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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Im Februar 1917, vor hundert Jahren, schaffte man in Russland den Zaren ab und mit ihm seine Hungerherrschaft. Das war gewiss verdienstvoll. Damit man die arrogante Monarchie stürzt, muss man radikal sein, was schon die Jakobiner der französischen Revolution 150 Jahre zuvor exekutierten. Am radikalsten waren in Russland die Bolschewiki, und weil/obwohl sie so radikal waren, setzten sie sich durch und weil sie so radikal dachten/fühlten, machten sie die Augen zu und erträumten sich nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen idealen Menschen. Den Sowjetmenschen.
Wer die Augen zum Träumen verschließt, gebiert leicht Ungeheuer. Der Maler Goya wusste dies, die Bolschewiki blieben verblendet. (Biopolitische Utopien hatten Konjunktur – nicht nur in Russland.) „Glaubensinhalte laufen grundsätzlich Gefahr, zur Waffe geschmiedet zu werden: von Herrschern, Demagogen, Sinnsuchern.“ (Michael Lüders)
Russland war kein aufgeklärt-industrielles Land, sondern zu 85% von Bauern in Wald-Sümpfen bevölkert, beherrscht von hierarchisch-strukturiertem Staats- und Landadel. Um das Land in die westeuropäisch inspirierte Gegenwart zu wuppen, musste man revolutionären Anlauf nehmen und da springt man gerne am Ziel vorbei. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war das eigentlich egal, denn er verstand sich nicht als politischer Mensch.
Aber er glaubte nicht an Utopia, an die Vervollkommnung der Menschheit, an die ingenieurtechnische Bearbeitung der menschlichen Seele.
Kunst gehört allen und niemandem. Kunst gehört jeder Zeit und keiner Zeit. Kunst gehört denen, die sie erschaffen, und denen, die sie genießen. Kunst gehört ebenso wenig dem Volk und der Partei, wie sie einst dem Adel und den Mäzenen gehört hatte. Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist. Kunst existiert nicht um der Kunst willen: Sie existiert um der Menschen willen. Aber um welcher Menschen willen, und wer bestimmt das? Für ihn war seine eigene Kunst immer anti-aristokratisch gewesen. Schrieb er, wie seine Verleumder behaupteten, für eine bourgeoise, kosmopolitische Elite? Nein. Schrieb er, wie seine Verleumder es von ihm verlangten, für den müde von der Schicht heimkehrenden Bergmann im Donbass, der eine wohltuende Stärkung brauchte? Nein. Er schrieb Musik für alle und niemanden. Er schrieb Musik für die, die seine Musik am besten zu würdigen verstanden, egal welcher gesellschaftlichen Herkunft sie waren. Er schrieb Musik für die Ohren, die fähig waren zu hören. Und darum wusste er, dass jede wahre Definition der Kunst zirkulär ist und jede unwahre Definition der Kunst ihr eine spezifische Funktion zuschreibt.
Er wollte komponieren, denn davon und nur davon meinte er etwas zu verstehen. Musik ist eine Kunst und die Kunst ist nur aus der Kunst heraus zu erfassen. Damit steht er aber schon zu Lenin im Gegensatz: DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. Julian Barnes druckt es in gefetteten Majuskeln.
Alle Musik musste für die Massen unmittelbar verständlich und erbaulich sein. (…) Ein Komponist sollte seine Produktionsleistung ebenso steigern wie ein Bergarbeiter, und seine Musik sollte die Herzen erwärmen, wie die Kohle eines Bergarbeiters die Körper erwärmte. Bürokraten bemaßen die musikalische Produktionsleistung wie die Produktionsleistungen in anderen Bereichen; es gab vorgegebene Normen und Abweichungen von dieser Norm (…) und das geringste Experiment wurde als »Formalismus« verdammt.
Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch leidet am Unverständnis der Macht, an ihrem einfältigen Anspruch an die Kunst, an die Komponisten, an den Vorwürfen, Formalist zu sein. Weil er sich dieser Einfalt nicht fügen kann, wird er verfolgt, verhört, er fürchtet um sein Leben. Und er leidet darunter, dass er um seines Leben Willen sich der Macht unterwirft. Er unterschreibt Briefe gegen andere Künstler, er tritt in die Partei ein, er wirft sich Feigheit vor.
Nun, das Leben ist kein Spaziergang übers Feld, wie man so schön sagt. Eine Seele konnte auf dreierlei Art zerstört werden: durch das, was andere einem Menschen antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücken selbst antat. Jede einzelne Methode erfüllte ihren Zweck; wenn aber alle drei zusammenkamen, waren die Folgen unausweichlich.
Er wusste nur eins: Dies war die allerschlimmste Zeit.
Die schlimmste Zeit war nicht dasselbe wie die gefährlichste Zeit. Weil die gefährlichste Zeit nicht die Zeit war, in der man am meisten in Gefahr war.
Das hatte er bisher nicht verstanden.
Er saß in seinem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen, während draußen die Landschaft vorüberholperte. Er stellte sich selbst eine Frage. Sie lautete:
Lenin fand Musik deprimierend.
Stalin dachte, er verstünde Musik und
wüsste sie zu schätzen.
Chruschtschow verachtete Musik.
Was ist für einen Komponisten das
Schlimmste?
Das sind die drei Kapitel von Barnes’ Roman. Die Lebensbedrohung durch den Geheimdienst, Schostakowitsch verbringt die Nächte bekleidet “Auf der Treppe” vor seiner Wohnung, damit er seine Familie schützt, wenn ihn Stalins Schergen abholen. “Der Koffer an seinem Bein sollte ihn beruhigen und auch andere beruhigen; eine praktische Maßnahme. So sah es aus, als habe er die Ereignisse unter Kontrolle, statt deren Opfer zu sein. Männer, die mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus gingen, kehrten gemeinhin zurück. Männer, die im Nachtgewand aus dem Bett gezerrt wurden, kamen häufig nicht zurück. Ob das stimmte oder nicht, war unwesentlich. Wichtig war nur: Es sah so aus, als hätte er keine Angst.” Er fliegt “Im Flugzeug” nach Amerika und verliest von der Macht vorgefertigte Erklärungen der “Überlegenheit des sowjetischen Musiksystems über alle anderen der Welt. So viele Orchester, Militärkapellen, Volksmusikgruppen, Chöre – Beweis für den aktiven Einsatz der Musik bei der Weiterentwicklung der Gesellschaft.” Und er erfährt “Im Auto” mit Chauffeur die tiefste Demütigung, den Verrat an den eigenen Prinzipien, verkommen zum Ausstellungsstück der Macht. Die Methode des “Nikita Kukuruz”.
Julian Barnes’ Schostakowitsch ist ein ironischer Grübler, der manchem auf die Spur kommt, ohne viel zu verstehen. „Er hatte sein Leben lang auf die Ironie vertraut. Er vermutete, dieser Charakterzug sei an der üblichen Stelle entstanden: in der Kluft zwischen unserer Vorstellung, unserer Annahme oder Hoffnung, wie sich das Leben entwickeln werde, und dem, wie es sich tatsächlich entwickelt. So wird die Ironie zu einem Schutzschild für das ich und die Seele; sie lässt dich von einem Tag zum anderen atmen.” Seine Versuche, Ironie als Selbstschutz einzusetzen, können angesichts einer völlig ironiefreien Macht nicht gelingen. Also verlegt er die Ironie in seine Gedanken. Aber
Ironie war, wie er inzwischen erkannt hatte, ebenso anfällig für die Wechselfälle des Lebens und der Zeit wie jede andere Geisteshaltung. Man wachte eines Morgens auf und wusste nicht mehr, ob man es nicht doch ernst meinte; und selbst wenn nicht, ob das noch eine Rolle spielte, ob es überhaupt jemand merkte. Man meinte, einen ultravioletten Lichtstrahl auszusenden – aber wenn das niemand zur Kenntnis nahm, weil der Lichtstrahl außerhalb des allgemein bekannten Spektrums lag? In sein erstes Cellokonzert hatte er einen Verweis auf »Suliko« eingefügt, Stalins Lieblingslied. Aber Rostropowitsch hatte darüber hinweggespielt, ohne es zu merken. Wenn man Slawa eigens auf diese Anspielung hinweisen musste, wer in aller Welt würde sie dann je erkennen?
Die Ironie, die er Schostakowitsch unterschiebt, ist auch Stilmittel von Barnes. Er schreibt sich seinen Komponisten, stellvertretend für die Haltung des Künstlers zur Macht. In der “Anmerkung des Autors” nennt Barnes seine Quellen, betont jedoch seine dichterische Freiheit. “Der Lärm der Zeit” ist keine Biographie, sondern ein Versuch über den Wert der Kunst als humanes “Flüstern” gegen den “Lärm” der politischen Barbarei.
Schostakowitsch’ Musik kann man nicht beschreiben, man muss sie hören. Auch um zu verstehen, welche Welten zwischen seinen modernen Tönen und dem biederen “Geschmack” der Mächtigen liegen. Auf das frohgemute Wanderlied vom “Gegenplan” wollten sie ihn festlegen, die verkümmerte Landlust gegen die städtische Genialität, eine Schmach für den ernsthaften Komponisten. Seine “Jazz-Suite” zeigt den eingehegten Schostakowitsch im populären Walzer- und Polkaschritt. Seine eigenen Ansprüche hört man – z.B. – in den Streichquartetten.
Julian Barnes rahmt seinen vortrefflichen kleinen Roman mit einer Begebenheit.
Es geschah mitten im Krieg auf einem Bahnsteig, so flach und staubig wie die endlose Ebene ringsum. (…) Da war ein langer Bahnsteig, der eben erst von der Sonne beschienen wurde. Da war ein Mann, in Wirklichkeit ein halber Mann, der sich auf einem Rollbrett vorwärtsschob und sich mit einem Seil daran festgebunden hatte, das oben mit seiner Hose verschlungen war. Die beiden Reisenden hatten eine Flasche Wodka. Sie stiegen aus dem Zug. Der Bettler hielt in seinem zotigen Lied inne. Dmitri Dmitrijewitsch hatte die Flasche in der Hand, er selbst die Gläser. Dmitri Dmitrijewitsch goss Wodka in jedes Glas; während er das tat, wurde ein Armband aus Knoblauch sichtbar. Er war kein Barkeeper, und die Menge an Wodka war in jedem Glas unterschiedlich. Der Bettler sah nur, was aus der Flasche kam, er dagegen dachte, dass Mitja immer anderen helfen wollte, dabei war er von Natur aus unfähig, sich selbst zu helfen. Aber Dmitri Dmitrijewitsch lauschte und hörte, wie immer. Und als die drei Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen, lächelte er, neigte den Kopf zu Seite, sodass kurz das Sonnenlicht in seiner Brille aufblitzte, und murmelte:
»Ein Dreiklang.«
Und das war es, woran sich der, der sich erinnerte, erinnerte. Krieg, Angst, Armut, Typhus und Schmutz, aber mittendrin, darüber und darunter und durch alles hindurch hatte Dmitri Dmitrijewitsch einen perfekten Dreiklang gehört. Der Krieg würde bestimmt zu Ende gehen – es sei denn, er ginge nie zu Ende. Die Angst würde weitergehen, und der sinnlose Tod und die Armut und der Schmutz ebenso – vielleicht würde das ewig weitergehen, wer wusste das schon. Und doch war ein Dreiklang, den drei nicht sehr saubere Wodkagläser und ihr Inhalt hervorgebracht hatten, ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.
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Niña Weijers: Die Konsequenzen
Minnie Panis wird als „Star in der niederländischen Kunstszene“ vorgestellt. Gerade hatte sie mit einer Fotoserie in der Vogue Aufsehen erregt, in der sie sich schlafen ablichten ließ und wo ein „blauseidenes Lanvin-Hemdchen eine zentrale Rolle“ spielte. In „Minnie sleeping“ zeigt sie sich „als vollkommen eigenwillige Antikünstlerin, die sich über die ganze Idee von Subversivität erhebt und genau dort, im Herzen des Kommerzes, einen ‚dritten Raum’ des Widerstands findet“. Zuvor verfolgte sie ein „Projekt“, das „exakt 2095 Fotos von ihrem eigenen Abfall“ ergeben sollte. Ende 2007 hatte Minnie, „mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen, beschlossen, alles, was sie besaß, zu verkaufen. Es hatte mit ihrer gefakten Versace-Couch begonnen; ein grässliches Ding – blauer Satin mit aufgedruckten französischen Lilien – von unglaublichen Ausmaßen, das sie einmal in einer Anwandlung bei eBay gekauft hatte. Sie war vernarrt darin gewesen, in seine protzige Dekadenz, die ausgesprochene Hässlichkeit, die zum Geschmack einer bestimmten, rasch reich gewordenen Klasse gehörte, für die dieser neu erlangte Reichtum gleichbedeutend mit allem war, was groß, glänzend und weich war – und schnell natürlich, soweit es Fahrzeuge betraf. Die Couch war, alles in allem, ein durch und durch ironisches Objekt. Alle hatten angesichts des Teils grinsen müssen; man begriff, wie die Hässlichkeit vom Kontext aufgehoben wurde, so dass jetzt sogar Schönheit von ihm ausging, auch wenn es die unprätentiöse Schönheit eines plumpen alten Hundes war”. “Nothing personal” war unerwartet erfolgreich. Pressestimme: “In erster Linie ist es ein extrem intimes und raues Selbstporträt einer Frau auf der Suche nach den äußersten Konsequenzen ihres Liebeskummers. Am Tag nach dem Verschwinden ihres Liebsten fragt sie sich, ob es gelingen könnte, ihr ‘ganzes Leben zum Verkauf anzubieten’, um ‘in der gespiegelten Leere gleichzeitig den ganzen Mistkrempel aufzulösen’. (…) Anhand ihres Besitzes rekonstruiert und dekonstruiert Panis ihr Leben.”
Und jetzt, 2012, schließt sie vor Notar Specht einen Vertrag mit einem befreundeten Fotografen: “Ab einem von [dem Fotografen] genauer zu bestimmenden Datum im Februar wird er der Unterzeichneten, Minnie Panis, an einundzwanzig aufeinanderfolgenden Tagen mit seiner Kamera folgen. Er wird mit der größtmöglichen Diskretion vorgehen und unter keinen Umständen in gleich welche Situation eingreifen. Keine der beiden Parteien wird während des Zeitraums zwischen dem 1. Februar und dem 21. März 2012 Kontakt zur anderen aufnehmen. Die Unterzeichnete wird in diesem Zeitraum Amsterdam nicht verlassen. Das einzige ihr gestattete Transportmittel ist ein Fahrrad.” “Das laut Klappentext “vielleicht riskanteste Experiment ihrer Karriere”.
Das alles ist nicht originell, aber es greift doch den Diskurs über die rasend verzweifelten Zwickmühlen von kommerzialisierter Kunst auf. Niña Weijers schreibt sich durch Namen und Aktionen, von Marina Abramović über Andy Warhol bis zu einer Barfrau, die “Dissertationen in Plastikmappen [hatte] rahmen lassen und sie als Readymades an die Wände einer Galerie im East Village gehängt. »Science 1-15«, hatte sie die Serie genannt”.
Am 15. Januar erhält sie einen rätselhaften Brief von Dr. J. Johnstone, Direktor einer Institution namens C B T H. Der Brief sollte Minnie Panis’ Leben verändern – und er verändert vor allem den Roman. Dr. Johnstone war der Arzt, der dem Frühchen Minnie ins Leben half, sie mit eigenartigen Methoden aus ihren seltsamen Absenzen lockte, und er tritt wieder in ihr Leben, als Minnie Panis “zum dritten Mal aus ihrem eigenen Leben verschwand. Es war der 11. Februar 2012, der Tag war klar und kalt, aber nicht kalt genug.” Minnie bricht beim Eislaufen ein und wird gerade noch gerettet. Es geschah im Zusammenhang mit ihrem Kunstprojekt, doch die Kunst spielt im weiteren Verlauf des Romans kaum noch eine Rolle.
In Rückblenden erzählt Niña Weijers vom Verschwinden des kleinen Mädchens, von ihrer fremden Familie, von den Therapien des esoterisch angehauchten Doktors. „Menschen, die ihr gesamtes Leben hinter sich lassen, spurlos verschwinden, ganz neu beginnen. Die Möglichkeit hat ihren Reiz: ein Leben auf rewind, alles in umgekehrter Reihenfolge, so dass es sich selbst löscht, bis man wieder ein sauberes Baby ist oder sogar noch weniger als das, ein Embryo ohne Oberhaut, ohne Fett, ohne Skelett, ohne Hirnwindungen. Ein Wesen, das sich noch für nichts entschieden hat, noch nichts unterlassen hat, noch nicht von purem Pech und ebenso irrsinnigen Momenten des Glücks überfallen worden ist. Von dort aus neu beginnen. Ohne Eltern, die einen falsch erziehen, ohne kindliche Ängste, ohne Navigationsfehler. Selbst einen Namen aussuchen, nicht langsam zu dem werden, der man ist, sondern es schon sein, ein Bausatz ohne fehlende Teile, falsche Berechnungen oder Konstruktionsfehler. Keine Willkür. Keine Verpflichtungen. Niemand sein, nirgends sein. Das Einzige, was der Fisch zu tun braucht, ist sich im Wasser zu verlieren.”
Mir gelingt es nur in Ansätzen, Minnie Panis’ Künstler-Sein mit den Verwerfungen ihres Lebens in Verbindung zu bringen, die Spuren ihrer Selbstentfremdung sind zu subjektiv, verzwirlen sich mit Esoterik und Maya-Kalender-Zyklen. Selbst der Titel, „Die Konsequenzen“, ist vieldeutig und erschließt sich nicht auf Anhieb. Für die These des Buches, die Künstlerin gehe für ihre Kunst an die Grenzen, bleiben die Belege aus, die Werke wirken wie Abziehbilder aus einer Anthologie der Gegenwartskunst, Minnie Panis’ Projekte sind nicht eigenständig und schon gar keine lebensverschlingenden Grenzfälle. Die Gedanken darüber, wo die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind und ob Leben und Kunst verschmelzen können, verlieren sich im überhobenen Anspruch von Niña Weijers. Beide Teile des Romans sind in ihrer Subjektivität interessant, sie finden nicht zusammen.
2014 360 Seiten
Das Original-Cover zeigt die junge Frau in ihrer Nackheit. Weshalb greift man das in Deutschland nicht auf?
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Joost Zwagerman: Duell
„Kennst du das Zitat des rumänischen Philosophen über Bach? Ach, wie war noch sein Name? O ja, Cioran, genau! Nun, was ich sagen wollte, ist, daß Cioran einmal folgende Behauptung aufgestellt hat: >Gott hat Johann Sebastian Bach viel zu verdanken.< Phantastisch, oder? Es ist mehr als nur eine bloße Umkehrung, finde ich. Dieser Satz berührt den Kern alles Schönen, Wahren und Guten. Über Rothko können wir dasselbe sagen: >Gott hat Mark Rothko viel zu verdanken.< Zu einem anderen Schluß kann man nicht kommen, wenn sich einem Untitled No. 18 offenbart … Und wenn schon Gott Rothko viel zu verdanken hat, wieviel haben wir dann diesem wunderbaren Mann zu verdanken? Der Gedanke, das Bewußtsein, daß die Betrachtung eines Rothkos uns einen kurzen Blick auf eine Schönheit schenkt, die sogar Gott sprachlos macht, das müssen wir in unserer Ausstellung im MoMA zeigen, mit Untitled No. 18 als pochendes Herz unserer Schau, don’t you think so, Jelmer?«
Das sind die letzten Sätze des „echten“ Epilogs der Novelle. Jelmer Verhooff ist – noch – Direktor des Hollands Museum, des “wichtigsten Museums für moderne Kunst in den Niederlanden”, das vorübergehend geschlossen werden soll. “Für die sechs Monate, die das Hollands noch geöffnet sein würde, organisierte Verhooff im Eiltempo eine letzte Ausstellung, die zunächst Reactions heißen sollte. Zwanzig junge niederländische Künstler, die nicht älter als Dreißig sein durften, sollten in einen »Dialog« mit einem klassisch-modernen Meisterwerk aus der Sammlung des Museums treten.” Zu den Ausgewählten gehört auch Emma Duiker, die “Gemälde zeitgenössischer Meister bis ins kleinste Detail kopierte, immer mit Zustimmung der betreffenden Künstler, die ihr manchmal sogar mit Informationen zu praktischen Dingen wie Farbsorten, Farbschichten, Impasto, Pigmenten, Bespannung halfen. Mitunter arbeitete Emma Duiker überdies mit Röntgen- und Mikroskopieuntersuchungen, die Restauratoren durchgeführt hatten. Sie hatte sogenannte Doubles von Arbeiten von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Jörg Immendorff, Cy Twombly und anderen weltberühmten Malern gemacht.” Sie “selbst empfand sich mehr als eine reproduzierende Künstlerin. Das sagte sie zumindest zu Verhooff, als er sie einmal besuchte. Der ‘Komponist’ Rothko könne auf unterschiedliche Weise gespielt werden, und sie versuche aus ihrer Darstellung von Untitled No.18 mehr als eine normale »Aufführung« zu machen; sie unternehme den Versuch, die Seele des Machers offenzulegen.” “Gerade durch diese Aufführung”, so ein Kritiker, “gelinge es Emma Duiker, einen Hauch der Sublimität eines der anmutigsten, fragilsten Werke Rothkos sichtbar zu machen. Und diese Leistung sei für sich ebenso sublim.”
Es begibt sich nun, dass Emma Duiker, das Werk, das sie “aufführt”, den echten Mark Rothko, entführt und an verschiedenen Orten in Europa hängen lässt, in Bibliotheken. Altenheimen, Klassenzimmern. Sie versteht das als “Kunstaktion” wider den elitären Kunstbetrieb, Untitled No. 18 soll allen gehören, seine Wirkung zeigen, sie will die „totale Demokratisierung“ der Kunst.. Emma Duiker ist Idealistin. Jelmer Verhooff ist entsetzt, das Werk ist 30 Millionen wert, er macht sich für den Diebstahl verantwortlich und entdeckt das Bild schließlich in einer Schule in Slowenien. Mit seinem schrulligen Restaurator reist er dorthin, bei der umständlichen, im Kleinkriminellen verborgenen Rettungsaktion wird das Bild aber zerstört, der Museumsdirektor selbst hat es mit der Faust durchschlagen.
Die Auseinandersetzung mit dem “Wert” von Gemälden und der Frage, inwiefern diese “echt” sein können, ist der eine Schwerpunkt von Zwagermans Novelle, eine “grandiose Meditation über Handwerk, Originalität und Genie“ (Denis Scheck). Deutlich mehr Raum nimmt die detektivische Aktion der Wiederbeschaffung ein, am Rande der Legalität, verborgen vor Medien und Kunstöffentlichkeit. Das ist stellenweise spannend, oft skurril, immer ironisch, das Hauptthema erschöpft sich aber doch recht schnell. Ich lese das Buch gern, Scheck verhebt sich aber wieder mal in seinen euphoristischen Empfehlungen.
2010 150 Seiten
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Siri Hustvedt: Die gleißende Welt
«Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien, schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein Paar Eier ausmachen kann.» Der erste Satz des Romans.
Harriet Burden (!), die Witwe des stinkreichen Kunstvermittlers Felix Lord (!), ist selbt künstlerisch amnitioniert, kommt aber in der „insularen Welt“ der New Yorker Kunstszene nicht an. Sie erklärt sich, dass es an ihrem Geschlecht liegt, dass sie nicht wahrgenomen wird. Der Beweis gibt ihr recht, denn als sie ihre Arbeiten als die von Männern – ihren „Vehikeln“, „Strohmännern“ – präsentieren lässt, ist die Aufmerksamkeit da – sogar wenn die Männer Neulinge im Geschäft sind.
Siri Hustvedt spielt mit diesen Gender-Rollen und –zuordnungen. Harriet ist groß wie ein Mann, durch den „umfangreichen Busen“ als Frau festglegt, ihre Bekannten nennen sie „Harry“. „Sie hatte nicht viel am Hut mit den konventionellen Arten, die Welt aufzuteilen – schwarz/weiß, männlich/weiblich, schwul/hetero, abnorm/normal -, keine dieser Grenzen überzeugte sie. Das waren aufgezwungene, definierende Kategorien, außerstande, das Kuddelmuddel zu erklären.” «[…] die Geschlechtsidentität erweist sich also als performativ, d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.» (Judith Butler – in einer der vielen Anmerkungen zu Identität, Wahrnehmung, Kunst u.a.) Harry/Harriet bringt ihre Identitäten nicht in eins, immer muss sie sich spielend spiegeln im anderen, sich selbst gegenübertreten, ein ständiger Kampf um Wahrnehmung. „Wir sind alle Spiegel und Hallräume voneinander. Was passiert eigentlich zwischen Menschen? Bei Schizophrenie verlieren Menschen ihre Grenzen. Warum?” „Die kulturelle Konstruktion von Rasse und Geschlecht und Ambiguität als ultimative Subversion, faszinierend.”
Auch in ihren Installationen spielt sie mit der Wahrnehmung, mit den Mehrdeutigkeiten (der Bool’schen Logik), mit “Maskierungen”, „ambisexuellen virtuellen Identitäten”: „Kunst lebt nur durch ihre Wahrnehmung.”
“Wir entwarfen kleinere Raumkuben mit winzigen Figuren und etwas größere. Keiner erzählte eindeutige Geschichten. Sie waren alle so unergründlich wie Träume. Ich dachte mir eine aus mit dem Titel Pistolen und Busen für einen ein Meter mal ein Meter zwanzig großen Raum. Wir verwendeten Stückchen und Teile von Bildern aus Kung-Fu- und Blaxploitation-Filmen sowie alten Western. (…) Einige der Fragmente waren so klein geschnitten, dass sie abstrakt wirkten.”
Die “Erstickungsräume“: „Es war ihre Idee, dass die Betrachter jedes Mal, wenn sie eine Tür öffneten und einen neuen Raum betraten, schrumpfen sollten. Die Räume waren fast identisch, der gleiche trostlos aussehende Tisch und zwei Stühle mit PVC-Sitzen, auf dem Tisch das gleiche Frühstücksgedeck, die gleiche Tapete mit Harrys und meiner Handschrift und ein paar Kritzeleien (ich hatte hier freie Hand, alle meine Geheimbotschaften unterzubringen) und die gleichen zwei Metamorphe in jedem Raum. Zu Beginn der Tour hatten die Möbel das passende Format für Erwachsene mittlerer Größe – wir legten uns auf 1,73 m fest -, aber mit jedem folgenden Raum wurden Tisch und Stühle, Tasse, Teller, Schalen und Löffel, die Schrift auf der Tapete so viel größer, dass, wenn man den siebten Raum erreichte, der Maßstab der Möbel einen in ein Kleinkind verwandelt hatte. Die ausgestopften, weichen Metamorphe wuchsen ebenfalls und wurden zunehmend heißer. Der siebte Raum fühlte sich an wie eine finnische Sauna. Nach einer Diskussion entschieden wir, dass das eine zweiflügelige Fenster in jedem Raum ein Spiegel sein sollte – so wirkte es noch klaustrophobischer.”
Harrys “dissoziative Identitätsstörung” Warum bin ich nicht wie sie? Warum bin ich eine Fremde? Warum bin ich immer außen vor gewesen, ausgestoßen, nie eine von ihnen? Was ist das? Warum spähe ich immer durchs Fenster hinein? Ich spürte die Bruchlinie in meinem Körper, bereit zum Bersten.”
Harrys obsessive Träume: “Meine Zeit ist gekommen, und was sie auch sagen – die meist mittelmäßigen Kleingeister -, es kommt nicht darauf an. WIE SIE SEHEN ist das einzig Wichtige, und sie werden mich nicht sehen.” – “Bis ich vortrete.” – I”ch werde aufwärts schweben wie meine maskierte Tänzerin, von der Erde aufsteigen wie ein Phönix.” – “Es ist Zeit, dass ich zur Blüte komme, mein Glück finde.” – „Es ist Zeit, es allen zu sagen.”
“Ich bin nicht Penelope, dieser Ausbund an Tugend, die auf Odysseus wartet und die Freier abweist.
Ich bin Odysseus.
Aber das habe ich zu spät herausgefunden.”
“Irgendwie interessiert meine Geschichte sie nicht. “ Siri Hustvedt erläutert in einer – einem Professor I:V. Hess zugeschriebenen – “Einführung” ihr methodisches Vorgehen. Sie mischt die Einträge in die nach ihrem Tod gefundenen Notizbücher Harriet Burdens mit Aufzeichnungen oder Interviews von Personen, die ihr nahestanden, ihren Kindern Maisie und Ethan, oder die mit ihr arbeiteten, ihren “Strohmännern”, ihrem Freund Bruno Kleinfeld, sich selbst ironisch entlarvenden Kunstkritikern, Sweet Autum Pinkney, einer plappernden Esoterikerin, die zur letzten ihrer Bezugspersonen wird – und, seltsam, die quälende Hyperintellektualität lindert und vesöhnt. Die Beobachtungen und Beschreibungen kontrastiert Siri Hustvedt mit den suchenden, resignierten, suchenden Selbstwahrnehmnugen Harriets, wobei zunehmend die gelehrten Täuschungen erkennbar werden. Der Roman ist auch hier Spiel.
“Die gleißende Welt” (im Original: The Blazing World) ist ein ungemein dichter, verschlungener, gelehrter, engagierter Roman über – vordergründig – den New Yorker “Kunstszenescheiß”, im Grund über die Brüche in den Biographien der Menschen, speziell der Frauen, ein Roman voller Psychologie und Neurophilosophie, über Metamorphosen und Mythen, über Wahrnehmung. Viele der Bezugsthemen belegt und erläutert Siri Husvedt in Fußnoten. Man muss nicht allen Anspielungen nachspüren, man darf den Roman auch überfrachtet finden, man muss sich nicht persönlich für Harriet Burden und ihre Beschwernisse interessieren. Die “Gefahr, sich vor lauter überreflektierter Selbstreferentialität blind in den Schwanz zu beißen.“(Katharina Granzin, taz) ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht leicht zu lesen, aber reizvoll.
* „Die gleißende Welt“ ist der Titel eines utopischen Romans von Margaret Cavendish, die im 17. Jahrhundert als eine der ersten Frauen überhaupt unter ihrem eigenen Namen publizierte. Als frühe Universalgelehrte ist sie Vorbild und Idol von Harriet Burden.
2014 490 Seiten
Gespräch über “Die gleißende Welt” im Literaturclub des SRF (Video 11 Minuten)
Ergänzung: Kulturpalast vom 26.09.15 zum Thema FRAUEN in der Kunst
Klaus Modick: Konzert ohne Dichter
Der Roman zum Bild zum Konzert. Der Titel lässt stutzen, doch im Klappentext steht die Auflösung: Heinrich Vogeler malt ein Quartett, darauf verdeckt sich selbst, und Klaus Modick schreibt 90 Jahre später einen Roman zum Werk. Rilke, der Dichter, ist nicht auf dem Bild, aber Modick weiß, weshalb nicht. Rilke war nämlich schon drauf, wurde aber wieder weggegmalt, weil es Missstimmungen gab in Worpswede, im Künstlerdorf an der Hamme, in der „Familie“, die Heinrich Vogeler um sich geschart hatte. Die „Malweiber“ waren auch dabei, Es herrschte tiefster Jugendstil. Heinrich Vogeler ist der Jugendstil. Das sieht man auf seinen Bildern und an seinen Möbeln, an den Kleidern und Accessoirs, die er entwarf, denn Vogeler verkörperte den Stil. Modick schreibt den Malstil nach.
Satt liegt die Spätnachmittagssonne auf rosenberankten Hauswänden; üppige Schleier aus Efeu und Wein spinnen um Balkone und Loggien, Galerien und Erker, getragen von Karyatiden und Kanephoren. Aus Gärten duften Goldlack, Nelken, Hyazinthen; Rhododendren in Weiß, Rot, Lila scheinen unter ihrer Blütenlast fast zusammenbrechen zu müssen. Kirschlorbeer, Taxus und Buchsbaumhecken säumen Rasenflächen, auf denen Lauben und Pavillons stehen.
Modick weiß aber auch, dass Vogeler trotz der Großen Medaille für Kunst und Wissenschaft nicht zufrieden ist, denn sein Stil ist hermetisch geworden, perfektioniert bis zur Langweile, Kunst als Dekor, Modick stimmt da mit Vogeler überein. Alles, blieb “Kunst und Traum, und nichts und niemand wurde wirklich”. “Labyrinthe des Ornaments, in denen es keine Pausen oder Lücken gab – und vor lauter Überfluss nirgends einen Ausgang.” „Nirgends Freiheit. Ein schöner Vorhang, der die Wirklichkeit verbirgt.” “Etwas unendlich Künstliches.” Gut, dass René Maria Rilke in Worpswede auftaucht und die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Rilke ist 23 und schon Dichter, der sich selbst angöttert, “Mir zur Feier” nennt er sein Buch, das Vogeler illustriert. Rilke, der Eiferer mit dem erbarmungslosen Ernst , Rilke, der nicht lacht, Rilke, der Kauz.
Vielleicht fürchtete sie auch nur, dieser seltsame Heilige könnte in seiner exotischen Kostümierung ins Dorf gehen und mit seiner unheimlichen Erscheinung den ganzen Barkenhoff in Klatsch, Verruf und Misskredit bringen. Seitdem die Künstler Worpswede für sich entdeckt und sich angesiedelt hatten und ihre aus großen Städten und fernen Ländern anreisenden Freunde zu Besuch kamen, hatte man in Worpswede zwar schon allerlei karnevaleske Kostümierungen und pittoreske Aufzüge zu sehen bekommen, aber Rilke schoss den Vogel ab. Lina war jedenfalls empört. »De Keerl lett jo dat Hemd över sin Büx hangen.« Und wenn er dann, das Hemd über der Hose hängend, oben in seinem Zimmer auf und ab ging, die roten Russenstiefel einen trägen, unregelmäßigen Rhythmus auf die Bodendielen schlugen und seine Stimme manchmal so laut wurde, dass sie durchs Gebälk bis nach unten drang, dann stand Lina in der Diele, horchte verstört auf und zeigte mit ihrer zerarbeiteten, faltigen Hand zur Decke. »He deit ton leev Heiland proten«, flüsterte sie. »He bedet alltied.« Vogeler lächelte, tätschelte ihr beruhigend die Schulter. »Er betet nicht, Lina. Er dichtet. Der Herr Rilke dichtet doch nur.«
Aber Rilke, der rastlose Geist, hat zwei Talente: Er generiert aus dem Nichts Gedichte und er betört die Frauen. Das unpassende Pathos der frühen Rilke-Lyrik befremdet Vogeler, Modick stellt beides mit sanft ironischem Ton dar.
Ob das, was er jetzt hier am hellen Morgen vor sich hin spricht, ein Pfeifen im dunklen Wald ist, Inspiration erzwingen will oder Arbeit simuliert, Geplapper, mit dem er seine panische Angst vor der Leere vertreibt, oder ob ihm in diesem Moment eins seiner schmelzendschönen, zwischen Kitsch und Tiefsinn schwankenden Gedichte aus dem Mund tropft – wie soll Vogeler das wissen? Die Laute, die Rilke beim Dichten ausstößt, sind eine Sprache, die niemand versteht. Versteht Rilke sie? … Doch klang in Rilkes dreistem Selbstbewusstsein eine innere Überzeugungskraft mit an, ein unwiderstehlicher, alle Vorbehalte überwältigender Charme. Wenn später von Rilkes zahlreichen Affären die Rede war und sich so mancher darüber wunderte, wieso diesem schmächtigen Mann mit dem traurigen Hundeblick junge Mädchen und reife Frauen gleich reihenweise erlagen, musste Vogeler immer an diesen Moment zurückdenken, in dem Rilke ihn für sich gewonnen hatte.
Rilke heiratet Clara Westhoff, fast auch Paula Modersohn-Becker, Rilke reist ab, um nirgends anzukommen. Vogeler, Rilkes “Seelenverwandter”, übermalt den Kauz. Klaus Modick schreibt seinen Roman, und er wird wie das Bild, liebevoll verästelt, literarische Birken, mit locker schwebender Ironie, nie gehässig, immer charmant, eine Etüde, eine „Malerei der Worte“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ). eigentlich überflüssig, hübsch, Dekor. Ein Künstlerroman. Wer sich für Worpswede interessiert, sollte die “kleine Worpswede-Fantasie” (Maidt-Zinke) lesen. Die Geschichte sollte aus der Künstlerkolonie im Moor herausgehalten werden, Modick holt sie nicht herein. „Das alles flieht vor der Gegenwart und ihren Konflikten, und gerade deshalb hat es Erfolg, liefert Trost- und Schönheitspflästerchen gegenüber einer Zeit, deren Industrielärm, Tempo und Rhythmus im Maschinentakt man nicht mehr folgen kann.“ Modick folgt Vogeler in Gedanken an frühere Aufenthalte in Florenz und München, die Übergänge sind fließend elegant, Vogeler fühlt sich nicht wohl in der Geldwelt seiner Bewunderer und Mäzene. Florian Illies hat eine Sammlung von (hauptsächlich Künstler-)Anekdoten zum Jahr 1913 vorgelegt. Modicks “Konzert ohne Dichter” könnte man als Lang-Anekdote aus dem Jahr 1905 lesen. “Hätte es noch keine Birken gegeben auf der Welt – der Jugendstil hätte sie erfunden. Vogeler persönlich hätte sie erfunden für seinen Barkenhoff.”
P.S. Auf der Teppe logiert die Barsoi-Hündin Karla.
2015 230 Seiten
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Henning Boëtius: Tod in Weimar
Siegmund von Arnim (18), der Sohn von Bettina von Arnim, besucht im März 1832 den alten Goethe (82) und ist damit dessen letzter Gast. Das ist verbürgt.
Goethe stirbt am 22. März 1832; auch daran ist nicht zu zweifeln.
Henning Boëtius denkt sich da einen Zusammenhang. Könnte der Besuch des Jungen nicht Ursache für den Tod des Alten sein? Weit hergeholt? Wurscht.
Boëtius beschreibt detaillliert und intim den verschrumpelnden Goethe. So genau will man das eigentlich gar nicht sehen. Aber Boëtius’ Goethe stellt sich dieser Schmach:
Wie schal steht es angesichts dieser Fakten um die dumme Forderung der Humanisten, ein schöner Geist gehöre in einen schönen Körper! Wollte er sie erfüllen, dann hätte er in seinem Kopf sämtliche Ideale und erhabenen Gedanken mit billigen Zoten, grauenhaften Lügen und lächerlichen Vorurteilen zu vertauschen. Nein, in einem häßlichen Körper kann der Geist durchaus noch eine bescheidene Ansehnlichkeit wahren. Davon ist jedenfalls angesichts dieses Leibes auszugehen, von dem er wünschte, es sei nicht sein eigener, sondern der eines toten Bettlers in der Anatomie.
Er wäscht diesen Körper wie schon lange nicht mehr, denn er will mit dem Jüngling eine Kutschfahrt durch Weimar zu seinem Gartenhaus machen. Annäherungen deuten sich an, lassen sich nicht vermeiden, werden durch Rumpelwege dichter.
Sie stehen vor dem Glücksstein. Ein großer Steinquader, auf dem eine Steinkugel ruht. »Agathe Tyche. Fortuna. Die Göttin des Glücks und des Zufalls. Zumeist wird sie als Frau mit dem Füllhorn, dem Steuerruder und dem Rad dargestellt. Dies hier ist meine Version. Der Würfel und die Kugel, begreifen Sie? Es ist die das ganze Dasein durchdringende Dualität: Das Beharrende und die Bewegung, beide müssen sie sich vereinigen. Dort, wo die Kugel den Quader berührt, entwickelt sich eine unvorstellbare Kraft der Vereinigung der Gegensätze. Was ist unser Schicksal anderes als die Wirkung, die diese Kraft erzeugt!«
Eine „Vereinigung“ Goethes mit Siegmund ist nicht verbürgt. Boëtius versucht deren Plausibilität zu erklären. Er bemüht dazu Goethes Vorliebe für „schöne Jünglinge“ und „Frauen im Leib eines Knaben“ und er (er)findet einen Grund für Siegmunds Besuch: Dessen Mutter, Bettine von Arnim, hatte sich vor Jahrzehnten Goethe nicht nur an den Hals geschmissen und will jetzt ihre Liebesbriefe zurück, um sie vermarkten zu können – und Bettines Mutter Maximiliane bezeichnet Boëtius als Goethes „einzige große Liebe“, die ihm „wie ein androgyner Engel“ vorgekommen war.
Die Novelle ist ein Spiel mit Anspielungen, interessant vielleicht nur, wenn man etwas von Goethe weiß oder wissen will – über den greisen Goethe zwischen Verkalkung und Selbstglorifizierung – oder über seine Variationen über die Dualität der Geschlechter.
Natürlich erinnert der Titel an den „Tod in Venedig“. Auch hier erlebt der Alte eine letzte Amour fou, bei der er sich den Tod holt. Auch hier weiß der Alte so viel, dass er bildungsbürgerlich erklären, umschwurbeln und verdrängen kann. Auch hier verspielte Fiktion. Aber Weimar ist nicht Venedig.
1999 115 Seiten mit Illustrationenen von Johannes Grützke