Philip Roth: Nemesis
Sportlehrer Eugene „Bucky“ Cantor beaufsichtigt im Ferien-Sommer 1944 die Jungs und Mädchen auf dem Sportplatz der Schule von Newark. Er ist mit sich im Reinen, den Kindern Sport, Fairness und Verantwortungsgefühl beizubringen, ist das Schönste, was er sich vorstellen kann. Er hat eine Braut gefunden, Marcia, die Tochter des geachteten Arztes Dr. Steinberg.
Bucky Cantor wollte sich als Freiwilliger in den Krieg melden, seine Pflicht fürs Vaterland leisten, wurde aber wegen seiner Sehschwäche nicht berücksichtigt. Er ist nicht direkt „ein reflektierender Mensch“, „er wollte alles respektieren“, „Extravaganzen waren ihm so fremd“. Von den Kindern wird Mr. Cantor geliebt und als Vorbild geachtet.
In diese – fast zu heile – Welt bricht die Katastrophe ein. Eine Polioepidemie breitet sich aus, Mr. Cantors Schulbezirk, das bessere Wohnviertel Weequahic, wird am stärksten heimgesucht. Einige Schüler sterben, keiner kennt die Ursachen und Übertragungswege, die Leute werden hysterisch. (Das ist durchaus heute nicht anders.) Auch Bucky Cantor ist in seinem Verstehen ge- und überfordert. Aber hat sein Pflichtgefühl: „Auch dies war ein Krieg (…), ein Krieg, in dem er kämpfen konnte.“ Doch er scheitert, muss scheitern, weil sich der Gegner nicht stellt, weil ihm niemand die Seuche erklären kann, weil er sie in seine Gedanken nicht einordnen kann, weil die Situation keine richtige Handlungsalternative kennt. Bleibt Gott, doch der rührt sich nicht.
Du hast ein Gewissen, und ein Gewissen ist etwas Wunderbares – allerdings nur, solange es nicht anfängt, dich für etwas verantwortlich zu machen, das außerhalb deines Verantwortungsbereiches liegt.
Er wollte fragen: Hat Gott kein Gewissen? Wo ist Seine Verantwortung? Oder kennt Er keine Grenzen?
Cantor lässt sich von Marcia überreden, seinen Posten aufzugeben und eine Aufgabe in einem Feriencamp zu übernehmen, dort, abseits der verseuchten Stadt, weiter mit Kindern zu arbeiten und gleichzeitig bei seiner Braut zu sein. Er sieht dies als Pflichtverletzung, weiß sich aber keinen Ausweg. Da gibt es plötzlich auch im Ferienlager „Indian Hill“ (!) einen Poliofall.
Er konnte nicht akzeptieren, dass die Polioepidemie in Weequahic und Camp Indian Hill eine Tragödie war. Die Tragödie muss in Schuld verwandelt werden. Es muss eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach dem Grund. Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, dass die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer.
„Nemesis“ ist eher Novelle als Roman, mit Symbolen überfüttert. Der Sommer ist „keine Zeit der Sorglosigkeit“ mehr, in die „Frische eines Julimorgens“ explodiert das Schicksal. Jeder ist ihm ausgesetzt, Kinder bevorzugt, jüdische Kinder, während in Europa die Juden ausgerottet werden, die Frage nach Gerechtigkeit hat keine Antwort. Der tötenden Hitze des Stadttages steht die Reinheit der Nacht in der Natur gegenüber. Eine „Indianernacht“ feiern die Kinder im Camp, die Gemeinschaft aller Amerikaner inclusive der Indianer und der Juden: „God Bless America“. Mr. Cantor verbringt eine Liebesnacht mit Marcia auf einer kleinen idyllischen Insel als Fluchtort. Und auch die verbotene Frucht fehlt nicht: „Mr. Cantor wählte einen makellosen Pfirsich, so groß wie das Prachtexemplar, das Dr. Steinberg genommen hatte, und in Gesellschaft dieses durch und durch vernünftigen, beruhigenden Mannes und in dem herrlichen Gefühl der Sicherheit, das er verströmte, aß er den Pfirsich und genoss jeden köstlichen Bissen.“
Erzähler ist einer von Mr. Cantors Jungen: „Ich, Arno Mesnikoff“. In diesem knappen Einschub erfährt man das im ersten Kapitel, im dritten Kapitel mischt sich dieser Erzähler als Romanfigur ein. Er trifft den „unrettbar verlorenen“ Mr. Cantor nach Jahren wieder, beide haben ihre Kinderlähmung überstanden, wenn auch mit schlimmen Folgen. Der Erzähler bietet dem Leser eine Analyse des Scheiterns von Bucky Cantor:
Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt, indem er seiner Geschichte eine durch und durch düstere, strafende Bedeutung verliehen hatte, die im Lauf der Zeit immer größer geworden war und sein Unglück verschlimmert hatte. Das Wüten der Epidemie auf dem Sportplatz und im Sommercamp erschien ihm nicht wie ein böser Streich der Natur, sondern wie ein großes, von ihm selbst verübtes Verbrechen, das ihm alles genommen und sein Leben zerstört hatte. Das Schuldgefühl, das jemand wie Bucky empfindet, mag absurd erscheinen, ist in Wirklichkeit aber unvermeidlich.
Das ist ein Kunstgriff von Philip Roth, der aber die Grenzen des Romans überschreitet, weil er die Hauptfigur von außen und von oben herab analysieren lässt. Bucky Cantor ist in seiner glatten, naiven moralischen Perfektion ein Langweiler, er nervt beim Lesen, auch wenn sich sein Ende dann als so tragisch erweist. Er trägt das Schicksal nicht, der Sportlehrer erreicht nur als Turmspringer die Fallhöhe, überangepasst übernimmt er sich beim Versuch, die Welt zu retten. Die ersten beiden Kapitel leben vom Kontrast des lieblichen American Dreamboys und der unerklärbaren Seuche, das eigentlich missglückte dritte Kapitel wird erfüllt vom Mitleid mit dem unbelehrbaren jüdischen Mann, „auf den Verlass war“. Roth erzählt schnörkellos.
2010 220 Seiten
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Rezensionsüberblick beim Perlentaucher
Adriana Altaras: Titos Brille
Regina Schilling hat dafür gesorgt, „dass aus vielen kleinen Geschichten die Geschichte“ der „strapaziösen Familie“ von Adriana Altaras wurde. Und damit fast ein Roman. Adriana Altaras ist die Tochter einer jüdischen Familie, wurde mit vier Jahren von Zagreb nach Mantua gebracht, ging auch in Deutschland zur Schule, kam noch weiter in der Welt rum und ist jetzt von Berlin aus im Kulturbetrieb tätig. Da gibt’s schon manches zu erzählen und Adriana Altaras tut das mit Schwung und Humor und klammert dabei selbstironisch ihre eigene Hibbeligkeit nicht aus.
Erzählanlass ist die Auseinandersetzung mit dem Tod der Eltern, die in Jugoslawien als Partisanen gegen die Faschisten kämpften, später auf Umwegen und von der deutschen Bürokratie behindert nach Deutschland kamen. Der Vater wurde als Oberarzt und Neugründer der jüdischen Gemeinde in Gießen geachtet, die Mutter als Architektin. Adriana Altaras „sammelt Aufgaben“ wie ihre Familie: Aufgaben, Nachrichten, Liebschaften, Reminiszenzen, Schriftstücke, nichts wegwerfen, „wer etwas wegwirft, ist ein Faschist“ (!?), die Mutter „tat es mit hundertprozentigem Einsatz, obwohl sie die Aufgabe selbst nicht mochte“. Der Nachlass ist unüberschaubar in Schachteln und Kisten verstaut, Adriana hat einiges aufzuarbeiten.
Die Familiengeschichte ist Zeitgeschichte, eine sehr persönlich gefärbte Aneignung von Traditionen, Wurzeln, Verflechtungen. Eher überrascht und desorientiert, verwundert und angezogen lässt sich Adriana Altaras auf ihr Jüdisch-Sein ein und stellt sich den mannigfachen Aufgaben und Erbschaften. Pessachfest, Chanukka, Beschneidung, Bar Mitzwa, Beerdigung, alles geregelt, lauter Riten und Rituale, Lebensmarken, backen, beten, singen, die richtige Synagoge, der richtige Rabbi, man darf nichts falsch machen, auch wenn einem alles nicht so wichtig ist – sagt man. Immer gefordert, sich fordernd, überfordert lässt Adriana Altaras den Leser teilhaben an ihrer saltierenden Sinnsuche. Sie findet Koordinaten für ihr Leben, welche der christliche Glaube in Deutschland nicht – mehr – geben kann, sie grenzt ihre jüdische Identität aber auch deutlich von der deutschen ab. Sie hat ja auch die – testamentarisch nicht ausgesprochene – Selbstverpflichtung, die Würde und die Last des Kampfes ihrer Familie und ihrer Sippschaft zu pflegen.
Einsamkeit. Ich habe häufig versucht, mit meinen Eltern und meiner Tante über Einsamkeit zu sprechen. »Wie war das, plötzlich im Lager, alles aufgeben zu müssen? Herausgerissen zu sein, aus einem behaglichen Leben mit Freunden und Familie? Die Verhältnisse dort? Das Elend? Und bei den Partisanen? Hattet ihr Angst? Und nach dem Krieg, und die Toten? « Meistens wichen sie mir aus. Fanden meine Fragerei kindisch. Gelegentlich erzählten sie, eher aus Versehen. Mein Vater, der stolze Gockel, schien Einsamkeit nicht zu kennen. Er sprach immer nur vom Widerstand in den kroatischen Bergen, von der Partei, von den Frauen. Frauen liefen ihm seit jeher nach, und er ließ sie ungern stehen.
Aber Split, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, die Stadt am Meer, fehlte ihm unendlich. Sein Heimweh war groß. Jedem Besuch oder Bericht aus der Heimat fieberte er entgegen. Seine Einsamkeit war sein Heimweh.
Meine Tante war mit 21 ins Lager gekommen, als wunderschönes junges Mädchen. Und so wie sie in das Lager hineingegangen war, kam sie wieder heraus. Sie blieb zeitlebens das Mädchen von 21 Jahren – in Stimme, Haltung und Gefühl. Sie hatte sich in einen Kokon aus Unberührbarkeit eingesponnen, und die Einsamkeit einer jungen Frau, die ihre Jugend verloren hat, verließ sie nie mehr. Sie bekam nie Kinder.
Meine Mutter schloss Türen mindestens dreimal ab, verriegelte die Fenster, ließ nachts das Licht brennen oder den Fernseher laufen. Auch sie hatte der Krieg verstört zurückgelassen. In ihrer Einsamkeit suchte sie das Alleinsein. Und die Bücher. Alles andere, vor allem Menschen, störte sie. Aus Enttäuschung über das, was Menschen ihr angetan hatten, aus Ekel vor Jugoslawien, vor den jugoslawischen Faschisten ließ sie kein Heimweh aufkommen, so schien es. Es war, als wäre das Alleinsein ihre letzte übrig gebliebene Würde – ihre Bastion.
Was war meine kleine Einsamkeit gegen die der Überlebenden?
Weshalb tut man sich das an? Weil es wichtig ist, „ein großes Leben“ zu führen, wie es die Vorfahren führen mussten – und konnten? Oder weil man die Ruhe nicht aushält? Sich strapazierend, getrieben, wie Freund Raffi, das Zappelmonster, Muster des Flüchtenden, der vor sich selbst wegläuft. Ist das persönliche Steuerung oder jüdischer Antrieb? Oft legt Altaras für mich den Graben zu tief, begründet zu sehr mit angelegten Traditionen, hebt das Trennende hervor und betont es damit über Gebühr. Für einen Auf- und Abgeklärten nicht immer zu verstehen.
„Wie wichtig ist es für sie, jüdisch zu sein?“ – Lena Gorelik: „Es ist mir im Inneren wichtig.“ Altaras: „Ich bin Jüdin. Jahrgang 1960. So, jetzt ist es heraus.“ „Wir hatten die Traumata unserer Eltern übernommen, sehr gründlich, sehr vollkommen. Wir sprachen von Lagern, die wir nie gesehen hatten, von dem Gefühl auf dem Todesmarsch, immer von Tod. Wir waren die exakten Kopien unserer Eltern und deren Geschichte.“ – Wäre es nicht auch denkbar und erleichternd, wenn diese religiösen Sinnsuchungen und Abgrenzungen nachlassen. Sicher, man verliert vielleicht Sinn und kulturelle Bindungen, eröffnet aber mehr Möglichkeiten für Gemeinsames. Ich meine damit Aufgeklärtsein, Säkulariserung, nicht Assimilation.
Vor einiger Zeit bin ich genau an diesen Pausen gescheitert. Es ging um ein ganz anderes Stück, in dem immer wieder unerbittlich Pausen und Stille zwischen den Sätzen gefordert wurden. Diese Momente der Stille machten mir Schwierigkeiten. Sie hielten nicht nur die Zeit an, sondern legten tiefere Bedeutung nahe, sorgten für große Gefühle, für wahre Momente. Ich nahm sie schrecklich ernst, ohne sie wirklich zu begreifen, geschweige denn füllen zu können, und der Abend schleppte sich dahin wie eine parlamentarische Sitzung. Ich ahnte, dass ich hier an einen überaus wunden Punkt der deutsch-jüdischen Geschichte rührte: Die »jüdische Hast« hielt mich gefangen. Ich war nicht fähig zu diesen Momenten der Stille. Wenn ich sie aber nicht aushalten konnte, gab es für mich offenbar auch keine Tiefe, keine Bedeutung, keine Wahrheit, keine Erlösung. Nichts. Ich war verloren und würde den Gral niemals finden, Wagner würde mir auf ewig verschlossen bleiben.
Damals endete meine Theaterarbeit mit einer aufgebrachten Intendantin, die mich schüttelte und fragte, was los sei: Alles sei so fürchterlich langsam und langweilig. Dafür hätte sie mich nicht engagiert. Ich war ratlos, dabei hatte ich doch nur endlich auch mal Pausen machen wollen, Stille walten lassen. Ruhe und Tiefe finden. Ich hatte alles richtig machen wollen.
Nein, ich hatte viel mehr gewollt: Ich hatte in die Abgründe der deutschen Seele eintauchen wollen, mitschweben im Luftreich ihrer Metaphysik, Wagner lieben, einmal so sein wie sie.
Ich kehrte zu mir und meinem Tempo zurück. Die Aufführung dauerte die Hälfte der ursprünglichen Zeit. Sicher, der Theaterabend war nun vital und spannend, aber die wirkliche Wahrheit, die Pausen, die bedeutsame Stille waren mir verschlossen geblieben. Der Gral. Ich würde ihn nie finden. Ich dachte an die »Herrenmenschen« und das auserwählte Volk und wusste tief innen: Wir hatten nichts gemeinsam.
Lustig ist das trotzdem oft, wie Adriana Altaras zunehmend hektisch und in vielen Episoden geschickt das Alltagsleben und die Abgründe und die Überlebensstrategien flott zusammenfabuliert.
Im Gegensatz zu meinem Vater sprach sie nie von Jugoslawien. Sie sprach von »den Kroaten« und »den Serben« und zwei, drei Freunden. Das war’s. Nie vom Land, den Gerüchen, den Leuten, dem Meer. Den Toten. Sie doch nicht. Sie hatte kein Heimweh.
Ich habe mich geirrt. Hatte sie doch! Sie hatte schreckliches Heimweh. Sie fuhr durch Hessen, als sei es der Balkan. Und sie suchte nach den verlorenen Menschen, nach dem verlorenen Leben, als sei sie wieder zur Sommerfrische auf dem Land, bei ihrer Tante Alma und ihrem geliebten Onkel Marco. Natürlich. Sie war ein Gast geblieben. Nach vier Jahrzehnten. Wie viel »Gast-Sein« erträgt ein einzelner Mensch? Und wann möchte er dort, wo er ist, verwurzelt sein?
»Richte dich ein, als wär’s auf ewig«, sagt Raffi immer – das hat ihm sein Vater beigebracht, eine alte, kluge Emigrantenweisheit.
Und wenn’s zu schwierig wird, gibt es ja noch die Dibbuks.
2011 265 Seiten
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Adriana Altaras liest auch auf zehnseiten.de
Lesung bei Dombrowsky in Regensburg am 4. Mai
Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur
Itzig Finkelstein macht mit sich 1600 weiteren Passagieren der Exitus, einem der ersten Schiffe, die jüdische Überlebende nach dem zweiten Weltkrieg nach Palästina bringen, auf ins damals britische Mandatsgebiet. Er engagiert sich für den Aufbau des Staates Israel, will keine Bäume pflanzen – es gibt schon 6 Millionen -, sondern kämpfen, zur Not auch mit Waffen, er baut sich auch eine Existenz auf, als Friseur, das hat er in Deutschland gelernt. Schon bald hat er seinen Laden, nein Salon, nennt ihn wieder „Der Herr von Welt“, heiratet und könnte zufrieden sein.
Die Konkurrenz! Daß ich nicht lache! Wer kann schon mit Itzig Finkelstein konkurrieren? Ein Mann, der beliebt ist in dieser Stadt! Den man respektiert! Ein Idealist! Ein Redner! Ein Terrorist! Ein Haganahmann! Ein Frontkämpfer! Einer, der sich im Suezkanal die Füße wusch im Zeichen des Davidsterns! Ein Volksheld! Und noch dazu: ein guter Friseur, ein erstklassiger, ein wahrer Künstler!
Itzig Finkelstein findet aber keine Ruhe, denn in ihm wühlt ein Problem. Er kann es nicht loswerden, denn er kann mit niemandem darüber sprechen. Sein Unfried ist: Er ist nicht Itzig Finkelstein. Er ist Max Schulz, der SS-Mann, der Massenmörder, der auch seinen Jugendfreund Itzig auf dem Gewissen hat. Sie waren – nicht – zu verwechseln: „Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne. Ich dagegen, Max Schulz, hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne.“
Moral kennt Max Schulz nicht, er will sie sich nicht leisten. Da er als Max Schulz gesucht wird, nimmt er die Identität Itzig Finkelstein an. Er ist so pervers, dass er sich sogar eine KZ-Nummer in den Unterarm tätowieren lässt. So schlägt er sich durch, bis er auf die „Exitus“ gerät, die bei der Ankunft in Palästina in „Auferstehung“ umgetauft wird.
Die Idee des Rollentausches ist vielleicht nicht ganz neu, man denke an Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“ oder an die Ähnlichkeit von Charlie Chaplins Friseur (!) mit Hitler. Hilsenrath lässt die Geschichte vom Täter erzählen, ein weiteres Tabu. Max Schulz rechtfertigt sich nicht, er lässt keine Grausamkeit seiner Biographie aus. Trotzdem verkommt er nicht zum Guten, seine Taten verraten ihn – und seinesgleichen – und klagen an. Er findet keine Ruhe mehr, er spricht in Gedanken mit dem „echten Itzig Finkelstein“, will damit seine Stachel loswerden.
Kennst du >Ihn<? Weißt du, wer der Mörder ist? Dein Mörder? Und der Mörder deines Vaters? Und der Mörder deiner Mutter? Soll ich dir das Geheimnis verraten?
Ha? Ich laß dich zappeln! Reiß ruhig deine toten Augen auf! Und spitze deine toten Ohren! Es wird dir nichts nützen. Ich verrate das Geheimnis nicht.
Lieber Itzig. Es heißt, daß man haßt, was man verleugnen will. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe immer wie ein Jude ausgesehen … obwohl das nicht stimmt. Aber man hat es gesagt. Ja, man hat es gesagt: Der sieht wie ein Jude aus!
Denk mal nach, Itzig. Schon aus diesem Grund hätt‘ ich euch hassen müssen. Um zu verleugnen, was ich gar nicht bin … bloß, weil ich Angst hatte, ich könnte es sein. Oder: weil sie glaubten, daß ich es bin, obwohl ich wußte, daß ich es nicht bin. Kapierst du das?
Na also. Du kapierst das. Ich auch. Trotzdem hab ich euch nicht gehaßt. Sonderbar … wie? Das stimmt aber. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nie gehaßt. Warum ich euch nicht gehaßt habe? Ich weiß es nicht. Ich stelle nur fest: Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nicht gehaßt.
Was sagst du? Warum ich getötet habe? Ich weiß nicht warum. Vielleicht wegen der Stöcke? Da war mal ein gelber Stock und ein schwarzer Stock. Und andere Stöcke, farblose Stöcke. Und da waren Hände, viele Hände, die die Stöcke schwangen. Und jeder Stockschlag sauste auf meinen Hintern … oder auf den Hintern, den sie Seele nennen … denn die ist auch ein Hintern: die muß manchmal herhalten! Oder: oft! Oder: sehr oft!
Na also. So war das. Und ich wollte auch mal den Stock schwingen. Oder die Stöcke. Aber anders. Gewaltiger. Kapierst du das? Na also. Du kapierst das.
So gewaltig und maßlos hätt‘ ich den Stock oder die Stöcke aber nie schwingen können … wäre da nicht ein Befehl gewesen. Ein Befehl, der befahl: Schlag zu!
Verstehst du mich? Ohne Befehl hätt‘ ich nie gewagt, was ich gewagt hatte. Hätt‘ mich gar nicht getraut. Denn ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, war nur ein kleiner Fisch, ein ängstlicher, zappelnder, kleiner Fisch, der nur zuschlagen konnte, weil es erlaubt war.
Wir haben nicht nur Juden umgebracht. Wir brachten auch andere um. Wir haben auch andere erschossen und erhängt und vergast und totgeprügelt … andere … die keine Juden waren. Aber ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, wurde nur bei Judenmorden eingesetzt. Warum? Ich weiß nicht warum.
Es stimmt. Ich habe selber wie ein Jude ausgesehen … wenigstens dachten sie das … und deshalb mußte ich besser töten als die anderen … mußte ihnen zeigen, daß ich keiner war … ich meine … kein Jude war. Kannst du das verstehen? Wieviele ich umgebracht habe? Ich weiß es nicht. Ich hab sie nicht gezählt. Aber glaub mir, Itzig. Ich war kein Antisemit. Ich bin nie einer gewesen. Ich habe bloß mitgemacht.
Kannst du mich hören, Itzig? Und kannst du mich sehen? Komm! Spiel mit mir! Such mich! Wo bin ich? Wo hab ich mich versteckt?
Ha, ha, blinde Kuh! Such mich. Komm, such mich. Wo bin ich? In meinem Hotelzimmer? Falsch geraten! In meinem Bett? Ja! Aber nicht in Berlin. Und nicht im Hotelzimmer! Lieber Itzig. Ich habe kein Zimmer. Und mein Bett ist nur eine Schlafstelle, eine Koje … so ähnlich wie in Laubwalde … und doch nicht so. Denn ich, Itzig Finkelstein, bin ein freier Mann.
Die Freiheit muss er sich einreden, auch sein Engagement in und für Israel ist keine Buße, sondern entspringt zuerst seinem wenig reflektierten Geltungsbedürfnis, dem Wunsch, eine Rolle zu spielen. Ähnlich den “Mitläufern” der Nazis, den “Unzufriedenen”, wie sie Schulz‘ alter Lehrer Siegfried von Salzstange nennt.
»Ich dachte – hier wären nur die Leute aus Wieshalle und Umgebung«, sagte ich zu Herrn Siegfried von Salzstange. »Aber es sind mehr. Viel mehr! Ich sehe Millionen!«
»Hier ist fast ganz Deutschland versammelt«, sagte Herr von Salzstange.
»Was heißt: fast ganz Deutschland?«
»Nur die Unzufriedenen«, sagte Siegfried von Salzstange.
»Hier sind die Unzufriedenen ganz Deutschlands versammelt!«
»Die Kommunisten?« fragte ich.
Mein früherer Deutschlehrer schüttelte den Kopf. »Die anderen«, sagte er – »die anderen Unzufriedenen. Denn es gibt eine andere Unzufriedenheit, und die kann der Kommunismus nicht heilen.« Herr von Salzstange grinste schwach – sagte dann: »Wenigstens nicht so gründlich.«
»Wer denn?« fragte ich. »Wer kann sie heilen?« »Adolf Hitler«, sagte Siegfried von Salzstange. »Er ist der große Heiler.«
Mein früherer Deutschlehrer bohrte eine Weile nachdenklich in der Nase. Dann sagte er: »Hier sind alle versammelt, die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Menschen.«
»So«, sagte ich. »So ist das.«
»Ja, genau so«, sagte Siegfried von Salzstange, » – hier sind die verkrachten Existenzen versammelt – auch die Kurzatmigen und die Arschlecker von Beruf, Leute, die im Leben nicht richtig vorwärtskamen, entweder, weil sie keine Puste hatten und das planmäßige Kriechen nie richtig gelernt hatten, oder weil der Arsch, den sie leckten, unersättlich war.«
Mein Deutschlehrer grinste eine Weile verloren. »Und natürlich auch die anderen«, sagte er dann nachdenklich und blickte mich dabei ernst an: » – wie sagte ich doch vorhin: die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Menschen: die Glatzköpfe zum Beispiel, auch die sind hier versammelt – gucken Sie sich doch mal um – und auch die zu dünnen und die zu dicken, Leute mit zu kurzen Beinen und Leute mit zu langen, die zu alten und die zu jungen, die Perversen ohne Partner und die Impotenten, Leute mit Würgerhänden, die bisher nicht würgen durften, weil ihnen gesagt wurde, sie dürften nur streicheln, auch die Brillenträger sind gekommen und die Brillenträgerinnen, denn >Er< hat gesagt: >Lasset die Kindlein zu mir kommen!< Aber die Kindlein – das sind die Verhinderten! – Ja, so ist das«, sagte Herr von Salzstange, »vor allem die Verhinderten – die, die gerne mal möchten und nicht können.«
Der Roman zeigt recht ausführlich die Geschichte Israels vom UN-Plan der Aufteilung Palästinas 1947 bis zum 6-Tage-Krieg 1967. Breit erzählt Schulz auch die Stationen und Fährnisse seiner Flucht vor der Roten Armee und den Partisanen in Polen. (Hier fließen wohl auch Erfahrungen Hilsenraths ein.) Immer wieder trifft Schulz auf Frauen, lässt sich von ihnen aushalten, auch quälen, immer sind es Monster, seine Frau Mira dicker noch als seine Mutter, Frau Holle mit dem Holzbein oder die polnische “Hexe” Veronja. Am überzeugendsten wird dem Leser, er wird direkt angesprochen, der unaufhaltsame Weg des Jungen Max Schulz von seinen fünf Vätern zum Nazi vorgeführt. Immer derb, immer deftig.
1977 465 Seiten
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dtv-Unterrichtsmodell von Tina Rausch
Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen
Anna, 13, leidet seit ihrer Geburt an Koordinationsstörungen, weil ihr Gehirn kurzzeitig von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde. Um sich einen Wunsch zu erfüllen und sich zu beweisen, fährt sie mit dem Fahrrad, was sie nicht kann und nicht darf, und stellt ihren fünfjährigen Bruder Tom auf den Gepäckträger. Was geschehen soll, geschieht: Tom stürzt, fällt auf den Schädel und ins Koma. Anna wagt nicht zu sagen, dass sie ihre Pflicht verletzt hat, sie fühlt sich mit ihrer Schuld allein.
Diese Erzählung ist aber vor allem der Aufhänger für die Gedanken über die Fragen: Was ist das Schicksal? Weshalb ist es nicht gleichmäßig oder gar gerecht verteilt? Spielt Er, Gott, dabei eine Rolle? Der Roman ist eine Parabel, in der das Salz, das man auf den Tisch stellt oder dem anderen reicht, immer auch Metapher für das Einfache und doch so Komplizierte des Lebens ist. Auch die Tiere werden bemüht, die Vögel in der Luft und die Fische im Meer und der Kater Karniel. „Hinter der einfachen Handlung versucht Magén eine ernste Geschichte zu erzählen: Sie suggeriert, dass auch der zweifelnde Glaube helfen und auch die verratene Liebe heilen kann. Zwar verzichtet Magén sowohl auf moralisierende als auch auf psychologisierende Schlüsse, aber sie impliziert schon vom Titel an ein fast existenzielles Ausgeliefertsein des Menschen in der Welt. So ist der Roman trotz der sommerlichen Ferienstimmung von einer Abgeklärtheit durchdrungen, die sich in vielen zitierfähigen Sätzen – Alltagsweisheiten eben! – niederschlägt: «Wenn alles einen Grund hätte, wäre das Leben ein Einkaufszettel für den Supermarkt.»“ (Stefana Sabin, NZZ) Schön, aber im Roman doch etwas aufdringlich.
Die Farbe verließ das Meer und den Himmel. Die Mutter fragte, ob sie Lust hätten, Schakschuka zu essen, und der Vater pfiff: »Segle, segle, mein Schiff, das Meer ist so groß …« Sie aßen Schakschuka und die Mutter sagte: »Schaut her, das Leben dreht sich von einer Sekunde zur anderen, und in der nächsten dreht es sich wieder zurück.«
Der Vater sagte: »Das ist das Schicksal, Cheli, das Schicksal.«
»Das ist Gott, Mike.«, sagte die Mutter und steckte sich eine Zigarette an.
»Weißt du was, es ist mir egal, nenne es, wie du willst.« »Vielleicht ist ja alles, wovon wir keine Ahnung haben, nur Physik und Chemie.«
Danach schwiegen sie fast die ganze Zeit. Vielleicht hatten sie Angst, durch Reden das Leben in seinen früheren Zustand zurückzuverwandeln. Die Mutter meinte, man könne nicht wissen, was hinter allem stehe. Sie räumten den Tisch ab, gingen in die Küche und Anna nahm eine Gabel und ritze GGT in den Tisch, Gott, Glück und Treue. Dann stellte sie den Salzstreuer darauf und verließ den Tisch. Morgen oder später am Abend würde sie diese Worte prüfen und sehen, ob sie überhaupt etwas wert waren.
Cheli und Mike nehmen sich vom Leben, was es gibt, und sie sind meist zufrieden mit dem, was sie kriegen. Neben Anna und Tom haben sie noch die jüngere Tochter Naomi, die wunderschöne, bewundernswerte, die keine Probleme zu kennen scheint. Das ist nicht einfach für Anna, doch sie gibt nicht auf, fällt und schleppt sich auf ihren dünnen Beinen, die ihr nicht gehorchen, weiter. Edisso ist mit seiner Familie, die das nicht verkraftet hat, als Jude aus Äthiopien zugewandert. Schwarz, kraushaarig, chancenlos, aber bestrebt. Er hilft Cheli und Mike in ihrem Kiosk, den sie die Sommermonate über am Strand von Tel Aviv betreiben. Auch in ihm zeigt sich eine Facette des Schicksals. Anna freundet sich zaghaft mit ihm an, weil sie in ihm den Außenseiter erkennt, der auch keine großen Wünsche an das Leben stellen kann.
Blass vor Erregung und lachend wie ein Junge, der bei seiner Bar Mitzwa in der Synagoge auf das Podest steigt, um aus der Thora zu lesen, legte Anna ihre zitternden Hände auf den Lenker und spreizte ihre dünnen Beine über die Pedale. Aber es gelang ihr nicht, sich auf den Sattel zu setzen.
»Ich stell ihn dir tiefer«, sagte Edisso. Sie beugte sich über den Lenker. Er stellte den Sattel etwas niedriger und den Lenker etwas höher und sie wartete geduldig, bis er alles gerichtet hatte, beugte sich, das Fahrrad zwischen den Beinen, vor und zurück, ohne es auch nur eine Sekunde lang loszulassen. […] Edisso griff nach der anderen Seite des Lenkers und nun schoben sie das Rad gemeinsam zu den Umkleidekabinen, wie Eltern, die ein Kind zum Arzt bringen.
Dieser Edisso ist ein Geschenk des Himmels, dachte Mike, sogar mehr als das. Er gehört zu den Menschen, bei denen du, wenn du ihnen in die Augen schaust und etwas Trauriges siehst, sofort bereust, dass du überhaupt geschaut hast.
Da der Roman in Israel spielt, ist Chelis Schwester Sara mit einem militanten Erez-Israel-Aktivisten verheiratet und erwartet so gerade ihr achtes Kind. In dieser orthodoxen Familie muss es klar sein, dass Er es so will. Magén platziert Sara als Gegenmodell zur leichtlebigen Cheli, lässt sie ihre Haare und damit ihre Sinnlichkeit unter dem Kopftuch verbergen. Sara muss ihr Leben maskieren, Cheli, die Schwester, darf sich die stete Kontrolle versagen.
Sie saßen in der Dunkelheit auf der Treppe und Cheli weinte unkontrolliert, sie ließ die Tränen laufen, wie sie kamen. In der ersten Runde ihres Lebens hatte es gelbe Gummienten in der Badewanne gegeben, die von kleinen Händen hin und her geschoben wurden, und die Welt war unter Kontrolle. Später verblassten die Enten, das Gummi wurde spröde und die Hände waren schon mittelgroß. Die zweite Runde hatte begonnen und alles geriet außer Kontrolle.
Es spielt keine Rolle, ob Cheli wegen der Erinnerung an die gelben Entchen weinte, oder wegen der Ohnmacht dieser Tage. Wenn jemand weint, gleicht er einem, der betet, und man muss ihm genügend Zeit geben und ihm Respekt für seine Tränen erweisen.
Mike lauschte dem Meer, dessen Stimme die Summe des Vergangenen und des Zukünftigen enthielt, Milliarden Fische schwammen darin herum und jeder Fisch war auf sich allein gestellt. Die Fische wurden geboren und niemand freute sich darüber. Sie starben und niemand trauerte ihnen nach. Man hielt keine Totengebete für sie, keine Trauertage und keine Gedenktage. Ohne zu denken, war ihnen klar, dass es ihr Schicksal war, vergessen zu werden und selbst zu vergessen. Nur die Menschen machten ihren Tod zum Ende der Welt, als hörte mit ihnen auch die Welt auf zu existieren. Als würde es für sie eine Rolle spielen, wer gegangen war und wer dazu kam … Was ist mit dir, Mensch?
2008 400 Seiten
Porträt Mira Magéns von Jeannette Villachica in der NZZ
Philip Roth: Empörung
Empörungen. Mehrere.
Marcus Messners Mutter hält es mit ihrem Mann nicht mehr aus, weil der mit seinen zunehmenden Angstneurosen die Familie tyrannisiert, aber sie nimmt den Gedanken an Scheidung zurück, sie setzt auf die nächste Generation.
Ich weiß, du bist stark. Du hast deinem Vater die Stirn geboten, und der ist kein Schwächling. Und du hast recht daran getan, ihm die Stirn zu bieten; unter uns gesagt, ich war stolz auf dich, weil du ihm die Stirn geboten hast.
[…]
Du bist ein Messner wie alle Messners. Früher war dein Vater der Vernünftige, der Denker, der einzige, der einen Kopf auf den Schultern hatte. Jetzt ist er aus irgendwelchen Gründen genauso verrückt wie die anderen. Die Messners sind nicht bloß eine Familie von Metzgern. Sie sind eine Familie von Schreihälsen und eine Familie von Polterern und eine Familie von Leuten, die mit der Faust auf den Tisch hauen und mit dem Kopf durch die Wand wollen, und jetzt ist dein Vater aus heiterem Himmel plötzlich genauso schlimm wie alle anderen. Sei du es nicht. Sei du größer als deine Gefühle. Nicht ich verlange das von dir – das Leben verlangt es. Denn sonst wirst du von deinen Gefühlen weggeschwemmt werden. Du wirst ins Meer gespült und nie mehr gesehen werden. Gefühle können das größte Problem des Lebens sein.
Ihre Gefühle kann auch Olivia, eine Mitstudentin, die Marcus begehrt, nicht in den Griff kriegen. Sie richtet ihre Empörung gegen sich selbst und fügt sich Wunden bei, um am Leben bleiben zu können. Auf andere Weise setzt sich die Empörung der männlichen Studenten frei; sie überfallen im Rausch einer pubertären Schneeballschlacht das Mädchenwohnheim und klauen die weißen Höschen.
Vater, Eltern, Rektoren, Konventionen, Sexualmoral, gegen vieles muss man sich empören, um ein eigener Mensch zu werden, doch es gibt keine Wege, keine erprobten Mittel, keine probaten Vorbilder für die Rebellion. Sie läuft ins Leere, richtet sich gegen die eigene Person, endet im besten Fall im Schlag auf den Tisch, der von den Autoritäten milde verklärt wird.
Marcus Messner ist ein guter und strebender Student, der nur an einem guten Abschluss interessiert ist. Er will den Pressionen aus dem Weg gehen. Vor den pathologischen Ängsten seines Vaters flieht er aus der jüdischen Gemeinde Newarks in den Bible Belt, weit genug weg, um den Konventionen zu entkommen. Meint Marcus, doch er wird von neuen und härteren Regeln eingefangen. Weil er mit seinen lästigen Zimmergenossen nicht auskommt und in ein neues Zimmer zieht, auch weil er sich nicht in der Gesellschaft des Colleges engagieren will, wird er vom Rektor zum Verhör bestellt. Sogar seine Treffen mit einer Freundin werden protokolliert.
Aufgewühlt von meinem heimlichen Gesang, platzte ich heraus: »Wie wär’s denn mal mit etwas Toleranz mir gegenüber? Entschuldigen Sie, Sir, ich möchte nicht frech oder unverschämt werden. Aber«, und zu meiner eigenen Verblüffung beugte ich mich vor und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, »worin genau besteht das Verbrechen, das ich begangen habe? Ich bin zweimal umgezogen, ich bin von einem Zimmer in ein anderes gezogen – ist das am Winesburger College ein Verbrechen? Macht mich das zum Angeklagten hier?«
Und er (Messner bzw. Roth) bestreitet seine Argumentation mit seitenlangen Zitaten aus Bertrand Russells Essay „Warum ich kein Christ bin“. Aber die Vernunft ist es ja gerade nicht, womit die Vorhaltungen diktiert werden.
Man wird mich aus dem College werfen, dachte ich Weil ich zu oft umgezogen bin, wird man mich auffordern, Winesburg zu verlassen. Darauf läuft das hier hinaus. Rausgeworfen, eingezogen, nach Korea geschickt und dort getötet.
Der Anlass für seine Deportation in den Koreakrieg ist noch banaler. Marcus Messner erzählt seine Geschichte als Toter, Roth verrät es schon nach 50 Seiten. Messners Ahnungen haben sich erfüllt. Sie haben eine kleine Unaufmerksamkeit ausgenutzt, und dagegen ist Bertrand Russell keine Hilfe.
Die Verhältnisse ändern sich nicht, sind – noch, sagt Philip Roth in der nachgelegten „Historischen Anmerkung“ – zu mächtig. Erst die Studentenproteste von 1969 hätten zu Traditionsbrüchen geführt, die Restriktionen – wie die aus der Ferne lächerlich erscheinende Pflicht, 40 Gottesdienstbesuche (auch für Juden) nachzuweisen, abgeschafft.
Aus der zeitlichen Ferne betrachtet, hat sich für mich das bigotte Amerika nicht so sehr gewandelt. Ein schwarzer Präsident wird geduldet, weil er die abgewirtschaftete Nation aus dem Dreck ziehen soll, damit die „Elite“ wieder an die von ihr rekrutierten Fleischtöpfe kommt. Die Konservativen aller Löcher veranstalten wieder „Tea-Partys“, um sämtliche Rebelliönchen im Keim zu ersticken und zu den Gehörigkeiten zurückzuheucheln.
Man liest diese Novelle wohl auch mit heuchlerischen Überlegenheitsgefühlen (deutsch/europäisch), man echauffiert sich über die amerikanische Bigotterie von Gottes Gnaden, die eingeforderte pathetische Vaterlandsneurose der Amerikaner. Weil es bei uns so anders ist ;-), ist „Empörung“ nicht nur Roman, sondern auch Geschichtsbuch. Und wieder der Kampf des Helden gegen die unerfüllbaren Konventionen der (jüdischen) Familie, der letztlich doch nur damit enden kann, dass man selbst so wird, wie Vater – oder Mutter – oder patriotisch.
2008 200 Seiten
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Rafael Yglesias: Glückliche Ehe
Fast noch erstaunlicher ist, wie die Todkranke noch in den Endstadien ihres Siechtums ihr Sterben und ihre Existenz über den Tod hinaus plant und wie Enrique in diese Logistik des Sterbens einbezogen ist. Wer von den Verwandten und Freunden soll/muss noch empfangen werden, damit man sich von ihnen konform verabschieden kann? Es wird ein Stundenplan des Sterbens aufgestellt, der auch den vorgeschriebenen und gewünschten, aber in der Familie umstrittenen, Ritualen der Trauerfeier samt Trauerredner und Grabstätte einen fast bürokratischen Rahmen verpasst, der nicht zum Titel des Romans, Glückliche Ehe, passen will.
Der englische Titel „A Happy Marriage“ umfasst nicht nur die Ehe, sondern auch das Heiraten. Zwischen die Sterbekapitel schiebt Yglesias die Kapitel über das Kennenlernen und das Sich-Annähern, auch erzählt von Enrique und auch bestimmt von den vorgeschriebenen und gewünschten, aber nicht erfüllbaren Ritualen der – jüdischen – Familie bzw. – in Konkurrenz – der beiden Familien. Enrique ist zwar nicht ganz erfolgloser Schriftsteller, aber er leidet an und unter seinen Komplexen, wird zum gefühlten und realen Versager vor seinen männlichen Pflichten, vor den Erwartungen, die er an sich hat, vor seinen übermächtigen Vater. Da wird’s dann (Trivial-)Psychologisch:
Sein Leben lang hatte Enrique die Frage beschäftigt wie keine andere – ein Umstand, der ihn wiederum wütend machte wie kein anderer -, was sein Vater von ihm hielt: von seiner Art zu reden, seinem Aussehen, seinen Träumen, seinen Texten. Nichts an ihm war der Beurteilung durch seinen Vater entgangen. Keine seiner Gewohnheiten, seiner Vorlieben oder Abneigungen, seiner Ambitionen hatte sich ausgebildet, ohne die Missbilligung seines Vaters überlebt oder dessen Billigung gefunden zu haben. Er hatte seinen Kompass verloren.
Es war 3 Uhr 16 morgens. Mal wieder fiel ihm etwas ein, was sein Vater immer sagte. »In der dunklen Nacht der Seele«, hatte Guillermo gern Fitzgerald zitiert, »ist es immer drei Uhr morgens.« Und Enrique musste daran denken, dass sein Vater Fitzgerald für überschätzt gehalten hatte, und fragte sich, ob das Neid gewesen war oder ein ästhetisches Urteil oder beides – und dann war er wieder im jetzt, stand am Fuß des Krankenhausbetts und starrte auf die grauen Lippen seines toten Vaters.
Der Anruf aus dem Beth Israel hatte Enrique um 2 Uhr 37 aus dem Tiefschlaf geschreckt. »Es tut mir leid, Ihr Vater ist gestorben«, sagte die Schwester und setzte hinzu, dass der Tote in zwei Stunden in den Leichenkeller gebracht werden müsse. Wenn er noch etwas Zeit mit seinem Vater haben wolle, müsse er jetzt gleich kommen. Enrique rief seine Halbgeschwister an, um ihnen die Nachricht mitzuteilen, und Margaret hielt ihn in ihrem Ehebett in den Armen und küsste ihn, während er auf die beiden Lichtkästen der Twin Towers in der Mitte ihres Schlafzimmerfensters schaute, geschockt, weil der Tod seines Vaters, von dessen Unausweichlichkeit er seit einem Jahr gewusst hatte, tatsächlich eingetreten war. Er wollte seinen toten Vater nicht sehen, fühlte sich aber genötigt hinzugehen. War das nur Konvention? Oder gab es am Tod etwas zu sehen?
Es ist auch dieses unabwendbare Pflichtgefühl, das ihm die Kraft gibt, seine Frau Margaret bis zuletzt zu pflegen, sich um sie zu be-kümmern, sie in den Tod zu begleiten. Margaret ist die in seinen Augen Stärkere, der er es nicht recht machen kann, die er deshalb auch nicht immer und bis zuletzt liebt, der er sich aber verpflichtet fühlt.
Die Enkelsöhne, die ihm Enrique geschenkt hatte, waren Teil dieser Pflichterfüllung, und Enrique hatte in den Augen seines Vaters auch die richtige Mutter für sie ausgesucht. Margaret erzog und beschützte ihre Söhne entschieden und liebevoll, mit jenem unfehlbaren Gefühl für Richtig und Falsch, das Guillermo schätzte. »Deine Enkelsöhne werden tolle Männer werden«, hatte Enrique geantwortet, als Guillermo bedauert hatte, dass er sie nicht als reife Erwachsene erleben würde. »Oh, das weiß ich«, hatte sein Vater erklärt. »Um die Zukunft meiner Enkel mache ich mir keine Sorgen. Margaret wird dafür sorgen, dass sie die Welt erobern.« Er lachte. »Sonst Gnade ihnen Gott.«
Enrique ist analfixiert und kann deshalb seinen Schwanz nicht steuern, all die Sektionen der Liebe entlang bedauert er sich selbst, hofft im Detail ihres Sterbens und seiner Hingabe eine Art Erlösung zu finden. Sie kommt, kitschig (!?), vielleicht geht’s nicht anders, ganz am Schluss. Liebe und Tod fließen ineinander:
„In ihren Ozean ließ er die Angst aus seinem Herzen entweichen, atmete die Verzweiflung seiner Seele aus und dachte freudig: Ich bin zu Hause! Ich bin zu Hause! Gott sei Dank, ich bin zu Hause!“ (die letzten Gedanken im Roman kursiv).
Aber auch diese Worte sind keine Lösung, denn sie sind nur gedacht. Auch hier kriegt es Enrique nicht hin, seine Verkrampfungen wegzulegen. Die Familie/ die Gene scheinen doch zu mächtig.
Einen „zutiefst menschlichen Roman“ liest Lena Bopp in der FAZ. Das „menschliche“ liegt wohl darin, dass Margaret und Enrique trotz ihrer Neurosen zueinander finden und es miteinander aushalten. Christoph Schröder schreibt in der SZ: „Die unmerklichen Prozesse, die sich einschleichen; die kleinen Demütigungen und Machtspiele; die fest gefügten Rollenverteilungen – auch für sie hat Yglesias ein unfehlbares Gespür. Erst in der Krankheit und im Sterben muss man all das noch ein letztes Mal überprüfen und neu justieren. Mehr als zwanzig Jahre sind sie ein Paar, als Enrique am Hochzeitstag einen geradezu schockhaften Moment der Erkenntnis hat:
Und für einen Augenblick verstand er das Wesen seiner Ehe. An diesem sonnigen Nachmittag in Torcello begriff er, dass ihn Margarets Zufriedenheit über ihren Platz in der Welt ehrfürchtig machte, dass sie das war, was sich für ihn als dauerhaft erwiesen hatte. Sein Vater war gestorben, seine Eitelkeiten und sein Glaube an die Kunst waren dahin. Was er dem Leben an wahrem Wert abgewonnen hatte, war das, was sie ihm gegeben hatte.
Glückliche Ehe. Es steckt manches, wenn nicht vieles von Yglesias’ Autobiographie im Roman. Ich hätte die Zumutungen der Sterbeszenen gerne weggeblättert.
2009 425 Seiten
Lange Leseprobe hier
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Patrick Modiano: Place de L’Étoile
Raphaël Schlemilovitch, französischer Jude, weiß zur Zeit der deutschen Okkupation und der französischen Kollaboration nicht, wer er ist und wo er hingehört und fantasiert sich deshalb Phantom-Biografien. Im „Verlaufe der Erzählung stirbt Schlemilovitch mehrmals, ist mal antisemitischer Jude in Diensten der Gestapo, mal Aufreißer für einen orientalischen Mädchenhändler in Savoyen und der Normandie, mal Vorzeigejude des Dritten Reichs, der auf dem Berghof den Geliebten von Eva Braun gibt, mal Assimilationsgenie, das in der Provinz die französische Scholle preist, mal Folteropfer in einem israelischen Umerziehungslager. Er ist Über- und Antijude in einem, ein Verschleierungs- und Entfesslungskünstler, der sich alle Vorurteile zu Herzen nimmt und in ihr Gegenteil verkehrt, ein unzuverlässiger Erzähler, wie er im Buche steht – und damit die einzig logische Antwort auf eine Historie, in der man sich als Jude auf nichts mehr verlassen konnte, am wenigsten auf die eigene Identität.“ (Michael Althen, FAZ). Am Schluss (?) liegt er in Wien bei Dr. Freud auf der Couch.
Das Buch ist zu voll mit Namen und Orten, fiktiven und realen und solchen, die auf Orte und Namen anspielen. Ohne Schlüssel lässt sich der Roman kaum verstehen, man müsste auch mehr – oder etwas – über die zeit- und kulturgeschichtlichen Bezüge wissen. Vielleicht gibt es ein Sachbuch, das Grundlagen liefert als Einblick in die Zeit, in der der „Place de l’Étoile“ auch der Platz über dem Herzen war, an dem der Judenstern getragen werden musste.
1968 160 Seiten (+ Nachwort)
Bruno Schulz: Die Zimtläden
„Manchmal schrieb er wie Kafka, manchmal wie Proust, und mit der Zeit gelang ihm eine Tiefe, die keiner von beiden erreicht hat.“ – Isaac Bashevis Singer (Klappentext)
Proust kenn’ ich zu wenig. Die Sprache seiner Figuren plustert sich auf, um ein noch Wer-Sein vorzutäuschen. Schulz’ Figuren, voran der Vater des Erzählers, leben ihre Hohlheit bis zum Schrumpfen und Verschwinden. Auch Kafka trifft nicht. Es gibt zwar Parallelen: Wechsel-Mutationen von Mensch zum Tier, Tiere als andere Erscheinungsform des Menschen, die Gehilfen als irrlichternde Hofnarren, die die Realität in die Narreteien bringen.
Bei Kafka aber ist die Situation abwegig, die Handlung entwickelt sich daraus und darin mit einer schneidenden Logik. Bei Schulz kommt keine Handlung zustande, weil sich die Situation auflöst, entgrenzt. Deshalb lassen sich die Skizzen auch nicht zu Romanen entwickeln. Die Stadt ist Chimäre, die Straßen sind Kulissen, sie verschwimmen, verschieben sich mit den Wahrnehmungen der Personen, auch die Personen sind nicht zu fassen, sie träumen sich in ihre Phantasien, die die Welt erschaffen und ersetzen. Es lässt sich nicht bestimmen, wie viele Zimmer eine Wohnung hat, wo diese aufhören, wer in ihnen lebt. Manchmal nisten sich Vögel ein, vielleicht ist es auch der Vater, der zum Kondor wird, vielleicht auch zur Kakerlake, weggewischt, weggeschrumpft.
Schon nach kurzer Glanzzeit nahm dieses Spektakel jedoch eine traurige Wende. Denn bald erwies sich die Translokation meines Vaters in die beiden Dachzimmer, die bisher als Rumpelkammern gedient hatten, als notwendig. Von dort drangen schon in den frühen Morgenstunden die mannigfachen Klagelaute der Vogelstimmen zu uns. Die Holzkisten der Dachzimmer tönten, unterstützt von der Resonanz des gesamten Speichers, mit Rauschen, Flattern, Krähen, Balzen und Glucksen. So verschwand der Vater binnen einiger Wochen aus unserem Blickfeld. Er kam nur selten herunter in die Wohnung, und jedesmal bemerkten wir dann, daß er etwas kleiner geworden war, abgemagert und geschrumpft. Manchmal vergaß er sich, sprang bei Tisch vom Stuhl auf und schlug mit beiden Armen wie mit Flügeln, stieß ein langgezogenes Krähen aus, und seine Augen überzogen sich mit einem nebligen Häutchen. Woraufhin er beschämt in unser Lachen einstimmte und sich bemühte, den Zwischenfall ins Scherzhafte zu wenden.
Einmal, im Verlauf des Großreinemachens, erschien Adela unerwartet im Vogelstaat meines Vaters. Sie war in der Tür stehengeblieben, händeringend ob des Gestanks, der die Luft erfüllte, sowie der Kothäufchen, die Fußboden, Tische und Möbel bedeckten. Rasch entschlossen öffnete sie das Fenster und wirbelte mit dem Schrubber die ganze Vogelmasse auf. Eine höllische Wolke aus Federn, Flügeln und Geschrei erhob sich, in der Adela wie eine wahnsinnige Mänade, unter dem rasenden Wirbel ihres Thyrsus, ihren Vernichtungstanz vollzog. Entsetzt versuchte mein Vater, sich armschwingend zusammen mit der Vogelschar in die Lüfte zu erheben.
Es ist alles real, realistisch beschrieben, eher gemalt, farbig, glänzend, blendend. Nicht Kafka, eher Chagall. Die Personen schweben in der Landschaft, werden vom Sturm aufgesogen.
Schulz war zuerst Maler und Graphiker, man spürt es in seinen Erzählungen. Es gibt die Anekdote, dass er als Hilfszeichenlehrer die Schüler nur zur Ruhe brachte, indem er ihnen Geschichten erzählte.
Die Sprache ist genau. Die Sprache ist verspielt. Für ein Wortspiel, für die poetische Assonanz verlässt Schulz die Wirklichkeit, die Wirklichkeit gibt es nur in der Sprache. „Am Anfang war das Wort. […] Wir halten das Wort üblicherweise für den Schatten der Wirklichkeit, für ihr Abbild. Richtiger wäre die umgekehrte Behauptung: Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes.“ (Schulz) Der ausufernden Architektur der Stadt und des Lebens entspricht die „Architektur der Sätze“ (Übersetzerin Doreen Daume). Man sollte die Texte laut lesen, erst dann hört man, wie schön und manieriert der Stil ist.
Noch ein Ausschnitt – nicht ganz typisch – aus der Hundegeschichte “Nimrod”. Auch hier erscheint wieder Adela, die große Saubermacherin, die Widersacherin der Mythen:
Der Schauplatz seines jungen Lebens, die Küche mit den duftenden Bottichen, mit den kompliziert und interessant riechenden Wischlappen, mit Adelas klappernden Schühchen und ihrer lautstarken Geschäftigkeit schreckt ihn nicht länger. Er betrachtet ihn bereits als seine gewohnte Domäne, hat sich darin einquartiert und damit begonnen, ihm gegenüber ein unklares Zugehörigkeits und Heimatgefühl zu entwickeln.
Außer wenn unerwartet ein Kataklysmus in Gestalt des Bodenscheuerns über ihn hereinbricht – der Umsturz der Naturgesetze, das Platschen warmer Lauge, die alle Möbel unterspült, und das grauenerregende Scharren von Adelas Schrubber.
Doch die Gefahr geht vorüber, der Schrubber, beruhigt und regungslos, steht wieder still in der Ecke, der trocknende Fußboden riecht angenehm nach feuchtem Holz. Seinen normalen Gesetzen und der Freiheit auf eigenem Terrain wiedergegeben, verlangt es Nimrod lebhaft danach, die alte Decke auf dem Fußboden mit den Zähnen zu packen und sie mit ganzer Kraft nach links und rechts zu zerren. Die Pazifikation der Elemente erfüllt ihn mit unaussprechlicher Freude.
Auf einmal bleibt er wie angewurzelt stehen: Vor ihm, etwa drei Hundeschritte entfernt, krabbelt ein schwarzes Scheusal, ein Ungeheuer, das sich rasch auf den Stäbchen vieler ungeordneter Beine vorwärtsbewegt. Nimrod, zutiefst erschüttert, läßt den schrägen Kurs des glänzenden Insekts nicht aus den Augen, verfolgt gespannt den platten, kopflosen und blinden Torso, der von ausnehmend flinken Spinnenbeinen getragen wird.
Bei diesem Anblick schwillt etwas in ihm an, es reift, nimmt zu, etwas, das er selbst nicht begreift, etwas wie Unmut oder Furcht, jedoch eher angenehm und verbunden mit einem Schauder von Macht, Selbstgefühl und Aggressivität.
Plötzlich läßt er sich auf die Vorderpfoten fallen und stößt einen Laut aus, den er selbst noch nicht gekannt hat, der fremd ist und einem normalen Winseln alles andere als ähnlich.
1934 150 Seiten (plus Nachwort)
Rezensionsnotizen zu den „Zimtläden“ –
Zeichnungen –
Biographie mit links –
Essay über Die drei Musketiere in der toten Klasse:
Gombrowicz, Schulz, Witkacy
Hier ergibt sich endlich die Möglichkeit für einen anderen Lesetipp:
Witold Gombrowicz: Ferdydurke
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