Giulia Caminito:
Das Wasser des Sees ist niemals süß

Ich rühre mich nicht und begegne dem Blick des Kindes, das ich war, es blickt mich an aus dem zersprungenen Spiegel im Bad und flüstert mir zu: Es gibt kein Zuhause für den, der kein Herz hat.
Das Zuhause ist oft nicht nur der Ort, wo man sein Herz hat, wo man sich geborgen fühlt, wo man sich sicher ist, dazuzugehören. Das Zuhause ist ein sozialer Platz, die Familie, die Freunde, mögliche Partner, Menschen, die man mag und die einen respektieren.
Gaia, das Mädchen, kämpft sich durch ihre Kindheit, ihre Jugend, die Schule, sie ficht um Freundinnen und Freunde. Sie kämpft, bis sie ihren Eingang ins Leben findet, bis sie die Position findet, in der sie Leben mag. Als sie nahe dran ist, als sie die Tür zu „ihrem“ Leben vor sich sieht, schafft sie es nicht durchzugehen. „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet … bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Franz Kafka, der „Türsteher … vor dem Gesetz“. Gaia ist ein Mädchen, ein junges, aber wie bei Kafka ist es sie selbst, die sich den „Eintritt“ versagt. Sie kommt nicht „vom Lande“, sie ist in eine soziale Schichte, eine soziale Familienumgebung hineingeboren, aus der sie nicht herausfindet, aus der zu entkommen ihr niemand hilft. Und natürlich hat sie immer Angst vor dem, was eine hinter der Tür erwartet, Angst, den Anforderungen nicht zu genügen, und sie ist wütend auf alle und alles, was einer den entscheidenden Mut nimmt. Wütend also zu allererst auf sich selbst. Dazu kommt die Projektion, deren zentrales Objekt des Abreagierens die Mutter ist. Aber die Wut ist verschoben: Nicht die Mutter wird gehasst, die Person, die sie zum Lernen gedrängt hat, sondern die, die die eigene Schwäche thematisiert.
Ich besitze wenige Dinge, aber diese wenigen werden verhindern, dass ich meiner Mutter ähnlich werde, meiner Mutter, der Übergangenen, der Arbeiterin, der Tellerwäscherin, er mit dem auf dem Flohmarkt gekauften Leinenkostüm, das sie angezogen hat, um zu scheinen, was sie nicht ist. Ich muss schnellstmöglich aufhören, das fehlerhafte Kind zu sein, und mich in eine Frau verwandeln, in die man sich verlieben kann. Diese Verwandlung kitzelt und lockt mich, ich stürze mich kopfüber in den krankhaften Wettbewerb der Körper und Blicke.
Sie sorgt dafür, dass ich mich ungenügend fühle, gescheitert, gefallen, mich fühle wie ein zerbrochenes Getriebe, eine um sechs Uhr früh stehengebliebene Pendeluhr, wenn es mittlerweile tiefe Nacht ist: von der Rolle, blöde, ich weiß nicht, wo ich suchen soll, ich weiß nicht, wen ich fragen soll, wie ich mich arrangiere, warum ich mich nicht arrangieren kann, ich kann nur darauf warten, dass meine Mutter die Dinge arrangiert.
Mein Leben ist nicht ihr Leben, mein Leben ist meins, mein Leben steht mir zu, ich baue es auf, und ich zerstöre es, da reagiere ich, wie eine Marionette, die mitsamt dem Plankton vom Wal verschluckt wird, springe ich auf und strample, um ins Meer zurückzukehren, aufzutauchen, auf Sicht zu navigieren, ich werde dieser Behauptung nicht zum Fraß vorgeworfen werden, ich werde nicht in ihren Schlund aus Lauten und Sätzen fallen. Wutentbrannt sehe ich sie an und stehe vom Stuhl auf, als ob mich etwas zwischen den Schenkeln gestochen hätte, das Stechen steigt hoch und kriecht in die Unterhosen, ich spanne die Pobacken an und versuche es zu vertreiben, aber dieses unangenehme Gefühl ist schon in meinem Innern, baut ein Wespennest: unser Leben, unsere Situation, unser Dach, unser Geschirr, unsere Zukunft, unser Einkauf fürs Mittagessen, unser Geld, das fehlt.
Mein Leben ist nicht dein Leben, brülle ich lauthals, ich brülle aus meinem tiefsten Innern, aus meinem kleinen Ich, aus den feuchten Eingeweiden, und ich spüre, wie unser Boden sich auftut, Bäume abstürzen — Erdrutsche und Krachen —, mein Gesicht ist warm, die Haare elektrisch geladen, die Beine kribbeln, und da ist ein Wesen in mir, ein wütendes, niederträchtiges, das keine Selbstbeherrschung mehr erträgt.
„Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist ein eindringlicher Roman über soziale Zugehörigkeit und – natürlich nicht nur – daraus resultierend psychische Deformationen. Gaias Familie lebt beengt in einer Kellerwohnung in Rom. Sie können die Wohnung gegen eine größere in einem „besseren“ Viertel tauschen und ziehen dann in eine Sozialwohnung in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano. Der Vater verbringt seit einem Arbeitsunfall sein Leben im Rollstuhl, der ältere anarchistische Bruder Mariano zieht bald aus, die kleinen angepassten Zwillinge – „und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält. Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt“. (Klappentext) Vielleicht hat sich Gaia das falsche Rollenmodell ausgesucht, vielleicht ist sie ein starkes Mädchen, wie wir es noch immer kaum gewohnt sind.
Für Gaia gibt es nur zwei Momente der relativen Zufriedenheit: als sie am Schießstand des Jahrmarkts einen großen rosa Bären gewinnt. „Ich will den Preis, sage ich und strecke die Arme aus. Ich bin bereit, die ganze Welt zu umfassen, das ganze Universum.
Sie dreht sich mühsam um und holt den zwei Meter großen Bären aus der Bude, sie verschwindet hinter ihm, sie weiß nicht, wie sie ihn mir übergeben soll, ich weiß nicht, wie ich ihn annehmen soll, er ist fast doppelt so groß wie ich, er ist eine belebte Figur, ein Koloss. Sie setzt ihn vor mir am Boden ab und sagt: Gratuliere.“ Und bei der Feier ihres Abiturs am See. „Ich hüpfe im Wasser herum und löse die Haare, ich schüttle sie, ich habe straffe Schenkel und zierliche Waden, ich bin blass, und die rote Mähne sieht aus wie ein Blutfleck vor dem Himmel, all diese unerwartete Schönheit fließt in meinen Adern, die Freude, bekommen zu haben, was ich wollte, ohne mich verbiegen zu müssen, ohne mich zu prügeln, ohne zu stoßen und die Ellbogen einzusetzen, jetzt habe ich etwas, womit ich prahlen kann, und die Gewissheit, dass ich gefalle, jedem, der mich ansieht, gefalle ich sehr.“
Doch auch in diese Momente der Euphorie mischt sich das Unvermögen, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Das Hochgefühl muss herausgeschrien werden und wirkt in der Übertreibung unecht, verrät die Unsicherheit. „Es ist süß, es ist zuckersüß, dieses Wasser, dieser Sumpf, es hat den Geschmack von Kirschen, von Clementinenmarmelade, von Marshmallows, das Wasser des Sees ist immer süß, brülle ich aus Leibeskräften.
Und noch einmal: Das Wasser des Sees ist immer süß. Brülle ich aus Leibeskräften.
Im Literarischen Quartett des ZDF entwickelt sich ein heftiges Scharmützel zwischen Vea Kaiser, die den Roman vorstellt („ein großartiger Roman“), und Deniz Yücel, Sprecher des PEN Berlin. Yüzel, aufgebracht: „Dieser Roman ist wirklich schlecht … Dieser Roman ist keiner, er erzählt nämlich nicht“. Er zitiert Beispiele, wie ein 15-jähriges Mädchen nicht denkt und redet: „Meine Eltern haben schon seit langer Zeit keinen Sex mehr. Sie sind sich ferner denn je und dabei Partisanen ihrer identischen und doch gegensätzlichen Schmerzen.“ Yüzel: „Das ist manieristisch, das ist gewollt, das ist bemüht.“ Aber hier erzählt kein junges Mädchen, hier erzählt eine Frau, die Philosophie studiert hat, die aus ihrer jetzigen Position zurückblickt, die Verhältnisse überblickt. Das ist die Leistung des Romans: das Springen zwischen Perspektiven, zwischen Zeiten. Der Rückblick weitet sich vom innerfamiliären Gewurschtel über die prä-pubertären rosa Groß-Bären-Abenteuer und die frühen Freund:innen-Geplänkelgymna zu Elementen der Einordnung und sozial-politischen Auseinandersetzungen. Giulia Caminito erzählt viel und detailliert und nahe an den Personen, vieles aus dem all-täglichen Erleben, viele genaue Beobachtungen aus den Körpern, den Wohnungen, aus den Dörfern, vom See. Die große Welt wird karg angedeutet, der Bruder, der sich als Anarchist fühlt und an den G8-Protesten in Genua teilnimmt, 9/11 als Zeitmarke. Gaia steht als Erzählerin außerhalb und fühlt sich doch in die Protagonistin (hin)ein. Ihre Sprache schöpft die Bilder aus dem Empfinden der Person. Diese Ambiguitäten scheint Yüzel nicht zu verstehen. Im Nachwort schreibt die Autorin: „Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt hat in dem Versuch, aus ihnen eine Erzählung zu machen, die Erzählung jener Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, der Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe.“
Was ich jahrelang gemacht habe: mir den Klatsch über den Hausmeister der Schule anhören, der die Schülerinnen angafft, den über die hässlichen schnurrbärtigen Zwillinge, die immer zu zweit unterwegs sind und sich den albanischen Freund teilen, über den Tankstellenwart, der das Benzin mit Wasser streckt und deshalb billiger verkauft, über das Mädchen, das im Ausland Internationales Recht studiert hat, aber Unglück bringt und die Geliebte eines verheirateten Mannes ist, über den Typen, der junge Mädchen schwängert und sie dann sitzenlässt und nicht einmal die Namen seiner Kinder kennt, über die Kellnerin in der Bar, die magersüchtig geworden ist und bei der man schon die Wangenknochen sieht, über die beiden Heranwachsenden, die auf dem Motorroller verunglückt sind, ohne Helm und an einem Regentag, darüber, wie fett die geworden ist, die mal die Schönste im Ort war — du heiratest sie, und dann lassen sie sich gehen, legen am Arsch zehn Kilo zu —, den Klatsch über meine tote Freundin, die sich erstickt hat, sich erstickt hat, die sich erstickt hat, deine Freundin, deine tote Freundin, die sich erstickt hat, immer alles in der Hoffnung, dass nicht ich als nächste dran bin.
Was ich jahrelang gemacht habe: auf Revolutionen warten, auf Lawinen, Kettenreaktionen, die zuletzt meinen Aufstieg bewirken, die Eröffnung unendlicher Möglichkeiten.
Was ich jahrelang gemacht habe: bleiben, wo ich war, selber Ort, selbe Zeit, selbe Rolle, selbes Gesicht, und darauf warten, dass ich volljährig bin, so wie man auf das Eintreten einer Prophezeiung wartet, das Aufziehen eines Sturms, den Fall einer Mauer.

Das Cover zeigt ein entflammtes Zündholz zwischen en Lippen einer Frau, darübermontiert: Tropfen. Dazu noch einmal Yüzel: „Das Cover steht sinnbildlich … Ein Streichholz, das man so hält, wie eine Zigarette, Wasser auf dem Gesicht, aber ein Streichholz mit Wassertropfen!?“ Er sieht die Widersprüchlichkeit, erkennt darin ein „Sinnbild“, versteht aber nicht, dass dieser Antagonismus den Zwiespalt der Person reflektiert, die schnell entzündbare Wut und die moderierende Wirkung des Wassers. Das ist die Normalität des Lebens. (Übrigens: Auf dem Original-Cover sitzt eine junge Frau nachdenklich auf ihrem Bett, die Füße stehen im verschmutzten Seewasser – Fische eingeschlossen, das den Fußboden bedeckt. Ein leichter zu deutendes Symbol, das die soziale Komponente betont.)
Man kann sich über Gaia ärgern. Alle und alles sieht sie gegen sich verschworen. Der soziale Aufstieg, den sie sich erlernen wollte, gelingt nicht, weil sie sich am Schluss das falsche Studienfach wählt, das keine Berufsperspektive öffnet.
Luciano hat keine seiner Aufgaben erfüllt, er ist blass, still, leblos gewesen, er hat mir keinen Glanz verliehen, wenn überhaupt nur sehr selten, er hat meinen Status nicht erhöht, hat mich nicht an seinem Reichtum teilhaben lassen, ich bin die ganze Zeit über geblieben, wo ich war, keinen Millimeter vor und keinen zurück.
Ich habe mir ein Gymnasium für Reiche ausgesucht, das ist eine Sanktion, ein tiefer Schnitt, ein Erstickungsversuch. Ich habe mir eine schwierige Schule ausgesucht, an der tote Sprachen unterrichtet werden, und ich sage mir, ich hätte das wegen meiner Freundinnen getan, sie gehen dorthin und ich auch, aber die Wahrheit ist, dass ich eine ganz, ganz winzig kleine Sache in mir trage, eine Eichel, ein Insekt, und das ist die Stimme meiner Mutter, der ich beweisen muss, dass ich etwas tauge.
Dieses Wir, das dort unsichtbar im Raum steht, beherrscht mich, erschafft für mich Luftschlösser und Sümpfe.
Radiogeschichten „Das Wasser des Sees ist niemals süß“ von Giulia Caminito. (DLF)
Giulia Caminito racconta L’acqua del lago (italiano)
Verständnisloser Deniz Yücel – Gespräch im Literarischen Quartett des ZDF (10 Minuten)
Alex Schulman:
Die Überlebenden

Der Vollmond schien zwischen den Stämmen, und ein Wind kam auf, das Laub raschelte. Benjamin trat einen Schritt zurück, und als die Blätter sich entzündeten, musste er die Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Der Funkenregen fiel über die dunkle Landzunge, wie ein Lauffeuer breitete sich der Silberbrand in den Bäumen aus.
Benjamin und seine Brüder. Nils, der ältere, Pierre jünger, Benjamin ist der Chronist, die Figur. Die beobachtet wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die Familie lebt in der Stadtwohnung, wichtiger aber ist das Sommerhaus, an Wald und See. „Sie sind auf der anderen Seite des Landes, fahren tiefer und tiefer in die Wälder hinein, und sie reden weniger und weniger, und als sie schließlich von der Landstraße abfahren, verstummen sie ganz. Jetzt geht es wieder durch das Wurmloch.“ Die Brüder streiten, raufen, fühlen sich als Einheit.
Sie konnten einander nicht helfen, und so ist es schon immer gewesen, seit sie erwachsen sind. Keiner von ihnen weiß, wie man sich in die Augen sieht, ihre Gespräche finden mit gesenktem Blick statt. Schnelle, stoßweise Kommunikation. Manchmal denkt er an alles, was sie durchgemacht haben, wie sie sich in der Kindheit aneinandergeschmiegt haben, und wie seltsam jetzt alles ist; sie benehmen sich ja wie Fremde. Er ist überzeugt, dass es nicht nur an ihm liegt, es liegt an ihnen allen.
Die Söhne müssen ihre Zusammengehörigkeit und ihre Selbstbestätigung nicht zuletzt gegen die Eltern und dabei vor allem gegen die Mutter behaupten. Die Mutter stellt sich als eher abweisende Person dar, sie kann ihre Liebe nicht in Zuwendung zeigen, bestraft unüberlegt, zieht sich zum Rauchen und Trinken zurück. Erst nach ihrem Tod dürfen die Brüder ihren Brief lesen, in dem sie ihr Verhalten begründet.
Benjamin. Die schwerste Last hattest Du zu tragen. Vor allem um Dich tut es mir leid. Ich habe Dir nie Vorwürfe gemacht, niemals. Doch genau das konnte ich Dir nie sagen. Wenn ich Dir aus meinem Schweigen in all den Jahren nur eins vermitteln könnte, so wäre es dies: Es war nicht Deine Schuld.
Wenn wir uns treffen, schaue ich Dich manchmal an. Du stehst immer ein wenig abseits, gern in einer Ecke, und beobachtest die anderen. Du bist immer derjenige gewesen, der beobachtet, und du versuchst noch immer, Verantwortung für alle anderen zu übernehmen. Manchmal frage ich mich, was wohl aus Dir geworden wäre, wenn das alles nicht passiert wäre.
Die brüchigen Beziehungen der Personen werden nicht ausgesprochen, sie schweigen wie die Natur, die Fichten, der See, evozieren den Wunsch zusammenzugehören trotz der Geheimnisse.
Er wusste, dass Nils‘ Abreise bedeutete, dass etwas endgültig zu Bruch gehen würde. Denn wie sollte es ihm gelingen, die Familie zu reparieren, wenn einer von ihnen verschwand? Er wusste auch, dass Nils‘ Abreise eine Gefahr für ihn selbst darstellte. Wenn Nils verschwand, verschwand jemand aus der Wirklichkeit, eine Hand auf seiner Schulter, die ihn am Platz hielt. Dann war da einer weniger, der Benjamin versichern konnte, dass es diese Familie gab, und dass es ihn gab. Jemand, mit dem er über den Abendbrottisch einen Blick wechseln konnte, der ihm stumm bestätigte: Du existierst. Und das hier ist passiert.Stumm.
Alex Schulman macht das geschickt. Baut Atmosphäre auf, drohend, aufdringlich, die Abgründe der nordischen Natur, die auch die Menschen hineinziehen. „Schulman legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen.“ (Werner Bartens, SZ) Aber es wirkt immer stärker wie eine artifizielle Anordnung. „Genial gestrickt“, 3SAT Buchzeit), doch es geht nicht auf. Schulman hat sich so sehr in die Geheimnisse und Effekte verloren, dass er triviale Tricks braucht, um sich – und den Leser – wieder herauszuziehen. Benjamin muss ganz am Ende zur Therapeutin, die den Knoten in wenigen Sitzungen löst, die andeutet, was Benjamin verdrängt und was ich als Leser kaum mitbekomme. Dass Benjamin mehrere maskierte Suizidversuche unternahm, dass da im Trafohäuschen etwas anderes geschah, als die Erinnerung festhalten wollte. Erst jetzt kann die Mutter erlöst sterben.
Aber ich habe einen letzten Wunsch: Bringt mich zum Sommerhaus zurück. Verstreut meine Asche unten am See. Ich möchte nicht, dass Ihr es für mich tut — ich weiß, dass ich jedes Recht verwirkt habe, Euch um irgendetwas zu bitten. Ich möchte, dass Ihr es um Euretwillen tut. Setzt Euch ins Auto, nehmt die längere Strecke. So möchte ich Euch sehen: zusammen. In den vielen Stunden im Auto, in der Einsamkeit unten am See, abends in der Sauna, wenn es nur Euch gibt und niemand anderes zuhört. Ich möchte, dass Ihr tut, was wir nie getan haben: dass Ihr miteinander redet.
Alex Schulman erzählt abwechselnd in der Chronologie der Vergangenheit und im Präsens des Rückblicks. Die Jetztzeit dauert einen Tag, der im 2-Stunden-Takt rückwärts verläuft. Das letzte Kapitel heißt „0 Uhr“.
Benjamin nimmt einen Zug und gibt sie dann weiter an Nils. Pierre lacht auf. Nils‘ sanftes Lächeln im spärlichen Licht. Sie lassen die Zigarette reihumgehen und sehen einander an, und sie brauchen jetzt nicht zu sprechen, ein kurzes Nicken genügt, oder auch nur die Andeutung eines Nickens. Sie wissen es, sie tragen sie in sich, als hätten sie sie bereits unternommen: Die Reise, die sie zum Einschlagpunkt zurückbringen wird, rückwärts in ihrer Geschichte, Schritt für Schritt, um ein letztes Mal zu überleben.
2020 – 300 Seiten

Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: Biographie, Frankreich, Frau, Jugend
Simone de Beauvoir:
Die Unzertrennlichen

Alles wäre einfacher gewesen, wenn sie, so wie ich, ihren Glauben verloren hätte, sobald der Glaube seine Naivität verloren hatte.
Da sind die zwei Freundinnen, zuerst 9, dann 20 Jahre alt. „Neben die neunjährige Simone de Beauvoir, Schülerin am katholischen Institut Adeline Desir, setzt sich ein Mädchen mit dunklem Bubikopf, Elisabeth Lacoin, genannt Zaza, die nur wenige Tage älter ist als sie. Natürlich, witzig, unverfroren, hebt sie sich von dem herrschenden Konformismus ab.“, schreibt Sylvie Le Bon de Beauvoir, die Adoptivtochter von Simone de Beauvoir, im Vorwort. Sie hat das Manuskript 2020 veröffentlicht, das an andere Erinnerungen der Schriftstellerin anschließt. Die beiden Mädchen sind „unzertrennlich“, weil sie sich so ähnlich und doch so verschieden sind. In der Erzählung Simone de Beauvoirs heißt sie selbst Sylvie, ihre Freundin Zaza wird zu Andrée.
Sylvie blickt Andrée genau an und versucht sich in diesem Blick zu spiegeln.
Andrées Blick wanderte durchs Zimmer; als würde sie Hilfe suchen; die strengen Bücher, die Porträts der Ahnen waren nicht dazu geeignet, sie zu beruhigen.
«Wirkte sie sehr verärgert? Wann werden Sie erfahren, was sie entschieden hat?»
«Ich habe nicht die leiseste Ahnung», sagte Andree. «Sie hat keinen Kommentar abgegeben, nur Fragen gestellt. Und dann hat sie in scharfem Ton gesagt, sie müsse nachdenken.»
«Es gibt keinen Grund, warum sie etwas gegen Pascal haben sollte», sagte ich sanft. «Selbst nach ihren Maßstäben ist er keine schlechte Partie.»
«Ich weiß nicht. In unseren Kreisen kommen Hochzeiten nicht auf diese Weise zustande», sagte Andrée und fügte bitter hinzu: «Eine Liebesheirat ist suspekt.»
«Trotzdem wird man Ihnen wohl nicht verbieten, Pascal zu heiraten, nur weil Sie ihn lieben!»
«Ich weiß nicht», wiederholte Andrée zerstreut; sie warf mir einen raschen Blick zu und wandte sich dann ab.
«Ich weiß nicht einmal, ob Pascal daran denkt, mich zu heiraten», sagte sie.
Das Auffällige ist nicht nur, dass sich die Mädchen siezen, auch die Vorgaben fürs Leben kommen einem so seltsam überholt an, als sei bis heute eine andere Welt entstanden. Sylvie weiß natürlich nicht, dass ihre Gedanken, ihr Verlust der „Naivität“, ihr Zweifel an Glauben und Familie die neue Welt mit entstehen half. Andrée ist Studienobjekt für Sylvie, sie schwankt zwischen Staunen, Bewunderung, Mitgefühl und Hilfsversuchen, von denen sie weiß, dass sie in Andrées Welt-Kreisen nicht zu verwirklichen sein werden und die auch zu theoretisch sind. Sylvie fehlt in vielen Dingen die praktische Erfahrung, nicht zuletzt in der Liebe. „Was dem nunmehr zehnjährigen Mädchen da widerfährt, ist eine erste Liebe: Sie verehrt Zaza leidenschaftlich, fürchtet, ihr zu missfallen. Sie selbst in ihrer rührenden kindlichen Verletzlichkeit erkennt die frühzeitige Offenbarung natürlich nicht, nur für uns, ihre Zeugen, ist sie so ergreifend. (Vorwort)

Die Familien der beiden Mädchen sind verschieden in Herkunft, Klasse, Bürgerlichkeit, Reichtum, Distinktionsmöglichkeiten, Verlustängsten, Teilhabechancen. Sylvie braucht Andrée, die einerseits offener ist, zielstrebiger, die Sylvie einladen kann, die aber ihre Lebenslust erkauft mit harten Beschränkungen. Ihre militant katholische Familie verlangt, dass sie sich absolut einzuordnen hat. „In ihrer an starren Traditionen festhaltenden Familie, bestand die Pflicht eines Mädchens darin, sich zu vergessen, sich selbst zu entsagen, sich anzupassen.“ (Vorwort) Das Interessante ist die Faszination der jungen Sylvie, ihr nüchtern beseeltes Herantasten an die Freundin, der Wunsch, sie zu verstehen, auch im Ahnen, dass sie nicht zusammenfinden werden. „Alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant“, erinnerte sich Beauvoir in ihren Memoiren. Andreé verliebt sich. Liebe spielt in ihrer Familie keine Rolle. Ihre Mutter verkörpert einzig die rigorose Tradition, Andrée fügt sich.
«Man muss sie verstehen», sagte sie. «Sie trägt die Verantwortung für meine Seele; auch sie weiß sicher nicht immer, was Gott von ihr will. Es ist für niemanden leicht.»
«Nein, es ist nicht leicht», antwortete ich vage.
Ich war wütend. Madame Gallard quälte Andrée, und nun war sie selbst das Opfer!
«Es hat mich aufgewühlt, wie Mama mit mir gesprochen hat», gestand Andrée mit bewegter Stimme. «Wissen Sie, auch sie hatte es manchmal schwer, als sie jung war.»
Andrée sah sich um.
«Genau hier, auf diesen Wegen, hatte sie es schwer.»
«War Ihre Großmutter sehr streng?»
«Ja..»
Andrée hing einen Moment ihren Gedanken nach.
«Mama sagt, Gott ist gnädig, er wägt ab, welche Prüfungen er uns auferlegt, er wird Bernard helfen, und er wird mir helfen, so wie er ihr geholfen hat.»
Sie suchte meinen Blick.
«Sylvie, wenn Sie nicht an Gott glauben, wie können Sie das Leben dann ertragen?»
«Aber ich liebe das Leben», sagte ich.
«Ich auch. Nur wenn ich mir vorstelle, die Menschen, die ich liebe, würden allesamt sterben, dann würde ich mich sofort umbringen. »
«Ich habe keine Lust, mich umzubringen», sagte ich.
Zaza/Andrée stirbt mit 22 an Enzephalitis. Simone/Sylvie hat eine eigene Erklärung für ihren Tod.
Das Grab war mit weißen Blumen bedeckt.
Ich begriff dunkel, dass Andrée gestorben war, weil all dieses Weiß sie erstickt hatte. Bevor ich meinen Zug nahm, legte ich auf die makellosen Sträuße drei rote Rosen.
1954 – veröffentlicht 2020 – 145 Seiten plus dokumentarischer Anhang
Lesung und Diskussion zur SWR-Bestenliste 12/2022 (Audio – 16 Minuten)
Svenja Flaßpöhler stellt das Buch im lesenswert-Quartett zur Diskussion (Video – 13 Minuten) Es geht auch um die innere Zerrissenheit Andrées und um die Natur.
Edgar Selge:
Hast du uns endlich gefunden

Eine Erziehung in Deutschland, zwischen moralischer Selbstüberheblichkeit und christtraditionell vorgeübter Moral. Unendliche Geduld und Ohrfeige stante pede. Musik und Vaterland. „Das sind wir. Das ist Deutschland. Immer auf dem Kiwief. In Deckung, aber auf dem Sprung.“
Die Vergangenheit ist ein Abgrund – und am tiefsten stürzt man in die Familie. Da braucht es Mut hinunterzublicken. Edgar Selge weiß um diese unverschüttbaren Tiefen und wagt es, sich diesem Wagnis zu stellen. Er stellt uns seine Familie vor, seine Eltern, seine Brüder, sich selbst. Der Vater ist Jurist, leitet jetzt das Jugendgefängnis in Herford, lädt die Sträflinge zu Kammerkonzerten ins eigene Haus ein, liest der Familie Dostojewski vor, liebt Frau und Kinder. Er prüft die Lateinvokabeln seines Sohnes und prügelt ihn besinnungslos. Wenn sich die Söhne die Zähne putzen, reibt er ihnen seinen steifen Schwanz an den Arsch. Mutter Signe hat ihren Mann nur widerwillig geheiratet, sie hält ihr Leben für sinnentleert. Die Brüder halten zusammen, zwei sterben früh, einer will Musiker werden. Der kleine Edgar ist „renitent“, klaut seinen Eltern Geld fürs Kino. Dazu schleicht er sich aus der Wohnung. „Aber ich werde nie begreifen! Ich begreife es einfach nicht! Ich kann es nicht begreifen: Warum! Er! Mich! Schlägt!“
Edgar Selge ist 1948 geboren, 1960 war er 12, da beginnt die Erinnerung, da kann er seine Beobachtungen verstehen und – zum Teil – einordnen. Aussprechen und formulieren kann er sie – öffentlich – erst jetzt. Das liegt zum einen an der Scham über „Unsagbares“, zum anderen der Erkenntnis, dass man selbst in der Erblinie der Familie steht. Das geht noch relativ einfach, wenn man darüber erschrickt, dass man die selbe Stimme wie der Vater hat, ja, dass der Vater, wie er selbst, Edgar hieß.
Es ist seine Stimme, die aus mir spricht. Die Stimme meines Vaters. Das weiß ich erst seit kurzem. Ich habe ein altes Tonband abgehört. Er hat mal eine Mozartsonate aufgenommen, auf einem der alten Magnetbänder, und er kündigt das Köchelverzeichnis und die Satzbezeichnungen an. Einen richtigen Schreck habe ich bekommen. Einen Moment lang dachte ich: Das bin doch ich.
Aber er ist es. Er! (…)
Und der Edgar — ja, mein Vater heißt Edgar!
Das steht erst weit hinten im Buch. Aber könnte das nicht auch heißen, dass auch die Denkart der Eltern auf einen übertragen wurde? Edgar Selges Eltern waren deutschnational gesinnt. Das ist 1960 nicht selten, kommt in manchen Bevölkerungsschichten häufiger vor, auch, weil man die Vergangenheit nicht wegschieben kann, ohne sich selbst zu entwerten. Wegschieben will auch Edgar Selge jun., aber das erklärt sich anders.
Jetzt kommt Mutti in Fahrt: Die waren eben stolz auf ihr Land! Und sie klatscht wieder in die Hände. Es geht nicht immer nur um Musik. Und mit fast irrem Blick wiederholt sie das Wort: Musik Musik Musik! Und dann: Kunst! Literatur! Ihr denkt immer, das wär alles! Es gibt noch was Größeres, etwas, für das man bereit sein kann, sein Leben einzusetzen.
Gott, sage ich prompt.
Nein, ruft sie.
Ich staune. Gott steht doch im Mittelpunkt ihres Lebens.
Was dann?, frage ich.
Das Vaterland! Davon macht ihr euch gar keine Vorstellung, was das für uns bedeutet hat! (…) Die Musik trat in den Hintergrund. Das Schicksal wurde wichtiger, das Schicksal unseres Volkes. Sie waren voller Stolz und wollten für Deutschland ihr Leben einsetzen. Das hat sie gepackt. Das hat damals alle gepackt. (…)
Aber Gott, sage ich, Gott ist doch kein Deutscher?
So kann man das natürlich nicht ausdrücken, sagst du tadelnd, überlegst einen Augenblick: Wir dachten, Gott ist auf unserer Seite. Auch im letzten Krieg haben wir das geglaubt. Am Anfang wenigstens.
Edgar Selge blickt zurück von seinem aktuellen Alter auf Zeiten seiner Kindheit und Jugend. Er weiß jetzt mehr und anderes als früher, will aber das Erleben der Vergangenheit nicht überformen. Also versetzt er sich in den jungen Edgar, der aber – wie ließe sich das Dilemma lösen – ein auffallend teilnehmender Junge gewesen sein muss.
Ich baumele mit den Beinen auf meinem Stuhl und muss sagen, dass mich Mozart manchmal schon langweilt. Irgendwie komme ich hier gar nicht vor.
Das Schubert-Duo, das als Nächstes drankommt, spricht mich mehr an, als mir lieb ist. Es besetzt meine Gefühle und raubt sie mir gleichzeitig. Es macht mich zum Opfer. Immer von derselben Melodie in endlosen Modulationen herumgeführt zu werden, geht mir auf die Nerven. Schließlich wird man ganz willenlos und weiß nicht mehr, wer man ist. Ich habe dem nichts entgegenzusetzen.
Und er berichtet über seine Gedanken, wie er als Kind gefühlt hat, wenn sein Vater falsch spielte, zu schnell, ohne Ausdruck. Der verhinderte Musiker, der Gefängnisdirektor, der seine Häftlinge zum Privatkonzert einlädt. So spricht ein Zwölfjähriger? Auch das erzählende Präsens versetzt Autor und Leser in die erlebende Vergangenheit. Am eindringlichsten wird das Übereinanderlegen der Zeiten, wenn der Erzähler die Person damals unmittelbar anspricht. Du. Hier an den Vater gerichtet:
Jetzt pass aber auf!, schreist du, um zu verdeutlichen, dass es sich hier erst um den Anfang handelt.
Du musst zuschlagen. Das ist ein Zwang. Du musst die Welt in Ordnung bringen. Du musst mit Ohrfeigen die Welt besser machen.
Aber sie wird nicht besser. Meine Antworten werden immer katastrophaler. Wenn der erste Schlag gesessen hat, ist mir der zweite so sicher wie das Amen in der Kirche.
Die Erfolglosigkeit deines Zuschlagens steigert deinen Zorn.
Irgendetwas stirbt in mir.
Warum stehe ich nicht auf und gehe?
Warum nicht?
Worte, die man sich damals nicht zu sagen traute. Man weiß, wie der Vater reagiert hätte. Kennt – schon damals – seinen Jähzorn, seine Schwäche. Der Sohn ist dem Vater überlegen. „Warum stehe ich nicht auf?“ (…) „Wer so intensive Prügel bekommt wie ich von dir, Papa, der kann auch als Kind ein tieferes Verständnis vom Leben haben.“
Die Klarheit dieses Tageslichts fragt mich durch die Fensterscheiben: Warum schämst du dich? Die Pandemie hält die Zeit an, damit ich ausspreche, was mir so schwer auf die Zunge will. Hier drinnen bin ich im Reagenzglas. Die Welt ist draußen, blendend, fast unbetreten, und guckt mir zu:
Mensch, Edgar, sag, was los ist!
Meine Liebe zu meinem Vater. Das ist es, was los ist.
Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt.
Edgar Selge erzählt nicht linear. Die Kapitel heißen z.B. Hauskonzert – Todestag – Weihnachten – Königlicher Musikdirektor – Abwasch – Kasperpuppen – An der Mauer – Gelächter – Angina Pectoris – Kino – Kinderzimmer. Alltagsszenen aus der Familie, miteinander durch die Personen verbunden. Immer (wieder) kreist das Geschehen um den Vater, nicht nur, weil er der Herr im Haus ist, vor allem aber, weil er der zu liebende Tyrann ist, der die Familie nur mit Mühe und seine Gefühle oft nicht in den Griff bekommt. Hier schlagen die Episoden ins Dramatische. Man merkt Selge die Kraft und Überwindung an, die ihn diese Abrechnung mit den Einschlägen des Lebens kostet. Seine Sehnsucht, ein guter Mensch geworden zu sein.
Sie freut sich, aber sie ist gar nicht mal so überrascht. Eine sanfte Freundlichkeit schimmert auf ihrem Gesicht, und mir wird bewusst, dass dies das Wertvollste, Schönste ist, das ich je kennengelernt habe. Aber die Freundlichkeit bleibt bei ihr, sie wiegt sich in den Zügen ihres Gesichts, sie reicht nicht bis zu mir. Die Wellen, die alles im Leben transportieren, sind zu kurz und können diesen Ausdruck nicht bis in mein Herz tragen.
Wie schön, sagt sie. Hast du uns endlich gefunden. (Aus dem „Traum von meiner Mutter“)
2021 – 300 Seiten

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden (1. Kapitel) – Gelesen vom Autor
Gespräch im „lesenswert“ Quartett des SWR – 11:30
Callan Wink:
Big Sky Country

Die Menschen sind “entwurzelte Wesen, die der Wind dahin und dorthin weht, die sich verhaken und weitergetrieben werden, in der vagen Erwartung, eine neue Pflanzheimat zu finden“. (Callan Wink, „Der letzte bessere Ort“) In Callan Winks Stories von 2016 liest man Skizzen eines Romans, jetzt hat er diese Schlaglichter ausgebaut zu 380 Seiten. Den „letzten besseren Ort“ hat er noch immer nicht gefunden, auch der Ort, an dem August aufschlägt, ist nur eine Station auf dem Erwachsen-Werden, „fast ein Zuhause“.
August – so heißt der Roman im Original – kommt aus Michigan, doch da seine Eltern sich trennen, kann er nicht dort bleiben. Er zieht mit seiner Mutter nach Montana. Michigan an den Großen Seen ist feuchtes Industrieland, Montana ist so groß wie Deutschland und hat 1 Million Einwohner, trocken, kalt, Rocky Mountains: Big Sky Country. Mehr als 2000 Kilometer von Michigan, 24 Stunden Fahrzeit, Augusts Vater meint es nicht ernst mit einem Besuch. Seltene Telefonate, was sollte man sich sagen.
August kann sich nicht zum Studium durchringen, er arbeitet lieber, hat schon seinem Vater gern auf der kleinen Rinderranch geholfen. In Montana findet er Arbeit auf der Virostok Ranch. August ist nicht unzufrieden, schläft und isst in einem Anbau, gut, dass er keine Ambitionen hat. Das Leben macht Pause.
Eine Tasse Kaffee im Bauch, bevor es überhaupt hell war, die zweite, während das Grau sich zum goldenen Morgen festigte. August toastete sich zwei Scheiben Weißbrot. Er schmierte Butter drauf, schnitt sich eine Banane und arrangierte die Scheiben darauf wie blasse Taler. Er träufelte ein präzises Zickzack aus Honig darüber und aß auf seiner kleinen Terrasse, die Kapuze wegen der Kälte hochgeschlagen, und atmete den Dampf über dem Becher ein. Von dort konnte er das Licht in Ancient Virostoks Küche sehen. Manchmal tauchte Ancient hinter dem Fenster auf, er war allein, füllte die Kaffeekanne mit Wasser, spülte seinen Reisebecher aus, wusch sich die Hände, nachdem er Speckstreifen in die Pfanne gelegt hatte. Bis Ancient aus dem Haus kam, hatte August seine ganze Kanne getrunken. Als er schließlich so weit war, trat Ancient auf die Veranda, streckte sich und gähnte.
Toppas und Tacos, Hobbies wie Angeln interessieren nicht wirklich, Sport stellt sich als bedrohlich, langweilig und übergriffig heraus, Saufen, ja, ein paar Händel, aber wozu, Pick-ups, Quads, Bagger. Freunde sind rar und allenfalls zum Abhängen und Absitzen in Bars akzeptiert, wozu Mädchen da sind, wird August auch nicht ganz klar. Nebenan wohnen Hutterer, „Hoots“, und liefern Milch und Hähnchen.
August hatte die Kaffeemaschine an einer Zeitschaltuhr hängen, und er wachte langsam auf, während der Topf sich gluckernd füllte. Er zog die Jeans von gestern an, die schon Tage vorher hätten gewaschen werden sollen, und schenkte sich einen Becher ein. Er ging draußen pinkeln, barfuß, das Gras taufeucht, während das Tageslicht gerade erst erstarkte. Drinnen schob er zwei Scheiben Brot in den Toaster und schaltete das kleine Radio an, das er auf der Arbeitsplatte stehen hatte. KPIG aus Billings kam relativ rauschfrei rein. Die Wetteransage machte so früh am Morgen eine Computerstimme. Mehr Sonne, keine Wolken. Keine Überraschung. Der erste Song nach dem Wetter war John Mellencamps »Jack and Diane«, und August schmierte sich Erdnussbutter auf sein Toast — vermisste die Marmelade — und aß es trocken, aber klebrig an der Spüle. Er hatte dort das Polaroid-Foto vom Musselshell River an die Wand gepinnt, und Mellencamp sang von two American kids growing up in the heartland, als August sie genau ansah. Jack und Diane. Two ‘merican kids doin‘ the best they can. seinen Reisebecher, schaltete das Radio aus, zog seine Stiefel über und ging das Quad auftanken. Er hatte einen weggeschleiften Zaun zu reparieren.
August, eine Art des American Kids. Ungewisser Zusammenhalt und schleichender Zerfall der Familie, Frauen, gegen die man nicht ankommt, wenn man nicht so hart sein will oder kann, wie es die Erziehung zum Mann erwartet, Frauen, die gehen, wann sie wollen, Freunde, die auch keine Perspektive sehen. Politik spielt am Rande herein bis nach Montana: der Kumpel, der in Afghanistan fällt, am Nachbarzaun Tafeln mit Verschwörungssprüchen. „AMERIKA DEN AMERIKANERN! JUDEN=TERRORISTEN — 9/11 WAR DER MOSSAD! BUSH WUSSTE ALLES!“ August will sich raushalten, hat aber kein positives Programm für sich selbst. Montana ist der nächstbessere Ort. Nicht mehr.
Sie schwiegen einige Meilen. Dann sagte August: »Hast du schon mal einen Bisonsprung gesehen?« (…), einen alten Bisonsprung der Indianer. Eine Stelle, wo sie die Tiere von der Klippe gejagt haben. Ich habe mal einen bei meiner alten Arbeit hinten in den Hügeln gefunden. Ein Riesenhaufen kaputter Schädel und so weiter. Man konnte genau sehen, wo sie über die Kante gekommen sind und wo sie dann unten auf die Felsen aufschlugen. Muss ein krasser Anblick gewesen sein. Wie so eine ganze Herde da rüberkommt.«
»Ja? Und?«
»Und das ist alles. Ich musste nur gerade daran denken. (…) Ein Tier folgt dem anderen von der Klippe oder in Sicherheit, das spielt eigentlich gar keine Rolle. Keine Helden. Wir laufen bloß alle den ganzen Tag durch die Gegend, mal hier, mal dort lang, aber immer dem Arsch vor uns hinterher. Genau wie mit den Frauen. Wenn du gerade meinst, du bist der Leitbulle, wird dir plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Man könnte ja meinen, daraus lernen wir, aber eigentlich hat es keine neue Idee mehr gegeben seit Adam mit Eva. Am besten wäre es doch, seine Tage für sich zu verbringen, und dann, wenn es Zeit ist, zum Sterben raus in die Prärie zu gehen.«
»Klingt einsam.« »Aber wenigstens würdevoll.«
Die Darstellung ist sachlich, trotz großer Nähe distanziert, August will auch seinem Autor nicht zu nahe kommen, Gefühle sollen drinnen bleiben, Callan Wink respektiert das, nimmt nicht Stellung. Harte Kerle reden nicht, weiche auch nicht, aber es ist alles nicht einfach. „Ein geradezu klassischer Entwicklungs- und Bildungsroman im ländlichen Amerika.“ (Christoph Schröder, ZEIT)
August schwitzte in der Two Dot Bar und wartete auf seinen Hamburger. Er hatte den ganzen Tag Heu gemacht, und obwohl er auf dem Barhocker saß, konnte er immer noch den Traktor unter sich dröhnen spüren. Mit Rückenschmerzen von der Feldarbeit. Er war kaputt, und dabei hatte er nicht mal zwischendurch einem Lerchenstärling das gebrochene Bein geschient. Wo war Paul Harvey mit seinem Lob der Farmer, wenn man ihn brauchte? Vor August stand ein Bier auf einer Serviette, und der Abend war warm, also hatte Theresa die Tür offen stehen. Im Spiegel hinter der Bar sah er Tim kommen. Einen Moment an der Schwelle einhalten, bevor er sich ans andere Ende der Bar setzte. Er bestellte sich einenKurzen Jim Beam und ein Pabst Blue Ribbon zum Nachspülen, und während Theresa ihm einschenkte, saß er mit steifem Rückgrat auf seinem Hocker und starrte stur nach vorne. Er kippte den Whiskey und stellte das Glas leise auf dem Tresen ab. Es war leise in der Bar, die Jukebox still, die Fernseher stumm geschaltet, nur ein Scheppern von Pfanne auf Kochplatte kam aus der Küche.
»Damals im Schnee, als du mich ein Phantom genannt hast«, sagte August, »was hast du da gemeint?« Tim erwiderte Augusts Blick im Spiegel. »In dem Moment hatte es etwas zu bedeuten«, sagte er. »Jetzt weiß ich nicht mehr.«
Tim leerte sein Bier mit drei großen Schlucken. Er legte das Geld auf den Tresen und stellte das leere Schnapsglas darauf. »Stimmt so, Theresa«, sagte er. Dann stand er auf, setzte sich wieder den Hut auf und ging hinaus in den Abend.
2020 – 380 Seiten
Sally Rooney:
Gespräche mit Freunden
„Wer in den 379 Seiten von „Gespräche mit Freunden“ nach den Markern eines neuen Lebensgefühls sucht, wird sie finden.“ (Hannah Pilarczyk, SPIEGEL) –
Nun, Sally Rooneys „Marker“ sind Zeichen für jene, die Sally Rooney markiert: liberal verunsicherte Jungmenschen, deren Perspektive die Zeit ist, in der sie leben. Die Bezugspunkte ergeben sich aus sich selbst und kreisen umeinander, die Verweise spiegeln sich. Wobei die Selbstvergewisserung in der Beschreibung besteht. Was ist, das ist – halt – so. Frances und Bobbi machen ein bisschen Stage-Poetry, wofür man geliked wird, weil und wenn man es macht. Frances und Bobbi beschäftigen sich – mit sich selbst und mit Freunden, mit denen sie sprechen. Die Freunde leben in der Künstlerwelt, Melissa ist Kulturjournalistin, Nick Schauspieler. Die Gesellschaft aber ist differenzierter, auch in ihren Lebensgefühlen. Sally Rooney muss das nicht merken und markieren.Worüber man spricht, ist austauschbar. Der Inhalt ist das Gespräch selbst.
Nein, muss ich nicht, sagte er.
Demnach ist Melissa neuerdings ziemlich tolerant, sagte jemand anders.
Der Titel sagt das knapp und präzise. Allerdings werden einem Sachen oft fremd, wenn man über sie spricht, man gerät ins Stocken, das Sprechen muss inszeniert werden. Der/die Angesprochene ist auf dem gleichen Level, er/sie lässt sich nichts vormachen. Kommunikative Aporien.
Ich lachte viel zu laut über diese Bemerkung und hörte abrupt auf, als mir klar wurde, dass daran nichts lustig war. Ein leichter, kühler Regen strich über den Schirm, und ich versuchte, mir eine interessante Bemerkung über das Wetter einfallen zu lassen.
Er ist sehr attraktiv, hörte ich mich sagen.
Auf fast schon abstoßende Weise.
Das Leben steht ständig unter dem Druck der Selbststilisierung, der Vortäuschung, der Selbsttäuschung.
Ich sagte, ich hätte gern ein Glas Gin, während mich alle auf eine friedliche, bekiffte Art ansahen. Außer Nick waren dort noch zwei Frauen und zwei Männer. Die Frauen sahen sich nicht an. Ich senkte den Blick auf meine eigenen Fingernägel, um mich zu versichern, dass sie sauber waren. (…)
Ich schluckte. Ich sagte: Ich muss los. Dann verließ ich die Waschküche, kniff mir in die Unterlippe und versuchte, ein ausdrucksloses Gesicht zu machen.
Im Wintergarten saß Bobbi auf einer Fensterbank und unterhielt sich mit Melissa. Sie winkte mir zu, und ich fühlte mich verpflichtet, zu ihnen zu gehen, obwohl ich nicht wollte. Sie aßen kleine, glatte Kuchenstücke mit zwei dünnen Streifen aus Sahne und Marmelade, die wie Zahnpasta aussahen. Bobbi aß mit den Fingern, Melissa hatte eine Gabel. Ich lächelte und berührte wieder zwanghaft meine Lippen. Obwohl ich im selben Moment wusste, dass es eine schlechte Idee war, konnte ich es nicht bleiben lassen.
Und die Gefühle?
Ich legte mich angezogen aufs Bett und fragte mich, ob ich etwas Bestimmtes fühlen würde, so etwas wie Trauer oder Reue. Stattdessen überkamen mich eine Menge Gefühle, die ich nicht näher zuordnen konnte.
Eine Auflösung der Blockaden läge in der Ironie. Frances müht sich, gerade in dem problematischsten Gespräch, dem Sex-Talk. #MeToo hat die Kommunikationshemmnisse ausgefächert. Bei Sally Rooney liest sich das so: „Ich berührte seine Gürtelschnalle und sagte: Wir können miteinander schlafen, wenn du willst, aber du musst wissen, dass ich das nur ironisch tue.” – Lebensgefühl: krampfig. Arme junge Menschen. Der “Netzjargon” bietet etliche Alternativen, indem er die Konnotationen standardisiert (und rubbeldiekatz anpasst): von Emoticons über Akronyme zu Sternchen. Die Verständigung wird damit im Gelingensfall konzis und punktgenau. Sally Rooney braucht 380 Seiten!
Und damit zum Hauptproblem des Romans. Wie lassen sich 380 Seiten mit einem Inhalt füllen, der ja gerade darin besteht, keiner zu sein. “Marker” sollten anzeigen, kenntlich machen, aber nicht nachbilden. Im besseren Fall könnte auch verhandelt werden, ob die leerlaufenden “Gespräche” auch Symptome sind, zu fragen, was die Lebensgefühle zum Wanken gebracht hat. Sally Rooney hat sich auch politisch geäußert, Hannah Pilarczyk nennt sie eine „selbsterklärte Marxistin“. Im Roman entdeckt auch sie nichts an politischem Bewusstsein, weder in den Figuren noch in der Darstellung. „Marxismus erscheint so als ein Stilrepertoire, ein Slang unter vielen, dessen sich Rooneys polyglotte Figuren je nach Bedarf bedienen.“ Die ausführliche Inhaltsangabe schreibt, wie gewohnt, Dieter Wunderlich. Auch für ihn ist der Welterfolg des Romans „umso erstaunlicher“.
Ich lachte viel zu laut über diese Bemerkung und hörte abrupt auf, als mir klar wurde, dass daran nichts lustig war. Ein leichter, kühler Regen strich über den Schirm, und ich versuchte, mir eine interessante Bemerkung über das Wetter einfallen zu lassen. (…) Die Wolken waren grün, und die Sterne erinnerten mich an Zucker.
Ich las viel zu abgelenkt in diesem Roman und hörte endlich damit auf, als mir klar wurde, dass daran nichts lustig war, nichts markierend, nur geschwätzig. Zuckerwatte. Was soll einem da an interessanten Bemerkungen einfallen.
2017 380 Seiten
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Wolf Haas: Junger Mann
„Er ist ein bisschen zu dick und ein bisschen zu jung für sie.“ So steht es in großen Buchstaben im Umschlag des Covers. Und „sie ist ein bisschen zu schön und ein bisschen zu verheiratet für ihn“.
Der „Tschick“ heißt hier Tscho und ist der Mann von der Elsa und der Erzähler ist 13+, arbeitet in den Schulferien in einer Tankstelle, ist groß für sein Alter, empfindet sich aber als zu fett und will deshalb abnehmen. Was natürlich auch mit der Elsa zu tun hat. Der Erzähler wird einmal, später, mit „Herr Haas“ angeredet. Siebzigerjahre, da war alles noch ein bisschen anders, deshalb können auch ältere Leser das Buch gut lesen, vielleicht eher noch als jüngere, eher auch als weibliche. „Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten.“
Die Fast-Versuche ziehen sich durch das ganze Buch und landen als Waagen-Abbildung auch auf dem Cover. Der Tscho ist kein Intellektueller, sondern ein Schrauber und Fahrer. Er fährt einen Scania-Truck (vielleicht) bis nach Teheran, sicher aber bis Griechenland, um dort (vielleicht) Kühlschränke auszuliefern. Obwohl der Tscho auch ein Schweiger ist, nimmt er unter einem Vorwand auf eine dieser Fahrten auch den jungen Haas mit. Eine Road-Novel mit allen Zutaten, der junge Haaas macht allerlei Erfahrungen. Auch unterwegs bemüht er sich, nichts zu essen, trotz der besten Spaghetti in Triest, der Ražnjići in der Nähe von Novi Sad und überhaupt. Es ist schon was Eigenes, neben dem Tscho zu sitzen und ständig an dessen Frau zu denken. Vor allem, wenn der Tscho ständig auf seine Frau zu sprechen kommt und dabei Andeutungen macht, die einen aufwühlen, was man sich aber nicht anmerken lassen will. Und mann darf sich auch nicht heraushängen lassen, dass man auf eine „Pfaffenschule“ (Tscho) geht und so manches weiß und deshalb bald Matura macht. Der junge Haas ist überall auf fremdem Terrain, auch, weil er ja noch so jung ist. Der Leser weiß mehr und amüsiert sich. Der Tscho hat eine Marotte angenommen, um die sprachliche Überlegenheit des Mitfahrers einzuhegen: Er wiederholt dessen Worte. „»Neindanke – Jabitte! Du bist richtig gut erzogen, ha?« Als Antwort darauf bemühte ich mich, den Kaffee möglichst laut zu schlürfen. »Und?«, fragte der Tscho. »Hab ich gut gekocht?« »Nicht zum Saufen«, sagte ich. »Nicht zum Saufen, sagt er.« Immer ein Wort mehr, was soll man da machen. Ein weiterer Driving Gag.
Als sich eine Baustelle in den Weg stellte, konzentrierte ich mich doppelt. Das waren immer die Sachen, wo man einen Fehler machte. Überraschende Hindernisse. Einmal nach links, prägte ich mir ein. Das war beim Zurückgehen dann nach rechts. Die Baustelle war aber ein Glück. Sonst hätte ich die Gasse mit dem Fischmarkt nicht entdeckt. Außer im Fernsehen hatte ich noch nie einen Fischmarkt gesehen. Wie auf einem Jahrmarkt reihte sich ein Fischhändler an den anderen. Sie schrien herum, über die Gasse hinweg, schauten aber nicht böse. Es klang, als würden sie streiten, aber sie lachten dabei. Die Fische schauten böse. Sie meinten es aber nicht persönlich. Ich konnte ja nichts dafür, dass sie tot waren. Zumindest konnte ich nichts dafür, dass sie so wenig Kalorien hatten. Aber eines hätte ich mir nie gedacht. Wie riesig ein Thunfisch außerhalb der Dose war. Sardinen waren so groß wie immer. Bisher hatte ich in echt eigentlich nur Forellen gesehen. Mir fiel ein, wie ein Fischer einmal an unserem Haus vorbeigekommen ist und meiner Mutter eine Bachforelle geschenkt hat. Das war wahnsinnig nett von dem. Wir waren dann aber nicht sicher, ob sie wirklich tot war, obwohl wir wussten, wie man einen Fisch umbringt. Wir hatten ihr die Zunge schon zweimal hineingedrückt. Zuerst meine Mutter, dann ich. Aber weil der Schwanz in der Pfanne zuckte, haben wir sie mit gemischten Gefühlen gegessen.
Die Elsa. „Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es der schönste Name der Welt war, noch vor Gabi und Petra.“ »Das ist ganz eine Süße, die sich der Tscho da geangelt hat. Ganz eine liebe Maus.«, sagte der Chef. »Der Chef war in Ordnung. « Das hilft dem jungen Haas aber auch nicht weiter, denn die Elsa ist nicht raffiniert, sondern unbefangen. Dass der junge Haas diesen Unterschied nicht gneißt und nicht einordnen kann, macht den Reiz dieser Geschichte aus. Und natürlich die leichte, lockere in Österreich erprobte Schreibweise, die Mischung aus Schmäh und Sentiment, das stilistische Überfliegen der lebenswirklichen Profanität.
Sie rückte erst damit heraus, als wir schon wieder im Auto unterwegs waren. Wahrscheinlich fiel es ihr leichter, wenn sie mich dabei nicht anschauen musste.
»Du wirst mich bestimmt auslachen. Aber ich möchte gern Englisch lernen.«
Nur gut, dass sie es nicht im Café gesagt hat. Womöglich hätte ich vor Enttäuschung die Eisbecher vom Tisch gewischt. Und nachher hätte ich mich entschuldigt. Im Auto konnte meine Enttäuschung nicht viel anrichten. Außer, dass sie mir das Antworten unmöglich machte. Sogar das verlegene Lachen klang verdächtig nach Kloß im Hals.
»Siehst du, jetzt lachst du doch«, protestierte die Elsa.
»Aber ich lach dich nicht aus.«
»Wieso lachst dann?«
»Weil da doch nichts dabei ist. Wieso traust dich das nicht sagen? Da brauchst du doch nicht so ein Geheimnis draus machen.«
»Was hast denn du geglaubt, was ich dich frage?« »Keine Ahnung.«
Bei jedem einzelnen Wort war ich froh, dass ich es herausbrachte.
»Du denkst dir, dass ich zu dumm bin für Englisch, oder?
Weil ich nicht in der Hauptschule war.« »Geh! Das lernst du leicht.« »Glaubst wirklich?« »Sicher.«
Statt auf den Verkehr zu achten, schaute sie jetzt mich an: »Wenn du mir manchmal ein bisschen beibringst. Ich könnte mir jeden Tag ein Wort merken.« (…)
Ich war zwar enttäuscht, aber ich schöpfte schon wieder Hoffnung. Immerhin hatte ich so Grund, regelmäßig bei ihr vorbeizuschauen. Und womöglich war es ja auch von ihr nur ein Vorwand. Sie wollte gar nicht Englisch lernen, sondern mich öfter sehen. Vielleicht war sie genauso feig wie ich und hat es sich in letzter Sekunde doch nicht zu sagen getraut und das Englischlernen vorgeschoben.
»Ich möchte nämlich die Krankenschwesternschule machen«, erklärte sie mir. »Aber ich hab keinen Hauptschulabschluss. Den muss ich vorher nachmachen.«
»Das schaffst du leicht.«
Vielleicht war ja auch die Krankenschwesternschule nur ein Vorwand. Unmöglich war es jedenfalls nicht.
Wolf Haas erzählt wie beiläufig, knapp und präzise und so liest man den kleinen Roman schnell und gerne und vergisst ihn wohl auch bald wieder. Ddie Personen haben ihre jeweiligen Defizite, sie passen gar nicht zueinander, aber sie sind doch alle “ganz in Ordnung”. Liab.
2018 240 Seiten
Gespräch im Literaturclub des SRF
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Hilmar Klute:
Was dann nachher so schön fliegt
Volker Winterberg ist 20 und hat gerade Abitur gemacht. Er kennt schon die angesagten Dichter seiner Zeit – man schreibt 1986 – und hat sich viele Zeilen aus ihren Werken gemerkt. (Ein Schüler, wie ihn sich jeder Deutschlehrer wünscht und den er fürchtet.) Jetzt aber leistet Volker Zivildienst, und das ist doch eine ganz andere Welt. Die Literatur mischt sich nur noch ein als Tagtraum, in dem sich Volker in die Treffen, ja, der Gruppe 47 hineinversetzt.
Jetzt stellte ich mir vor, wie wir alle drei zur Tagung der Gruppe 47 zum Wannsee fahren, mit diesem roten Polo am Ufer entlang, und dann kommen wir zu einer schon etwas dämmerigen Nachmittagsstunde am Casino an, wo die Lesungen stattfinden. Erika ist ja schon eine ziemliche Berühmtheit geworden, sie hat zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht und soll sogar eine Affäre mit Paul Celan gehabt haben. Aber das kann natürlich auch bloß eines der zahllosen Gerüchte sein, die in der Gruppe kursieren und von denen alle infiziert sind. Lars und ich gelten als literarische Amateure, poetische Kleinwarenhändler, die man mit einem gewissen Interesse beäugt, aber was sollte von uns schon zu erwarten sein. Als Hans Werner Richter uns anrollen sieht, stürzt er aus dem Casino, reißt die Beifahrerseite auf und hätte Lars beinahe vom Sitz gezerrt, weil er es kaum erwarten kann, Erika abzuküssen. »Willkommen, meine Liebe«, Richters Stimme überschlägt sich fast, so kenne ich den raubeinigen Hund ja gar nicht.
Lars begrüßt er mit einem festen Handschlag, mir knallt er kurz und kanaillenhaft seine Pranke auf die Schulter.
Erika und Lars sind Volkers Kollegen. Die Arbeit als Zivi im Heim der vor sich hin dementierenden Alten ist abscheulich, das reicht vom „Ausräumen“ bis zum Einsargen und den üblichen trivialen Verrichtungen. Notgedrungen bietet so ein Heim auch viel Stoff für hochkomische Erlebnisse. Hilmar Klute lässt Volker freies Spiel beim Erzählen, verpflichtet ihn aber auch, das bisschen Würde zu wahren, das die alten Menschen noch haben und brauchen. Volker verteidigt dieseWürde auch gegen das angestellte Pflegepersonal und das alles macht ihn sympathisch – und Hilmar Klute gleich mit.
Ich trat selbst nach einem halben Jahr und einem satten Überschuss an routinierter Abgebrühtheit jedes Mal mit einem unbezwingbaren Ekel ihr Zimmer. Frau Ehrmann war dünn wie ein Drahtgestell. Die Frau konnte kaum etwas essen, ihr Körper hatte sie längst vor die Tür gesetzt, aber ihr Herz schlug in gnadenloser Regelmäßigkeit. Wenn das Herz in einem zum Sadisten wird, dachte ich, dann ist das Herz dein Feind. Es lässt dich leiden, indem es dich nicht sterben lässt. Einmal sagte Frau Ehrmann den Satz: »Mein Mund, der ist zum Küssen da. « Es war ein Zitat, ein alter Schlager. Trotzdem hätte ich ich mich fast übergeben.
Neben dem Altenpflegen und als Mitglied der Gruppe 47 lebt Volker noch ein drittes Leben. Er gewinnt die Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in West-Berlin. In Berlin ist er mehr Spielball als Akteur. Er hat zwar ein Gedicht mitgebracht, das er in Paris verfasst hat, aber wie soll er es und sich in den Literaturbetrieb einbringen?
Um halb acht Uhr morgens in diesem halbleeren Cafe gönnte ich mir das französischste Frühstück, das man sich vorstellen konnte. So mussten die Arbeitstage der Existenzialisten begonnen haben – ich war sicher, dass mir in den nächsten Minuten die fabelhaftesten Einfälle kommen würden. Der Kellner servierte Cognac und Kaffee, die Sachen kamen auf einem ovalen Holztablett, ich sagte wieder merci – viel mehr Französisch konnte ich nicht – und löste ein Stück Würfelzucker im Cognac auf, keine Ahnung, warum ich das tat. Dann drehte ich mir eine Zigarette und zauberte mir mit Tabak, Kaffee und Cognac meinen individuellen Proust-Moment zusammen. Und das war exakt der Augenblick, da ich ein Gedicht schreiben musste, das von dieser Zeit handelte, vom Leben in den Cafes und von den schlechten Dingen, die wir tun, wenn wir uns nicht mit Kunst beschäftigen. Es war früh am Morgen, zugegeben. Ich nahm einen Schluck gezuckerten Cognac. Aber es hätte genauso gut später Abend sein können und bitte: Wer, wenn nicht ich hätte es in der Hand, aus dem Morgen eine Nacht zu machen; wer, wenn nicht dem Dichter stünde das Recht zu, die Welt so zu verwandeln, dass sie zur Poesie wird? Ich holte meinen karierten Block aus der Tasche und schrieb: »Langstieliges Nachtleben -« das war schon mal gut, klasse Metapher, aus Cocktailglas und einem atmosphärisch nahestehenden, aber nicht semantisch verwandten Wort. Ich schrieb einfach und nach einer Viertelstunde stand das hier auf dem karierten Papier:
Langstieliges Nachtleben
heute schauen wir wieder tief
in die Longdrinkgläser
und fassen die Zeit am Henkel an.
Aus den Tageszeitungen am Stiel
wachsen die Kriege der Fremde
abgeschlaffte Sonnenschirme spiegeln
im Fenster sich wie ungern
alt gewordene Damen.
Stunden wälzen sich übers Trottoir
durchbrechen mit grausamer Langsamkeit
das Bollwerk aus Kaffee und Abendgespräch.
Hilmar Klute wechselt die Schauplätze Ruhrpott und Berlin von Kapitel zu Kapitel. Das verschafft auch dem Leser Abwechslung und entpflichtet den Autor von strenger Chronologie. Im Pott geht aus schlechten Gründen wenig voran, in Berlin aber juckt die Freiheit. 1986. Der Leser fühlt auch in Berlin mit Volker, findet grundsympathisch, wie dieser Thomas’ Annäherungen erduldet und wie er Katjas Abgebot nicht ausnutzt. Thomas und Katja sind seine Mentoren und Reiseleiter, führen und fahren ihn durch die Stadt und stützen ihn beim Treffen der Schriftsteller. Und Volker trifft auch gleich Heiner Müller – der ihm rät, alles was er bisher geschrieben hat, wegzuschmeißen -, Nicolas Born, Max von der Grün, Uwe Johnson, den ganzen Zirkel selbstverliebter und sich spinnefeinder bundesdeutscher Literaten in ihrer Hochzeit. Die Begründer der neuen deutschen Literatur bzw. die Neubegründer einer deutschen Literatur. Von Peter Rühmkorf stammt das Titelzitat.
»Du hast mich die ganze Zeit ziemlich geschickt ausgeknockt«, sagte Katja zu mir.»Wieso denn? «
»Ich wollte eigentlich, dass du Bernd ablöst und nicht, dass du mich von Bernd ablöst.« Zum Glück lachte Katja, es war also nicht ganz ernst gemeint; aber ein bisschen doch?
»Eigentlich müsste ich jetzt nach Hause fahren, ich glaube, ich stehe mit dem Bus im Halteverbot. « Sie hatte tatsächlich unsere Leute mit dem Bus nach Charlottenburg gekarrt?
»Du hast aber … «
»Hab ich, ja«, sagte sie und legte ihren Kopf eine Sekunde lang auf meine Schulter wie ein Kind, das zugibt, etwas ausgefressen zu haben. (…)
Fand ich Katja schön? In diesem Augenblick sah sie mädchenhaft albern aus, weil sie mit dem Schließen ihrer Bluse beschäftigt war und dabei die Augen zusammenkniff und die Lippen kräuselte; ich fühlte mich erleichtert, weil ich nicht von ihr überwältigt war. (…)
»Das war schön rasant«, sagte Katja. Ich war so kindisch froh über die sportliche Formulierung, dass ich aufstand und Katja auf den Mund küsste; das Leben sollte bitte leicht bleiben, so lautete die Abmachung dieses Jahrzehnts. Die großen Leidenschaften mussten handhabbar sein, Dramen und Liebeselend gehörten in die Tagebücher der Pubertätsjahre, das Herz lebte aus dem Koffer.
Auch hier geht Hilmar Klute so behutsam mit Volkers Zauder um, legt er ihm so gelungene Bonmots in Hirn und Mund, dass man das schon wegen des einfühlenden Stils gern liest, egal ob die Handlung wirklich relevant ist. Volker ist ja auch erst frühverbürgerlichte 20. Volkers Weisheiten in Klutes sanfter Ironie. Man möchte viel zitieren.
Der Club war klein und lag tief in einem Keller in Schöneberg; ich stand an der Theke, eine Flasche Beck’s in der Hand, und wusste nicht, warum man eigentlich tanzen sollte. Nie tanzte ich, und ich sah auch den anderen nicht gerne beim Tanzen zu. Mit Tanzenden konnte man nicht reden, man konnte nicht vernünftig sein mit ihnen – sie machten eben alles mit dem Körper, weil sie irgendetwas auszudrücken glaubten in ihren Bewegungen. Thomas tanzte wie ein Spürhund; er setzte einen Fuß vor den anderen beim Tanzen, so als ginge er auf Scherben; als müsse er aufpassen, dass er seine Ideen nicht zertritt. Der Tanz von durchgeistigten Menschen kam mir immer ein bisschen wie eine Schandtat vor. Wer Bücher liest, sollte nicht tanzen. (…)
Ich nickte und küsste sie auf den Mund. Ein geküsster Mensch bleibt verdutzter und irgendwie versiegelt zurück, wenn man ihn verlässt.
“Alle sahen jetzt, wie Gabi aufstand, unerträglich langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, die Tränen liefen ihr die Wangen herunter, und dass sie beim Weinen lächelte, gab diesem Abgang eine grausame Erotik.” Aber immer, wenn man meint, es geht nicht mehr, legt einem jemand die Hand auf die Schulter. »Dann müssen wir uns eben unterstellen«, sagte Katja und führte mich, den rechten Arm um meine Schulter gelegt, um das Karstadtgebäude herum Richtung Südstern, immer die lange kalte Hasenheide entlang.” Die liebevolle Besitzgeste ist häufig in Gebrauch: S. 37, 57, 73, 74, 105, 115, 116 (Kopf), 137, 166, 211, 242, 247, 250, 285 (Hüfte), 314, 334 (“schlug mir …”!), 356, 350 und vielleicht mehr. Ein Leitmotiv? Ein enges Feld. Thea Dorn vergleicht mit Thomas Mann.
P.S. Die empfindsamste Episode aber ist Volkers Radtour von Bochum über Herdecke nach Hagen. Allein ,”mich an der Sensationslosigkeit meiner Heimat zu weiden”.
Die Landschaft veränderte sich, große Eisenbahnviadukte überwölbten das immer abschüssiger werdende Flusstal, das Pathos der Industrialisierung hatte sich in die Natur eingeschrieben; alles sollte dem Fortschritt dienen, kein Baum durfte nur mehr Baum sein, kein Weg nutzlos ins Nirgendwo münden. Man hörte noch den Nachklang der ratternden Eisenbahnen, das Scheppern der Kohlewagen auf den Schienen hoch über den Bäumen. Stadt Land Dorf bildeten zusammen eine einzige Großküche für den Fortschritt, die Idee der feierlichen Ausbeutung von Natur und Rohstoff. Dazwischen die kleinen, seinerzeit ebenfalls zum Zweck der Krafterhaltung künstlich angelegten Seen, auf denen jetzt Ausflugsschiffe fuhren, die Schwalbe hießen oder Harkort. Die Schönheit war ein Abfallprodukt der Zweckmäßigkeit. Aber als ich in Herdecke ankam, fühlte ich mich auf einmal im Kleinstädtischen geborgen.
Er bestellt einen Eisbecher und später eine Currywurst und findet schließlich das Haus des verstorbenen Lyrikers Ernst Meister.
Mit der Gedichtzeile Meisters findet der Roman seine Erfüllung.
“Du darfst nur nicht Liebe verraten.” Ach Volker. Ach Hilmar.
2018 365 Seiten
Besprechung im Literarischen Quartett des ZDF
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Ulrich Woelk:
Der Sommer meiner Mutter
Sommer ´69. Die Musik stammt nicht von Bryan Adams (Sein Summer of ´69 erschien erst 1984), sondern von den Doors. Light My Fire. Tobi ist gerade 12 geworden, er ist ein “stilles, nachdenkliches Kind”. Die Doors kennt er nicht, er lernt auch nicht Englisch, sondern Latein. Oben auf seinem Sessel liegt Heinz Habers Buch „Der offene Himmel“. „Ich blickte aus dem Fenster. Irgendwo da draußen war der Mond. Ich wünschte, mein Zimmer wäre in der Düse einer Saturnrakete. Ich stellte mir vor, durch den Weltraum zu schweben.”
Rosa wird bald 13, sie „hörte die gleiche Musik wie ihre Eltern“. Tobi findet, sie habe einen „rätselhaften Charakter“, sie liest „Geschichte der O“. Tobi „fand Liebe als Thema für eine Geschichte nicht besonders reizvoll. Liebe war etwas, für das sich Erwachsene aus irgendeinem Grund interessierten. (…) Ich wollte ihr gegenüber nicht so gerne zugeben, dass mein Wissen darüber noch recht vage war.” Aber “Mädchen sind anders”.
Im zweiten Kapitel ziehen neue Nachbarn ins Haus neben Tobias’ Familie, den Ahrens. Er ist verunsichert,
als nebenan, im ehemaligen Garten von Herrn Fahlheim, eine Frau erschien. (…) Sie war etwas größer als meine Mutter und schien auch etwas jünger zu sein.
Ich konnte ihr Alter aber nicht genau einschätzen. Ich unterschied in meiner Wahrnehmung nur zwischen Kindern und Erwachsenen, und in diesem System war sie eine Erwachsene. Das Einzige, was nicht in dieses Schema passte, war ihre Kleidung. Sie trug eine Jeans und darüber eine luftige, bunte Bluse, um die sie einen breiten Ledergürtel geschlungen hatte. Sie war offenbar eine Erwachsene wie die Verkäuferin in dem Jeans-Store, aber eigentlich gab es solche Erwachsenen in unserer Nachbarschaft nicht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie anders waren als meine Eltern – anders auf eine Weise, die ich noch nicht erfassen konnte.
Rosa klärt ihn auf:
«Meine Eltern sind Kommunisten.»
Nach allem, was ich über Kommunisten wusste, waren sie bedrohlich, gewaltbereit und eiskalt. Mein Vater hielt es für möglich, dass sie uns irgendwann angreifen und besiegen würden, und dann müssten wir aus unserem Haus ausziehen. Das wollte ich nicht, weil es mir in unserem Haus und unserem Garten gefiel. Die Vorstellung, dass Frau Leinhard eine Kommunistin war, fiel mir schwer.
«Wirklich?», sagte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. «Du kannst sie ja fragen. Sie wollen die Welt verbessern. Deswegen haben wir zwei Jahre in Griechenland gelebt. Und ich heiße Rosa wegen Rosa Luxemburg.»
«Wer ist Rosa Luxemburg?»
Die beiden Elternpaare freunden sich an, die beiden Kinder auch. Ulrich Woelk hat den “Sommer meiner Mutter” mit den Lebensdingen von 1969 ausstaffiert. Bei Tobis Eltern wird gegrillt, Rosas Eltern laden zu Moussaka ein, man tanzt den Sirtaki. Politik kommt nur indirekt vor, auch wenn Rosa Tobi auffordert: “Du musst anfangen, politisch zu denken.” Die beiden Mütter fahren nach Köln zu einer Demo gegen den Vietnam-Krieg. Tobis Mutter traut sich erst spät, eine Jeans für sich zu kaufen. Sie ist 38. Ihr Mann hat ihr einen 2CV geschenkt, sie übersetzt jetzt Krimis wie Frau Leinhard. Erste Gedanken an ein anderes, ein eigenes Leben. Tobi wird mitgerissen und durchgeschüttelt.
«Die Erwachsenenwelt ist sooo langweilig», klagte ich. «Ich verstehe», sagte sie. «Deswegen kommst du lieber zu mir. Ich bin nicht ganz so langweilig.»
«N-nein», stotterte ich erschrocken. «So habe ich das nicht gemeint.»
«Aber gesagt hast du’s. Komm rein.» (…)
Das neue Album von den Doors, das sie angekündigt hatte, hieß Waiting for the sun.
Am 18Mai, einem Sonntag, startete abends um Viertel vor sechs Apollo 10. (…) Ende Juni, an Peter und Paul, wie meine Eltern den Tag als Katholiken nannten, gab es in unserer Nähe eine Kirmes. Wir gingen jedes Jahr dorthin, und meine Mutter schlug vor, die Leinhards sollten mitkommen. Ich freute mich darauf, mit Rosa dort zu sein. Da sie den Rummel nicht kannte, konnte ich ihr alles zeigen. (…) Meine Mutter entdeckte ein Apollo-Raumschiff als Flugzeug. Man konnte sich hinter die Spitze in den geöffneten Rumpf setzen. «Sieh mal!», sagte sie zu mir.
Ich war in einer schwierigen Situation. Wie gerne wäre ich in das Raumschiff gestiegen und hätte in ihm ein paar Runden gedreht. Doch Rosa sagte: «Sollen wir zu zweit fliegen?»
Sie wollte, dass ich hinter ihr saß. (…) Das Karussell setzte sich in Bewegung, und wir stiegen in die Höhe. Oben angekommen, ließ Rosa den Steuerknüppel los und nahm meine rechte Hand, die wegen der Enge im Cockpit in ihrem Schoß lag. Die Lichter der Kirmes waren in der Dämmerung besonders intensiv. Es war noch warm. Rosa sagte nichts. Sie zog meine Hand unter ihren Rock und schob sie in ihre Unterhose und noch weiter hinab. Ich sagte auch nichts.
Die Stelle, auf der meine Fingerkuppen schließlich lagen, war warm und weich. Ohne zu wissen, warum eigentlich, bewegte ich meine Finger hin und her. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich da tat. Aber Rosa protestierte nicht. Vielleicht machte ich das Richtige. (…)
«Seid ihr zum Mond geflogen?», flachste mein Vater.
«Ja, sind wir», sagte Rosa mit sonderbarer Bestimmtheit.
Es ist ganz schön ungeniert, wie Ulrich Woelk da die Körper und die Raumfahrt engführt. In jedem Satz die plumpesten Anspielungen. Andererseits ist das Spiel deshalb nicht ohne Reiz, weil Woelk ja von seinem Kinder-Ich erzählen lässt. Der junge Tobi weiß nichts, aber in ihm ahnt etwas: Des Mädchens Bestimmtheit kommt ihm “sonderbar” vor. Kindliche Reibereien, fleckenlos. Wäre es nicht doch besser, bei Apollo zu bleiben?
Rosa wies auf den Mond. «Wenn du dich entscheiden müsstest, zum Mond zu fliegen oder mich zu streicheln. Was würdest du tun?»
«Darf ich dich denn wieder streicheln?»
«Wie soll das gehen, wenn du zum Mond fliegst?» «Dann bleibe ich hier.»
«Bist du sicher?»
Ich zögerte.
«Ich käme ja zurück», sagte ich.
«Das ist keine sehr romantische Antwort», sagte sie. «Aber ich dürfte, ja?»
«Das weiß ich noch nicht», sagte sie. «Dann hat es dir nicht gefallen?» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht Nein gesagt.»
«Aber du hast auch nicht Ja gesagt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Mädchen sind so.»
„Der Sommer meiner Mutter“ ist ein raffiniertes Jugendbuch. Eher für Jungs als für Mädels. Der Stil ahmt die unbedarfte Wortlosigkeit des 12-Jährigen nach, was Woelk durchaus liegt. Dennoch lässt sich der Zwiespalt zwischen dem erwachsenen Rückblick und der gesetzten Kindersprache mit all ihrer betonten Unwissenheit nicht auflösen. Der Roman setzt natürlich auf den 50. Jahrestag der Apollo-Mission am 20. Juli. Der Kontrast zwischen den beiden Familien und den Lebensentwürfen von Rosa (♀ )und Tobi (♂ )wirkt sehr gewollt, auch hier geben Zeit und Milieu der Personen den Handlungsrahmen vor. Unbefriedigend scheint mir die Motivation des Selbstmords der Mutter von Tobi. Der erste Satz des ersten Kapitels “Am Stadtrand” heißt: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.”
2019 190 Seiten
Materialien beim Verlag C.H.Beck
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Annie Ernaux:
Erinnerung eines Mädchens

Annie Ernaux’ „Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biographie des französischen Mädchens in den 40er/50er Jahren. (Le singulier universel) In der „Erinnerung eines Mädchens“ wechselt Ernaux in ihren Singular. „Die Jahre“ waren natürlich auch die Jahre der Annie Ernaux, die „Erinnerung“ ist allein ihre, auch wenn sie weiß, dass die Identität nur in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der Umgebung der Zeit gefunden werden kann.
Ich bin ein wenig irritiert vom Titel des Buches. Das französische „Mémoire de fille“ ist korrekt übersetzt, „fille“ bedeutet aber auch „Tochter“. Ob man eine 18-Jährige in Frankreich als „fille“ = „Mädchen“ bezeichnet, weiß ich nicht. Vielleicht mag es 1958, als Annie Duchesne (ihr „Mädchenname“ !) 18 wurde, noch so gewesen sein. Oder Annie sieht sich – auch im Rückblick – als Mädchen; das subjektive Empfinden der Konvention ist hier entscheidend, aber seinerseits bezeichnend.
Im Französischen fehlt der Artikel, auch der unbestimmte. In Deutschland war und ist man mit 18 kein „Mädchen“ mehr, man kann aber mit der Bezeichung spielen – oder kokettieren -, die Verballhornung „Mädel“ hat ihre eigene Geschichte. Das Alter mag eine Rolle spielen, die entscheidende spielt aber das Geschlecht. Auch hier hat das Französische eine divergierende Übersetzung.
Annie D stammt aus kleinbürgerlicher Familie und wurde in der streng-katholischen Klosterschule erzogen/geprägt. Über dem Bett der Eltern hing ein Bild der Hl. Thérèse von Lisieux. Sie „kennt kein Lied, in dem es nicht um Gott geht“. Mit 18 lebt sie in völliger Unwissenheit und Unerfahrenheit. „Sie hat kaum Kontakt zu Jungen, ihre Mutter hält sie von ihnen fern wie vom Teufel. Sie träumt von ihnen, seit sie dreizehn ist. Sie weiß nicht, wie man mit ihnen spricht.” „Wie ihre völlige Unwissenheit rekonstruieren, ihre Erwartung an das, was für sie das absolut Fremde und zugleich Wunderbare der Existenz ist – das Geheimnis, über das seit ihrer Kindheit getuschelt, das damals aber nirgendwo beschrieben oder dargestellt wird? “ Da müsste die Tür aufgehen, auf dass man hineintreten könnte ins Erwachsenensein. Ins Frau-Werden. „In dem Moment, als Annie Duchesne an diesem 14. August 1958 durch das Tor treten soll”, der “Tür zum Festsaal des Lebens”, und “diesmal tritt sie durch das Tor”, geöffnet in der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin eingestellt ist.
Drei Motive treiben Annies Initiation an, drei Motive, die sie ausgiebig wiederholt:
– das Bedürfnis, dazuzugehören in einer Gemeinschaft jenseits von Eltern, sozialer Schicht und Kirche. Sie sieht sich als „ein von der Koppel entlaufenes Fohlen, zum ersten Mal allein und frei, ein wenig scheu. Begierig darauf, ihresgleichen zu treffen, diejenigen, die sie für ihresgleichen hält. Die sie als ihresgleichen anerkennen werden”. Ihr “Bedürfnis, dazuzugehören, (…) weil das Glück der Gruppe größer ist als die Erniedrigung, will sie weiterhin dazugehören. Ich sehe sie, wie sie den anderen gleichen will, bis zur vollständigen Anpassung. (…) Sie ist neidisch auf den stolzen, solidarischen Korps, zu dem sie sich gruppieren, Jungen und Mädchen.”
– das Wissen, eine Grenze überschreiten zu müssen, d.h. sich hinzugeben. „Sie empfindet eine wohlige Angst und kann ihm nicht in die Augen sehen. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht.” Sie erinnert “die Lust, von ihm, H, entjungfert und besessen zu werden. Er sagt – Frage oder Befehl? -, sie solle ihm auf sein Zimmer folgen. Alles fügt sich ihrem Begehren, (…) sie überkommt ein irrsinniges Glück. Eine unglaubliche Verzückung. (…) Ihr Geliebter für alle Ewigkeit. Glück, Frieden, vollzogene Hingabe. Himmel und Erde werden vergehen, aber diese Nacht wird nicht vergehen. Die Nacht der Erweckung”. Mehr religiöses Vokabular, religiöses Empfinden geht nicht.
– die orale Ersatz-Befriedigung: vom übermäßigen Essen bis hin zur Fellatio, „nachdem sie ihm freiwillig einen geblasen hat”, (…) er ist ihr immer einen Schritt voraus. Er schiebt sie nach unten, in Richtung seines Bauchs, steckt ihr seinen Schwanz in den Mund, (…) er allein ist Herr der Situation” Unausgesprochen: die Aufnahme des Leibes des Herrn. „Ich war nicht von dem Bett aufgestanden, auf dem ich mich nackt ausgestreckt hatte, zitternd, nur um im nächsten Moment von dem Glied eines Mannes geknebelt zu werden, dem ich vom nächsten Tag an eine abgöttische Liebe entgegenbringen würde.” Sie spürt „ein immenses, unaussprechbares Begehren, (in) der Erwartung einer heiligen Erfahrung und der Angst, (…) den verzweifelten Drang nach Haut.” „Sie isst immer mehr, genießt hemmungslos den Überfluss an Nahrung, die freie Verfügbarkeit, empfindet dabei eine Lust, von der sie nicht mehr loskommt.”
Aber alles, das Begehren, die „Erfüllung“ (!), das Glück ist unsicher. Annie Ernaux muss sich dessen vergewissern, die Traumata verarbeiten, selbstständig werden, aufsteigen. Leichter als im realen Leben geht das im Ersatz: der Aneignung von Wissen und des (literarischen) Kanons, dem Lesen, der Mehrung der Klugheit: die Beste werden. Bücher schreiben. „Ich bin es, die schreibt.“ Die Scham aber bleibt.
Schluss mit dem dilettantischen Psychologisieren über Korporationen und Inkorporierungen. In der Diskussion wurde „Erinnerung eines Mädchens“ oft heruntergezogen auf MeToo-Niveau. Aber zum einen ist das Thema (versuchte? erduldete?) Vergewaltigung hier als Teil der Identitätssuche zu sehen. Das Interesse liegt auf der Verstörung des unvorbereiteten Mädchens, das sich mit mannstypischem Gebaren konfrontiert sieht, „dem universalen Gesetz der wilden Männlichkeit„, sich dem aber auch – aus anderen Motiven – selbst aussetzt. Die Jungfräulichkeit ist nur ein mystisch-religiös konnotierter Nebenaspekt. Zum anderen wird das Thema von breiten Erzählungen über Freund*innen und über die Spurensuche gerahmt. Für mich ist das eher langweilig.
Die Methode Ernaux’ erscheint ambivalent. Einerseits ermöglicht die reflektierte Präzision der Erinnerung verbunden mit dem ständigen Infragestellen der Gedanken verblüffende Einblicke in die sozial formierte Psyche der Frau als Mädchen. Andererseits nimmt sie dem Leser das Selbstdenken ab, betreut ihn beim Mitdenken, aber seine/ihre Phantasie wird unterlaufen. Das Private im Sozialen zu suchen, kann interessant sein, zuvörderst für die Suchende selbst. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.” Zu der 18-jährigen Annie D schafft sie Distanz, indem sie von ihr in der 3. Person spricht: „sie“. Nur so kann sie sie kontrollieren, nur so kann sie die geknebelte Scham ertragen und verarbeiten. Nur so kann sie ihr Erwachsenwerden beenden, kann sie zum „Ich“ werden. „Die Jahre“ suchen stärker im Sozialen, befriedigen aber wegen ihrer Tendenz und Möglichkeit zur Verallgemeinerung verständlicherweise meine Neugier nachhaltiger.

P.S. Das Coverfoto präsentiert das Mädchen mit den Augen zwischen Selbstbewusstsein – Das bin ich! – und distanzierender Scheu. Das Changieren lässt mich an Mona Lisa denken. Frappant ist das danebengelegte Bild der Thérèse von Lisieux.
2018 165 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Diskussion im SRF-Literaturclub 0:52 – 15 Minuten
Kate Tempest:
Worauf du dich verlassen kannst
South-East-London – „Tempest nimmt uns mit in die Häuser und Herzen der kleinen Leute.“ (Klappentext) Nein, falsch. Becky, Pete, Leon und Harry, das sind nicht die „kleinen“ Leute. Es sind (noch) junge Leute am prekären Rand des Künstler-Seins. Schon das Leben ist eine Kunst. Sie schlagen sich ins Leben, von ihren Eltern ist keine Stütze zu erwarten, der Vater wegen Radikalisierung aus dem Dienst entlassen, die Mutter ins Esoterische entglitten, Patchwork. Irgendwelche Ambitionen verblassen angesichts der Lage ins Nebulöse. Kann man da träumen? Becky und Harry machen ihren Trip durch den Kontinent, England verlassen, „sie gerieten in einen traumverlorenen Zustand. In künftigem Kummer würden sie sich an diese Zeit einmal als die glücklichste ihres Lebens erinnern.” Ansonsten viel Leerlauf, im Leben wie im Roman.
Becky gerät an Pete. Sie ist „Tänzerin“ in der 4. Reihe, massiert Männer für ein paar Pfund, er kriegt sich nicht auf die Reihe, der Staat hat in GB nicht viel übrig für Loser wie ihn. Seine Schwester Harry dealt mit Leon und verliebt sich in Becky. Ein recht kurzgeschlossener Kreis, Heimat ist die Bar, der Club, wo man am Rand der Tanzfläche andere beobachtet, die man selbst sein könnte, die Straße. Was soll aus ihnen werden, wenn sie erwachsen sind? Ist das überhaupt eine Möglichkeit?
Becky tanzt mit Charlotte und Gloria. Pete ist im Keller des Clubs und begutachtet das gelbe Pulver, das Neville gerade einem Teenager abgenommen hat. Leon ist mit einem Mädchen namens Delilah im Bett. Harry sitzt auf ihrer Mauer und trinkt Bier. Alle sind auf der Suche nach ihrem persönlichen Quäntchen Sinn. Nach irgendeiner flüchtigen Vollkommenheit, die ihnen das Gefühl geben könnte, lebendig zu sein. (…) Ihr wurde bewusst, dass das Leben nicht das war, was man daraus machte, sondern das, was man aushielt.
Das könnte eine soziale Frage sein, doch die Verhältnisse blendet Kate Tempest aus, weil sie auch ihre Figuren nicht sehen wollen. Selbstbespiegelungen. Sie interessiert sich für Belastungen und Störungen ihrer schlapp kämpfenden Protagonisten, sie beschreibt, wie Geist und Körper sich deformieren. Oft blicken sie zu Boden, Hände und Füße machen sich selbstständig, Gesten entgleisen. Kate Tempest beobachtet genau, die Schreibe gerät aber in Schleifen. Die Zitate finde ich auf zwei Seiten:
Harry starrt verlegen auf ihre Füße. … Sie wirft einen Blick in Beckys Augen. Fällt hinein, zappelt darin herum, klettert wieder raus…. Harry macht einen krummen Rücken, dann wird es ihr bewusst, und sie richtet sich langsam auf. … Becky lehnt an der Wand und betrachtet ihre neue Freundin eindringlich. Ihre Finger kratzen an dem Mörtel zwischen den Ziegelsteinen hinter ihr, zerreiben die roten Krümel und drücken sie in die Fugen. … Becky beugt sich zu ihr rüber, die Augen groß und rund wie die eines Windhundes. Harry verzieht leicht das Gesicht, ein kleines Zucken der Wange. Ein leichter nervöser Tick, den sie nicht unterdrücken kann und der ihren inneren Aufruhr verrät. …Becky mustert Harrys Profil; ihre Wangenknochen fangen die Wintersonne ein. Harry errötet und blickt weg, die leeren Gleise entlang, sucht in ihren Taschen nach Tabak. Vertieft sich darin, eine Zigarette zu drehen. Spricht in die Ferne. … Sie spricht leise, klangvoll wie Musik, eine rasselnde Sonate. … Becky stellt sich so hin, dass sie Harry direkt anblickt. Das letzte Licht des Abends rinnt aus dem Himmel. Ihre Haut verdunkelt sich mit dem abnehmenden Licht… Becky wendet den Blick nicht von Harrys Gesicht. Ihr Körper ist Asche, Schlamm und Lehm. Alles zittert vor Bedeutsamkeit. Sie will die Hand ausstrecken und Harrys Wange berühren, doch da fährt der Zug ein. … Harry stößt sich von der Wand ab und starrt auf die Schienen hinab. Der Wind schlägt ihr ins Gesicht, sie schließt die Augen, blinzelt in ihn hinein, wiegt den Kopf vor Vergnügen hin und her…. Becky streckt eine Hand nach Harrys Selbstgedrehter aus; Harry gibt sie ihr. Becky zündet sie an. Schaut auf die Gleise, die sich in der Ferne außer Sicht krümmen…. Ihre Wörter klingen wie Streichhölzer, wenn man sie anzündet. Sie schweben brennend und anmutig zu Boden. … Becky lächelt Harry an, sie fühlt sich bloßgestellt.
Was und wie Kate Tempest erzählt, ist abgedroschen, formelhaft. Keine „Feuerwerke“ (Julia Encke), kein „ständig über die Ufer tretender Text“ (Peter Praschl), wie es das Cover hinten insinuiert, eher mäandrierendes Rinnsal, das die 400 (deutschen) Seiten nicht ausfüllt. Kreiselnde Leere, auch Tempests Sprache hält nicht, was mit Verweis auf ihr Erstleben als „Lyrikerin, Spoken Word Artist“ versprochen ist, was der Guardian als „brightest talent around“ annonciert. Der englische Titel heißt „The Bricks that Built the Houses“ und Bricks, Bauklötze sind es auch, mit denen Tempest ihren Roman zusammensetzt. Mag sein, dass sich das gelenkig anhört, wenn man laut liest, so aber wirkt es repetitiv, einfallslos. Die Metaphern fast immer billig und öde, „Beckys Magen presste sich durch ihren Bauchnabel und raste zur Tür.“ Traurige Romantik der zu kurz gekommenen Schickeria. „Es bricht ihr das Herz.“
Früher waren die ärmeren Viertel in Londons Südosten der Humus für Aufruhr und Anarchie; mittlerweile aber ist die Gentrifizierung in vollem Gange, die Stadt verändert sich in dramatischem Tempo. Wer hier lebt und nicht untergehen will, braucht einen Plan. Den hat Harry nicht, aber einen Traum hat sie: Mit dem Drecksgeld aus dem Drogengeschäft will sie einen Ort der Begegnung schaffen, eine Oase für alle, die Ruhe, Halt und «ein bisschen Sinn» suchen.
Pete betrachtet den Himmel; der Mond ist fett und hungrig und gelb glühend an den Rändern. Er ist am Ende und fühlt nichts mehr. Er würde sich gern mit Freunden treffen, aber er hat vergessen, wie das geht.
Er ist aufgeschmissen. All die bitteren Nachmittage, die vergeudeten Gelegenheiten, die ungesagten Dinge. Sie sucht verzweifelt nach so vielem. Unabhängigkeit, Anerkennung, und sie braucht niemanden, der ihr beisteht, und zur Not kommt sie auch ohne Liebe aus. Ständig ist sie in Alarmbereitschaft – Reduzier mich nicht auf das, was du gern hättest. Und wag es ja nicht zu denken, dass ich meine Träume beschneide, nur um dich glücklich zu machen.
So „ist Tempest vor allem die Stimme derer, die schon ganz viele Stimmen haben: aller, die ökonomische Analyse schon längst durch Gastritis ersetzt haben. Denen jedes politische Problem ein „Ich könnte Kotzen“ bei Facebook wert ist, aber keinen Gedanken. Und die noch so frech sind, das für eine politische Äußerung, fürs Gegenteil von Narzissmus und Innerlichkeit zu halten.“ (Lars Weisbrod, Die ZEIT)
2016 400 Seiten
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Berni Mayer: Rosalie
»Du bist mir ein komischer Vogel, Schwarzer«, sagte der Böhmi. »Ich dachte, du willst hier was einreißen. Hier in diesem Arschnest. Schauen, was unter dem Bürgersteig liegt, schauen, wie’s drunter aussieht. Hier ist doch alles so zusammengekehrt, so blitzsauber, da wär’s doch mal an der Zeit, zu schauen, wer hier eigentlich immer so sauber aufräumt und warum. Dass hier was nicht stimmt, merkst du doch auch.
„Rosalie“ ist ein Roman und da muss was passieren. Doch damit man merkt, dass was passiert, braucht’s die banale Grundfolie: eben das „Arschnest“. Der „Böhmi“ ist ein verlässlicher Freund, auch wenn er später seine Gesellenprüfung in den Sand setzt; der Bartl ist ein Schlauer, aber mädchenmäßig mindererfolgreich; der Erzähler Konstantin wird „Schwarzer“ genannt, weil er sich von oben bis unten schwarz kleidet, im verdunkelten Zimmer des elterlichen Wirtshauses haust und des öfteren fiebert. Alle sind im Alter knapp vor dem Führerschein, was in der niederbayersichen Provinz des tertiären Hügellands eine Zeitenwende bedeutet, denn ohne Auto ist man im Dorf gefangen und verratzt. Der Führerschein verspricht die Welt. Die Burschen haben alle den Artikel vor dem Namen.
Im Frühling des Jahres 1986 passiert was, aber weit weg in der Ukraine, genauer in Tschernobyl, aber die Bedrohungen verhängen sich in den Wolken, das verregnet sich. Viel wichtiger sind die Ausschläge der Pubertät, die provinzbedingt etwas später als gewohnt auftritt. Das Dorfleben ist streng reglementiert, Nachbarn und der Pfarrer Parzefall haben alles im Blick, die Freiräume sind knapp bemessen.
Wir waren mit dem Bartl verabredet, um gemeinsam »um rote Eier« zu gehen. Ich weiß bis heute nicht, woher dieser Brauch überhaupt stammte, beziehungsweise, ob es überhaupt ein echter Brauch war. So viel stand fest: Es war einer der besten Tage des Jahres. Der einzige Tag, an dem die Praamer Gesellschaft die Kombination von Schnaps und Hausbesuchen bei noch nicht volljährigen Mädchen zu hundert Prozent tolerierte, wenn nicht sogar unterstützte.
Am Ostermontag diktierte dieser merkwürdige Brauch, dass die jungen und unverheirateten Männer bei den unverheirateten Frauen klingelten und um rot gefärbte hart gekochte Eier baten. Zu den roten Eiern bekamen sie in der Regel ein Gläschen Schnaps dazu, gelegentlich eine Brotzeit und was am allerwichtigsten war: eine Audienz und gegebenenfalls ein Küsschen der Tochter des Hauses. Das war alleine deshalb so besonders erwähnenswert, weil es sich überhaupt nicht gehörte, ein Mädchen zuhause aufzusuchen, das noch bei seinen Eltern wohnte. Da die Mädchen in Praam aber in der Regel entweder für immer zuhause wohnten oder heirateten und umgehend bei den Schwiegereltern anbauten, fragte ich mich, wie man jemals mit einem Mädchen aus Praam schlafen sollte, wenn man sich nicht gegenseitig besuchen durfte. Selbst meine Eltern missbilligten das Mitbringen von Mädchen aus Praam oder Nachbarorten, weniger wegen der Moral, sondern wegen des Geredes der Leute, wie meine Mutter betonte.
Zu Ostern aber passiert das Einschneidende: Mit ihrem Vater zieht Rosa (“Wie die Farbe”) von München nach Praam.
Weil sie sich keinen Millimeter bewegte, wirkte sie mit ihrer vorwurfsvollen Blässe geradewegs wie in den Ort hineingesetzt. Ein Fremdkörper, eine Geistererscheinung. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte und Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen anstimmte, wandte sie den Blick langsam ab und setzte ihren Weg in die Gegenrichtung am Bach entlang fort. Es war nicht so, dass mich sofort ihre besondere Schönheit ergriffen hätte, auch fand ich sie nicht besonders ansprechend gekleidet, mit ihrer weinroten Strickjacke und der weißen Bügelfaltenhose. Mich ergriff, wie sie in ihrer Fremdhaftigkeit herausleuchtete aus dem Praamer Karfreitagsschwarz. Es war nicht nur ihre Blässe oder die mutmaßlich papierdünne Haut, es war diese Mischung aus überheblicher Teilnahmslosigkeit und spöttischer Neugier auf unsere Riten. (…)»Hast du das Mädchen drüben beim Kriegerdenkmal gesehen?«, fragte ich leise den Böhmi, während das Herzliebster Jesu-Lied bereits bei der dritten Strophe angelangt war.
»Was ist die Ursach‘ aller solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen!«
»Die taugt dir, oder?«, sagte der Böhmi viel zu laut.
Josef Wirnshofer nennt sie im SPIEGEL “rotzgörig”, aber das trifft es nicht, das Wort gibt es im Bairischen gar nicht. Sie ist mit ihren 14 Jahren jünger als der Böhmi, der Bartl und der Schwarze, aber das gleicht sie leicht aus, weil sie sprachgeübt und forsch ist. Rosa betrachtet Praam als Abenteuerspielplatz, mit Konsti entdeckt sie die Plätze, wo sie nicht entdeckt werden. Der beste Platz ist das verfallende Wasserschloss und genau dort passiert das dritte zentrale Ereignis des Romans: Rosa und Konsti entdecken einen Erhängten. Das lässt sich nicht geheimhalten. Für Rosa ist das Thema zu groß, sie will bloß spielen, Konstantin aber hat einen Onkel Albert und der ist Lokalredakteur in Passau und wittert einen Coup. Onkel und Neffe finden heraus, dass das Wasserschloss von den Nazis als Vernichtungslager für Kinder von polnischen Zwangsarbeiterinnen genutzt wurde,
Für ein paar Tage ist das Dorf in Aufruhr, die Verdrängung, das Totschweigen hat einen Riss, für den Skandal wird Konstantin verantwortlich gemacht. Ein weiterer Grund für ihn, aus Praam wegzugehen, doch zuvor schenkt er zusammen mit dem Böhmi dem Dorf noch einen Akt der “Wiedergutmachung”.
Berni Mayer erzählt unaufgeregt, unterschwellig, nie von oben herab, er trifft den Ton der Jugend der Zeit, er folklorisiert nicht, seine Personen „sagen“, die Dialoge sprechen für sich, sie müssen nicht kommentiert werden. Doch kann er den Alltag auch poetisieren. Die Geschehnisse verbandelt der rosa Faden, Rosa ist für den Erzähler der Haltepunkt, der aber nach den Ereignissen im Schloss verlorengeht. Die Weltgeschichte tritt ins Dorf, doch Praam geht im Dorftrott dahin, auch wenn die Schritte manchmal etwas größer werden, was man als Beschleunigung spüren kann. Ein paar Mal springt Mayer in die Zukunft und räsoniert über Raum und Zeit und Rosa. Zur Clique hat Mayer einige sympathisch-schrullige Einheimische gesellt: die etwas hantige Pfarrhaushälterin Fräulein Fanni (»Jagibsdonedawosisnachadradowidalos, ingodsnamaderkaplanhodsihiglegtdoan«), die derbe Brauschwester Lisi im Kloster Schyren, der Hämmorhoiden-Schorsch, der eigentlich Musiklehrer war, die desillusioniert-wortkarge Mutter. Nur die Lehrer des Schyrener Gymnasiums bleiben blass.
Das Leben, das Berni Mayer beschreibt, ist eines, wie es so war in den 80er Jahren im Niederbayerischen. So könnte auch die Jugend des Autors gewesen sein, der in Mallersdorf geboren wurde und jetzt in Berlin lebt. Draußen in der Welt. Ein Heimatroman der angenehmen Sorte. Eine „Southern Gothic Novel“ (Berni Mayer) Sympathisch. Bernhard Blöchl (SZ) findet das Buch „schrecklich schön“.
2016 290 Seiten
Viele Materialien beim Dumont-Verlag (Leseprobe, Buchtrailer, Autorenlesung u.a.)
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Ulrich Effenhauser entdeckt in „Alias Toller“ braune Spuren im bayerwäldlerischen Bad Kötzting und lässt sie kriminalistisch aufklären.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin
Lenù und Lila im Rione-Land. Ferrante, die sich wie ihre Erzählerin Elena nennt, schreibt die introspektive Chronik des diventare adulta, von der Phantasiewelt der Grundschulzeit bis zur mittleren Reife, von der verlorenen Puppe zum gefundenen Märchenprinzen, von der zögerlichen Annäherung bis zur unausweichlichen „Auflösung“ der Mädchenfreundschaft.
Lenù, die Tochter des Pförtners, ist die gute Schülerin, die viel weiß, weil sie viel lernt, die ziemlich unkritisch mitnimmt, was man ihr zum Lernen vorsetzt, egal ob Latein oder Griechisch oder Theologie. Sie darf aufs Gymnasium, bleibt aber die staunende Chronistin des Geschehens. Raffaela – oder Lila – die „geniale Freundin“, Tochter des Schusters, weiß aus eigenem Antrieb viel, sie ist die Eigenständige, die Schule ist nichts für sie, da man dort nur Unwesentliches erfährt, Lila hilft beim Schuhemachen. Sie will nicht in der Bildung, sondern im Leben ankommen.
Nichts Besonderes. Die Geschichte zweier BFFs, die sich im Kontrast ergänzen, die sich brauchen, um sich zu spiegeln, zu bestätigen, um zu sich selbst zu kommen. Erstaunlich ist das Setting: Elena/Lenù erzählt im Abstand von Jahrzehnten. Sie ist in die Jahre gekommen, weiß aber doch noch jede Kleinigkeit: Gespräche, Gedanken, Gefühle, bei jedem Schritt ist der Leser dabei, in der Eisdiele, der elterlichen Wohnung, der Schule, beim Spaziergang, beim Stelldichein. Das könnte langweilig werden. Lenù weiß auch, was passiert, wo sie gar nicht dabei war, etwa in Lilas Familie. Seltsam ist auch die Sprache der Erzählerin. Sie beschreibt die fantasierte Welt der Kinder in der nüchtern elaborierten Diktion der Gebildeten.
Ich tat, wie Lila mir geheißen, und Gino verschwand. Es war also keine wahre Liebe, doch das machte mir nichts aus. Der Austausch mit Lila war für mich so erfreulich gewesen, dass ich mir vornahm, mich ganz und gar ihr zu widmen, besonders im Sommer, wenn ich mehr freie Zeit haben würde. Bis dahin wünschte ich mir, dass dieses Gespräch beispielgebend für alle unsere künftigen Treffen sein möge. Ich fühlte mich wieder klug, als wäre etwas gegen meinen Kopf geprallt und hätte Bilder und Worte wiederauferstehen lassen.
Weil die Sprache aber präzise ist, wirkt das nur selten abgehoben oder maniriert. Es gibt noch eine zweite Sprachdiversität: den neapolitanischen Dialekt und das Italienische, das nicht jedem zur Verfügung steht und ein Mittel zu sozialer Abgrenzung ist. Der Dialekt ist das Authenische, stellt aber oft nur Formeln und Floskeln bereit. In der Übersetzung kann das nicht wiedergegeben werden (im Original, macht Ferrante das auch nicht), aber Ferrante achtet genau auf die Sprechweisen.
Diese Momente regten mein Herz und meinen Kopf an: Lila und ich mit all diesen wohlgesetzten Wörtern. An der Mittelschule gab es nichts Vergleichbares, weder mit meinen Klassenkameraden noch mit meinen Lehrern, es war traumhaft schön. Nach und nach überzeugte mich Lila davon, dass man in der Liebe ein wenig Sicherheit nur erlangen könne, wenn man den Anwärter auf eine harte Probe stellte. Sie riet mir, plötzlich wieder in den Dialekt verfallend, Gino zwar zu erhören, doch unter der Bedingung, dass er mir, ihr und Carmela den ganzen Sommer lang Eis kaufte.
Wenn „Meine geniale Freundin“ nur die Geschichte zweier ragazzine del popolo wäre, würde mich das wenig interessieren. Aber Ferrante macht auch die Sozialpsychologie im Italien der anni cinquanta anschaulich. Der Rione, das Stadtviertel, ist die Welt, verschlossen von innen und nach außen und mit rigiden Regeln. Die zwei Mädchen lernen die Normen früh, verstehen sie aber erst nach und nach. Der Rione ist eine gewaltbereite Männerwelt. Zur Macht gehören Geld, Schlagkraft und Seilschaften. (Die Camorra wird nur am Rande angesprochen, erst am Ende steht sie auf verräterischen Sohlen im Raum.) „Stellte man Gerechtigkeit denn nicht mit Prügeln her?”, fragt sich Lenù. “Als mein Vater gerade damit drohte, mir beide Beine zu zerschmettern, falls ihm zu Ohren kommen sollte, dass ich noch einmal mit Pasquale Peluso allein unterwegs war, als wäre dies das größte Problem, gerade da ertönte ein gellender Schrei, so dass es uns die Sprache verschlug (…)Als mein Vater diese merkwürdige Neuigkeit hörte, bedachte er den dichtenden Eisenbahner mit den wüstesten Beschimpfungen. Meine Mutter erklärte, jemand müsse sich darum kümmern, diesem Scheißkerl seine Scheißfresse einzuschlagen.” Der Macho-Kampf explodiert in den „Krieg“ der Silvesterschießereien. Die Mädchen “waren nicht von Interesse, spielten nicht die geringste Rolle”. Ihnen bleibt der Traum vom Reichtum und von den Kerlen, die bella figura machen und sie zur Prinzessin erwählen. Davon handelt ein Großteil des Kapitels „Frühe Jugend“. Die Mütter haben nichts zu sagen und agieren lieblos und desillusioniert. Und das Schlimme ist: Die Mädchen werden erwachsen und verfallen damit unweigerlich ihrer Bestimmung.
Wie immer gibt es zwei Verhaltensmöglichkeiten: Anpassung oder Aufruhr, in der zahmeren Form: Widerspenstigkeit. Lenù setzt auf Bildung als Weg nach außen, Lila wird kratzbürstig und schafft sich damit ein lebbares Fundament der Fügsamkeit. Sie kennt die Regeln und sie versucht sie auszureizen, sie neu zu definieren, um sie dann ertragen zu können. „Lila richtete sich gründlich in ihrer Rolle als Stefanos Verlobte ein. Und auch in den Gesprächen, die wir führten, wenn ich etwas Zeit erübrigen konnte, schien sie stets zufrieden mit dem zu sein, was sie geworden war, als würde sie darüber hinaus nichts mehr sehen, nichts mehr sehen wollen, außer Hochzeit, Haus, Kinder.” Das macht Lilas Faszination für Lenù aus, ihre „Genialität“, das zu verstehen bemüht sie sich all die Zeit. Die Verachtung, das Herabschauen ist nicht vom Neid zu trennen.
Und das Schlimmste daran war meine feste Überzeugung, dass ihr Los besser sein würde als meines. Stärker denn je spürte ich die Bedeutungslosigkeit meiner Ausbildung, mir wurde klar, dass ich diesen Weg Jahre zuvor nur eingeschlagen hatte, um in Lilas Augen beneidenswert zu erscheinen. Dabei maß sie Büchern nun keinerlei Wert mehr bei. Ich hörte auf, für die Prüfung zu lernen, tat in der Nacht kein Auge zu und dachte über meine spärlichen Erfahrungen in Liebesdingen nach. Ich hatte Gino einmal geküsst, hatte kaum Ninos Lippen berührt, hatte die flüchtigen, schmierigen Berührungen seines Vaters erduldet, und das war’s auch schon. Lila dagegen würde im März, mit sechzehn Jahren, einen Ehemann haben und ein Jahr später, mit siebzehn, ein Kind und dann noch eins und noch eins und noch eins. Ich fühlte mich wie ein Nichts und weinte verzweifelt.
»Was passiert mir hier gerade, Lenù?« fragt Lila bei hrer Hochzeit, erstmals verunsichert. Jahrzehnte später ist Lila verschwunden. „Sie hat sich aus allen Fotos herausgeschnitten, auf denen wir gemeinsam waren, auch aus denen meiner Kindheit.” Elena sucht die Vergangenheit und schreibt sie auf, über 1700 Seiten, vierbändig. Lesen!
2011 420 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Eva Mattes liest aus dem Roman auf zehnseiten.de (20 Minuten)
Diskussion im SRF-Literaturclub
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Michelle Steinbeck:
Mein Vater war ein Mann an Land
und im Wasser ein Walfisch
Dem Roman ist nicht zu trauen. Was sich in einem Satz so realistisch liest, kann im nächsten ganz anders sein, sich wahnwitzig umkehren. Die Erzählerin lügt aber nicht, sie fantasiert. Ob im Traum, im Fieber, im Rausch, bloß zur spielerischen Täuschung oder als ästhetische Kunstform, ist schwer auszumachen. Michelle Steinbeck, geboren 1990, entfaltet eine Phantasmagorie, originell verwobene surrealistische Bilder und Eindrücke, die Leute eine Schar von Spielern, magische Wesen und echte Menschen. Die magische Welt des jungen Mädchens, das die Welt vor dem unabdinglichen Erwachsenwerden auskosten will. Nichts für mich.
Doch dann finde ich das Buch auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2016. Dort gehören eigentlich ernsthafte Auseinandersetzungen hin, keine Kleinmädchenspinnereien. (Oder hab’ ich wieder einen Trend verpasst?) Steckt in Michelle Steinbecks erstem Roman doch mehr?
Loribeth begibt sich auf große Wanderschaft. Sie muss ihren Vater finden – auf einer „Insel der geflohenen Väter“ – und ihm einen Koffer bringen, darin ist ein totes Kind. Nicht immer ist es tot und vielleicht ist Loribeth dieses Kleinkind im Koffer, das sie dem Vater zurücklassen muss, um sich zu emanzipieren. Der Vater ist ein Mann, der so gut schwimmen konnte, dass er “sogar ein Walfisch“ war. Metamorphosen zuhauf. Loribeth ist noch das hilflose, unerlöste Kind.
“Ich bin wie eine Flunder auf dem Fischmarkt. Ich weiss, dass ich am falschen Ort bin; mein Leben, mein Meer ist nur wenige Meter entfernt, aber ich hab weder die Energie noch die Beine, dorthin zurückzukommen. Da ist es doch angenehmer, einfach liegen zu bleiben, flach zu atmen und auf die Erlösung zu warten.” Loribeth muss sich weitertreiben lassen. Doch merh und mehr wird sie ein selbstbewusst fragendes und wünschendes Mädchen. “Können wir nie anders sein als unsere Eltern?”
Du hast recht, sage ich, ich bin wie du. Ich habe auch diese Krankheit: alles zu wollen. Alles wissen, alles fühlen, alles erleben! So viel wie von der Welt in ein Leben hineinpasst, will ich haben. Und noch mehr. Und fühle mich dabei wie ein Räuber.
Es ist so langweilig! Ich will immer woanders sein, nie da, wo ich gerade bin. Aber nützt das, woanders hinzugehen? Ich nehme mich ja immer mit. (…) Ja, ich kann es so machen wie du, ich kann bleiben und warten, bis ich explodiere oder eingehe. Oder ich mache es anders und werde mehr so, wie ich will. (…) Die Alte hört mir überhaupt nicht zu, sie fusselt an der Wolldecke herum, und ich rüttle an ihren Schultern: Mein Ohr saust! Ich bin ganz verloren. Ich erkenne mich nicht im Spiegel; es ist gegen mein Bild von mir, so zu sein, so faul, gemein und schlecht. Ich will dieser Mensch nicht sein.
Weisst du, was ich letzthin gedacht habe? Wenn ich mal gross bin, hab ich gedacht – und dann ist es mir eingefallen: Ich bin gross. Das ist jetzt. Ich kann mir die Zähne putzen, wann ich will, und wenn ich nicht will, tu ich’s gar nicht. Ich kann einem kommunistischen Fussballklub beitreten, auf dem Dorfplatz Lieder grölen, mich endlich einmal zugehörig fühlen. Oder auch nicht. Aber ich kann und muss jetzt machen, was ich immer wollte, was ich jetzt will. Sonst passiert es nämlich nicht.
Loribeth trifft auf viele Wesen, bei denen sie Antwort sucht. Die Wahrsagerin, den „hellen Mann“, Fridolin Seifert, auch die drei Doggen, die sprechen können, Hexen, Amputierte, Kinderbanden, aber alle sind unzuverlässig, alle verschwimmen, als Loribeth sich festhalten will. Immer braucht sie etwas Essbares, doch es sind nur Brösel, Tabletten, Zigaretten, Surrogate, allenfalls ein Getreideriegel. Die Gefahren sind vielfach, omnipräsent, vor allem das Wasser droht einen zu verschlingen. Sie schaut „hinunter ins tosende Wasser”, Alexander wird “von schwarzöligen Wellen verschluckt”, eine “Welle wächst und schlägt hoch bis an den Turm, zerplatzt krachend an der Scheibe. Ich ziehe den Kopf ein und schlüpfe unter die grösste Glocke.” “Im Meer taucht ein grosser Schatten auf und bewegt sich auf uns zu. Das Wasser kräuselt wie hunderttausend Pockennarben, und da erhebt er sich aus dem Wasser, schwarzglänzend, mächtig prustend und gurgelnd. Wir waten auf ihn zu, der Wal öffnet sein Maul, und behutsam balanciere ich den Koffer und steige in die Dunkelheit hinab.”
Die Bilder sind bekannt, Michelle Steinbeck setzt sie in die phantastische Weltenfahrt ein und schafft dem Leser Anhaltspunkte. Ein Märchen mit Burgen und gläsernen Kirchen und Inseln. Kindlicher Sadismus, Heirat und Kinder und Erziehung als Albträume, die Logik des Widersinns wird nicht hinterfragt, erzählt wird in der nüchternen Sprache des Selbstverständlichen. “Luzide Absurdheitsprosa zwischen Panik und Komik, vom Feinsten.“ (Sabine Vogel, FR) Nichts für mich. Ob’s die Mädchen lesen und lieben werden?
„Wenn das die Zukunft ist, will ich hier auch nicht leben.“
2016 150 Seiten
Joachim Meyerhoff :
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war
Bei seinem Aufenthalt als Austauschschüler in Wyoming/USA konnte Joachim Meyerhoff die Exotismen einer fremden Kultur beobachten und davon amüsant erzählen. (Alle Toten fliegen hoch. Amerika) Er tat das ohne Vorurteile, war neugierig und schaute genau hin.
Jetzt folgt das Vorgängerbuch: die Erlebnisse des Knaben Joachim (Josse) in den 70er-Jahren in Schleswig. Er lebt mit seiner Familie auf dem Gelände der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Anstalt Hesterberg, der Vater ist der Direktor. Die „Irren“ bestimmen auch das Familienleben, vor allem im ersten Teil des Buches gibt sich Joachim mit ihnen ab. Er erzählt ohne Scheu und Ablehnung, die Insassen verhelfen zu manchem skurillen Abenteuer, dass die Unterbringung und Behandlung menschenunwürdig war, kriegt er als Kind nicht mit. Erst auf der letzten Seite, als er als Erwachsener den Hesterberg noch einmal besucht, kommt die Einsicht.
Obwohl mir vollkommen klar war, dass der frühere Zustand der Anstalt ein unhaltbarer war, dass die Überfüllung und Gepferchtheit der Patienten grauenhaft war, dass die medizinische Versorgung sicherlich unzureichend und der massenhafte Einsatz von ruhigstellenden Psychopharmaka eine unverzeihliche Selbstverständlichkeit war, obwohl mir klar war, dass den letzten verbliebenen Patienten – später erfuhr ich, dass es noch knapp dreihundert waren – sicherlich ein weitaus fachgerechteres und menschenwürdigeres Umfeld geboten wurde, obwohl mir das alles klar war, war mir der Hesterberg noch nie so trostlos, so – ja, ich kann es nicht anders sagen -, so beschissen hoffnungslos vorgekommen wie an diesem Tag.
Konnte das sein? Dass es für alle besser geworden war außer für mich? Da wurde mir klar, dass ich den Verlust einer Welt betrauerte, an deren Verschwinden nichts Trauriges war. Meine Sentimentalität galt einem weltabgewandten, höllischen Ort. Gott sei Dank war diese überfüllte Anstalt verschwunden!
Aber ich sehnte mich mit jeder Faser meines Körpers nach ihr: nach der ungefilterten Freude, den zu langen Umarmungen, dem tobenden Zorn.
Ich sehnte mich nach der Maßlosigkeit, dem Spektakel, der mir selbstverständlichen Normalität dieses Wahnsinns-Orts.
Ich sehnte mich nach der – wie soll ich es nur nennen -, ja, der Deutlichkeit dieser Menschen. Einer Deutlichkeit, in die so viele der Patienten schicksalhaft eingekerkert waren.
Und vor allem sehnte ich mich nach diesem tausendfachen Gebrüll der Kranken des Nachts, das mich so herrlich schlafen ließ.
In Meyerhoff Junior’s Welt dringt kaum etwas von der Welt jenseits von Familie, Schule und Anstalt. Das Buch ist seltsam geschichtslos, nur „Der große Klare aus dem Norden“, Ministerpräsident Gerhard Stoltenberg, besucht einmal die Anstalt – und fällt in den Matsch, wird Material für eine kleine Episode. Abgeschottet wird der Lebensraum nicht nur durch die Anstaltsmauer, sondern vor allem durch den Vater, dem „Herrscher“ über die Anstalt und ihre Insassen, dem großen Vorbild der Kinder, groß und dick, vielwissend, „übergewichtiges Universallexikon“, in Praktischem völlig unbegabt, da darf er auch lächerlich scheitern. Die beiden älteren Geschwister lästern über den hippeligen Kleinen. Die Mutter „schuftet“. Viele der kleinen „Abenteuer“ sind eher banal; man hat schon oft gelesen, wie sich Kinder krank stellen, um nicht in die Schule zu müssen, „Schneekatastrophen“ blenden vielleicht im Norden. Interessant wird es, wenn Meyerhoff von den Anstaltsinsassen, von der Familie, vom Hund erzählt.
Ich liebte unseren Hund. Wenn ich unglücklich war, lag ich weinend an seinem Bauch und schluchzte: »Keiner versteht mich, nur du!« Ich wollte diesem Hund nahe sein. Er durfte in meinem Bett schlafen. Ich lag an die Wand gedrückt, direkt vor seinem schlafoffenen Maul, aus dem es nach abgetautem Kühlschrank roch. Der Hund war mein Verbündeter. (…)
Und dann sah ich etwas im Fernsehen, das mich erschütterte, mich nicht mehr losließ. Ich sah, wie sich Winnetou und Old Shatterhand, auf einem weißen Felsen stehend, in den Unterarm schnitten und ihre blutenden Wunden aufeinander banden. Das wollte ich auch. So einen Blutsbruder wollte ich auch. Ich wollte Hundeblut in meinen Adern.
Im zweiten Teil des Buches wird es ernst. Der mittlere Sohn stirbt bei einem Unfall, der geliebte Hund wird todkrank, die Familie zerbricht, der Vater erkrankt und stirbt ebenfalls. Auch hier erzählt Meyerhoff äußerst einfühlsam. Jetzt erst macht er sich allmählich Gedanken über seine Stellung und seine Aufgaben, über den Verlust der Kindheit und Jugend. Meyerhoff hat ein verlässliches und kreatives Gedächtnis. „Der Ich-Erzähler hat schon früh erkannt, dass man ruhig schwindeln darf, um seinen Erlebnissen eine höhere Wahrheit zu verleihen. ‚Erfinden heißt Erinnern’, behauptet er“ (Wolfgang Höbel, SPIEGEL). Man muss sich Joachim Meyerhoff vorstellen, wie er die Kindheitsgeschichten erzählt.
Maria in der Zwangsjacke
Weihnachten war für mich der Höhepunkt des Jahres. Aber das lag nicht am harmonisierend wirkenden, selbst gefällten Tannenbaum – warm eingepackte Familie stapft durch eine verschneite Schonung. Oder an der Fonduefleisch-Orgie – Vorsicht, Kinder, mit dem heißen Öl! Und auch nicht an den Geschenken, über die ich mich natürlich freute. Nein, der weihnachtliche Höhepunkt war etwas anderes: Ich durfte meinen Vater auf seinem Weg durch die Stationen der Psychiatrie begleiten.
Für jede Bescherung hatten wir nur zwanzig Minuten Zeit, dann mussten wir schon weiter zur nächsten. Wir wurden überall begierig erwartet. Ohne uns, den Direktor des Landeskrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie und seinen Sohn, konnte nicht angefangen werden. Wenn wir eintrafen, waren alle Patienten der entsprechenden Station bereits in einem Zimmer versammelt. Sie hatten sich schön gemacht oder waren schön gemacht worden. Streng gescheitelte Haare und geputzte Brillengläser. Sie waren aufgeregt, wippten, warfen sich hin und her. Es wurden zwei Weihnachtslieder mit dem Pflegepersonal und den Stationsärzten gesungen, und dann wurde die große Flügeltür des Weihnachtszimmers geöffnet. Im elektrischen Kerzenschein lagen dort auf Tischen drapiert die Geschenke.
Und nun begann das, wovon ich nie genug kriegen konnte, das, was für mich jahrelang mein ganz persönlicher Weihnachtshöhepunkt war: Nach einem kurzen Innehalten, bei dem die Patienten vom Anblick des Weihnachtszimmers wie paralysiert schienen, stürzten sie sich völlig entfesselt auf die Geschenke. Zerrissen die bunten Bänder und Kordeln, goldene Schleifchen segelten durch die Luft, zerfetzten das Geschenkpapier mit den Zähnen, zerrupften die Kartons und hoben die Geschenke triumphierend in die Höhe. Und dann, keine fünf Minuten später, war fast alles kaputt. Vor Freude, vor unkontrollierbarer Glückseligkeit, vor totaler Geschenkbegierde. Kaputt!
Puppenarme wurden ausgekugelt, Stofftieren der Bauch aufgerissen. Der neue Anorak schon zerfetzt. Und mit derselben ungehemmten Begeisterung, mit der eben noch das lackrote Feuerwehrauto auf die Tischkante geschlagen wurde, wurde nun mit fassungslosem Schmerz der Trümmerhaufen beweint. In nur fünf Minuten vom besinnlichen Weihnachtszimmer zum rauchenden Trümmerfeld, das gefiel mir unglaublich gut. Überall wurde gefeiert und getrauert, sich geprügelt oder samt Geschenk gewälzt. (…)
Nachdem wir drei Stunden lang eine Bescherung nach der nächsten absolviert hatten – ich hatte neun Stücke Torte gegessen und neun Gläser Cola getrunken -, gingen wir zum Psychiatrie-Gottesdienst in die Turnhalle. Auch hier wurde bereits hin und her gewippt, dass die Stühle jauchzten. Als der Pastor die Sperrholzkanzel betrat, brach kollektiver Jubel aus. Auch später immer wieder Jubel. Im Namen des Vaters – Jubel -, im Namen des Sohnes – Jubel -, im Namen des Heiligen Geistes – Ovationen! Immer wieder stürzten einzelne Patienten zur Kanzel und warfen sich dem Pastor in die Arme. »Ihr seid«, rief der Pastor durch sein viel zu laut eingestelltes Mikrofon, »ihr alle seid Gott herzlich willkommen!« Wieder tosender Applaus. Es war eine wirklich begeisterungsfähige Gemeinde. Zu den Weihnachtsliedern wurde sich untergehakt und geschunkelt oder einfach auf die Stühle geklettert, auf den Sitzflächen getanzt und geschrien. Die Turnhalle war völlig überfüllt. Selbst die Sprossenwände hingen voller Kranker. Diesen Geruch werde ich nie vergessen. Es roch nach Medizinbällen, Tannenzweigen und Spucke.
Der Glöckner saß während des Gottesdienstes still da, überragte die Menge und wartete auf ein Zeichen des Pastors. Sobald dieser ihm zunickte, erhob er sich, im Turnsaal wurde es still, und er begann zu läuten. Hoch über den Köpfen schwang er seine festlich polierten Glocken. Die direkt unter ihm saßen, hielten sich die Ohren zu und duckten sich. Das war das Zeichen: Das Krippenspiel konnte nun endlich beginnen.
Es wurde von Patienten aufgeführt, jedes Jahr von einer anderen Station. Oft endete dieses Krippenspiel in einer Katastrophe. Mal bekam Maria vor Aufregung einen Anfall und stürzte zuckend in die Krippe, oder der Esel schubste den Ochsen in die Dekoration. Mal holte einer der Heiligen Drei Könige, es war Melchior, seinen Schwanz heraus und onanierte mit seiner schwarz geschminkten Hand unter dem Beifall der Menge, oder die Hirten prügelten sich mit ihren Hirtenstäben. Aber sie spielten großartig. In der Mitte stand die Krippe, ein mit Tannenzweigen geschmücktes Gitterbett, in dem ein schwerstbehinderter Jesus lag.
Natürlich war die Spielweise je nach Station völlig verschieden. Da der Psychiatriegottesdienst gemeinsam mit der Erwachsenenpsychiatrie gefeiert wurde, gab es auch Krippenspiele mit für immer eingesperrten Sexualstraftätern, sogar mit Mördern, bei denen hinter jedem Hirten sprungbereit ein riesiger Pfleger stand. Und sogar einen Josef in Handschellen und die Jungfrau Maria in der Zwangsjacke habe ich gesehen.
Ein einziges Mal gab es auch in unserer Familie eine Weihnachtseskalation, einen nur wenige Sekunden andauernden gutbürgerlichen Gewaltausbruch. Dem eigentlichen Ereignis ging eine ausufernde Rede meines mittleren Bruders voraus, ausgelöst durch das eben ausgepackte Trivial-Pursuit-Spiel, in der er die Geschenkpraxis meiner Eltern anprangerte. Mein Bruder hatte sich einen Redestil angewöhnt, der vor Überheblichkeit strotzte und in seiner selbstverliebten Eloquenz reichlich nervte: »Warum schenkt ihr mir eigentlich nie das, was ich mir wünsche? Ich habe mehrmals mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass ich dieses Jahr zu Weihnachten gerne Bargeld bekommen hätte. Immer schenkt ihr einem Geschenke, die unterschwellig irgendeine pädagogische Absicht verfolgen. Solange ich denken kann, bekomme ich Geschenke, die mich irgendwie formen oder weiterbilden sollen. Mit Fischertechnik fing es an, um meine taktilen Fertigkeiten zu trainieren, dann immer Bücher, Bücher, Bücher!« Dabei las mein mittlerer Bruder alles, was er zwischen seine seltsam zarten Finger bekam. »Mit Schrecken erinnere ich mich daran, wie ich mir eine Eismaschine gewünscht und einen Füller bekommen habe. Ich habe von Unmengen selbst gemachtem Erdbeer- und Schokoladeneis geträumt, und dann lag da dieser Scheißfüller!«
Nach dieser Ansprache packte meine Mutter das Geschenk meines Vaters aus und traute ihren Augen nicht. »Ein elektrisches Messer. Für Fleisch und Brot«, sagte mein Vater. Meine Mutter hielt wiegend ihr Geschenk in der Hand. Noch am selben Abend zerteilte sie mit diesem ratternden Messer den ungewaschenen Pansen für unseren Hund. Als mein Vater das sah, riss er ihr das Messer aus der Hand, rannte ins Weihnachtszimmer, warf wutentbrannt seinen Gabentisch um, hinter dem die Steckdose lag, und sägte ungeschickt in den Schuber der Gesamtausgabe Adalbert Stifters hinein, die meine Mutter ihm geschenkt hatte. Die Klinge fraß sich im Karton fest, mein Vater ließ das Messer stecken und rannte schwerfällig aus dem Zimmer. Ich hatte das alles aus dem großen Ohrensessel heraus beobachtet und war begeistert. Begeistert darüber, dass mein Vater in diesem Moment genau das tat, wovon ich nur träumte.
Später versöhnten sich meine Eltern, und wir spielten alle zusammen Trivial Pursuit. Mein Vater würfelte, wusste, egal ob Erdkunde, Kultur, Unterhaltung, Geschichte oder Wissenschaft, alles, und wir anderen kamen kein einziges Mal mehr dran. Emsig sammelte er die bunten Eckchen, bis sein Spielstein komplett war, spazierte in die Mitte, beantwortete auch noch die letzte Frage, stand auf, nahm sich eine ganze Handvoll Heidesand-Plätzchen und verabschiedete sich in seinen Ohrensessel.
2013 350 Seiten
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Joachim Meyerhoff liest aus dem Roman