Nachrichten vom Höllenhund


Melchor
4. Februar 2020, 19:07
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Fernanda Melchor:
Saison der Wirbelstürme

melchorWichser. Alle. Schwuchteln. Diejenigen, die nirgends untergekommen sind, nicht im Denken, nicht im Wissen, nicht im Job, nicht bei sich. Der kümmerliche Bodensatz: Saufen, Pillen, schlagen, ficken, morden. Perspektive: Weiter so wie bisher. Wegziehen: ein nebliger Gedanke. Männer. Natürlich auch Opfer.

Opfer dieser bestialischen Opfer: Frauen, Mädchen, Mösen. Doppelopfer, weil sie die Kinder kriegen, Fickprodukte, mehr ist nicht. Sich verkaufen für ein paar Pesos, ein bisschen Frieden in der Kirche, bei den Heiligen, das Beten als Volksdroge der Frauen.

Wenn man etwas tut, was immer man getan hat, man möchte es ungeschehen machen. Denn es führt zu: Nichts. Ein Treiben aus existenziellen Nichtigkeiten. Es gibt kein richtiges Leben im falschen Sein. Der Kreis hat keine Öffnung, jeder Versuch führt tiefer in den Sumpf der Wichser.

Fernanda Melchor taucht tief hinein, hinab in diese Sümpfe in der mexikanischen Provinz. La Metosa, nicht mal zum Überleben geeignet. Am Anfang und am Ende steht der Mord. An der Hexe, La bruja, der Heilerin, der Schwuchtel, in der man sich selbst hasste, bei der man Wertsachen vermutete. Das bekannte Muster.

Es beginnt wie es endet: Leichen, Sumpf, schwarze Schlangen

… Sirren der Steine, wenn sie direkt vor ihren Gesichtern die Luft zerschnitten, die warme Brise, in der die Geier am fast weißen Himmel kreisten und die von einem Gestank erfüllt war, der schlimmer war als eine Handvoll Sand im Gesicht, einer Ausdünstung, die einen aus­spucken ließ, um sie nicht zu schlucken, die einem jede Lust raubte, weiterzugehen. Aber der Anführer deutete auf den Rand des Schilfs, und zu fünft robbten sie über das trockene Gras, fünf Körper wie einer, von grünen Fliegen umschwärmt, und so sahen sie schließlich, was aus dem gelben Schaum des Wassers ragte: das halb verweste Gesicht eines Leichnams zwischen Schilfgras und Plastiktüten, die der Wind von der Straße herüberwehte, eine schwärzliche Maske, lächelnd in ei­nem brodelnden Gewusel schwarzer Schlangen.   …

… der Menschen, die ein hal­bes Leben unter der gnadenlosen Sonne umhergewankt sind. Dann kam dieses arme zerstückelte Mädchen; wenigstens war es nicht nackt, das arme Ding, sondern in himmelblaues Zel­lophan eingewickelt, damit seine Glieder nicht auf dem Boden des Krankenwagens herumflogen, vermutete der Alte. Dann kam das Neugeborene, das Köpfchen gerade so groß wie eine Cherimoya, das die Eltern bestimmt in irgendeiner Klinik der Gegend ausgesetzt hatten, wo es dann seinen letzten Atemzug getan hatte. Und zuletzt der schwerste und umfangreichste von allen, die Angestellten mussten ihn mit Laken halten, weil die Haut sich ablöste, wenn sie ihn an Händen oder Füßen anfassten; der würde dem alten Mann sicherlich mehr Arbeit machen als alle anderen zusammen, sogar mehr als das arme zerstückelte Ding, weil der Lump nicht nur erstochen worden, sondern zudem noch ganz war; halb verwest, aber ganz, und mit denen hatte man immer am meisten zu tun; als würden sie sich nicht in ihr Schicksal fügen wollen, als hätten sie Angst vor dem dunklen Grab. Aber das konnten die beiden Schwach­köpfe vom Leichenhaus nicht wissen. Sie wollten nur ein paar …

Fernanda Melchor hat es auf sich genommen, diesen Wust auszukotzen. 230 Seiten, fast ohne Punkt. Ohne Abschnitte durchgeschrieben, denn auch das Leben hat keine Strukturen. Fernanda Melchor verfolgt ein paar der Gebrochenen in deren Gedanken, endlosen Suaden um nichts. Sie tut das in einer solch authentischen, mitleidslosen Sprache, dass ich mich immer wieder versicherte, dass der Autor eine Frau ist. Der Realitätsgehalt? Ist das Leben in – gewissen Gegenden von – Mexiko wirklich so desaströs, so verwichst? Hat es Folgen, wenn man den sozialen Bodensatz so lebensecht zum Ausdruck bringt, hat es Folgen für den Leser?

Viele Leser fühlen sich getroffen, überfordert, wollen nicht wahrhaben, was sie lesen. Sie überlesen im Roman die Sozialreportage. „Der Roman wäre aber vermutlich kaum so beeindruckend, wenn seine Brutalität nicht so nah an der Wirklichkeit wäre.“ (Isabel Metzger, SPIEGEL) Es gibt auch Bücher über heilere Welten. Fernanda Melchor will die üble Seite zeigen, das üble Leben der Ausgebeuteten – und damit ist der Roman auch ein Statement zum Hurrikankapitalismus.

„Auffällig und ermüdend ist die Manie der Autorin, sexuelle Handlungen jeder Art, vornehmlich zwischen Männern, drastisch auszumalen. Im sechsten Kapitel wird eine Orgie im Haus der Hexe, die sich als Transvestit entpuppt, beschrieben. Hier fühlt sich der Leser wie in einen Darkroom gesperrt, in dem alle denkbaren und undenkbaren sexuellen Praktiken ausgeübt werden. Ein Kritiker schrieb, das sei keine Literatur für zartbesaitete Naturen. Andere werden sich fragen, ob das überhaupt noch Literatur ist. (…) Durch das zynische Denken und die üble Nachrede wird auch die geringste solidarische Regung im Keim erstickt. (…) Der strapazierte Leser fragt sich: Wo ist die andere Seite der Medaille? Gibt es denn neben La Matosas heilloser Trostlosigkeit nicht auch ein anderes Mexiko, das intuitiv rücksichtsvolle, einfühlsame, großherzige, sentimentale, geistreiche, innovative, revolutionäre, aus seinen indigenen Wurzeln schöpfende Mexiko? (Peter Schultze-Kraft, FAZ) „Es ist krass, geht unter die Haut und nimmt für den Moment den Glauben, dass der Mensch im Herzen gut ist.“ („Wortesammlerin“ Franziska Werum) „Die nicht leicht zu klärende Frage ist, warum Melchor für ihre Figuren keine Zuneigung aufbringt. Gerade so, als lebten in Mexiko nur Menschen ohne Herz. ‚Sie trug nichts zur Welt bei als das Kohlendioxid, das sie mit jedem Atemzug ausatmete’, sagt Brando über seine Mutter.“ (Ralph Hammerthaler, SZ)

Die Mexikanerin Fernanda Melchor erhält für ihren Roman „Saison der Wirbelstürme“ den Internationalen Literaturpreis des Berliner HKW. Auch ihre deutsche Übersetzerin wurde ausgezeichnet. „Fernanda Melchor hat den Roman der Armut im Globalkapitalismus des 21. Jahrhunderts geschrieben“, heißt es in der Begründung der Jury. Es sei ein Roman des gnadenlosen Kampfes der Schwächsten gegen noch Schwächere und gegen sich selbst, ein Roman der Zerstörung. (SPIEGEL)

… vierzehn hab ich ihn kennengelernt, war gerade nach Villa gekommen, weil ich es satt hatte, dass ich auf der Farm Zitronen pflückte und mein Vater sich das ganze Geld unter den Nagel riss, um es zu ver­saufen oder beim Hahnenkampf zu verwetten; ich hatte von der neuen Landstraße gehört, die hier gebaut wurde, um die Ölfelder mit dem Hafen zu verbinden, und irgendjemand sag­te, dass das eine Goldgrube war und es Arbeit zuhauf gab; ich hatte von nichts eine Ahnung außer Zitronenpflücken, trotz­dem kam ich her, ganz allein, und Scheiße, stell dir vor, was das für eine Überraschung war, als ich gesehen hab, dass die­ses Dorf ein noch schlimmeres Dreckskaff war als Matadepita, Scheiße, und der einzige Ort, wo ich Arbeit bekam, war die Kneipe von Dona Tina, der alten Schlange mit dem Arsch­gesicht, geizig wie sonst noch was. Ich musste das Drecksweib jedes Mal fast anbetteln, damit sie mich bezahlte, und sie warf mir vor, ich würde das Trinkgeld behalten, aber welches Trinkgeld, in dieses beschissenen Loch verirrten sich ja nicht mal die Fliegen. Aber dieses Aas hielt sich für ne feine Dame, ganz anständig und etepetete, als hätte der Heilige Geist höchstpersönlich ihr den Haufen Kinder gemacht, Scheiße; als hätte sie die Kneipe und das Grundstück nicht von der Kohle bezahlt, die sie sich auf den Schwänzen von Tagelöh­nern und Tellerwäschern verdiente, als die sich hier an der Landstraße niederließen. Das alte schwarze Drecksvieh, jetzt macht sie auf edle Heilige, dabei sind ihre beiden Töchter noch schwärzer und noch größere Schlampen als sie selbst, von den Enkelinnen ganz zu schweigen. Immer haben diese Huren über mich hergezogen, vom ersten Tag an haben sie mich behandelt wie das letzte Stück Dreck, und erst recht, als sie dahinterkamen, dass ich was mit Maurilio hatte; ja, da ha­ben sie sich wer weiß was für Geschichten ausgedacht, dass ich dieses Aidszeug hätte und keine Ahnung wie viele Lastwa­genfahrer der gleichen Firma auf dem Gewissen, so widerliche Scheißgerüchte, aus purem Neid haben sie sich das aus den Fingern gesaugt. Und der verdammte Maurilio hat mich nie vor ihnen in Schutz genommen, dieses schnorrende Weichei. Ich weiß wirklich nicht, wie ich so idiotisch sein konnte, mir von dem Arschloch ein Kind machen zu lassen; bevor ich schwanger wurde, war ich ein heißer Feger, ich zeig dir …

2017          230 Seiten

Ausführliche Inhaltsangabe mit vielen Zitaten bei Dieter Wunderlich

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Kushner
11. Juli 2018, 19:11
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Rachel Kushner: Telex aus Kuba

kushnertelexkubaZwischen Florida und Kuba liegt der Wendekreis des Krebses – und jenseits des Wendekreises liegen die Tropen. Üppig wuchernde Natur, fremde und reizvolle Natürlichkeit, braunhäutige Menschen, wie zum Ausbeuten vorgefunden oder importiert. Kuba ist das Land des Zuckerrohrs, amerikanischer Hinterhof. Imperialismus, in seiner Form als Kolonialismus Stoff für Filme aus Hollywood, die Unterdrückten sind gut genug als Angstprojektionen auf die Rebellion.

Rachel Kushners Roman „Telex aus Kuba“ ist Kolonialepos zwischen den selbstgefälligen, charakterschwachen Plastic-People aus der Weltmacht und den Wirren des Aufstands, zwischen den eingegrenzten und klimatisierten Villen der United-Fruit-Mitarbeiter mit ihren einheimischen Domestiken und den Rebellen, die die Plantagen in den Bergen des Oriente, abbrennen und ihre Revolution vorbereiten. Fidel und Rául Castro sin auch für die pubertierenden Kinder der Zuckerbarone faszinierende Ikonen. Die Mütter verstehen die Welt nicht mehr, haben sie nie verstanden, das war auch nicht ihre Funktion. Ihnen hatte die billige Simulation des Glamours zu genügen, die Bekanntschaft mit dem Botschafter, das Cocktailkleid.

Einmal, auf dem Weg nach Cumberland Falls, waren wir seine Gäste im Sanders Motor Court. Seine fatale Schwäche für sie war ihm deutlich anzumerken. Als er uns begrüßte, zitterten ihm die Hände, und er wurde rot. Ich glaube, Papa fand das amüsant. Er gab gern mit ihr an. Mutter war eine schöne Frau und immer sehr gepflegt. Sie wusch sich das Gesicht nie mit Seife, nur mit Creme, und achtete auf ihre Gesundheit. Sie ließ die Bediensteten Joghurt herstellen, als es noch sehr ungewöhnlich war, welchen zu essen. Jeden Abend vor dem Schlafengehen saß sie an ihrem Tisch und bürstete sich hundertmal die Haare. Als Junge bemerkt man solche Sachen. Zwei- oder dreimal im Jahr fuhr Papa mit uns nach Miami, um neue Kleidung für Mutter zu kaufen. Er reservierte dann im Burdines einen Raum nur für uns allein. Er, Del und ich saßen zusammen mit Mutter da, während die Man­nequins uns verschiedene Sachen vorführten. Gefiel uns etwas, probierte Mutter es an, kam aus der Kabine und drehte sich ein­mal um sich selbst.

Und zur Beruhigung ein wenig Alkohol und caritative Gespinste:

Mutter fand es einfach furchtbar, wie auf den kubanischen Plantagen gearbeitet wurde. Der Gedanke, dass eine Rasse ihre eigenen Leute ausbeutete, brach ihr das Herz. Die Zuckerrohrschneider waren zwar alle Jamaikaner – es war kein einziger Kubaner dabei -, aber ich wusste, was sie meinte: Einheimische nutzten andere Einhei­mische aus, braun gegen schwarz, so ungefähr. Sie war stolz auf Papa, stolz darauf, dass die United Fruit Company einen gewis­sen Standard hielt, aus Fairnessgründen bessere Löhne zahlte als nötig. Sie hoffe, sagte sie immer, das werde die Kubaner dazu bewegen, ihre Leute ein bisschen besser zu behandeln.

Fidel hält auf dem zentralen Platz eine Rede:

Sie seien im Herzen des imperialismo zusammengekommen, verkündete Castro den versammelten Rebellen. Er wies auf eine Reihe von Büros, dreistöckigen, senfgelb gestrichenen Ge­bäuden. «La United», sagte er und zeigte vorwurfsvoll mit dem Finger darauf, als wäre schon der Name eine Anklage.
Diese Stadt, sagte Castro, sei der Ort seiner Kindheitsträu­me, genau diese Stätte, wo sie sich versammelt hätten. Hier, auf für ihn verbotenem amerikanischem Terrain, habe seine Phan­tasie sich entzündet und herumgetrieben. Frei, sagte er, aber nur in der Freiheit seiner Träume. Die Stadt Preston gaukele einem mit ihrer Entfernung von seinem Leben in Birän, ihrer Leucht­kraft, ihrer Unmöglichkeit etwas vor, das sei alles nur Schein. Echt aber sei, dass sie über alles und jeden herrsche, alles und jeden besitze.

Fulgencio Batista ist das einfältige Faktotum der USA. (1957 verlieh ihm die BRD die Sonderstufe des Großkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland!) Christian La Mazière gibt den zwielichtigen Waffenbeschaffer und Krisengewinnler, der seinen Schwanz in alles steckt, vielleicht ist er Franzose, geschult hat er sich in der SS. Rachel K. tanzt den Zazou in der Tokio-Bar, malt sich die Netzstrümpfe auf die Schenkel und will sich stets auf die richtige Seite schlagen. Richtige Liebe gibts nicht mal bei den Rebellen. Der Hausdiener Willy tanzt den Pachango mit einem Besen so sinnlich, dass sich Everly wünscht, sie wäre der Besen. Auch Ernesto Hemingway hat seinen versoffenen Auftritt in seiner Lieblingsbar.

Rachel Kushner erzählt ihre Tableaus aus unterschiedlichen Perspektiven. Am interessantesten ist der Blick der Kinder. K. C. Stites, der jüngere Sohn des US-Bosses, und die widerborstige Everly Lederer sind ideologisch noch nicht völlig festgezurrt, haben noch nicht das vorgeschriebene rigide Klassen- und “Rassen”-Bewusstsein, sind empfänglich für ein bisschen Menschlichkeit. Das wird sich geben.

Mutter und Papa sahen es noch nicht mal gern, wenn ich Annie zu fest umarmte. Mutter war zwar eine Liberale, aber so liberal nun auch wieder nicht. Sie sagte, Annies Geruch gehe auf mich über – zur Kontrolle schnupperte sie an mir. Annie hatte tatsächlich einen Eigenge­ruch, so einen moschusartigen. Den mochte ich sehr. Ich habe ihn heute noch in der Nase. Als ich klein war, ließ ich mich oft von ihr in den Arm nehmen, wenn niemand in der Nähe war. Sie drückte mich fest an sich. Es war ein herrliches Gefühl von Geborgenheit, wenn ich mein Gesicht in ihrer Schürze verbarg, sodass ich kaum atmen konnte. Sie nannte mich munequito, ihr Püppchen. Ich weiß nicht mehr, ob sie selbst Kinder hatte. Schon möglich, aber ich glaube, sie lebten in Mayari. Annie lebte bei uns. Hier in Tampa bin ich einmal in einem Taxi gefahren, dessen Fahrer ein schwarzer Karibe war, und in seinem Wagen roch es nach Annie.

Nach zwei Dritteln hängt der Roman ein wenig durch. Zu viel ist schon gesagt, die Rebellion hat sich mit den Zuckerrohr-Bränden ins Spiel gebracht, ihr Sieg ist gewiss, lässt sich aber Zeit. Für Rachel Kushner ist das Politische wichtig, wo es sich in den Personen und ihren Lebensarrangements niederschlägt, also vor allem in den Familien der United-Fruit-Hierarchen. Die Wertung ist in der Art der Beschreibung verborgen. Am Schluss steht die Rück-Flucht in die bornierten Nichtigkeiten der USA, die mit Figuren ihresgleichen gesättigt ist. Die Sprache ist filmisch-lebendig, eingesprenkelt sind neben recherchierten Fakten der Zeitgeschichte auch Bildungsschnipsel. Man muss sich einlesen. Die Handlung kreist, nähert sich der Revolución von verschiedenen Seiten langsam an, endet in einem Blick in die Erzählgegenwart: Was wurde aus wem? Kushner führt uns „in diesem multiperspektivisch aus Expatriate-Sicht erzählten Roman die Verlorenheit einer ganzen Generation von mehr oder weniger liebenswürdigen Vorarbeitern des Kapitalismus vor Augen, eine Heimatlosigkeit zwischen den Welten, die die ebenso naiv wie dekadent wirkenden Beteiligten selbst überrascht“ (Oliver Jungen, FAZ).

2008         460 Seiten

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Puenzo
16. Januar 2011, 16:20
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Lucía Puenzo: Das Fischkind

Lala ist das Mädchen aus der Oberstadt, sie verliebt sich in das paraguayische Dienstmädchen Lin, genannt die „Guayi“; weil Lalas Vater sich auch über die Guayi hermacht, bringt Lala ihn so nebenbei um, die Mädchen fliehen aus dem Reichen-Ghetto zu dem sagenhaften Ypacaraí-See, die Guayi wird geschnappt und kommt in den Jugendknast, weil man die Tat ihr zuschreibt. In einem furiosen Showdown befreit Lala ihre Freundin und sie machen sich auf den Weg in die Sonne. Oder ins Wasser, denn „so kann Lala auch ‚Guayis’ Kind nahe sein, das dort vor Jahren zur Welt kam und, fürs Leben unter den Menschen zu zerbrechlich, nun verirrte Schwimmer auf den Seegrund lockt. Denn nach der Geburt verwandelte es sich in ein Wasserwesen – in „Das Fischkind“, das diesem rasanten, rebellischen Romandebüt den Titel gibt.“ (Florian Borchmeyer, FAZ) Das “Fischkind” ist kein magisches Wesen, sondern eine Umschreibung für einen Kindsmord.

Erzählt wird das alles von Serafín, Lalas Findelhund, hässlich, zerzaust, geil, ein steter Adabei mit erprobtem Riecher. Ich habe diese außergewöhnliche Erzählperspektive immer wieder vergessen und war überrascht, wie menschlich doch der Hund sein kann. Jedenfalls sorgt er dafür, dass der Roman nicht zu sehr abhebt.

Als „sensibel und brutal“ bezeichnet Leonie Meyer-Krentler den Roman in der ZEIT. Ich bin auf den Titel gestoßen über Beate Rothmaiers „Fischvogel“; beide Mädchen fliehen, Rothmaiers Mika in die tiefsinnigen deutschen Wälder, Puenzos Lala in die Härte des Lebens außerhalb des heuchlerischen Elternhauses.

2004     150 Seiten

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Vargas Llosa
29. Oktober 2010, 14:36
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Mario Vargas Llosa:
Tante Julia und der Kunstschreiber

Wieder einmal: Es gibt den Literatur-Nobelpreis und man hat den Autor nicht im Regal. „Tante Julia“ ist Vargas Llosas „wohl beliebtester Roman“, heißt es im Klappentext, außerdem schaut Tante Julia so verschmitzt aus dem Cover. Also les’ ich dieses Buch – oder fang mit diesem an.

Daniel Kehlmann fasst den Inhalt zusammen: Autor Vargas Llosa verschränkt hier zwei Geschichten. Erstens seine eigene: Der siebzehnjährige Mario Vargas, Mitarbeiter des peruanischen Radios, hat eine Affäre mit einer Cousine seiner Mutter und heiratet sie schließlich gegen den Widerstand der Familie. Zweitens die Geschichte von Marios Freund Pedro Camacho, einem zwergenwüchsigen Schreiberling, der manisch in seinem winzigen Büro im Radiosender Soap-Operas verfasst. Der Roman wechselt ab zwischen Kapiteln über Marios Liebesverwirrung und den von Pedro verfassten Serienfolgen: kitschige Liebesgeschichten, Arztromane, schwülstige Krimis – alles, was dazugehört. Doch Pedro ist seelisch instabil, und allmählich entgleitet ihm alles: Serien, die nichts miteinander zu tun haben, laufen ineinander, totgeschriebene Figuren tauchen wieder auf, Katastrophen häufen sich, bis der Wahnsinn so eklatant wird, dass Pedro aufhören muss und in die Nervenheilanstalt kommt.

50er Jahre. Dass Vargas Llosas Biographie Material liefert, ist nicht so wichtig, erhöht aber doch ein bisschen den Reiz. Denn es ist schon reichlich skurril, was der Erzähler und Tante Julia unternehmen, um zusammenkommen zu können, meint hier auch, das Verhältnis zu legalisieren, also zu heiraten. Im letzten Kapitel erfährt man auch, dass die Beziehung länger gehalten hat, als erwartet. Der Aufwand hat sich also gelohnt. Dass die Zwischengeschichten die Radio-Novelas sind, hab ich erst so nach und nach mitgekriegt. Es sind bessere und weniger geistreiche dabei, sie sind Kapitel für sich, die leider kein Ende haben und kommen mehr und mehr doch übers Kreuz. In allen wird gesoffen, geschossen, alle laufen aus dem Ruder, wie das so sein wird in Peru und der Arten, vom Leben zum Tod zu kommen, sind gar viele.

Es hatte sich in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts zugetra­gen, als Tingo Maria kaum ein Kreuz auf der Landkarte war, eine Lichtung mit Hütten, die vom dichten Dschungel umgeben waren. Gelegentlich kamen nach unendlichen Strapazen Aben­teurer bis hierher, die das Häusermeer mit der Absicht verlassen hatten, den Urwald zu erobern. So kam auch der Ingenieur Hildebrando Tellez in diese Gegend, mit seiner jungen Frau (in deren Adern, wie ihr Name Mayte und ihr Nachname Unzäte­gui andeuten, das blaue Blut der Basken floß) und dem kleinen Sohn Federico. Der Ingenieur träumte von grandiosen Projek­ten. Er wollte Bäume fällen und Edelhölzer für den Wohnungs­und Möbelbau der Wohlhabenden exportieren, Ananas, Avo­cado, Melone, Guanäbana und Lücuma anbauen für die raffi­nierten Gaumen der Welt und mit der Zeit einen Schiffsverkehr über die Flüsse des Amazonas einrichten. Aber Götter und Menschen machten Asche aus seinem Feuer. Naturkatastro­phen – Regen, Plagen, Überschwemmungen – und die mensch­lichen Unzulänglichkeiten – Arbeitskräftemangel, Faulheit und Dummheit bei denen, die arbeiten konnten, Alkohol, Geldman­gel – liquidierten nacheinander die Träume des Pioniers, der zwei Jahre nach seiner Ankunft in Tingo Maria seinen Lebens­unterhalt bescheiden mit dem Anbau von Süßkartoffeln fluß­aufwärts am Pendencia verdiente. Dort, in einer Hütte aus Palmenstämmen, fraßen in einer warmen Nacht die Ratten die neugeborene Maria Tellez Unzätegui in ihrer Wiege ohne Mos­kitonetz bei lebendigem Leibe auf.
Das geschah auf einfache und fürchterliche Weise.

Vergnüglich, voller Einfälle, dabei auch ein bisschen länglich.

1977          390 Seiten (Tabu)

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