Buch über sein Leben und hat damit plötzlich einen Bestseller. Ausführlich reflektiert die Autorin die Bedingungen des Schreibens und des Buchmarkts, ein weiteres Thema des Buchs. Aber Nina ist weg. Samir, der alte Freund aus Studententagen ist wieder aufgetaucht und Nina geht mit ihm nach New York, denn Samir kann ihr alles bieten.

Er ist geistig und körperlich besessen von ihr und will nur eines: sie in Besitz nehmen. Er will immer nur bei ihr, in ihr sein. Bei Nina muss er sich nicht verstellen und kein stimulierendes Kopfkino inszenieren. Sobald er an sie denkt, ist er erregt. Er betrachtet sie und begehrt sie, das ist ein Automatismus. Manchmal kann er kaum glauben, dass sie alles für ihn aufgegeben hat und er nur zum Hörer greifen und ein paar Straßen überqueren muss, um sie zu sehen.

Samir ist die Zentralfigur, er verkörpert das, was man früher selfmademan genannt hat, er hat seine Karriere zum Top-Juristen in den USA geplant und alles eingesetzt, was sie befördert hat. Er hat dazu – und hier beginnt die Katastrophe – sich eine neue Biographie gegeben. Samir, Kind tunesischer Arbeiter aus den Pariser Banlieus, ändert seinen Namen in Sam, das ist unverfänglich und könnte auch für Samuel stehen, und so nutzt er die Biografie des früheren Freundes Samuel und erklärt sich zum Juden und kann damit die Tochter eines der reichsten und einflussreichsten jüdischen Bankiers der USA, Rahm Berg, heiraten und ist in der Tophierarchie angekommen. Da ihn die Ehe mit seiner Frau Judith nicht ausfüllt, holt er eben Nina nach, die Gier.

Das Doppelleben – eine herrliche Zeit, deren Intensität Samir Flügel verleiht. Er hat den Eindruck, als lebte er doppelt so leidenschaftlich und doppelt so schnell wie früher, er kommt und geht, läuft, liebt, lügt, verheimlicht, verschweigt, fabuliert, erfindet, manipuliert, spielt, überspielt, zieht sich aus Schlingen, ist nervös, aufgedreht, schläft kaum noch, aber welch ein Rausch! Welche Freiheit, sich in zwei Parallelwelten zu bewegen, in denen er als unumschränkter Herrscher waltet (so fühlt es sich jedenfalls für ihn an), ohne das Risiko, hintergangen zu werden, das sonst immer eine Begleiterscheinung der Macht ist.

Der Rausch kann natürlich kein Dauerzustand sein und so lässt Karine Tuil ihren Helden konsequent abstürzen. Und natürlich ist es die Erfindung seiner Identität, die ihm zum Verhängnis wird. Die Volte kommt überraschend, die Konstruktion des Romans wird hier arg strapaziert, macht ihn aber auch hochaktuell. Samir hat einen nichtsnutzigen Halbbruder, François, der, obwohl er der Sohn eines französischen Politikers ist, sich dem Dschihad zuwendet und bei Atttentatsvorbereitungen in Afghanistan gefasst und in die USA gebracht wird. Die Verbindungen zu Samir sind schnell erkannt und die Erfindungen des Lebens stürzen in sich zusammen.

Er sitzt rauchend auf einem Steinpfosten. Frei. Frei und glücklich. Der Ehrgeiz ist- tot, endlich. Der Ehrgeiz und der Erfolgszwang – dieses Damoklesschwert, das von Geburt an über dem Menschen hängt, diese Klinge, die die Gesellschaft jedem an die Kehle drückt, bis er keine Luft mehr bekommt, und die sie erst wieder wegnimmt, wenn sie uns vom Platz gestellt und disqualifiziert hat. Wenn sie uns ächtet. Dann kommt das große Aufräumen, dann wird ausgeholzt! Es ist etwas Befreiendes an dieser Verbannung, von der man nie weiß, ob sie nur vorübergehend oder auf Lebenszeit gilt, diesem Augenblick, in dem man in die Bruderschaft der Erledigten/Verkrachten/Abservierten aufgenommen wird, die durch ihr Alter oder ihren Misserfolg nicht mehr dazugehören, die Ungewollten, die Ungelernten, die Kleinen und die Schlichten, die Unbekannten und die Farblosen, die Arbeitslosen und die, deren Namen keiner kennt, deren Anrufe man ignoriert, zu denen man »nein« und »später« sagt, diejenigen, für die man nie Zeit hat und zu denen man nie liebenswürdig ist, die Luschen, die Grobschlächtigen, die Schwachen, die Wegwerf-Frauen, die peinlichen Freunde. Wie gut, wenn endlich die Angst vergeht, eine Enttäuschung zu sein, wenn der Druck der Gefallsucht und der vielen Regeln nachlässt, die man sich selbst auferlegt, weil man nach Individualismus/Ehre/Anerkennung/Macht/Opportunismus/Massenverträglichkeit strebt – all die verheerenden Folgen der gescheiterten elterlichen Träume/des Determinismus/der wahnhaften Utopien und nicht zuletzt die brutale Vorschrift, die in der Gesellschaft ebenso gnadenlos herrscht wie in den intimsten Beziehungen: Bringt LEISTUNG! Seid STARK!
Samir ist ihr unterworfen wie alle anderen, aber nicht mehr so unbedingt, da niemand mehr etwas von ihm erwartet, da er selbst nichts anderes mehr erhofft, als sich seiner wiedergefundenen Identität zu erfreuen. Die Klinge ist abgerutscht. Der Nächste, bitte!

Der Nächste wird das gleiche Schicksal erleiden, auch wenn Karine Tuil so eindringlich warnt. Der umfangreiche Roman ist Parabel auf die Hybris des Lebens im Gleißen des postmodernen Neoliberalismus. Ddie Personen haben prototypischen Carakter, grenzen an Karikaturen. Da Samir dafür Extrembeispiel ist, beansprucht er auch am meisten Raum, die anderen Personen geraten immer wieder für längere Zeiten aus dem Blick, doch fängt Tuil sie wieder ein. Die Erzählung gewinnt Präsenz durch die Gegenwart als Erzählzeit, denn nur sie zählt, auch die Erzählerin muss ständig anwesend sein, ständig alles unter Kontrolle haben. Nicht zuletzt um zu zeigen, dass sich diese Zwänge rächen. Die Angst, die Herrschaft über das Geschehen und die Personen zu verlieren, verführt Karine Tuil dazu, ständig zu analysieren, den Leser auf die korrekte Lesart zu verpflichten. Auch die Romanfiguren spiegeln sich, beobachten ihre Wirkung, ihr Scheinen, auf das es einzig ankommt. Um all ihre Anliegen unterzubringen, braucht Tuil schon die fast 500 Seiten, sie strapaziert damit aber auch den Leser.

Ralph Baudach empfiehlt in titel thesen temperamente (NDR) „Die Gierigen“ als „grandioses Sittengemälde unserer Zeit“. „Bester zeitgenössischer Realismus“, meint Catarina von Wedemeyer (in der taz). Karine Tuil selbst verweist auf Balzac.

Amüsant ist die Idee, Nebenfiguren in einer kurzen Fußnote vorzustellen. (* Jacques Duval, 54, seit dreißig Jahren in seinem Beruf Sohn des Concierge aus dem Ritz. Wurde »exakt« das, was er als Kind werden wollte.)

2013          480 Seiten

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Petrowskaja
3. März 2015, 17:23
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Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

petrowskajaKatja Petrowskaja hat mit der Geschichte “Vielleicht Esther” den Ingeborg-Bachmann-Preis 2013 gewonnen. Sie wurde 1970 Kiew geboren, promovierte in Moskau, lebt seit 1999 als Journalistin in Berlin. Viele Motive, ihr Buch zu lesen, es passt gut ins Geschehen der Zeit. Katja Petrowskaja hat nicht für ihre Texte Deutsch gelernt, aber sie beschäftigt sich auch mit der für sie “neuen” Sprache und ihren Ausdrucksmöglichkeiten, sie will die “Sprache der Stummen” (немец – немцы – die Deutschen) nutzen, um über sie ihr Leben neu zu finden, ihre Vergangenheit, ihre Familie, ihre Geschichte, ihre Wurzeln. Die Sprache kann da Distanzen schaffen, die einen neu-gierigen Blick erlauben, aber auch Unsicherheiten zulassen.

Mein Deutsch, Wahrheit und Täuschung, die Sprache des Feindes, war ein Ausweg, ein zweites Leben, eine Liebe, die nicht vergeht, weil man sie nie erreicht, Gabe und Gift, als hätte ich ein Vöglein freigelassen. Mein Deutsch blieb in der Spannung der Unerreichbarkeit und bewahrte mich vor Routine. Als wäre es die kleinste Münze, zahlte ich in dieser spät erworbenen Sprache meine Vergangenheit zurück, mit der Leidenschaft eines jungen Liebhabers. Ich begehrte Deutsch so sehr, weil ich damit nicht verschmelzen konnte, getrieben von einer unerfüllbaren Sehnsucht, einer Liebe, die weder Gegenstand noch Geschlecht kannte, keinen Adressaten, denn dort waren nur Klänge, die man nicht einzufangen vermochte, wild waren sie und unerreichbar.

Katja Petrowskaja hat eine reiche Vergangenheit. Die Vorfahren fallen als Juden zwischen Russland (bzw. die Sowjetunion), Polen , Österreich-Ungarn und Deutschland, die Ukraine gibt es als Staat erst seit 1991, aber auch sie hat eine Vorgeschichte, die eng mit Russland, Polen und – als Aggressor – Deutschland verflochten ist. Katja Petrowskaja erzählt von ihren Großmüttern und –vätern, von Onkeln und Tanten verschiedener Generationen, wenig von ihren Eltern, ihr Leben ist noch zu nahe, die kennt sie, die Früheren will sie kennenlernen. Viele ihrer Vorfahren waren Taubstummenlehrer, wohl auch deshalb die Gier nach der Sprache. Für mich besonders interessant wird es, wenn die Familie in der Geschichte eine Rolle spielt, wie ihr “Großonkel zielte direkt auf das Sonnengeflecht der Zeit. Denn er, dieser sowjetische Attentäter namens Judas Stern, schoss eine Woche vor den Reichspräsidentschaftswahlen auf einen deutschen Diplomaten in Moskau. Es war das letzte Jahr vor Hitler und das erste Jahr der Hungersnot in der Sowjetunion, zwei Länder, die sich in einem Bündnis gegenseitig in Richtung Wahnsinn trieben. Und dann feuerte mein Stern. (…)Danach war nichts mehr wie zuvor, als hätte dieses Attentat, das aus meiner Familie kam, etwas in der fragilen Konstellation der Zeit zerbrochen, als hätte es zukünftige Katastrophen vorweggenommen, hier wie dort, als wären wir, und ich meine auch mich, für das größte Unheil des zwanzigsten Jahrhunderts verantwortlich, in einer mir nur zum Teil erklärlichen Weise.” Aber häufiger und elender hat die Geschichte der Familie mitgespielt. Für Juden bedeutet das mindestens Diffamierungen, Vertreibung, oft auch den Tod. Katja Petrowskaja besucht Babij Jar und Mauthausen und beschreibt genau, was sie sieht – und sie sieht viel – für den Leser, aber auch für sich selbst.

Vor vielen Jahren fragte ich David, einen Freund, der immer an jenem Tag nach Babij Jar ging, ob er Verwandte hier liegen habe. Er sagte mir damals, das sei die dümmste Frage, die er je gehört habe. Erst jetzt verstehe ich, was er meinte. Denn es ist unwichtig, wer man ist und ob man hier eigene Tote zu beklagen hat – oder wünschte er sich, dass es unwichtig sei? – für ihn war es eine Frage des Anstands. Ich möchte von diesem Spaziergang so erzählen, als ob es möglich wäre zu verschweigen, dass auch meine Verwandten hier getötet wurden, als ob es möglich wäre, als abstrakter Mensch, als Mensch an sich und nicht nur als Nachfahrin des jüdischen Volkes, mit dem mich nur noch die Suche nach fehlenden Grabsteinen verbindet, als ob es möglich wäre, als ein solcher Mensch an diesem merkwürdigen Ort namens Babij Jar spazieren zu gehen. Babij Jar ist Teil meiner Geschichte, und anderes ist mir nicht gegeben, jedoch bin ich nicht deswegen hier, oder nicht nur. Irgendetwas führt mich hierher, denn ich glaube, dass es keine Fremden gibt, wenn es um Opfer geht. Jeder Mensch hat jemanden hier.

Wenige Monate später wurde ein Gedicht von Jewgenij Jewtuschenko in der Literaturnaja Gazeta veröffentlicht.

»Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal. / Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein. / Mir ist angst. / Ich bin alt heute, / so alt wie das jüdische Volk. / Ich glaube, ich bin jetzt / ein Jude.«

Die Menschen riefen einander an, erzählte meine Mutter, wir weinten vor Glück darüber, dass man über das Unglück nun endlich öffentlich sprach. Ein russischer Dichter hatte sich der jüdischen Opfer angenommen, aller, es wirkte wie ein Wunder. In seinem Gedicht waren es nicht mehr ihre Toten, die Toten der ewigen anderen, und es stand gedruckt in der Zeitung. »Jeder hier erschossene Greis / ich. Jedes hier erschossene Kind / ich.« Innerhalb eines Monats wurde das Gedicht in siebzig Sprachen übersetzt, ins Deutsche von Paul Celan, und Schostakowitsch vertonte im Adagio seiner dreizehnten Symphonie. Es schien, als wäre dieses Weltunglück nicht mehr obdachlos, als wäre die Ehre der Erinnerung wiederhergestellt worden.

Katja Petrowskaja gibt Auskunft über Wege und Methoden ihrer “Aneignungen“. Das Vorwort steht unter dem Titel „Google sei Dank“, sie findet die Namen ihrer Familie im Computer. „Die Suche ging schneller, als ich erwartet hätte. Ich habe es, sagte Anna und zeigte mir eine Tabelle im Computer. Wir saßen eng beieinander am Tisch im Büro, nach wenigen Sekunden hatten wir die richtige Schreibweise aller Namen. Ozjel Krzewin heiratet 1895 Estera Patt, erklärte sie mir, und 1898 bekommen sie einen Sohn namens Szymon, euren Zygmunt. Ich war erst zehn Minuten im Institut, und schon hatte ich neue Daten und einen neuen Namen, Estera Patt, die erste Frau von Ozjel. Sie haben Glück, sagte Anna, dass Ihre Familie nicht direkt aus Warschau stammt. Glück?” Ein polnischer Archivar zeigt ihr ein Bild: “Ich habe dieses Foto gerade auf Ebay gekauft, sagte er, in letzter Zeit ist Ebay eine gute Quelle, Hunderte neuer Fotos, alte Leute verkaufen sie, bevor sie abtreten, oder ihre Kinder, dieses Foto habe ich von einem Angehörigen der Wehrmacht gekauft, für siebzig Euro, ein guter Preis.” “Vielleicht Esther” ist eine Familiengeschichte, es sind Geschichten von Katja Petrowskajas Familie, kein Roman. Die Spuren der Personen werden erst zusammengesucht, es gibt aber genug Schicksale, die die Romane füllen könnten. Auch das von Babuschka Esther. Egal ob alles verbürgt ist, denn ”manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht„.

Ich glaube, sie hieß Esther, sagte mein Vater. Ja, vielleicht Esther. Ich hatte zwei Großmütter, und eine von ihnen hieß Esther, genau. Wie, vielleicht?, fragte ich empört, du weißt nicht, wie deine Großmutter hieß? Ich habe sie nie bei ihrem Namen genannt, erwiderte mein Vater, ich sagte Babuschka, und meine Eltern sagten Mutter.

Vielleicht Esther ist in Kiew geblieben. Sie bewegte sich in der plötzlich leer gewordenen Wohnung mit Mühe, das Essen brachten die Nachbarn. Wir dachten, fügte mein Vater hinzu, wir kämen bald zurück, aber wir sind erst nach sieben Jahren zurückgekommen.

2014     285 Seiten

Video der BR-Lesezeichen

Radiobeitrag zur SWF-Bestsellerliste

Video der “Autorenarena” der Leipziger Volkszeitung (30 Minuten)

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Modiano
16. November 2014, 17:55
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Patrick Modiano: Dora Bruder

dorabruder

Vor acht Jahren stieß ich in einer alten Zeitung, dem Paris-Soir vom 31. Dezember 1941, auf Seite drei zufällig auf eine Rubrik »Zwischen gestern und heute«. Ganz unten las ich:

»PARIS
Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.«

50 Jahre später macht sich der Erzähler, den man mit dem Autor ineinssetzen darf, auf die Spur dieser Dora Bruder. Nicht die wenigen Fundstücke, Dokumente, Listen, Fotos führen ihn, er sucht eher, wie sich die Lebenswege der Dora Bruder in die Stadtlandschaft eingeschrieben haben. Paris ist Modianos Terrain, er durchstreift die Stadt auf der Suche nach Abdrücken, findet vieles zerstört oderverändert, gleicht die Ansichten mit seiner Erinnerung ab. Er erinnert sich an seinen Vater, seine Kindheit, an Texte, assoziiert. Das Ergebnis sind Mutmaßungen, so könnte es gewesen sein, Sicherheit gibt es nicht, dafür hat das Leben der Dora Bruder zu wenig historisch dokumentierte Bedeutung. Modiano interessiert auch das Schicksal des Mädchens, doch mehr beschreibt er die Windungen und Zufälle seiner Suche, die Kreuzungen von Lebenswegen mit den Orten der Stadt. Leise, tastend, auf den Wegen des Vergessens und den Spuren von sich selbst.

Dieses Viertel um den Boulevard Ornano herum kannte ich schon lange. In meiner Kindheit begleitete ich meine Mutter zum Flohmarkt von SamtOuen. Wir stiegen an der Porte de Clignancourt aus dem Bus und manchmal auch vor dem Rathaus des achtzehnten Arrondissements. Das war immer am Samstag oder am Sonntag nachmittag.

Es sind Menschen, die wenig Spuren zurücklassen. Als wären sie namenlos. Sie heben sich nicht ab von gewissen Straßen in Paris, von gewissen Vorstadtlandschaften, wo sie – wie ich durch Zufall entdeckte – gewohnt haben. Was man von ihnen weiß, kann oft in einer bloßen Adresse zusammengefaßt werden. Und diese topographische Angabe steht im Kontrast zu all dem in ihrem Leben, was man nie erfahren wird – dieser weiße Fleck, dieser Block aus Unbekanntem und Schweigen.

Man sagt sich, daß wenigstens die Orte einen leichten Abdruck von den Menschen bewahren, die an ihnen gewohnt haben. Abdruck: Einbuchtung oder Ausbuchtung. Ich habe jedesmal ein Gefühl von Abwesenheit und Leere verspürt, wenn ich an eine Stelle gekommen bin, wo sie gewohnt hatten.
Zwei Hotels gab es damals in der Rue Polonceau: Das eine, im Haus Nr. 49, wurde von einem nicht näher bezeichneten Rouquette geführt. Im Straßenverzeichnis war es unter der Bezeichnung »H6tel Vin« eingetragen. Das zweite, im Haus Nr. 32, stand unter der Leitung eines gewissen Charles Campazzi. Diese Hotels trugen keine Namen. Heute sind sie verschwunden.

In jenem Winter 1926 verlieren sich die Spuren von Dora Bruder und ihren Eltern in der nordöstlichen Vorstadt, am Ufer des Canal de 1’Ourcq. Eines Tages werde ich nach Sevran fahren, aber ich fürchte, daß auch dort die Häuser und Straßen ihr Gesicht verändert haben, wie in allen Vorstädten. Ich kenne die Namen einiger Betriebe, einiger Bewohner der Rue Liegeard aus jener Zeit: Nummer 24 war das Trianon de Freinville. Ein Cafe? Ein Kino? In der Nummer 31 lagen die Caves de 1’Ile de France. Ein Doktor Jorand belegte die Nummer g, ein Apotheker, Platel, die 30.

Mit siebzehn war Les Tourelles für mich nichts weiter als ein Name, den ich am Ende von Jean Genets Buch Wunder der Rose entdeckt hatte. Darin zählte er die Orte auf, an denen er dieses Buch geschrieben hatte: LA SANTE. GEFÄNGNIS LES TOURELLES 1943. Auch er war hier inhaftiert gewesen, als Strafgefangener, kurz nachdem Dora Bruder fortgebracht worden war, und sie hätten einander begegnen können. Wunder derRose war nicht nur von den Erinnerungen an die Strafkolonie Mettray durchdrungen – eine jener Erziehungsanstalten, in die man Dora schicken wollte -, sondern auch, wie mir heute scheint, von der Sante und Les Tourelles.
Aus diesem Buch konnte ich ganze Sätze auswendig. Einer davon kommt mir wieder in den Sinn: »Dieses Kind lehrte mich, daß der wahre Kern des Pariser Argots traurige Zärtlichkeit ist.« Dieser Satz beschwört mir Dora Bruder so eindringlich herauf, daß ich das Gefühl habe, ich hätte sie gekannt. Man hatte den gelben Stern Kindern mit polnischen, russischen, rumänischen Namen aufgezwungen, die so pariserisch waren, daß sie mit den Häuserfassaden, den Gehsteigen, den unzähligen Grautönen verschwammen, die es nur in Paris gibt. Wie Dora Bruder sprachen sie alle mit Pariser Akzent und gebrauchten Argotwörter, deren traurige Zärtlichkeit Jean Genet verspürt hatte.

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Dora Bruder war die Tochter von Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich) und Cécile Burdej aus Budapest (Ungarn). Dora wurde am 25. Februar 1926 in Paris geboren. Sie war wie ihre Eltern Jüdin. “Vater und Tochter, verließen Drancy am 18. September zusammen mit eintausend anderen Männern und Frauen in einem Transport nach Auschwitz.” Die französische Verwaltung hat, das erfährt man nebenbei, die deutschen Besatzungsvorschriften willfährig ausgeführt.

1997      150 Seiten

Patrick Modiano:
Die Gasse der dunklen Läden

modianogasseWir waren wieder in der Rue de Rome. Gestern abend ging ich bis zur Nummer 97, und ich glaube, als ich das hohe Gitter sah, die Schienenstränge und drüben auf der anderen Seite die DUBONNET-Reklame, die die gesamte Fläche einer Hauswand einnimmt und deren Farben seither sicherlich verblaßt sind, empfand ich das gleiche Gefühl der Angst wie damals.
Nummer 99, das Hötel de Chicago, heißt nicht mehr Hôtel de Chicago, aber in der Rezeption war niemand in der Lage, mir zu sagen, wann der Name geändert wurde. Es ist auch unwichtig.
Nummer 97 ist ein sehr breites Gebäude. Wenn Scouffi im fünften Stock gewohnt hat, dann befand sich Denises Appartement darunter im vierten. Auf der rechten oder auf der linken Seite des Hauses? Die Vorderfront hat auf jeder Etage wenigstens zwölf Fenster, so daß jedes Stockwerk wahrscheinlich in zwei oder drei Appartements unterteilt ist. Ich betrachtete lange diese Front, in der Hoffnung, einen Balkon oder die Form, vielleicht die Läden eines Fensters wiederzuerkennen. Nein, in meiner Erinnerung war nichts.

Der Erähler weiß nicht, wer er ist. Erstreift durch Paris, sammelt Namen, Adressen, Fotos, die ihm Hinweise auf seine Identität geben könnten, hangelt sich an Erinnerungsfetzen entlang. Wie ein Puzzle setzt er Fundstücke zusammen verschiebt oder verwirft sie. Kennt ihn jemand, kennt jemand einen, die er – vielleicht gekannt hat? “Ist er wirklich dieser Pedro, für den andere ihn halten und für den er sich schließlich selber hält? War er tatsächlich mit dem Mannequin Denise verheiratet, das auf geheimnisvolle Weise verschwand? Und was geschah nach Kriegsende an der Grenze zur Schweiz?” (Klappentext) “Vielleicht wird am Ende daraus dann ein Leben . . . Ob es sich um das meine handelt? Oder um das eines anderen, in das ich geschlüpft bin?

In diesem Labyrinth von Straßen und Boulevards waren Denise Coudreuse und ich uns eines Tages begegnet. Zwei Wege, die sich trafen, zwei von den zahllosen, die täglich Tausende und Abertausende von Menschen gehen, wie Tausende und Abertausende von kleinen Kugeln eines riesigen elektrischen Billards, die manchmal aufeinandertreffen. Und von all dem blieb nichts, nicht einmal die leuchtenden Spuren, die ein Glühwürmchen beim Vorüberfliegen hinterläßt.

Eine Variation von Modianos Thema: die Spurensuche auf dem Stadtplan von Paris nach den “Echolauten” von Personen, die suche nach den Wurzeln des Ich, die Verwehungen, die Unmöglichkeit, zu Gewissheiten zu gelangen. Der Krieg hat die Verhältnisse verwirbelt, die Wege von Personen aus der ganzen Welt überschneiden sich in Paris, sie suchen neue Ziele, neue Lebensräume, neue Gewissheiten. Die Schicksale sind immer auch jüdische Schicksale. Ein wenig Spannung genügt Modiano, viel wichtiger ist die genaue Beschreibung von Straßen, Häusern mit ihren Fassaden und Wohnungen, Cafébars und Restaurants, Interieurs. Auch die Menschen werden exakt beobachtet: Frisuren, Kleidung, Stimmungen, Haltungen. Trotz aller Präzision bleibt alles im Ungewissen. Vorgetäuschte Nüchternheit bei innerer Anspannung.

Ich glaube, man hört in den Hausfluren noch lange die Schritte all der Menschen widerhallen, die dort ein- und ausgingen und die seitdem verschwunden sind. Es bleiben Schwingungen davon zurück, schwächer werdende Wellen, die man aber aufzufangen vermag, wenn man darauf achtet. Wahrscheinlich bin ich nie Pedro McEvoy gewesen, ich war nichts, aber Wellen durchdrangen mich, schwache, die von weither kamen, und stärkere, und alle diese verstreuten Echolaute, die in der Luft schwebten, verdichteten sich und wurden ich.

Übersetzt wurde der Roman von Gerhard Heller, der 1940 bis 1944 literarischer Zensor der nationalsozialistischen Propagandastaffel im besetzten Paris war.

1978      160 Seiten (TaBu)



Hofmann
29. Januar 2014, 17:22
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Gert Hofmann: Veilchenfeld

veilchenfeld

UNSER PHILOSOPH IST PLÖTZLICH GESTORBEN, unser Leichenwagen hat ihn abgeholt. Lautlos, nämlich auf Gummirädern, sind die Leichenkutscher – keiner weiß, wer sie kommen ließ – am Montagmorgen bei ihm vorgefahren und von ihrem Bock gesprungen, wir haben es selbst gesehen. Wir lehnen an Höhlers Gartenzaun und machen uns nicht schmutzig. Die Leichenkutscher ziehen unter einem merkwürdig scharrenden Geräusch, das die Heidenstraße hinabläuft, den für Herrn Veilchenfeld vorgesehenen Sarg aus ihrem großrädrigen, feierlichen und klapprigen Leichenwagen und verschwinden, nachdem sie ihr mit einem Federbusch verziertes Pferdchen beiläufig am Hals beklopft haben. Sie werden Herrn Veilchenfeld doch nicht holen wollen? Doch, sie holen Herrn Veilchenfeld! Den ich noch gestern bei mittlerem Wetter so abends gegen acht in seinem Hintergarten gesehen habe, wie er, bleich, doch überzeugend in einem Fliederbusch stand. Hinter, nicht vor seiner Gartenmauer, die unten Risse hat zum Durchschauen für uns. Denn obwohl in unserer Stadt bekannt war, daß Herr Veilchenfeld nach seiner Entlassung zu uns herausgezogen war und nun ohne Anhang (die Mutter) in der Heidenstraße in dem Haus mit dem Erker wohnte, war er in letzter Zeit immer seltener zu sehen gewesen.

Wohnt er überhaupt noch hier, fragen wir den Vater.
Ja, sagt der Vater, er ist oben.
Und was macht er?
Er sitzt an seinem Tisch.
Und warum kommt er nicht runter?

WEIL ICH MICH unter meinen Büchern sicherer fühle als unter meinen Landsleuten, sagte Herr Veil­chenfeld immer zur Mutter und lächelte unter der Krempe seines schwarzen Hutes über das schmale, von ihm mit kurzen Schritten immer wieder um­gangene Gartenstück zu ihr auf die Straße hinaus.

Bernhard Veilchenfeld beschreibt sich selbst als “älterer, akademisch gebildeter Herr, Professor in außergewöhnlichen Verhält­nissen, aber sehr ruhig”, dass er Jude ist, arf er nicht auf den Zettel schreiben, mit dem er eine “Haushilfe” sucht, denn die Geschichte spielt 1938. Herr Veilchenfeld, in der Erzählung wird er immer nur “Herr Veilchenfeld” genannt, verschwindet allmählich aus der Stadt, der Straße, seinem Haus, seinem Leben. Er will sich unsichtbar machen, verschwinden, auch körperlich. Er will den Anfeindungen, Übergriffen, Redereien der geschwätzigen Erwachsenen entgehen.

Und dann, mein Gott, sein Gang!
Den er sich in seinem Hintergarten zugelegt haben muß, weil er da keinen Auslauf hat, sondern immer nur um die Bohnenstangen herumkriecht, das hat seinen Gang so verhunzt, hat die Mutter einmal über den Gang von Herrn Veilchenfeld gesagt. Der aus lauter Angst, Unwillen zu erregen – er weiß nie genau, wie weit er gehen darf – seit einiger Zeit etwas Schleichendes und Verstohlenes und, wenn er keinen Hut aufhat, Verbrecherisches an sich hat, das die Leute ja mißtrauisch machen muß, sagt sie. Und jeder sich fragt, was jemand mit so einem Gang bei uns zu suchen hat.

 Veilchenfeld wird dabei immer einsamer. “Frau Abfalter (…) nannte ihn – alles durch die Tür – erst »Professor«, dann »Veilchen« und schließlich »He«.“ Nur noch der Arzt kommt hin und wieder zu ihm, hält notdürftig Kontakt, weiß wenig, aber mehr als die anderen von ihm. Er darf nichts erzählen, er läuft mit.

Ein Schicksal eines Juden zur Nazizeit. Einen Ausweg gibt es nicht. Als veilchenfeld im Amt um ein Visum zur Ausreise aus Deutschland ersucht, wird er verhöhnt, sein Pass wird zerrissen.

Da hätten auch die beiden Herren mitleidig ge­lächelt und sich rechts und links von Herrn Thie­le aufgestellt. Dann ist Herr Thiele offiziell ge­worden und hat den Paß von Herrn Veilchenfeld vor sich auf den Schreibtisch gelegt und die Hän­de darüber gefaltet und in einem Ton, als würde er etwas aufsagen, ungefähr gesagt: Herr Profes­sor Bernhard Israel Veilchenfeld, kraft der mir verliehenen Befugnisse entziehe ich Ihnen hier­mit die Staatsangehörigkeit eines Deutschen und stoße Sie für immer aus unserer Volksgemein­schaft aus. Und dann hat Herr Thiele, noch ehe Herr Veilchenfeld hat nicken können, vor den zwei Zeugen den Paß in zwei Teile gerissen und die Teile dann immer weiter zerrissen, und den Deckel, weil er zum Zerreißen zu fest gewesen ist, mit einer Papierschere durchgeschnitten, das ging leichter. Bis von dem Paß nur noch Schnipsel übrig waren, die Herr Thiele vor sich zu einem Häufchen aufgeschichtet hat. So, hat er ge­sagt.
Herr Thiele, Herr Thiele, hat Herr Veilchenfeld gesagt und den Kopf geschüttelt, erzählt Herr Lachmann dem Vater und der Mutter auf der Bank über uns, aber der Herr Thiele hat einfach weiter gerissen und geschnitten, bis der Paß nicht zum Wiedererkennen war. Dann hat einer der Herren aus dem Nebenzimmer: Sie erlauben, Herr Thiele!, gesagt und einen Papierkorb geholt und ihn Herrn Thiele hingehalten, und Herr Thiele hat die Paß­schnipsel behutsam in den Papierkorb geschoben. Dann hat Herr Veilchenfeld rasch noch ein Formu­lar in fünffacher Ausfertigung datieren und unter­schreiben müssen. Daß er zur Kenntnis genommen hat, daß er nun kein Deutscher mehr ist. Nein, hat Herr Veilchenfeld gefragt. Nein, hat Herr Thiele gesagt.

Und was bin ich nun, Herr Thiele, hat Herr Veil­chenfeld gefragt und die Feder hingelegt. Jedenfalls kein Deutscher mehr, hat Herr Thiele ge­sagt und seine flachen Hände vor sich hingelegt. Und was, Herr Thiele, macht man in so einem Fall, wenn man nach so vielen Jahren plötzlich kein Deutscher mehr ist, hat Herr Veilchenfeld gefragt. Sonst bin ich ja auch nichts.

Die Erzählung beginnt mit dem Tod Veilchenfelds.Der Leser weiß das und fragt sich, warum Veilchenfeld gestorben ist, plötzlich. Gert Hofmann lässt ein Kind erzählen. Der neunjährige “Hänsel” steht noch außerhalb der Gesellschaft der Erwachsenen, ist noch nicht gleichgeschaltet, darf noch naiv sein. Das Kind darf den Professor in seiner geheminmisvollen Wohnung noch besuchen, es sucht verwundert nach dem Schatten des Mannes am Fenster, es stellt Fragen, die niemand beantworten will, ja, am liebsten würde man sie gar nicht hören. Nur der Vater macht Andeutungen, der Vater ist der Arzt. Gert Hofmann übernimmt die Perspektive des Kindes und kann so die Schrecken ganz ruhig erzählen, ohne Pathos, ohne Appell. Die Schrecken werden dadurch noch größer, grausamer, absurder.

Dann gleitet der Sarg, von der Frau Abfalter geleitet, in den Hinterhof hinein. Solche Höfe gab es damals bei uns. Und scheint, weil er unseren Philosophen enthält, nicht nur schwerer (das wäre natürlich), sondern auch länger (das wäre übernatürlich) geworden zu sein. Kaum daß er um die Hausecke geht, obwohl auch die Frau Abfalter nun ein paar Gummifinger mit anlegt. Und wird unter den Augen der Nachbarn, die sich inzwischen alle ihre Kissen geholt und sich auf ihren Fenstersimsen eingerichtet haben und ihre Köpfe rücksichtslos in die Heidenstraße schieben, über den Hinterhof geschleppt. Und dann, jenseits des verrosteten Hoftors, in die Heidenstraße hinein. Doch können wir, von der Gartenmauer her, alles gut verfolgen. Der Sarg, wahrscheinlich mit Herrn Veilchenfelds Kopf, seiner Überwelt voran, wird in den Leichenwagen geschoben, dann wird eine Pause gemacht. Das Hoftor, der Himmel, die Leichenträger, alles macht eine Pause, alles atmet auf.

Komm, Gretel, sage ich, doch sie will nicht kom­men. Komm, sage ich und ziehe sie. Hand in Hand, im gleichen Schritt, ohne den Sarg zu überholen, aus dem Hinterhof hervor, meine Schwester vor Grauen starr, die Frau Abfalter streift die Gummihandschuhe ab, die Leichenkut­scher schließen das Hoftor, die Nachbarn weisen auf den Sarg, der unter einem rascher fließenden Himmel in dem nach oben weiträumigen, aber auch nach allen anderen Seiten bequemen Leichen­wagen, der wie unsere Läden in der Helenenstraße Glasvitrinen hat, damit man die Blumen und die Kränze und den Sarg auch sieht, aber Blumen und Kränze gibt es keine, so daß die Vitrinen zugehängt sind und wir den nun toten Herrn Veilchenfeld nicht mehr sehen können. Wenn er uns, von dem schwarzen Pferdchen gezogen, davonrollt, aus der Stadt hinaus.

Eindringlich.

1986       185 Seiten (Tabu)

Von Gert Hofmann sollte man auch lesen:
Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga



Honigmann
1. Juli 2012, 10:48
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Barbara Honigmann:
Ein Kapitel aus meinem Leben

Barbara Honigmann erzählt von ihrer Mutter. Sie sucht ihre Mutter im Erzählen, prüft, was sie von ihrer Mutter weiß, was diese ihr erzählt hat, ob die Erinnerungen stimmen. Es entsteht eine doppelt reflektierte Biografie über das Kapitel aus dem Leben der Mutter. So nennt die Mutter ihre Ehe mit dem britischen Spion Kim Philby, doch gerade darüber gibt die Mutter am wenigsten preis. Sei es, weil sie es verdrängen will, sei es, weil sie es nicht für das entscheidendste hält. Der Vater der Erzählerin nennt sie „verschwiegenheitssüchtig, dabei äußerst konversations­gelenkig”. Überhaupt entzieht sich die Mutter der gesicherten Identität, will sich nicht auf eine Haarfarbe festlegen und nicht auf den einen Ehemann, nicht auf einen gültigen Vornamen und auch die Familiennamen wechseln. Vielleicht auch, weil ihre Lebensgeschichte so intensiv mit der Zeitgeschichte verknüpft ist. Sie stammt aus Ungarn, wird als Jüdin durch Europa getrieben, England und Paris sind wichtige Stationen, auch wichtige Orte der Erinnerung. Nach der Zeit im deutsch-demokratischen Karlshorst bei Berlin beschließt sie, ihr Alter in Wien zu erleben. Die Mutter ist eine Frau der Gesellschaft, offen für Kontakte, politisch engagiert in vielen kommunistischen Zirkeln und Parteien.

Männer sind mehrfach vertreten. Der Vater der Erzählerin kommt zu Besuch und Gedankenaustausch, der aktuelle Partner der Mutter ist Ersatz und bald auch entsorgt, an frühere Männer gibt es verschieden genaue Erinnerungen. Die Mutter braucht ihre Unabhängigkeit.

Barbara Honigmann nähert sich dieser Biografie mit Neugier und ohne Vorurteile. Sie setzt Erzählungen der Mutter zusammen mit „Bruchstücken“, stellt ihre Mutmaßungen und Zweifel daneben und erzählt so ein Schicksal aus dem Europa der Kriege und Nationalismen. Sie “erfindet die Mutter neu, als Legende, »kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge«, „die hohe Kunst, ’so nah wie möglich an der Wahrheit‘ zu lügen„. Eine geheimnisvoll schillernde Erzählhaltung, ein letzter, wie immer vergeblicher Lie­besdienst an der Mutter, für die Verrat eine Variante der Liebe war.” (Klappentext)

Nach ihrem Tod gewinnt das Kind einen freieren Blick auf die Eltern, weil dieser Blick nicht mehr von de­ren Größe oder Kleinheit verstellt ist, und dieser Per­spektivwechsel bringt eine Art Umordnung mit sich, aber keine Offenbarung. Auch nach ihrem Tod ist meineMutter so unverständlich und widersprüchlich für mich geblieben, wie es mein Vater so oft beklagt hat.
Sollte ich jetzt Revanche nehmen, ihr nachspionieren, nachforschen, Akten einsehen, Standesämter in halb Europa aufsuchen, Leute befragen, die Bruchstücke ihres Lebens aufklauben und zusammensetzen, die sie doch offensichtlich selbst zersplittert hat, halb, weil es ihr Wille war, und halb, weil es so gekommen ist, wie es eben ge­kommen ist.

„Der zweite Grund für den Zauber von Honigmanns Prosa ist nämlich die Sprache selbst. Es ist eine unerhörte Sprache, die so wirkt, als sei sie nicht geschrieben, sondern gesprochen, obwohl sie außerhalb von Honigmanns Büchern nirgendwo mehr zu hören ist: Ein lebendiges, unaufdringlich hervorquellendes Parlieren im entspannten, umgänglichen Plauderton, aus dem noch ein leises Berlinern herauszuhören ist, ganz unberührt von jeder Abnutzung durch den formlosen und saloppen Alltagsjargon, welcher das Gros der Gegenwartsliteratur regiert.“ (Volker Breidecker, SZ)

2004           170 Seiten (Tabu)



Jacobson
19. Dezember 2011, 19:06
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Howard Jacobson: Die Finkler-Frage

Wenn Finkler von ihren Versammlungen nach Hause kam, fühlte er sich jedenfalls stets wie damals, als er seinen Vater in die Synagoge begleitet hatte – die Welt war ihm zu jüdisch, zu alt, zu gemeinschaftlich in einem anthropologischen, fast urzeitlichen Sinne, zu weit fort, zu tief unten, zu lang vergangen.
Er war ein Denker, der nicht wusste, was er dachte, nur dass er geliebt hatte, gescheitert war und jetzt seine Frau vermisste und dass er dem nicht entkam, was er am Judentum so erdrü­ckend fand, wenn er sich einer jüdischen Gruppe anschloss, die sich traf, um fieberhaft über das Erdrückende am Judentum zu debattieren. Fieberhaft über das Judentum zu reden, das gerade war ja so jüdisch.

Und da kommt man nicht raus. Je weiter man in ein Problem hineindenkt, desto auswegloser werden die Aporien. Man kann sie auch nicht aufheben, wenn man das Gegenteil erwägt, denn die Wahrheit liegt in der Spitzfindigkeit. Die Wahrheit ist immer ihr Gegenteil, der Wunsch, nicht so zu sein, wie man ist, aber auch nicht anders, denn dann wäre man ja wieder festgelegt. Es gibt hinter jeder Ecke noch eine Ecke mehr, um die gedacht werden kann.

Drei Freunde begleiten sich durch ihr Leben, stützen sich, auch in ihrer Gegensätzlichkeit. Libor Sevcik und Samuel Finkler sind Juden, Libor alt, Finkler so um die Fünfzig. Beide haben sie ihre Frau verloren. Sie sind laizistische Juden, eigentlich Juden wider Willen, also typische Juden. Sie gründen sogar den Verein “ASCHandjiddn”, von der “schand”, “ASHamed Jews“ im Englischen. Treslove, der Goi, wird auch bald 50, hatte Frauen, die mit ihm nicht auskamen, sein Wunsch geht in Erfüllung, als er urplötzlich überfallen wird. Von einer Frau. Und die sagt ihm, so hört er es jedenfalls, so legt er es aus: Du Jud! Es könnte auch anders gelautet haben. Treslove zieht seine Konsequenz: Er will Jude werden, jüdisch – ein Finkler. Dann hätter er, der von “Beruf” Doppelgänger ist, als look-alike mietbar, wenigstens eine Identität und wär nicht länger ein gornischt. Ob er weiter a mamser bleibt oder zu einem wird, ist nicht ausgemacht. Er findet in Hephzibah die passende Frau. Hephzibah ist Jüdin, aber nicht so jüdisch, wie Treslove werden will. Das ist die Befriedung und damit ein neues Problem. „Richtige Juden mussten leiden für ihr Leid, doch dieser Julian Treslove meinte, er könne aufs Karussell hüpfen, wann immer ihm danach war, und dürfe sich auf Anhieb schlecht fühlen.“

Sie hätte nicht sagen können, ob er ein Kind von ihr wollte. Im Verlauf eines seiner unzähligen Gespräche über Beschneidung hatte er das Thema zur Sprache gebracht – war er schön genug für sie, war er ihr zu viel, war er zu sensibel, was würden sie tun, wenn sie einen Sohn bekämen, würde er für ihn ein Vater oder eher wie Moses sein? Aber alles hatte ziemlich hypothetisch geklungen und sich mehr um Treslove als um ein Kind gedreht. Sie selbst dachte nicht an Kinder. »Damit hat es keine Eile«, sagte sie stets, was eine nette Umschreibung war für: kein Interesse. Doch hielt er es für ein Scheitern? Seiner eigenen Aussage zufolge war er der schlechteste Vater der Welt. Er hatte ihr das wieder und wieder in einem Ton gesagt, der in ihr die Frage aufkommen ließ, ob er nicht doch beweisen wollte, dass er es besser konnte.
Sie fragte ihn.
»Was? Es mal als jüdischer Vater versuchen? Ich glaube nicht. Es sei denn, du willst … «
»Nein, nein, gar nicht. Ich habe dabei nur an dich …«
Was sein Faible fürs Jüdische insgesamt anging, fand sie dies anfangs amüsant, machte sich deshalb jetzt aber Sorgen. Wollte er das Jüdische wie die Schwermut aus ihr heraussaugen? Sie fürchtete, er könnte beides miteinander verwechseln.
»Juden können auch fröhlich und gesellig sein, weißt du«, sagte sie.
»Wie könnte ich das vergessen, wo wir uns doch bei einem Essen an Pessach kennengelernt haben.«
»Diese Art fröhlicher Geselligkeit, bei der wir gemeinsam unserer Zeit als Sklaven in Ägypten gedenken, habe ich eigent­lich weniger gemeint. Vielleicht habe ich mich falsch ausge­drückt. Ich will damit sagen, Juden können auch richtig ausge­lassen, derb und vulgär sein.«
Noch während sie redete, fiel ihr auf, wie fremd ihr all das geworden war, seit sie sich kennengelernt hatten. Er engte sie ein. Er wollte eine bestimmte Art Frau in ihr sehen, und sie wollte ihn nicht enttäuschen. Dabei gab es manchen Abend, da hätte sie sich lieber vor den Flimmerkasten gehockt und eine Schmonzette geglotzt, als mit ihm über Beschneidung und Moses Maimonides zu reden. Sie fand es anstrengend, die Vertreterin ihres Volkes für einen Mann zu sein, der beschlossen hatte, dieses Volk zu verklä­ren, wollte sie doch ebenso wenig ihn enttäuschen wie das Juden­tum selbst und dessen gesamte fünftausendjährige Geschichte.
»Gut, seien wir fröhlich, machen wir was Ausgelassenes«, sagte er. »Ein Stück die Straße hinunter spielt im jüdischen Kul­turzentrum eine kleine
Klezmerband zu einem jüdischen Tanz­abend auf. Wollen wir da hin?«
»Ich glaube, da hätte ich doch lieber ein Kind von dir«, sagte sie. »Ehrlich?«
»Nein, nur ein Witz.«
Sie meinte, es in seinem Kopf rattern zu hören. Eine Frau sagt, sie will ein Kind von dir. Wieso ist das in jüdischen Ohren ein Witz?
Und dann war da noch das Problem, dass sie ihn nicht beun­ruhigen wollte. Die Schinkenspeckvandalen hatten wieder zuge­schlagen. Diesmal wurde »Tod allen Jüdischen« an die Mauern gepinselt. »Jüdischen« war muslimisches Hassgerede. Immer häufiger hörte man von kleinen Kindern an gemischten Schu­len, die als »Jüdische« beschimpft wurden. Hephzibah fand diese Entwicklung viel bedrohlicher als die Hakenkreuze, mit denen der weiße Pöbel jüdische Friedhöfe schändete. Hakenkreuze wirk­ten irgendwie kraftlos, halbherzig, waren eher eine Erinnerung an Hass als Hass selbst. »Jüdische!« dagegen – für sie hatte das Wort einen schrecklichen Klang. »Jüdische« waren etwas Wider­liches. Ihr Glaube machte sie gemein und bösartig. Trat man auf sie, quoll »Jüdisches« heraus. Diese Beleidigung ging viel tiefer als »Jidd« oder »Itzig«. Sie richtete sich nicht gegen individuelle Juden, sondern gegen das, was das Jüdische im Kern ausmachte. Außerdem stammte sie aus einem Teil der Welt, in dem der Kon­flikt bereits in Blut badete und der Hass bitter, wenn nicht gar unauslöschlich war. 

Howard Jacobson behandelt alle einschlägig relevanten Themen. Antisemitismus, Antizionismus, Antiisraelismus, Gaza-Streifen, Moses Maimonides, Brit Mila, Frauen und Männlichkeit, Anschläge und Selbsthass und liefert damit eine umfassende Selbstbeschreibung dessen, was nicht zu fassen ist: des Jüdischen. Die Spitzfindigkeiten werden zelebriert, voller Ironie, mit heiterem Ernst. Zu  trauen ist natürlich keinem. Das Klischee entlarvt das Vorurteil, und davon hat natürlich auch der Leser viele. Nicht nur in England.

“Die witzigste jüdische Versuchung seit Philip Roth.” (Felicitas von Lovenberg, FAZ)

2010       436 Seiten              Booker-Prize 2010

Leseprobe bei DVA (pdf)

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Bergmann
1. Oktober 2011, 11:08
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Michel Bergmann: Die Teilacher

Teilacher sind Handelsvertreter, die von Tür zu Tür ziehen, um ihre Waren, im Roman speziell Wäschepakete, anzubieten und – auch mit Chuzpe und kleinen Tricks – zu verkaufen. Michel Bergmann erzählt eine berührende, melancholische Geschichte über eine Gruppe dieser Teilacher. Sie haben ihre Launen und Lieben, versuchen ihr Leben wieder zu ordnen, trinken und lachen, der Humor ist oft gallig, als displaced persons bilden sie eine verschworene Gemeinschaft und begegnen so einer schwierigen Zeit. Es sind die Jahre vor Gründung der Bundesrepublik, in Frankfurt haben die Amerikaner das Sagen, die Menschen klammern sich an das Nötigste und schon gleich die Teilacher, denn sie sind Juden, die KZ, Exil oder Versteck überlebt haben und dennoch nach dem Krieg wieder nach Deutschland gekommen sind.

Der alte Fajnbrot erklärt, weshalb sie nicht ausgewandert sind: „Zuerst hat man gemusst überleben. Es hat einem keiner nicht was geschenkt. Man gemusst arbeiten, kaufen, verkaufen, machen und tun. So wurde man Teilacher und hat sich getroffen mit anderen Teilachern und alle haben gehabt das gleiche Schicksal. So war es. Man hat kennengelernt a Frau, hat bekommen Kinder. Wie das so ist. Und dann ist man ja geblieben.“

Politik wurde “nur am Rande beachtet” und hatte “so gut wie keinen Stellenwert” Für die Teilacher “existierte Deutschland nicht, und die Deutschen waren fremde Wesen. Und was mit ih­nen geschah, in Berlin oder sonst wo, war nicht von Belang. Die Juden lebten in einem exterritorialen Gebiet, in dem es Amis gab, eine mehr oder weniger lästige Administration und Kunden, denen man Wäschepakete andrehen konnte. Nur in ganz bestimmten Momenten, wenn sie persönlich betroffen waren, kamen die Juden aus ihrem Schneckenhaus.

 Und so eine dramatische Episode begann, als Fajnbrot plötzlich käseweiß ins Büro gestürmt kam, sich kaum auf den Beinen halten konnte, um atemlos zu berichten:
Ihr kennt das Wasserbüdchen Ecke Wittelsbacher Allee?
Ja.
Nu, was glaubt ihr, wen ich da gesehen habe?
Keine Ahnung. Mussolini? Erzähl endlich!
Ich gehe hin dort, um mir zu kaufen Zigaretten, und wem sehe ich, steht da drin?
Na?
Na?

Alfred Kleeberg erzählt von der Beerdigung seines Onkels David 1972 – d.h., David ist gar nicht sein Onkel, sondern der Liebhaber seiner Mutter – und fängt an, die Erinnerungen zu ordnen. Er trifft sich mit den verbliebenen Teilachern beim Leichenschmaus und lauscht ihren Erzählungen. Dabei wird nicht nur getrauert, sondern auch viel gelacht.

 Verzeihen Sie, aber da fällt mir eine Geschichte ein: Ein alter Jude liegt im Sterben und verlangt nach dem Pfarrer. Die Familie ist entsetzt. Aber der Alte will keinen Rabbiner sehen, sondern einen katholischen Priester, denn er hat vor, auf dem Sterbebett zu konvertieren. Die Familie ist außer sich.
Du warst doch immer ein guter, gläubiger Jude gewesen, sagen sie, warum willst du jetzt übertreten? Da sagt der Alte verschmitzt: Es ist doch besser, ein goj stirbt, als ein jid!
Else lächelte. Sie hatte verstanden. Das war für sie auch typisch jüdisch. Immer wurden Wahrheiten in Form von Witzen und Anekdoten weitergegeben. Das gefiel ihr. Ja, sie würde Jüdin werden wollen.

Der geschichtliche Hintergrund verzeiht manche Rührseligkeit des Geschehens, denn das heimelige Glück relativiert sich durch das, was die Personen erlebt haben. Bergmann greift wohl auf die Familiengeschichte zurück und setzt sein Personal in die knapp skizzierten historischen Zusammenhänge. Die Gespräche jiddeln, die Wörter erklären sich selbst.

2010         285 Seiten

Im September 2011 erschien „Machloikes“, die Fortsetzung der „Teilacher“.

Webseite von Michel Bergmann mit Leseprobe, Fotos, Lesevideo, u.a.m.

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Shteyngart
28. Juli 2011, 19:25
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Gary Shteyngart:
Super Sad True Love Story

Oje, ein Liebesroman. Achso, er heißt ja schon so. Aber ein Liebesroman, wo die „Liebenden“ nicht kompatibel sind. Ist das nicht bei allen Liebesromanen so? Sie können zusammen nicht kommen. Also ein klischeehafter, konventioneller Liebesroman. Ja. 

Er, Lenny Abramov, ist Sohn jüdischrussischer Immigranten, mit seinen 39 Jahren ein „älterer Herr“, eher nett als schön, dafür zu haarig, er schwitzt, schwitzt, schwitzt, liest (!) Bücher, die auch stinken, ist Angestellter einer Firma für Dechronifizierungsbehandlungen, ein übler Grübler, seiner Familie in Hassliebe verbunden. Sie, Eunice Park, Tochter  katholischkoreanischer Immigranten, schön und klein und flachbrüstig, shoppt und streamt, Texte scannt sie allenfalls, um ihnen Informationen zu entnehmen, sie hat keinen erkennbaren Job, ist ihrer Familie in Hassliebe verbunden. Sie ist um einiges jünger als Lenny, also eine eigene Generation, selbstbewusst.

Der Roman beginnt und endet in Italien, alte Welt, aber „ein viel leichteres, bekömmliches, apartes Land, ein Land der Images“. Dort kann sogar Eunice sich aufhalten.
Haupt-Schauplatz ist New York, ist Amerika, sind die USA, ein sozial tief gespaltenes Land, die Währung ohne Wert bzw. an den chinesischen Yuan gebunden. „Vor allem brauchte ich echtes Geld, keine Dollars.“ Sie stecken in einer Invasion in Venezuela, die Verwaltung hat die Kontrolle über das eigene Land verloren bzw. an die Nationalgarde aufgegeben. Bis es zum „Bruch“ kommt. Die nationale und Weltenlage bettet die Lovestory ein, die Liebe wird in den Zeiten des Zerfalls schwieriger, scheitert aber nicht daran.

Von zentraler Bedeutung sind die Medien, die Vernetzungen, die Verschmelzung von privatem und öffentlichem Leben. Die Äppäräte (so auch im Original) und die Global-Teen-Streams sind allgegenwärtig, Liquidität und Bonität werden an öffentlich einsehbaren „Kreditmasten“ angezeigt, ebenso der „Fickfaktor“, ständig wird man quantifiziert, „gerankt“, der „große Otter“ sammelt alle Daten. Lenny wundert sich, dass manchen Mündern immer noch Wörter und nicht Daten entströmen. Wichtig sind die Äußerlichkeiten, die Oberflächlichkeiten, die Mode etwa: JuicyPussyJeans, TotalSurrenderSlip. Alles ist übersexualisiert, Eunice „braucht […] eine gebrauchsfertige Welle der Erregung, eine vorübergehend geliehene Befriedigung“. Sex heißt Jugend, Sterben ist tabu, man tut alles, um sich dagegen abzustrampeln. Erst im vorletzten Kapitel „FOREVER YOUNG“ schreibt Lenny in sein Tagebuch: „Heute habe ich eine wichtige Entscheidung getroffen: Ich werde sterben.“ Jetzt kann er seinen Frieden finden.

Es gibt zwei Textebenen: die Tagebuch(!)-Eintragungen Lenny Abramovs, worin die eigentliche Ich-Erzählung steckt. Das Tagebuch-Motiv dient lediglich der Abgrenzung zu „Eunice Parks GlobalTeens-Account“, in denen sie weniger Geschehen reflektiert als mit ihrer Familie und mit ihrer Freundin GRILLBITCH über Befindlichkeiten und Lifestyle zu „teenen“. Shteyngart gibt seinem Helden Abramov (Abraham!) den Blick von außen, als Immigrantensohn denkt er in Altweltkategorien, „verbindet die dunkle Innerlichkeit der russischen Literatur“ (Klappentext) mit dem Glitzer der Postmodene.

 „Das Genre, das Shteyngart bedient, ist die Dystopie, also die negative Utopie.“ (Ijoma Mangold, ZEIT) Mangold beklagt, hier sei „nicht die verrückte Hellsicht einer Kassandra am Werk, die die verdrängten Schattenseiten unserer Gegenwart erahnt. Die Zukunft, die Shteyngart zeichnet, ist die mechanische Extrapolation der alleroberflächlichsten Zeitdiagnosen“. Ich lese das nicht als Dystopie, sondern als Satire, nicht Zukunft, sondern Gegenwart, angespitzt. Shteyngart hat Freude an den perversen Entwicklungen, die die amerikanische Gesellschaft genommen hat, und nicht nur die amerikanische, aber die besonders. Allerdings erschöpfen sich die satirischen Einfälle und das Buch wird zunächst gefühlig und darin seicht und kurvt dann in recht banalen Politmoralismus.

Das Buch ist zu dick, gekürzt auf 300 Seiten wäre es ein gutes, aktuelles, trotz seiner Schmonzetten erträglich.

2010        460 Seiten

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Aktuelles zur Verfasstheit der USA im Tages Anzeiger (Schweiz)