Nachrichten vom Höllenhund


Zeh
31. Juli 2021, 16:20
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Juli Zeh: Über Menschen

Dora. 36. Erfolgreich in der Werbebranche. Ihr Leben mit Robert in Berlin-Kreuzberg empfindet sie „als quasi perfekt. „Es gab nichts, was sie ändern wollte.“ „Alles ist gut, bis Dora eine „Mehrwegflasche in den Restmüll warf. Als es ihr auffiel, empfand sie ein seltsames Gefühl von Befreiung. Es fühlte sich so gut an, dass sie es wieder tat.“ Bis sich Robert als Gutmensch in Sachen Umweltrettung radikalisierte und dann vom „Klimaaktivisten zum Epidemiologen konvertierte“. „Man rief das Ende der guten alten Zeit aus. Nie wieder würde das Leben ein, wie es gewesen war. Virologen wurden zu Medienstars. Zeitungen fragten Prominente, wofür sie beteten. Das große Mitmachen wurde übermächtig. Als Robert sagte, dass das Virus in gewisser Weise auch ein Segen sei, weil es den Planeten von der Mobilität befreie, wusste Dora, dass sie gehen würde.“

Dora ist eine Frau, die die Verhältnisse reflektiert, ihre Wirkmacht durchschaut und dann auch Konsequenzen zieht. Das hat sie von ihrer Autorin Juli Zeh. Es geht um den „Kreislauf der Projekte, das Lebensrad des modernen Großstadtmenschen“.

Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt. Es gibt kein Ankommen. Streng genommen gibt es nicht mal ein Weiterkommen. Es gibt nur Kreisbahnen, auf denen sich alle bewegen, weil sie Angst vor dem Stillstand haben. Inzwischen hat fast jeder heimlich verstanden, dass das sinnlos ist. Auch wenn man ungern darüber spricht. Dora sieht es in den Augen ihrer Kollegen, im tief verunsicherten Blick. Nur Neueinsteiger glauben noch, man könne »es« schaffen. Dabei ist »es« unschaffbar, weil »es« die Gesamtheit aller denkbaren Projekte darstellt und weil in Wahrheit nicht das Eintreffen, sondern das Ausbleiben des nächsten Projekts die größte anzunehmende Katastrophe wäre. Die Schaffbarkeit von »es« ist die Grundlüge der modernen Lebens- und Arbeitswelt. Ein kollektiver Selbstbetrug, inzwischen lautlos zerplatzt.

Aber irgendwann kam Dora „nicht mehr mit, und die Idee vom Landhaus hat dem Nicht-mehr-Mitkommen ein Gehäuse gegeben. Das war letzten Herbst, und jetzt steht sie hier, inmitten ihrer Brackener Brache, und bekommt es mit der Angst zu tun. Der Kreislauf der Projekte könnte außer Kontrolle geraten. Der Anblick des Flurstücks macht das klar. Das Flurstück ist ihr nächstes verdammtes Projekt, und vielleicht ist es dieses Mal eine Nummer zu groß.“

Die Stadt entfernt sich immer weiter, gerät aus dem Blick, der Roman geht weg von der Karikatur der ‚Gutmenschen“ zu der Biederkeit der Dorfbewohner. Juli Zeh schildert akribisch Doras Tagesrhythmus im brandenburgischen Bracken (!) Körperarbeit.

Weitermachen. Nicht nachdenken.

  Dora rammt den Spaten in den Boden, zieht ihn wieder heraus, durchtrennt mit einem Hieb eine hartnäckige Wurzel und wendet das nächste Stück sandiger Erde. Dann wirft sie ihr Werkzeug beiseite und presst die Hände ins Kreuz. Rückenschmerzen. Mit — sie muss kurz rechnen — 36 Jahre. Seit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss sie immer nachrechnen, wenn es um ihr Alter geht.

  Nicht nachdenken. Weitermachen. Der schmale Streifen umgegrabener Erde taugt noch lange nicht zum Erfolgserlebnis. Wenn sie sich umsieht, wird das Gefühl existenzieller Chancenlosigkeit übermächtig. Das Grundstück ist viel zu groß. Es sieht nicht aus wie etwas, das »Garten« heißen könnte. Ein Garten ist ein Stück Rasen, auf dem ein Würfelhaus steht. Wie in dem Münsteraner Vorort, in dem Dora aufgewachsen ist. Oder vielleicht auch eine Miniaturblumenwiese auf einer Baumscheibe in Berlin-Kreuzberg, wo Dora zuletzt gewohnt hat. Der „Clash of Civilizations … zwischen Berlin und Bracken“.

Bracken heißt auch: Natur. Aber Dora hat nicht die die Selbstverständlichkeit erworben, in ihr und mit ihr zu leben. Es geht nichts ohne die Kontrolle der Gedanken. Das „Nicht nachdenken. Weitermachen.“ ist – hilflos verzweifelter – Teil der Selbstkontrolle.

Um sie herum tut der Frühling, was er muss. Zwingt jeden biologischen Organismus zu Wachstum und Fülle. Peitscht das Leben zu Höchstleistungen, nötigt alle Beteiligten zur Reproduktion. Nichts wird beurteilt, alles wird benutzt. Was stirbt, lässt sich verwerten. Verschwindet eine Art, füllt eine neue die Lücke. Tod und Geburt sind keine Dramen, sondern Scharniere der Lebensmechanik. Menschliche Aufregung spielt keine Rolle. Niemandem kann es gleichgültiger sein als einer Tannenmeise, ob die Menschheit zugrunde geht oder nicht. Außer den Virenstämmen braucht uns keiner, denkt Dora. Weil das ein trauriger Gedanke ist, verdrängt sie ihn wieder.   

In Bracken leben nicht viele Menschen. Juli Zeh hat sie weiter reduziert auf die unmittelbare Nachbarschaft zu Doras „Flurstück“. Der erste Nachbar haust direkt hinter der Gartenmauer, ein nicht nur körperlich verwahrloster Hüne, er stellt sich derb  vor als „ich bin hier der Dorf-Nazi“. Er hat eine verschwommene Jugend als Rostock-Rüpel, war der Messerstecherei angeklagt, säuft einmal abends mit zwei Kumpels unter Absingen von Nazi-Liedgut. Aber er hat sich zurückgezogen, isoliert hinter der Mauer. Nur kurz flammt die Auseinandersetzung auf, auch über die AfD, das Buch ist auf der Höhe der Zeit. doch dann wird Gote (von Gottfried!) für Dora zum Menschen. „Aber so einer ist Gote doch nicht. Er ist einer, der Betten und Stühle verschenkt.“ Der Roman verliert seine politische Brisanz und wird zum Heimatroman, zum Buch „Über Menschen“, Nazi hin oder her. Aus dem Zeitroman wird die Gartenzaun-Romanze. Die Dorfbewohner bilden eine erwartungslose Gemeinschaft, anstatt wie die Großstädter über die besten Espressomaschinen zu streiten (Julis Karikatur-Challenge mit Sahra!), bringt Zadie Saatkartoffeln, statt sich an nachhaltige Speiseregeln zu halten, sabbert Dora über die „Fleischlappen“ (Distanz!), die Gote grillt: „Die Steaks sind phantastisch, besser als alles, was Dora in letzter Zeit gekocht hat, wahrscheinlich sogar besser als das meiste, was man in Berliner Restaurants   bekommt.“

»Schon komisch,  oder?«   »Was?«, fragt Dora.    »Wir«, sagt Gote.

Vor dem Schlafengehen geht Dora ein letztes Mal zur Mauer und pfeift. Dann kommt Gote, steigt auf die Obstkiste, und sie rauchen gemeinsam, wobei sie schweigen.

Vervollkommnet wird das Glück durch Franzi, die kleine Tochter, die ihre Mutter bei Gote abgegeben hat und der er nur ein unterfürsorglicher Vater ist, und die Freundschaft geschlossen hat mit Jochen, der beigen kleinen Hündin von Dora. Unermüdlich balgen die beiden durch Haus, Garten und Wald. Gote stirbt. Er hat eine Wolfsfigurengruppe geschnitzt und dazu eine kleine Holz-Jochen.

Das ist doch genau das, was du wolltest. Du wolltest alles loswerden. Familie. Beziehungen. Verantwortung.  Nähe. Den ganzen Nervkram. Berlin.  Robert. Die Agentur. Corona. Axel und die Anekdoten aus dem Heldenleben eines Familienvaters. Freunde, Bekannte. Die Überfüllung, das Geplapper, die Bildschirme, die Geschwindigkeit und Aufgeregtheit. Den Alarmismus der Medien. Die Arroganz der Metropole. Parks mit Leinenzwang. CarSharing, Fahrrad-Sharing und Roller-Sharing. Kribbelnde Bläschen und Schlaflosigkeit. Den ganzen Scheiß. Du wolltest auch keinen Nazi hinter der Mauer und keine nervige Pflegetochter. Du wolltest das Nichts. Das hast du jetzt. Freu dich doch.

Das ist es also, was bleibt. Das ist das Ergebnis der großen Befreiung: ein trauriger kleiner Hund.

Jochen liegt auch auf dem Cover, Symbol für Treue. Für Menschlichkeit. Sie liegt mitten auf der Straße, in Brandenburg ist das gefahrlos. Die Ohren sind dreieckig wie Gotes Schnitzsignatur. Sie guckt in die Ferne, der Sonne entgegen – oder dem „Regen“, so heißt das letzte Kapitel.

Juli Zeh arbeitet präzise. Sie lässt Dora denken (später auch nachdenken), zweifeln, widersprechen, sie streut Natur ein, später auch Träume. Nicht zuletzt auch Humor: „Unabgeschlossen an einem Bahnhof zu stehen und nicht gestohlen zu werden, muss für ein Fahrrad ziemlich hart sein.“ Gefühle will Dora unter Kontrolle behalten. „Doras Nacken beginnt zu kribbeln. Das sind keine aufsteigenden Bläschen, das ist echte Angst.“ Ein durchkomponierter und -kontrollierter Roman, der geplant aus dem Ruder läuft. Ein Roman über Lifestyle, über Corona, über Neonazis, ein Roman ÜBER LIEBE.

Zwischendurch hat Dora viel nachgedacht. Zum Beispiel über Liebe. Sie hat immer geglaubt, dass das, was Filme und Romane   »Liebe« nennen, in Wahrheit nicht existiert. O der jedenfalls nicht in der beschriebenen Form. Für sie gab es das nicht: Menschen, die sich begegnen und sofort wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Die für immer zusammenbleiben.

2021 – 410 Seiten

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