Anna Yeliz Schentke: Kangal

Koyun gibi. Ayla kann es sich leisten, ein Schaf zu sein. Wenn ich ihr erzähle, weswegen ich hier bin, wird ihr Bild von der Türkei, nach der sie sich sehnt, zerstört sein.
»Ich bin in Deutschland, weil ich sonst im Gefängnis säße.«
Ayla lächelt nicht mehr.
»Was hast du gemacht?«
Hier hat alles seine Ordnung. Ins Gefängnis gehören nur die, die eine Gefahr für andere sind. Ein Bürgersteig hat einen Bordstein, die Wege sind sauber, die Gärten sind gepflegt. Du kannst hier nicht einfach über Nacht ein Haus bauen und dann darin wohnen. Du brauchst eine Genehmigung. In diesem RegelDeutschland können sich die Menschen nicht vorstellen, dass alles außer Kraft gesetzt wird. Notstände kennen sie nur noch aus Geschichtsbüchern oder aus dem Fernsehen. Wenn sich unsere Mütter nicht zerstritten hätten, dann müsste ich Ayla jetzt nicht alles erklären, weil sie gesehen hätte, wie wir uns verändern mussten.
»Vor fünf Jahren gab es den Versuch, die Regierung zu stürzen. Du hast sicher Bilder davon im Fernsehen gesehen, auf der Brücke.«
Im Juli 2016 versuchten Teile der türkischen Militärs die Staatsführung zu stürzen. Der erfolglose Putsch hatte rigide Reaktionen der Regierung zur Folge. Überprüfung und Inhaftierung von Zehntausenden von Menschen, Verhängung des Ausnahmezustands, rücksichtslose Erklärung von Opponenten zu Terroristen. Viele der Maßnahmen dauern bis heute an.
Die Studentin Dilek (= Wunsch, Bitte, Begehren) betreibt ein Blog mit dem Codenamen „Kangal11012“ Kangal ist ein türkischer Hirtenhund, der als gefährlich eingestuft wird. Trotz ihrer Verbindung mit Tekin flüchtete sich Dilek nach Deutschland, um erwartbaren willkürlichen Repressalien zu entgehen.
In Frankfurt hängen Dileks Gedanken und Sorgen immer in der Türkei, ihren oppositionellen Freunden dort, an Tekin natürlich. Überlagert wird alles von ihrer ungewissen Situation. Was geschieht in der Türkei? Könnte sie dahin zurückkehren, wird Tekin nachkommen? Ist sie auch in Deutschland in Gefahr, eventuell, weil sie ihr Kangal-Blog verrät, obwohl sie diesen inzwischen gelöscht hat? Dilek weiß, dass die Türken, die in Deutschland leben, zu überwiegenden Teilen Erdoğan, (Ismi Lazim Degil, „der, der keinen Namen braucht“) gewählt haben. „Von Deutschland aus wählen sie die Parteien, die mein Land zu einem gemacht haben, in dem man nicht mehr bleiben kann.“ Tekin ist weit weg, Dilek hat als Gesprächspartnerin ihre Cousine Ayla, mit der sie in Frankfurt in einer Wohnung lebt. Was ihr Halt, Trost geben soll, treibt die beiden auseinander.
Ayla: „Weil vielleicht hat Melek schon ein bisschen recht, denke ich, und Dilek macht sich viel mehr Sorgen, als sie müsste.“
Die Gespräche, durchsetzt mit den dazugehörigen Gedanken und Emotionen, verteilt Anna Yeliz Schentke auf ein- bis zweiseitige Kapitel, immer in wechselnden Perspektiven. Auch die Partner, die Unterhaltungen geben keine Sicherheit, keine(r) kann Dileks Sorgen ganz verstehen. „Kangal“ unterscheidet sich von anderen Romanen über junge Türkinnen in Deutschland, da Schentke nicht den Clash der Zivilisationen in den Mittelpunkt stellt, die Traditionen der Familie, sondern eine Studentin, die politisch verfolgt wird bzw. sich verfolgt fühlt. Dennoch ist „Kangal“ keine politische Analyse, weder der Zustände in der Türkei noch derer in Deutschland. Es geht mehr um das subjektive Erleben und Fühlen. „Die Genauigkeit, mit der ihre Figuren auf deutsche und türkische Verhältnisse schauen, ist verblüffend“, schreibt Christoph Schröder in der ZEIT. Doch für Genauigkeit haben die Figuren nicht den Überblick oder Schröder ist von den „Verhältnissen“ überrascht.
Wenn einem das Gesicht heiß wird und die Traurigkeit den Hals hochklettert, schnell an etwas anderes denken. Mit allem, was man hat. Das ist die Gewalt, die ich mir antun muss, um weitergehen zu können, und in Deutschland habe ich das perfektioniert. So lange an etwas anderes denken, bis ich dort angekommen bin, wo ich atmen kann.
Der Roman bleibt hängen, nachdem Dileks Problem erklärt ist. Die Verhältnisse ändern sich nicht weiter, die persönlichen Risiken und Möglichkeiten werden hin und her gewälzt, man will sich gegen potenzielle Mithörer absichern, hegt Verdachte gegen Bekannte, wird hysterisch beim Gebrauch von Telefonen oder E-mails. „Mit Ayla und Melek am Tisch in einer vollen Kneipe werde ich das Smartphone nicht aus der Tasche holen.“ Verzweifelte Gespräche mit Müttern, Anwälten, Freunden. Es kann kein beständiges Ergebnis eintreten, solange sich die politische Situation in der Türkei nicht stabilisiert, zur Demokratie zurückfindet.
Unter dem Betonpavillon auf der Anlage sitzt Ayla im Schutz vor dem Regen. Sie kam gestern nicht nach Hause, ich lag auf meinem Bett, als sie sich meldete: »Können wir reden?«
Natürlich können wir, weil sie Ayla ist oder weil sonst niemand mehr geblieben ist, mit dem Reden geht. Und vielleicht weil sie der letzte Grund ist, warum ich noch hier bin.
»Warst du heute Nacht bei Melek?«
Ayla schüttelt den Kopf. »Ich habe mit Anne gesprochen.«
»Über mich?«
In meinem Kragen hat sich Regen gesammelt, er tropft mir in den Nacken.
»Sie sagt, du sollst zu uns nach Hause kommen, sie hat eine Anwältin für dich.«
Was für eine Anwältin? Ich habe Sinem. Selbst alle Sinems der Welt können mir nicht helfen, Sinems kommen in den Knast wie andere Leute auch, und eine Anwältin aus Deutschland weiß nicht mehr als ich. Eine Anwältin aus Deutschland, für was?
»Du solltest ihr nicht von mir erzählen.«
Aber Ayla ist eine, die sich nicht selbst glauben kann, dazu wurde sie erzogen. In der Türkei droht das Gefängnis, hier der Gedanke daran. In der Türkei ist es fast Zufall, ob es passiert. Hier bin ich verantwortlich.
»Sie will dir helfen. Warum nimmst du es nicht an?«
Anne heißt Mutter. Koyuk ist das Schaf.
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren. „Kangal“ steht 2022 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.
2022 – 205 Seiten

Literaturforum im Brecht-Haus: Lesung, Gespräch, Buchpremiere Anna Yeliz Schentke »Kangal«
Moderation: Mascha Jacobs (1:25)
Hörprobe auf der Seite des Deutschen Buchpreises
Sasha Marianna Salzmann:
Im Menschen muss alles herrlich sein

»Die Leute schlossen die Augen,
um sich in eine Vergangenheit zurück-
zudenken und darüber so lange
Unwahrheiten zu erzählen, bis sie
stimmten. Immer und immer wieder.
Alle hatten sich auf eine Welt geeinigt,
die draußen nicht mehr stattfand,
und hoben darauf die Gläser.«
Ein schönes Zitat. Im Roman von Sasha Marianna Salzmann findet man es abgedruckt auf der Rückseite des Umschlags. Es ist aber eine Beobachtung, die immer passt, nicht nur in „Umbruchzeiten“, nicht nur, „wenn politische Systeme zerfallen“. In die „Vergangenheit“ geht es immer nur zurück und wenn man sie so sehen will, wie man meint, dass sie war, schließt man die Augen, denn das Denken ist nie „wahr“, die Vergangenheit gibt es nicht, es ist immer eine. Oft in eine Zeit, als man jung war und die Wege offen schienen.
Das Zitat grenzt sich ab, will die Kontrolle und Unabhängigkeit bewahren gegenüber den ‚Autofiktionen‘. „Die Leute“, das sind die anderen, und zwar „alle“. Im Roman ist es Edita, die nichts mit solchen „Unwahrheiten“ zu tun haben will, nichts mit einer Heimat oder Herkunft, die man sich schön säuft, nichts mit diesen Vorfahren. Edita nennt sich „Edi“, sie sucht ihre Identität in der Distanz, in bunten Haaren, im Joint. Edi-ta ist die Tochter von Lena.
Von dieser Lena erzählt Sasha Marianna Salzmann zunächst „detailsatt“ (Wolfgang Schneider, Tagesspiegel). Das Leben in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunziger Jahren, letztere als Zeitalter des „Fleischwolfs“ betitelt. Sie durchläuft die üblichen Stationen für ein Kind in der Sowjetunion, deren Teil damals die Ukraine noch war.
„Auf allen Fotos der Einschulungszeremonie schaute Lena grimmig. Hunderte von Schülerinnen standen auf der Treppe der Schule in Reihen und hielten sich aneinander fest, sie lächelten ihren Eltern zu, ohne die Hand des Nachbarkindes loszulassen und zu winken. (…) Lena fühlte sich taub vor Scham und beschloss, in den kommenden zehn Jahren, die sie auf diese Schule gehen würde, nie wieder den Mund aufzumachen. Nie wieder. (…)
Obwohl Lena in der Schule oft genug »Wir sind aktive Dinger / Denn wir sind Oktoberkinder / Oktoberkind, vergiss nicht — / Bald bist du Pionier!« mit den anderen aus der Klasse anstimmen musste, war für sie Pionier eigentlich nur der Name des Fotoapparats, den ihre Eltern zu Hause oben auf dem Schrank aufbewahrten und den sie bis jetzt nur zu ihrer Einschulung herausgeholt hatten. Sie verstand die Tragweite des Übergangs vom Oktoberkind zum Pionier erst, als ihre Mutter zu Beginn der dritten Klasse verkündete, dass sie ab dem nächsten Sommer in ein Lager fahren werde, wo sie in der Natur herumtoben könne und gleichzeitig lernen werde, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs.“
Der Pfad zum Eingang des Pionierlagers ist die „Allee der Helden“. Die Prüfungen besteht Lena schließlich auf die obligatorische Art. „Ein Mädchen aus Sotschi fährt nach Moskau, in die Hauptstadt, und will eine große Wissenschaftlerin werden, wichtige medizinische Entdeckungen machen. Das wollte ich tatsächlich, glaube ich. Die Professoren müssen sich totgelacht haben über mich, als ich komplett ohne Bares zur Prüfung angetreten bin, einfach so.“ Sie wird nicht für ihr bevorzugtes Fach Neurologie zugelassen, landet in der Dermatologie, wo aber eh mehr Geld zu verdienen ist – dank älterer Männer mit verschwiegenen Leiden. Auch die Familienplanung ist von Formalien bestimmt, welche aber maßgeblich von der Familie auferlegt werden. Ein Tschetschene erweist sich als patent, ist aber nicht für die Heirat zu haben, es springt Daniel ein, aus jüdischer Familie, er drängt zur Ausreise. In Deutschland ist die Ärztin Lena Krankenschwester. Die Vergangenheit ist eingelegt, die Zukunft? Ungewiss.
Sasha Marianna Salzmann wendet den Blick auf Edi.
Ich war damals jung, kräftig, dünn und ohne bestimmtes Geschlecht — lauter Vorteile beim Pilgern. So zog ich los … Das waren nicht ihre Gedanken. Aber wessen dann? Der Name der Autorin war ihr im Halbschlaf weggerutscht. Und wohin würde sie pilgern, wenn sie könnte? Allein würde sie das ohnehin nicht wollen, selbst die Frau aus dem Buch, deren Zeilen sie beim Aufwachen wie einen Ohrwurm im Kopf hatte, war mit einem Typen losgezogen, auch wenn sie ihn kaum kannte und ihm erst mal einen neuen Namen gab. Edi schaute aufs Handy, das neben ihr auf dem Kissen lag, sprang auf und lief zum Schrank. »Du hast doch ein Date.« Leeza schnipste den Stummel weg und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, als wäre sie jetzt zu irgendetwas Waghalsigem bereit.
»Merkt man mir das an?« Edi überkam die Angst, dass ihre Stirn glühte, das tat sie meistens, wenn sie aufgeregt war, sie zog das Xanax-Cap tiefer ins Gesicht.
»Immer wenn du so aussiehst, als wüsstest du nicht, wie man Kleidungsstücke kombiniert, weiß ich, da drin wartet jemand auf dich.« Der weiche Flaum auf Leezas Oberlippe kitzelte Edis Wange, als sie ihr einen Kuss gab, dieses Mal näher am Mundwinkel. »Viel Vergnügen!«
Edi hat keine Vergangenheit. Sie weiß nicht mal sicher, wer ihr Vater ist. Edis Zukunft ist die Gegenwart, die Suche nach einem Ich, die Selbst-Findung. Sie hat nicht die Welt der Vorfahren, eine Welt [], „die draußen nicht mehr stattfand“. Es gibt nicht den Zusammenhalt der Familie, keine Großmutter, in die man sich wickeln könnte, im Angebot sind vereinzelnde Drogen, bunte Haare als Alleinstellungsmerkmal, das alle haben, die „Xarax-Cap“, die ungezwungene Partnersuche, wenn man die Augen nicht schließen will, sieht man zu viel. Was davon ist die Wahrheit? Immer wieder aufspringen und weglaufen.
Die für sie zuständige Kollegin hatte es noch drastischer formuliert, als sie ihr den Text zurückgegeben hatte. Edi solle sich nicht einbilden, dass die Welt um sie herum verschwinde, wenn sie die Augen schließe — sie wäre dann noch da. Sie drehe sich wunderbar auch ohne Edi und all die anderen, die glaubten, ihre Recherchefaulheit damit kaschieren zu können, dass sie behaupteten, Konstruktivisten zu sein, weil sie den Begriff schon mal gegoogelt hatten. Das hier sei schließlich kein Lifestyle-Magazin und auch kein Blog, für den sie ab und zu was tippe. »Im Politikressort gibt es kein Ich! Hier passieren wirkliche Dinge, und wir berichten darüber. Man bildet euch aus, gibt euch eine Chance, und dann hört man am Ende trotzdem nur ich, ich, ich, ich, ich! Ich kann es nicht mehr hören, diese Ich-Sucht!« Da war Edi schon auf den Gang hinausgestolpert.
Sasha Marianna Salzmann führt eine weitere Person ein: Tatjana, eine Freundin von Lena, und mit ihr geht der Weg nach 250 Seiten wieder zurück in die Ukraine. Erneut schlingert eine Frau in der Ukraine um die Steine, die im Weg liegen. Im Restaurant, wo Tatjana bedient, bricht eine Schlägerei aus, Tatjana flieht nach Kriwoi Rog und arbeitet in einem Spirituosen-Kiosk, bis dort Michael auftaucht, der sie mit nach Deutschland nimmt, dann aber verschwindet. Edi trifft Tatjana wieder auf der Fahrt nach Jena zu Lenas fünfzigstem Geburtstag. Gelegenheit, sich über ihr Leben und ihre Abgründe zu erzählen. Für die älteren Frauen liegen diese Abstürze im Ver- und Zerfall der Sowjetunion, von dem sie sich auch in Deutschland nicht erholen können. „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“ Edi und Tatjanas Tochter Nina haben wenig gemein außer ihrer Herkunft, beide aber stemmen sich gegen eine „unwahre“ Vergangenheit. Nina „hat mir ausrichten lassen, dass sie von uns allen nichts wissen will.“
Vier Frauen, die unterschiedlichen Anteil am Erleben, am Geschehen, an den Lebensräumen, am Roman haben. Lena ist die Zentralperson des ersten Teils, Tatjanas Beziehung zu Lena wird nicht erzählerisch motiviert. Edi ist in ihrer Rolle als Tochter beschrieben, aus der sie fliehen will, sie kriegt – ebenso wie Nina – eine „Ich“-Stimme, während sonst die Handlung in der dritten Person erzählt wird. Nina und Edi sollten ein Gegengewicht zur überlebten Vergangenheit und zu deren abgestorbenem Staat sein, eine teils aggressive, teils fast autistische Kontroll- und Kommentarinstanz. Die Aussagen sind scharf: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch. Sonst kann man wenig mit Sicherheit sagen. Ich habe mir Filme, selbstgedrehte Videos, alles, was ich kriegen konnte, angeschaut, um zu begreifen, was ihnen alles passiert sein könnte und in welches Paralleluniversum die Zentrifugalkraft der Geschichte sie hinausgeschleudert hat.“ Die Romananteile der Jungen sind aber zu gering. Sasha Marianna Salzmann plant, alle vier Frauen zu Lenas 50. Geburtstag in Jena zu versammeln, doch das Treffen misslingt. Auch das eine Botschaft des Romans, vielleicht die Botschaft. Die „Herrlichkeit“ als Utopie zerstiebt angesichts des Elends – nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der prekären Gegenwart in Deutschland. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“
„Im Menschen muss alles herrlich sein“ hat in seiner Komposition einige Tücken. Interessant ist die Erzählung von Lenas Hineinwachsen in die sowjetische Gesellschaft und raffiniert sind die vielen Detailbeobachtungen und Sprachbilder aus dem anstrengenden und noch ausweglosen Denken der jungen Frauen. Darin steckt wohl eine gehörige Portion von Sasha Marianna Salzmann.
2021 – 380 Seiten
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich (die aber bei diesem Roman wenig wegweisend ist)
Gespräch im Literaturclub des SRF – 0:15
Sasha Marianna Salzmann: Darkroom des Erzählens – Literaturforum im Brecht-Haus – 1:05
Homepage von Sasha Marinna Salzmann
Leïla Slimani:
Das Land der Anderen

Wovor hatte sie fliehen wollen, um so weit zu gehen?
1956 wurde Marokko unabhängig, nachdem nationalistische Rebellen sich vor allem auf französische Staatsbürger wie auch auf Marokkaner einschossen, die auf Seiten Frankreichs im Krieg gegen Deutschland gekämpft hatten. Amine Belhaj stammt aus Meknès und diente als Offizier in der französischen Armee. Er lernt Mathilde kennen, heiratet sie und nimmt sie vom Elsass in seine Heimat mit. Vom Konflikt der jungen, großen, lebenshungrigen Französin mit der traditionell patriarchalischen Kultur im Marokko der Unabhängigkeitsbewegungen der 50-er Jahre erzählt Leïla Slimani in „Das Land der Anderen“.
Mathilde hat sich das nicht so vorgestellt, dass ihr Leben auf Haus und Kinder reduziert werden soll, dass sie neben ihrem körperlich kleineren Mann, dessen Bruder Omar, der zum Unabhängigkeitskämpfer wird, und der Schwiegermutter zum Objekt, zum Inventar der kargen Farm abseits der Stadt bestimmt ist.
Als Heranwachsende hatte Mathilde niemals gedacht, dass es möglich wäre, ganz allein frei zu sein, es erschien ihr undenkbar, weil sie eine Frau war, weil sie keine Ausbildung hatte, dass ihr Schicksal nicht eng mit dem eines anderen verbunden wäre. Sie hatte ihren Irrtum viel zu spät erkannt, und jetzt, da sie es besser verstand und ein wenig mutiger war, war es unmöglich geworden zu gehen. Die Kinder ersetzten ihre Wurzeln, sie war wider Willen an dieses Land gefesselt. Ohne Geld konnte sie nirgends hingehen, und diese Abhängigkeit, diese Unterwerfung machten sie kaputt. Wie viele Jahre auch vergingen, sie konnte sich einfach nicht damit abfinden, und es war ihr immer zuwider, es war, als beuge sie sich und gebe sich geschlagen, wofür sie sich selbst verabscheute. Jedes Mal, wenn Amine ihr einen Geldschein zusteckte, wenn sie sich ein Stück Schokolade gönnte, aus Naschlust, nicht aus Notwendigkeit, fragte sie sich, ob sie es verdient hatte. Und sie fürchtete, dass sie eines Tages, als alte Frau auf diesem fremden Boden, nichts besitzen würde und nichts vollbracht hätte.
Nicht nur aus traditionalistischen Gründen, sondern um sie (und sich selbst) vor den immer aufgeheizteren Rebellen zu schützen, zwingt Amine seine Frau sogar, zum Islam zu konvertieren und einen arabischen Namen anzunehmen.
Der Adoul hob den Blick zu Mathilde. Er starrte sie ein paar Sekunden lang an, musterte ihr Gesicht, dann ihre Hände, die sie aneinandergepresst hatte. Schließlich hörte Aicha ihre Mutter auf Arabisch sagen: »Ich schwöre, dass es keinen anderen Gott außer Gott gibt und dass Mohammed sein Prophet ist.«
»Sehr gut«, erwiderte der Beamte, »und welchen Namen wirst du von nun an tragen?«
Das hatte Mathilde sich nicht überlegt. Amine hatte von der Notwendigkeit gesprochen, sich umzubenennen, einen muslimischen Namen anzunehmen, doch in den letzten Tagen war ihr Herz so schwer gewesen, ihr Geist mit so vielen Sorgen beschäftigt, dass sie nicht an ihren neuen Namen gedacht hatte.
»Mariam«, sagte sie endlich, und der Adoul wirkte sehr zufrieden mit dieser Wahl. »So sei es denn, Mariam. Willkommen in der Gemeinschaft des Islam.«
Aber auch Amine zollt Tribut für seine „Liebes“-Heirat. Er, dessen einziges Interesse dem Stück Land gilt, das er von seinem Vater geerbt hatte – „Er hatte Angst, dass er sterben und sein Versprechen, diesen Boden fruchtbar zu machen, nicht einhalten könnte.“ – fühlt sich immer stärker gedrängt, die Zuneigung zu seiner Frau mit national-traditionalistischen Gedanken zu verbrämen und damit selbst gewalttätig zu werden. „Ein paar Wochen zuvor hatte er einen Waffenschein beantragt. Er hatte gesagt, es sei zum Schutz seiner Familie, auf dem Land sei es gefährlich, man könne nur auf sich selbst zählen. Mathilde hielt sich die Hände vor die Augen. Das war das Einzige, was sie tun konnte. Das Einzige, was ihr einfiel. Sie wollte das nicht sehen, wollte den Tod nicht kommen sehen, von der Hand ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder. Dann dachte sie an ihre Tochter, an ihren kleinen Jungen, der seelenruhig schlief.“ Er war in Frankreich ein Held, zurück in Marokko gilt er als Verräter, steht wie Mathilde im „Land der Anderen“, falsch in der einen wie der anderen Welt.
Amine und Mathilde haben zwei Kinder, Tochter Aïcha und Sohn Selim, aber nur von dem Mädchen erzählt Leïla Slimani ausführlicher. Aïcha ist noch zu klein, um zu verstehen, wie sie zwischen diese Kulturen geraten ist und wie sie damit umgehen und leben kann. „Wir sind wie dein Baum – halb Zitrone, halb Orange – wir gehören zu keiner Seite.“ Ein „Zitrangenbaum“. Aïcha geht in eine christliche Schule in der Ville nouvelle, dem europäischen Viertel, das jede marokkanische Großstadt hat, sie hat helles krauses Haar, sie ist Klassenbeste. Sie ist eine in sich gekehrte Siebenjährige. „In ihrem unruhigen Schlaf hatten sie sich in eine Art Tier verwandelt, einen Einsiedlerkrebs, ein in seine Muschel verkrochenes Krustentier. Mathilde drückte ihre Tochter an sich, sie wollte sie verschwinden lassen und mit ihr vergehen. Schlaf, schlaf, mein Kind, das ist alles nur ein böser Traum.“
„Das Land der Anderen“ ist der erste Teil einer Familiengeschichte von Leïla Slimani, Mathilde hat als Modell ihre Großmutter. Die gemischt kulturelle Familie gerät in die Wirren der Geschichte und der Politik nach dem zweiten Weltkrieg und in die Zeit der Entkolonisierung des Maghreb. Leïla Slimani zeigt eindringlich, wie sich die Tumulte in die Partnerschaft, die Familien hineinfressen, bis hin zur Verstörung der Kinder. Manche Kapitel, die zunächst wie Abschweifungen erscheinen, etwa die Erzählungen um Amines Bruder Omar, gewinnen ihre Bedeutung in der Verfugung der Ebenen. Die Perspektive orientiert sich am Blick auf die Personen. Slimani erzählt meist sachlich, die Schrecken gewinnen damit an Intensität, auch durch Vergleiche. Im Klappentext steht: „Aber Mathilde gibt nicht auf. Sie kämpft um Anerkennung und ihr Leben im Land der Anderen.“ Aber so stimmt das nicht. Sie kämpft, doch sie sieht ein, dass sie keine Chance hat, vor allem der Kinder wegen. Der Folgeband mag das korrigieren.
„Das Land der Anderen“: ob die Anderen nun männlich, arabisch, französisch, muslimisch, nationalistisch sind – sie sind jene, die bestimmen, wie die große Geschichte erzählt werden soll, in der wir alle in irgendeiner Rolle vorkommen. Aber Geschichte kann neu erzählt werden, ruft Leila Slimani – und tut es. Dem Antagonismus zwischen „den einen“ und „den Anderen“ setzt sie eine Position des entschiedenen „Dazwischen“ entgegen. Erzählen wird bei ihr zu: neu bestimmen, was zur Geschichte gehört.“ (Judith Heitkamp, BR2)
Glaubte sie es wirklich? War sie zu so einer Frau geworden? Einer von denen, die die anderen drängten, vernünftig zu sein, zu verzichten, die die Achtbarkeit über das Glück stellten? >Letztendlich<, überlegte sie, >hätte ich nichts tun können.< Und sie sagte es sich immer und immer wieder, nicht um zu klagen, sondern um sich von ihrer Machtlosigkeit zu überzeugen und sich weniger schuldig zu fühlen.
2021 – 380Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich
Buchvorstellung bei ttt (ARD) – 6 Minuten
Gespräch und Lesung beim internationalen literaturfestival berlin – 1:15
Mona Ameziane:
Auf Basidis Dach.
Über Herkunft, Marokko und meine halbe Familie.

Basidi ist der Großvater. Nicht nur der Monas. Sondern die allgemeine Bezeichnung. Basidi hat ein Haus mit Dachterrasse in Fès, Marokko. Es gibt auch eine Großmutter, doch die sitzt dement auf dem Stuhl und sagt nichts mehr. Großmütter nennt man Lalla.
Als Basidi stirbt, will Monas Familie zur Beerdigung nach Marokko kommen, doch ihre Mutter, eine Deutsche, hat Probleme.
»Es tut mir leid, dass wir nicht früher hier sein konnten.« Mein Vater sah uns an, schwieg einen Moment zu lange und murmelte dann in Richtung seiner Teetasse, dass das eh nichts geändert hätte. Ich wurde wütend: »Natürlich hätte es was geändert! Ich bin deine Tochter und Mama ist deine Fr-«
»Frauen sind hier bei einer Beerdigung nicht erlaubt, Mona.«
Jetzt war ich diejenige, die schwieg. Das konnte er nicht ernst meinen. Ich starrte ihn prüfend an. Doch, er meinte es ernst, und diese Erkenntnis schlug ein wie ein zweiter Meteorit. Egal welchen Flieger ich erwischt hätte, egal wann ich hier gewesen wäre, ich hätte nicht bei Basidis Begräbnis dabei sein dürfen? Weil ich eine Frau war?
Mona Ameziane ist 1994 in Marl (NRW) geboren. Ihre Mutter ist Deutsche und hat bei einem Frankreich-Urlaub Monas Vater getroffen, einen als Architekt in Paris lebenden Marokkaner. Sie ist „im Ruhrgebiet aufgewachsen“ (Klappe) und arbeitet zur Zeit als Radiomoderatorin, sie spricht dreieinhalb Sprachen, ist deutsch sozialisiert.
Der wichtige Unterschied zwischen mir und Menschen wie meinem Vater ist jedoch, dass ich im Alltag nicht nur nicht unter meiner Herkunft leide, sondern im Gegenteil sogar beruflich von ihr profitiere. (…) Das Label »jung, weiblich, migrantisch« ist für viele Redaktionen eine Mischung, die mittlerweile in dreifacher Hinsicht interessant klingt. (…) Es ist also durchaus wünschenswert, dass ein*e Journalist*in interkulturelle Kompetenzen hat, dadurch einen breiteren Horizont mitbringt, vielleicht sogar noch eine weitere Sprache, aber bitte keine Grammatikfehler und erst recht keinen Gebetsteppich. Arabischer Name, deutsches Mindset, beste Kombi. Et voilà: C‘est moi.
Sie will ihre marokkanischen Wurzeln kennenlernen, ihre „halbe Familie“. Ihre Cousine erklärt ihr: „Warum findest du dich nicht einfach damit ab, dass du keine Marokkanerin bist? Du bist eine Deutsche mit etwas, das ich höchstens als marokkanische Würzung bezeichnen würde.“
Bis zu diesem Tag hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie Sterben im Islam funktioniert. Warum auch? Nur die wenigsten Kinder beschäftigen sich ohne konkreten Anlass freiwillig mit kulturellen Differenzen in Sachen Beerdigungsriten, und kaum ein Vater beginnt aus dem Nichts ein Gespräch mit den Worten: »So, meine liebe Tochter, jetzt klären wir mal ganz in Ruhe, was genau die Abläufe sein werden, wenn dein Großvater irgendwann tot ist.«
Im Islam gilt die Regel, dass eine verstorbene Person innerhalb von 24 Stunden beerdigt werden muss, was nicht viel Zeit ist, wenn man bedenkt, dass Basidi mitten in der Nacht gestorben und der nächste Flug aus Deutschland erst am Mittag gestartet war. (…)
Mein Vater goss sich einen Schluck Tee ein, kippte ihn wieder zurück in die Kanne und fuhr fort:
Diesmal musste ich, in diesem Zustand aus Schock und Erleichterung, an allen vorbei nach vorne und meinen Vater zusammen mit meinem Bruder ins Grab legen.«
»Im Sarg, oder?«, ergänzte meine Mutter.
»Nicht im Sarg«, korrigierte mein Vater.
»Nicht im Sarg?«, fragte ich.
»Nicht im Sarg«, wiederholte er und ergänzte: »Basidi war nackt in ein Tuch gewickelt, und wir mussten unsere Schuhe ausziehen.«
Mona Ameziane erzählt Anekdoten aus ihren Besuchen in Marokko, teils mit ihrem Vater, teils von ihrem Austauschschuljahr bei einer wohlhabenden Familie in Agadir. Im Mittelpunkt steht die Stadt, Fès, eine Fahrt zum abseits gelegenen Dorf im Rif-Gebirge wird wegen des unwilligen Fahrzeugs abgebrochen. Sie widmet sich den oft für sie fremdartigen Zeremonien, etwa des Einkaufens, des Taxifahrens, des Teetrinkens, informiert auch über den dafür nötigen Zuckerimport Marokkos, sie sinniert aber auch über grundlegendere Themen: Alltagsrassismus, Gleichberechtigung der Geschlechter, über Religion, über die …
… Familie. Darunter fielen in Deutschland mein Leben lang genau sieben Personen: meine Mutter, mein Vater, mein Bruder, meine Großeltern, meine beiden Großtanten und ein Großonkel, über den nur selten jemand gesprochen hat, und wenn, dann schlecht. War ich dagegen in Marokko, weitete sich der Begriff fast automatisch aus und war plötzlich mehr als nur ein Synonym für »enge Verwandtschaft«. Ich bin mir sicher, dass weniger als die Hälfte der Cousinen und Großonkel in LaIlas und Basidis Wohnzimmer tatsächlich mit mir verwandt waren. Nicht mal über zehn Ecken. Aber dem marokkanischen Verständnis nach entsteht Familie nicht nur durch gemeinsame Gene, sondern auch durch gemeinsame Erinnerungen, gemeinsame Probleme oder gemeinsame Grundstücksgrenzen. Vielleicht reicht in einigen Fällen sogar schon ein gemeinsames Mittagessen.
Der Vater im Gespräch übers Deutsch-Sein:
»Was heißt das eigentlich, sich deutsch fühlen? Das verstehe ich nicht. Wie fühlt sich ein Deutscher gegenüber einem Nichtdeutschen? Muss man dafür christlich denken? Nein, weil es Religionsfreiheit gibt. Das heißt, du kannst eine andere Religion ausüben und trotzdem deutsch sein, allerdings musst du dann damit leben können, dass du wahrscheinlich ein paar Sachen anders machst als die Mehrheit. Muss man sich an Regeln halten? Ja, an das Grundgesetz und an die Trennung von Altpapier, Restmüll und Plastik und sobald ein Zentimeter Schnee liegt, schippe ich meine Einfahrt frei, egal wie unnötig ich es persönlich finde. Das macht mich aber nicht zu einem Deutschen. Ich folge nur den Regeln, von denen Deutschland sagt >Lieber Gast, wenn du zu uns kommst, dann mach das bitte.« Aha, jetzt wird’s interessant.
»Fehlt dir manchmal auch eine Tochter, die etwas marokkanischer ist?«
Er setzt zu einem Grinsen an, hört aber sofort wieder damit auf, als er merkt, wie ernst ich bleibe. »Nein. Wieso, hast du das Gefühl, du wärst nicht marokkanisch genug?«
»Manchmal.«
»Aber das ist doch kein festes Kategorien-System, in das man sich einfach einordnen kann, Mona. Du bist so, wie du eben bist, und du hast das Glück, dass du auch Marokkanerin bist. Fertig. Ist doch super. Warum machst du dir da so viele Gedanken drüber?«
Ich schaue ihn verwundert an. Wieso klingt das so einfach aus seinem Mund?
»Ich weiß nicht. Ich frage mich in letzter Zeit zum Beispiel wirklich oft, was anders wäre, wenn wir in Marokko und nicht in Deutschland leben würden.«
Jetzt grinst er doch. »Wahrscheinlich würdest du dann gerade nicht mit mir, sondern mit deiner Mama im Auto sitzen und zum ersten Mal durch ein abgelegenes Gebiet im Sauerland fahren, das du kennenlernen möchtest«, sagt er und fügt noch etwas hinzu, das auch den letzten Rest Schwermut aus dem Auto verdrängt: »Ehrlich gesagt, finde ich es gerade sehr gut so, wie es ist.«
Ein sympathisches, lebendiges, persönliches, versöhnliches Buch. Eine überlegte Mischung aus Reiseimpressionen und dadurch angeregte Gedanken einer jungen Frau. Als Leser fühlt man sich unmittelbar angesprochen, darf teilnehmen, mitbeobachten, mitdenken. „Ihr Buch nun ist ein spannender Hybrid, weil es sich um Identitätsfragen dreht, indem es eine für Deutschland immer typischer werdende Familiengeschichte erzählt. (…) Ihr Buch ist eine Einladung, sich gewissermaßen neben sie zu setzen auf diese Terrasse in der Altstadt von Fès. Und sich einzulassen auf die Eindrücke und die Erzählungen. Gerade dann, wenn man dort lediglich zu Gast ist.“ (Stefan Fischer, SZ)
In Kapitel 17 werden Schafe und Hühner geschlachtet.
»Okay, also hat Lalla früher geschlachtet?«, frage ich und bereue es noch im selben Moment, weil ich die Antwort erahne.
»Nein, das ging nicht …«
»… weil sie eine Frau ist.« Mein Vater nickt.
Mona Amezianes vorgestellte Triggerwarnung: „In diesem Kapitel wird ein Schaf geschlachtet. Einige Szenen sind sehr explizit und es wird viel Blut fließen.“
2021 – 220 Seiten
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
Besuch bei Buch: „Auf Basidis Dach“ mit Mona Ameziane (Zwischenmiete NRW) – 35 Minuten (Video)
Willkommen im Virtuellen Museum des öffentlichen Platzes Jemaa El Fna in Marrakesch / Marokko
Lena Gorelik:
Wer wir sind

Der Titel könnte philosophisch gelesen werden: „Wer wir sind“. Wir, die Menschen. Bei Lena Gorelik repräsentiert das „Wir“ die Familie, Eltern und Großeltern, Vater und Mutter, die später zu бабушка и дедушка werden, die eigenen Kinder und sie selbst, Lenotschka, später, westlich eigenständig: Lena. Zerrissen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwei Pole ihres Lebens, die aber längst im Heute aufgelöst sind. Die Vergangenheit ist verblassende Erinnerung, die Eltern werden kleiner und an den Rand geschoben – was ein schlechtes Gewissen macht.
Was bleibt, ist die Sprache, das Russisch, das man in Leningrad, später wieder St. Petersburg oder liebevoll Питер, sprach, mit dem man aber in Deutschland nach der Aussiedlung nichts mehr anfangen kann. Ins Leere laufen auch die Redensarten, die das Leben in der Sowjetunion ordnend begleiteten. Die Eltern tun sich schwer, Lena lernt rasch, spricht bald Schwäbisch, überspringt eine Klasse und macht Abitur mit 1,1. „Wieso nicht 1,0?“, fragt der Vater. Lena Gorelik kokettiert schon auch ein bisschen mit der eigenen Klugheit.
Die Mutter lebt in ständiger Sorge, ihrer Tochter nicht viel fürs Leben mitgeben zu können. In der alten „Heimat“ ist das durchaus materiell zu verstehen, in Deutschland kann die Tochter mit der Für-Sorge nichts mehr anfangen, weil sie das deutsche Leben viel besser beherrscht als die Mutter. Der Vater ist der Denker, nicht der Sprecher, er gerät mit seinem Grübeln in Widerspruch zur sowjetischen Hierarchie, die eher das Glauben(-Sollen) verfügt. In der Schule heißt das Auswendig-Lernen. Der Vater führt die Tochter zur Kultur, er geht mit ihr ins Museum, in die Synagoge, ins Konzert, Lena findet zum Lesen. Auch das gehört zur Erziehung der еврейка, der Jüdin. „«Der fünfte Punkt», sagt sie nur. Sie meint den fünften Punkt im Pass, der in der Sowjetunion die Nationalität auswies, und in unserem Falle stand da eben: Jüdisch. Was hieß: Dies darfst du nicht und jenes auch nicht, und dazu gehört auch Sprachen studieren. Der fünfte Punkt, sagte man nur.“ In St. Petersburg hat man die Spiegel verhängt, wenn jemand gestorben ist. In Deutschland kommt der Vater nicht mehr zum Reden, sein Wissen ist so unbrauchbar geworden wie die Diplome der Mutter. Die Älteren gehören zu den „Menschen, die sich in der Enge und der Erniedrigung an einem Leben versuchen, die in ihren eigenen Sprachen nach Geborgenheit suchen, die sich nachts wälzen und sich durch Tage quälen.“ – „Lernen Sie doch erst mal richtig Deutsch.“
In Deutschland wird die Familie zunächst in einem Wohnheim untergebracht, soll dort eineinhalb Jahre bleiben.
„Mein Vater räumte unsere wenigen Sachen schweigend um, das Eingeständnis einer Niederlage. Wer sind wir hier, in diesem Land. Wer sind wir hier, in diesem Wohnheim.“ „«Hast du niemals gezweifelt?», frage ich meine Mutter. «Hast du dich nicht zurückgesehnt?» Wie konntest du, frage ich nicht, wie konntest du dein Kind da sehen, in diesem Wohnheim, in diesem Elend, hinter dem Stacheldraht? «Vielleicht», erklärt meine Mutter, die ich nicht gefragt habe, «vielleicht habe ich nichts in Frage gestellt, weil ich wusste, wie schlimm es vorher war. Weil ich dir dort im Wohnheim etwas zu essen geben konnte, das konnte ich dort, bei uns zu Hause, nicht immer. Das willst du dir nicht vorstellen», sagt meine Mutter, «wie das ist, das eigene Kind nicht füttern zu können.» Das will ich mir nicht vorstellen, nicht, während meine satten Kinder nebenan in einem Berg von Kuscheltieren schlafen. Das stelle ich mir lieber nicht vor.
Das Kind schämt sich für die Armut, für die Enge, für die Eltern, die sich schwer tun mit dem Deutschwerden.
Einmal kommt mich also eine deutsche Freundin besuchen. Ich kaufe selbst ein, Nudeln und Tomatensoße im Glas, um ihr das Erste, das Zweite und das Kompott zu ersparen. Koche die Nudeln auch selbst, bitte бабушка, in ihrem Zimmer zu bleiben. «Sind wir alleine zu Hause?», möchte die Freundin wissen, blickt sich um. Wir sitzen am Küchentisch, warten, bis das Wasser kocht. Ich gieße die Nudeln ab, in das grüne Plastiksieb, der ist auf jeden Fall vom Sperrmüll. Hole die Glasschüssel aus dem Schrank, die deutsche. Schütte die Nudeln hinein. «Das ist ja lustig, dass ihr Nudeln aus einer Salatschüssel esst.»
Das ist das „Deutsche Wunder“: „DEUTSCHE SCHÜSSELN“ heißt ein Kapitel:
Meine Eltern haben Salatschüsseln auf dem Flohmarkt gekauft oder auf dem Sperrmüll gefunden, weil es immer entweder das eine oder das andere ist. Meine Eltern wissen nicht, was eine Salatschüssel ist, auf Russisch gibt es nur миска. миска, miska, Schüssel: emailleweiß, oben schwarzer Rand. Die Schüssel hat Dellen, im Schwarz sind Risse. (…) Schüssel, die: Salatschüssel, Nudelschüssel, Rührschüssel, Dessertschüssel, Puddingschüssel. Im Russischen gibt es keine Worte, die zusammenwachsen können, vielleicht ist es ein Privileg, Wörter aneinanderzuhängen, ihnen quasi personalisierte Eigenschaften zu verleihen. Wie viele Schüsseln braucht man eigentlich, wofür alles?
Weitere Deutsche Wunder: Käse, wo jede Scheibe einzeln verpackt ist, Schwimmbäder, in die jeder hineindarf, Supermärkte, in denen man Nahrung für Tiere kaufen kann und, – er kriegt ein eignes Kapitel -, der „BADE-SCHA-UM“. „Der Badeschaum umarmt uns größer, weiter, ferner, nah. Wenn ich hineingreife: wie alles, was ich mir von Deutschland versprach. Meine Liebe zu Deutschland besteht aus weißen Seifenblasen, die zwischen meinen Fingern zerplatzen. Geräuschlos, ohne Aufhebens.“. – „Ich kann mir das nicht vorstellen, Deutschland. Bunt, vielleicht leuchtend. “ Der Badeschaum – das Paradies.
Lena Goreliks Erzählungen aus zwei Heimaten reihen sich ein in eine Vielzahl von Romanen und Autobiographien von jungen Autor:innen, die als Kind oder Jugendliche mit ihren Eltern aus prekären Weltgegenden nach Deutschland kamen. (Auswahl siehe unten) Im Zentrum stehen dabei neben den (alltags-)kulturellen Unterschieden die Spannungen, welche die Auswanderung im Geflecht der Familie hervorruft. Der Schock einer individualisierten Privatheit wirft vor allem die ältere Generation aus der Bahn, für die ein ausgreifender Familienzusammenhalt Stütze und Norm des Lebens war. Den Jungen fällt die Adaption an Sprache und „Lifestyle“ leichter, sie erzählen gern davon und von ihrer Abgrenzung zur „Herkunft“. Lena Gorelik spricht – wie die anderen – wenig über Politik oder Geschichte, sie reflektiert aber deutlicher das Erinnern.
Unsere Erinnerungen legen wir uns zurecht in erzählbare Geschichten. Ich hatte mir auch eine zurechtgelegt, und ich achtete darauf, sie so zu erzählen, dass man lachen durfte über mein Leben: Wenn ich gefragt wurde, wie es war, neu in einem Land zu sein und die Sprache nicht zu verstehen, so erzählte ich, dass ich anfangs die Schulfächer, aufgrund nicht vorhandener Sprachkenntnisse, anhand der verschiedenfarbigen Heftumschläge unterschied: Montags hatte ich Gelb, Blau, zweimal Rot und dann Grün, dienstags Blau, Gelb, Orange, Braun, Grün. Ich erzählte, wie ich die Sprache aufsog, wie ein hungriges Tier schnappte ich nach Worten, hielt sie mit aller Kraft fest, ließ sie auf der Zunge zergehen. Als ich genug Worte gesammelt hatte, um über das Flüchtlingswohnheim zu schreiben, bildete ich diesen Satz: ein Zuhause, für das ich mich bis auf die Knochen schämte. Und ich freute mich an der Sprache, die die meine geworden war. Und die Menschen, die mir bei Lesungen zuhörten, lachten über meine Geschichte, immer an den von mir dafür vorgesehenen Stellen. Ich hielt die Pausen im Lesefluss ein, die, an denen sie über mich lachen sollten. Meine Geschichte hatte ich mir zurechtgelegt und gefaltet, dass ich sie vorzeigen konnte. Nichts davon war gelogen, und nichts war erzählt.
«Du hast vergessen, was Familie ist», sagt meine Mutter am Telefon manchmal zu mir. Sie spricht gerne darüber, was eine Familie ist. Mein kleiner Sohn zählt auch gerne auf, wer alles zu unserer Familie gehört. «Patchwork-Familie», sagt er, und sie fragt ihn: «Wie spricht man das aus, Patschwok? Was heißt das genau?» Das kann er ihr nicht sagen, er kann noch kein Englisch, also sagt er ihr, was er weiß. Dass alle dazugehören, die er liebhat, die er braucht, um sich wohlzufühlen. Sie hört zu, vielleicht mit Tränen in den Augenwinkeln. Ich frage nicht, was die Tränen zählen, die Freude, die Traurigkeit, den Verlust.
2021 – 315 Seiten
Ausführliche Besprechung von Anne Amend-Söchting auf literaturkritik.de
Gespräch mit Lena Gorelik im BR Fernsehen (10 Minuten – Link bis Mai 22)
Romane und Autobiographien von jungen Autor:innen, die als Kind oder Jugendliche mit ihren Eltern aus prekären Weltgegenden nach Deutschland kamen:
Saša Stanišić erzählt, wie er vom Kriegsland Bosnien mit 13 Jahren nach Heidelberg kam und sich dort assimilierte. („Herkunft“, 2019)
Ronya Othmann wurde in Deutschland geboren, ihre Eltern sind jesidische Kurden. „Die Sommer“ sind die Ferien bei ihrer väterlichen Großfamilie im Nordosten des Irak. Erzählt wird auch die Flucht des Vaters und der Beginn ihres Studiums in Deutschland. („Die Sommer“, 2020)
Deniz Ohde ist ebenfalls in Deutschland geboren, ihre Ich-Erzählerin hat eine türkisch-stämmige Mutter und schildert ihren mühevollen Bildungsweg aus armen sozialen Verhältnissen. („Streulicht“, 2020)
Anna Prizkau berichtet in 12 Geschichten vom Leben im Raum zwischen dem alten Land Russland und der neuen „Heimat“, sie will ankommen, dazugehören, ist aber noch in der Herkunft verhaftet, die einer Steine in den Weg legt, die eine verwurzelt, einer Freiheiten nimmt, zumindest einschränkt. Sie wurde 1986 in Moskau geboren und kam 1994 nach Deutschland. („Fast ein nueues Leben“, 2020)
Dmitirij Kapitelman ist 1986 in Kiew geboren, er kam mit 8 Jahren zusammen mit den Eltern als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland. Er sucht in der Ukraine und in Israel nach seinen jüdisch-sowjetischen Wurzeln. („Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters“, 2016 – „Eine Formalie in Kiew“, 2021)
Iris Wolff war 8, als sie mit ihrer deutschsprachigen Familie aus dem siebenbürgener Banat (Rumänien) nach Deutschland kam. Im Mittelpunkt des Romans steht die alte Familie in der alten „Heimat“ und die „Zugehörigkeit“ in einer brüchig gewordenen Welt. („Die Unschärfe der Welt“, 2020)
Tuba Sarica, geb. 1987 in der Nähe von Köln, wendet sich in ihrem Buch an die Familie, unter deren „Scheinheiligkeit“ sie leidet. Sie klagt über“Doppelmoral und falsche Toleranz – die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen“. „Ihr Scheinheiligen“ ist kein Roman.
Sasha Marianna Salzmann, geb. 1985 in Wolgograd (Sowjetunion), zeigt an zwei Frauen, die in der UdSSR aufwuchsen und in den 90er-Jahren nach Deutschland kamen, deren Schwierigkeiten mit der Vergangenheit und mit dem Leben in Deutschland zurechtzukommen. Die Töchter kommen in kein Gspräch mit den Müttern und versuchen sich in Deutschland in neue Identitäten zu finden. („Im Menschen muss alles herrlich sein“, 2021)
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren. Die Studentin Dilek flieht 2016 nach Deutschland, um den Nachstellungen der türkischen Regierung angesichts des Militärputsches zu entgehen. Sie lebt zwischen türkischem Fühlen und der relativen Sicherheit im Exil. Im Exil kann und will sie nicht heimisch werden. „Kangal“ ist eine politische Analyse, weder der Zustände in der Türkei noch derer in Deutschland. Es geht mehr um das subjektive Erleben und Fühlen. („Kangal“, 2022)
Dmitrij Kapitelman:
Eine Formalie in Kiew

Dima braucht die Apostille. Er will endlich Deutscher werden. 1998 kam er mit seinen Eltern als „Kontingentflüchtling“ aus Kiew nach Leipzig, für die Einbürgerung benötigt er eine in der Ukraine ausgestellte Geburtsbescheinigung. Also fliegt er nach Kiew. Deutsche Bürokratie, ukrainische „Entdankung“.
»Vergiss nicht, dich bei Tante Jana zu bedanken, Dim. Die Gehälter hier sind lächerlich. Gib ihr fünfhundert Griwna oder so. Otblagodari.«
Außer uns gesprochen: Otblagodari ist der gängige Euphemismus für Bestechung. Man entdankt sich, dankt sich quitt, dankt sich frei.
Für Dmitrij Kapitelman ist das die Möglichkeit, sich ein Bild von den Zuständen zu machen im Land, von dem er selbst nicht viel weiß, dessen Sprache er schlechter spricht als Sächsisch. Das Schlimmste, vor dem ihn seine Mutter streng warnte, scheinen die Gullydeckel zu sein.
Viel zu früh am Abfluggate in Leipzig und allein zwischen den leeren Sitzreihen, kommt mir ein Rat meiner Mutter in den Sinn. Ein ukrainischer Rat, eigentlich eher ein Verbot. Ich musste es seit Ewigkeiten nicht mehr bedenken, es war nicht nötig hierzulande. In meinem ersten Leben aber, meinem ersten Land, schlenderten wir durch die Straßen Kiews, als mich Mama ruckartig anhielt. Ich war bedenkenlos auf einen Gullydeckel getreten. Damals-Mama beugte sich herunter, sah mir ernst in die Augen und sprach: »Zaja«, mein Häschen, »in diesem Land darfst du niemals auf Gullydeckel treten, hörst du? Du weißt nie, ob sie festgeschraubt sind, und dann fällst du rein und kommst nie wieder zu uns hoch! Versprich mir, dir das zu merken.«
Nachdem er das benötigte Dokument wider Erwarten rasch erhält, hat das Buch noch viele leere Seiten. Um sie zu füllen, lässt Kapitelman seinen Vater in Kiew einfliegen. Dessen Gesundheit ist ramponiert. Er braucht ein Gebiss und er hat mentale Ausfälle, die von einem verschleppten Schlaganfall herrühren. Zeit, die Stadt und ihre Ärzte und Krankenhäuser näher kennenzulernen, aber auch langsam durch die Plätze und ihre Vergangenheit zu schlendern. Trotz der lakonischen Denk- und Sprechweise des Erzählers stellt sich so etwas wie Rührung ein, das gespannte Verhältnis zu den Eltern zeigt Anzeichen von Verfugung. Ist Mutters „Katzistan“ gar zu tolerieren?
Der Streifzug durch Kiew und Umgebung zeigt nichts wesentlich Neues über die Zustände dort. Marode Häuser, lose Gullydeckel, Korruption auf allen Ebenen. Interessant sind Kapitelmans spezieller Blick und seine lakonisch amüsanten Beschreibungen, gewürzt mit Running-Gags (Deckel, Salo, der Würzspeck, Vaters Schrullen), und durch seine ironische Infragestellung der eigenen Überheblichkeit. Aus dem Kapitel „Zeitreise durch den Stillstand“:
War hier in der Nähe nicht ein Basar? Da habe ich Damals-Mama verboten, das Fleisch der Schlachtfrauen anzufassen, weil es so dreckig aussah. Nicht dass sie mir noch krank wird. Heute sitzen in der gelb gekachelten Schlachthalle drei gelangweilte Fleischerfrauen und essen einsam Eis. Vor sich tot riechende Tierteile, faden Würzspeck, Tüten mit Gedärmen, mal auf einer Tischdecke, mal in einer Plastikschüssel oder einfach nackt auf dem Stein abgelegt. »Das Fleisch ist da, aber die Leute haben kein Geld«, klagen sie angeödet. Während die Eiscreme an ihren goldenen Plomben schimmert. Ich verstehe ihr Ukrainisch nur teilweise, tue aber, als würde ich alles begreifen. Was erstaunlicherweise dazu führt, dass ich das Gefühl habe, fast alles zu verstehen. Unter uns Landsleuten aller Herren Länder gesprochen: Vielleicht sind wir allesamt viel zu vokabelfixiert im Verstehen und läuten die Alarmglocke der Fremdheit beim ersten unbekannten Wort, anstatt kommunizierend die nachfolgenden abzuwarten.
Da und dort wird Kapitelman direkt politisch und zitiert Stimmen von Kiewern:
»Klauen tun alle. Am schlimmsten war es unter Poroschenko (der Pralinenpräsident). Janukowitsch (der zweifach Verurteilte im Hubschrauber) hat zwar auch gestohlen und gestohlen, aber zumindest hat der auch viel gemacht. Und die Preise gingen nicht so in die Höhe.« »Andererseits war unter Janukowitsch auch noch kein Krieg, der die Preise steigen ließ, Oksana.« »Ja, das stimmt wohl. Viele Reiche, die sich die Flucht aus dem Donbass leisten konnten, leben jetzt in Kiew. Da sind die Wohnungen noch mal teurer geworden.« (…)
Im unbeachteten Fernseher läuft eine Sendung des Komikerpräsidenten, »Die Liga der Lustigen«. Aus der Zeit, als er noch nicht Präsident war. Meist einen Kopf kürzer, interviewt er schalknackig andere Komiker (die nicht Präsidenten wurden). Nahbar, etwas heiser und verschwitzt. Ein kleiner energetischer Flummi, der mich fast ein wenig an Damals-Papa erinnert.
Und manchmal wird er wütend:
Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Trotz seiner Verfassung bittet mich Für-immer-Papa, neue Heldengeschichten davon zu erzählen, wie ich in Deutschland prosperiere — meinem Deutschland. Die hört er am liebsten. Für-immer-Papa sagt, dass er mich liebt und stolz auf mich ist. Fast hinterherrufen muss er es mir, als ich zur schweren Holztür am Eingang des Grundstücks meiner Eltern haste. Absolut nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute?
»Schlüss jetz! Keeine Wiedarwörte! Das is für EU! Abmoarsch nach hint’n, hab isch gesacht! Odar ich schick euch klej wieder dahin, wo ihr alle hergekomm’nn seid.«
Und da geht mich die „Formalie in Kiew“ doch was an.
2021 – 175 Seiten
taz-talk: Gespräch von Doris Akrap mit Dimitrij Kapitelman über „Eine Formalie in Kiew“ (1:05)
Iris Wolff:
Die Unschärfe der Welt

Lange hatte sie sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit eingeredet. Irgendwann, dachte sie, wäre sie unbemerkt vom Rand in die Mitte vorgedrungen. Sie würde sonntags in dieKirche gehen und an allen anderen Feiertagen. Kuchen backen und Hühner schlachten, die noch immer die Glöcknerin für sie köpfen musste, weil sie es nicht über sich brachte. Sie würde mit Samuel Besuche machen, statt mit ihm unterm Pfirsichbaum zu liegen oder über die Felder zu spazieren.
Doch wie leicht täuschte man sich, weil das, was man glaubte und wünschte, unterdessen längst zu etwas anderem geworden war.
Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit, und sie fürchtete, dass sie ihr Kind zum Verbündeten gemacht hatte. Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen, oder ging von hier aus — die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war, doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen.
An was würde er sich erinnern? Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schalen er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt — vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.
Natürlich: die Zugehörigkeit. Man sucht sie, weil man – meint, dass man – sie braucht. Aber: Sie ist brüchig geworden, dort, wo man lebt, wo man lebte. Siebenbürgen, Banat, Hermannstadt, Arad, der Marosch, das Dorf, das kennt man, obwohl auch dort alles anders geworden ist, man fremd geworden ist, die falsche Sprache spricht und weil auch das Land, Rumänien, unsicher geworden ist. Florentine lebt noch dort, ist dort noch zuhause, aber sie ist alt geworden. Die Zukunft der Jüngeren ist „unscharf“.
Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran. Sie mochte es, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie Ribisel und Himbeeren zupfte, Trauben erntete, Äpfel pflückte – zuzuhören, was die Wörter miteinander verhandelten, welche Erinnerungen sie anrührten. Sie waren in einem unbestimmten Raum angesiedelt, in dem Denken und Fühlen ineinander übergingen.
Vier Generationen, ein existenzieller Bruch. Karoline und Johannes, die ältesten, sind noch heimisch in der kleinen Welt, die ihre Vorfahren aus der Pfalz und anderen südwest“deutschen“ Regionen donauabwärts besiedelt haben und die ihnen zur – nicht zuletzt sprachlichen – Heimat geworden ist. Florentine und Hannes, der Pfarrer, versuchen zu bewahren, registrieren aber schon die Veränderungen und reagieren mit Beflissenheit oder, wie Florentine, mit Schweigen, mit Misstrauen den zu eindeutigen Wörtern gegenüber. Samuel, der Sohn, „erbt“ die Sprachenthaltsamkeit, spricht spät sein erstes Wort: zăpadă. Schnee. Nicht deutsch.
»Erzähl mir von der Transilvania.« Samuel sah von der Matratze herunter. Karline hob den Blick. Die Lichtschlitze der geschlossenen Fensterläden spiegelten sich in seinen Augen, bildeten eine Linie mit den geraden Brauen. Es herrschte keine Einigkeit darüber, welche Farbe seine Augen hatten. Hellbraun, sagten die meisten, doch Karline, die sich nicht zwischen Gänsegrau und Zimtbraun entscheiden konnte, attestierte ihnen mangelnde Phantasie.
Sie sahen einander an, Karline auf dem Hocker, mit dem Rücken an den Matratzenturm gelehnt, der Junge auf der wassergrünen Matratze, zwei Handbreit unter dem Plafond.
Etwas beschäftigte ihn. Er war immer stiller geworden, je näher die Abreise rückte, was Karline bemerkte, obwohl oder gerade weil er grundsätzlich still war.
»Die Transilvania?«
Der Junge nickte.
Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. Sie waren in jene Kammer eingezogen, mit wandernden Türen und trüben Fenstern, und es schien ausgemacht, dass man nichts, am wenigsten Hoffnungen, ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu. Die Leute erzählten ihre Geschichten auf seltsam feststehende Weise. Als wären sie genau so passiert. Dabei war, das ahnte Karline, jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.
Das Fremde kommt unerwartet. Anfang der Siebzigerjahre tauchen Bene und sein Freund Lothar, Lehramtsstudenten aus der DDR, als Gäste auf. Sie waschen sich nackt am Brunnen und küssen sich. Später flieht Samuel mit einem Kleinflugzeug nach Deutschland und trifft dort einen der jungen Ostberliner wieder. Bene und Samuel fahren Ende 1989 nach Rumänien. Jetzt erst erfährt Samuel, dass er mit Stana eine Tochter hat: Livia. Schwierige Familienverhältnisse in schwierigen Zeiten. Iris Wolff widmet jedes der Kapitel (jede Erzählung) einer Person. „Wie Räder, die um ihre jeweilige Achse kreisen und zugleich miteinander verbunden sind, zentriert sich das Geschehen um wechselnde Figuren.“ (Meike Fessmann, SZ) Erst nach und nach erfährt man, in welcher Beziehung diese zu den anderen steht. Auch das macht das Erzählen ungewiss. Man muss mitraten, wie die Personen in das Geflecht eingebunden sind. Manches möchte man auch noch einmal lesen.
„Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit jedem Erzählen verändert sie sich, stetig, unmerklich. Einzelheiten werden hinzugefügt, andere ausgelassen. Irgendwo wächst die Unbestimmtheit, etwas rückt immer weiter fort, bis es ganz vergessen ist. An anderer Stelle wird etwas immer deutlicher, als sähe man durch blankes Glas.
Die Sprache ist poetisch, zart, nachdenklich, mit schönen Bildern, Kitsch liegt dabei nicht immer fern. Die Politik und die Geschichte spielen herein und bestimmen das Geschehen, doch Iris Wolff schreibt eher eine einfühlsame, schwebende, fluide Prosa. Die „Unschärfe“ der Welt. Iris Wolff wurde1977 in Hermannstadt geboren, emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland und lebt in Freiburg im Breisgau. Die größte Liebe gehört – wie immer – der Großmutter.
2020 – 215 Seiten
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Liebevoller Buchtipp von Matthias Zehnder
(youtube – 6 ½Minuten)
Literarisches Zentrum Gießen: Lesung mit Iris Wolff
(youtube – 1Stunde15)
Druckfrisch-Gespräch mit Iris Wolff (9 Minuten)
Anna Prizkau:
Fast ein neues Leben
(Erzählungen)

Anna Prizkaus Erzählungen sind Mosaiksteine. 12 Geschichten auf 100 Seiten, manche nur fünf Seiten lang, verfugte Splitter, die das „neue“ Leben mit dem „alten“ zu einer Biographie zusammenlegen. Russland, Deutschland. Alte Sprache, neue Sprache, altes Land, neues. Das sind vorläufige Bezeichnungen, man lebt im Zwischenraum, will ankommen, dazugehören, ist aber noch in der Herkunft verhaftet, die einer Steine in den Weg legt, die eine verwurzelt, einer Freiheiten nimmt, zumindest einschränkt. Diese Friktionen sind spannend, sind keine neuen Phänomene, haben aber literarische Konjunktur. Stanišić, Ohde, Othmann …, die Erzählungen von der – kulturellen, sozialen – ‚Eroberung’ des neuen Landes passen recht gut in die „gegenwärtige Mode, zwischen Autor und Erzähler bzw. Protagonist keinen Unterschied zu machen“ (Erik Schilling).
Für die, denen das neue Land ihr altes ist, ist der leise Clash der Kulturen interessant, weil man immer klarer sieht, wenn man von außen blickt, wenn man so im als „normal“ Empfundenen das Absurde entdecken kann. Andere Höflichkeiten, andere Essgewohnheiten, andere Rollenverteilungen, andere Bürokratien. (Als älterer Leser gesellt sich dazu das Erstaunen über die Empfänglichkeit für den kulturellen Austausch, für die Universalität des Schämens über das „Alte“ gegenüber dem vermeintlich überlegenen Neuen.)
Ist es Zufall, dass die letzten Bücher, die ich zu diesem Thema las, von – jungen – Frauen stammen? Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren und kam 1994 mit ihrer Familie nach Deutschland. Auch ihre Biografie zeigt, wie offen die Zukunft den Neugierigen steht. (Es bleibt die Frage, wie man diese Wissbegier erwirbt. Wahrscheinlich stehen dahinter anspruchsvolle Eltern. Oder solche, gegen die man ankämpfen kann.) Je jünger man ist, wenn man ins neue Leben eintritt, desto schneller lernt man, auch und besonders die Sprache. (Lustig: Anna Prizkaus Beoabachtung „Er zog die Schultern hoch und runter.” und danach “Ich schob wieder die Schultern hoch und runter.” – Aber vielleicht ist das genauer als das erwartete ‘Achselzucken’.) Weniger genau sind bei den jung Emigrierten wohl die Erinnerungen an das “Alte”. Besonders heikel, wenn Verwandte ins Spiel kommen, Großmütter etwa oder irgendwelche Tanten. Vermittler können hier die Eltern sein, andererseits verzögert sich bei ihnen die Einübung in das “Neue”. Hierbei könnten die Kinder helfen, wenn sie sich nicht ihrer schämen.
“Er wollte mit mir kommen, das wollte ich nicht. Denn meine Eltern waren zu Hause. Ich war mir sicher, wenn er sie sehen, mit ihnen sprechen würde, dann würde er nicht mehr mit mir gehen wollen. Nicht, weil ich glaubte, dass Marcel etwas gegen Fremde hatte. Ich glaubte nur, er würde dann begreifen, dass ich nicht war wie er, nicht einmal wie die anderen.”
Dieses Selbstbild resultiert aus Erfahrungen, die man nicht abwehren kann, wenn man die Mechanismen nicht kennt, wenn man noch nicht perfekt ist in dem neuen Leben. „Das fremde Leben in einer fremden Sprache in einem fremden Land. Das Lügen im neuen Land. Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?„
»Ein Spiel zum Kennenlernen«, sagte die Studienleiterin damals. Das war drei Jahre vorher, im Herbst gewesen, im Masterstudium. Alle Studenten fühlten sich erkältet und erwachsen. Sechzehn halb junge Menschen, die nach Theater aussahen. Ein Seminarraum, der nach Grundschule aussah. Dann kam das Spiel. Die Studienleiterin sagte, dass der Raum Deutschland sei. Norden an der Tafel, Süden hinten. Man musste dorthin gehen, wo man herkam. Die meisten standen an den Fenstern, weil da der Westen war. Ich stellte mich auch an die Fenster, in den Westen, weil ich schon 18 Jahre an den Fenstern lebte. Die Studienleiterin schaute auf eine Liste, dann zu mir: »Nein, nein, nein! Sie müssen in den Osten, wo Sie geboren worden sind. So geht das Spiel.« Sie öffnete die Tür des Seminarraums. Und ich stand dann allein im Flur, während die anderen an den Fenstern lehnten, sich kennenlernten, Small Talk machten.
Die vielen Beobachtungen verwebt Anna Prizkau in ihr Erzählen und diese Überlagerungen bilden die literarische Qualität ihrer Geschichten. Nicht die Thematik, die findet sich ähnlich in den meisten Migrationserzählungen. (Der Boom wird sich verlaufen: „Hier interessieren die Konflikte Ihrer Protagonisten niemanden. Der Stoff ist OUT.“) ) Die Schlaftabletten der Mutter tauchen schon in der ersten Geschichte auf, in der letzten erfährt man, was zu ihnen führt.
Seit diesem Sommertag, an dem meine Mutter zum Frühstück zwei Packungen Schlaftabletten schluckte und danach immer wieder in der Klinik war. Es gab keine Gespräche mehr. Es gab ein »Wie geht es ihr?« – »Es geht schon, mach dir keine Sorgen« und ein »Was gab’s bei euch zu essen? – »Dies und das«. Sie lebten immer noch zusammen, obwohl sie sich nicht liebten.” (Thanky Panky) – “»Du sollst so was nicht sagen«, sagte sie, setzte sich an ihren Sekretär, fing an zu schreiben. Sie schaute mich nicht an, sie sagte nichts mehr. Ich sagte auch nichts mehr und schlug die Tür hinter mir zu. Das, was sie schrieb, sah ich erst später, nach der Schule, es war auf Deutsch, sie schrieb: »Ich bin an allem schuld.« Der Brief lag auf ihren Zwetajewa-Gedichten, daneben die zwei Tablettendosen. Sie waren leer.
An diesem Tag war Mathe ausgefallen. (Boss)
Ausbruchsversuche der Eltern, Sackgassen ihres Weges in das neue Leben. Anna Prizkau nutzt Symbole, um ihre Beobachtungen zu fokussieren, zu zentrieren: die Hand auf den Oberschenkeln, der nicht ganz geheure Fahrstuhl, die Eisbecher auf der Sonnenterrasse, die Skulptur eines “Fackelläufers”.
Die Stories sind für sich zu knapp, um sie allein verstehen zu können, sie stehen in keiner Chronologie, figurieren im Set aber “fast ein neues Leben” der Erzählerin bzw. Autorin. Anna „Prizkaus kurze, harte Geschichten bezeugen mit ihren kurzen, geschliffenen Sätzen den Triumph der Literatur über ein Schreiben, das seine Autorinnen, Protagonisten und Leserinnen im Käfig der „Identität“ gefangen hält. Die einen sitzen drin, die anderen schauen drauf.“ (Ulrich Gutmair, taz)
Sehr angetane Rezension von Marko Martin in der
Jüdischen Allgemeinen
Anna Prizkau im taz-Gespräch mit Ulrich Gutmair (50 Minuten)
Anna Prizkau – Autorenseite bei der F.A.S.
2020 – 110 Seiten

Ronya Othmann:
Die Sommer

Leyla. Sie ist 17, geht in der Nähe von München aufs Gymnasium, interessiert sich für Ausgehen, Abhängen, Klamotten, die Hobbies deutscher Mädchen der Jetztzeit. Leylas Mutter ist Deutsche, eine „falsche Heirat“, wie Vaters Verwandte sagen, denn der Vater ist êzîdischer Kurde (jesidisch, sagt man in Deutschland). Es gibt viele Verwandte und sie leben in einem abgelegenen Dorf im gebirgigen Nordosten Syriens, an der Grenze zur Türkei, Kurdistan. Leyla besucht das karge Dorf in jeden Sommerferien, „Die Sommer“ werden ihr zur Heimat, besonders zur Großmutter fasst sie Vertrauen. Natürlich sind ihr Blick, ihre Beobachtung, ihr Erleben auch von Deutschland bestimmt, aber es ist auch „ihr Dorf“, ihr Leben in einer vergehenden Welt. Die Gerüche, der Geschmack, das Schlafen, Kochen, die Tiere, die Frauen und die Männer, Mythen und Normen, Routinen und Kommunikation, Tee und Musik.
Im Dorf waren ihre Tage und Jahre getaktet in Feste und Erntezeiten, in Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, in Morgengebete und Abendgebete, in das Füttern der Hühner und die Arbeit auf dem Feld, in das Backen von Brot und das Einlegen von Kohl, in das Bewässern des Gartens und den Tee mit den Nachbarn. (…) Im Dorf war nie niemand da, es gab keine Klingeln, die Türen waren immer offen, die Nachbarn kamen und zogen die Schuhe vor dem Haus aus, ein richtiger Haufen von Schuhen und Plastikschlappen. Die Nachbarn blieben zum Tee, gingen erst irgendwann viel später wieder, und gleich darauf kamen die Freunde des Großvaters, und irgendwann schliefen Leyla und die Cousins auf dem Hochbett in einer Reihe ein, neben ihnen am Rand die Großmutter. (…) Später fragte sich Leyla manchmal, ob sie sich weniger allein fühlen würde, wenn sie nie im Dorf gewesen wäre. Ob sie, wenn sie nicht wüsste, dass sie allein war, sich einfach nicht allein fühlen könnte. (…)Alles bedeutete etwas. Man soll nicht auf die Erde spucken, weil auch die Erde heilig ist, sagte die Großmutter etwa, während sie im Hof vor der Küche saß und das Gemüse für das Abendessen schnitt. (…) Den Namen des Bösen soll man niemals nennen, fuhr die Großmutter fort, als Leyla ihr die Petersilie reichte. Weil Gott keinen Widersacher kennt, sagte sie, aber das habe ich dir schon gesagt. Man soll auch keine Schlangen töten, sagte die Großmutter, während sie die Petersilie im Spülbecken wusch, denn die Schlange ist ein Zeichen der Jahreszeiten, der Zeit und des Weges.
Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Ddie êzidische Version:
Wie die Großmutter es ihr gesagt hatte: Sie, Leyla, vom Stamm der Xaltî, vom Xûdan der Mend, aus der Kaste der Murids, war ein Kind vom Volk des Engels Pfau. Das kam ihr sehr bedeutsam vor.
War jedoch Zozan in der Nähe, vermied Leyla es, das Bild zu küssen. Sie konnte nicht genau sagen, weshalb, vielleicht aus Angst, sich vor Zozan lächerlich zu machen. Sie selbst jedenfalls hatte Zozan nie dabei beobachtet, wie diese das Bild küsste oder auch nur beachtete. Auch sah sie Zozan nie beten.
Als Leyla aber eines Tages das Bild küsste, kam Zozan doch zufällig gerade ins Zimmer. Zozan lachte. Du kannst es so oft küssen, wie du willst, rief sie, das macht aus dir noch lange keine Êzidin. Êzidin ist, sagte sie und klang dabei wie eine Lehrerin, wer einen êzidischen Vater und eine êzidische Mutter hat. Du bist keine Êzidin, denn dein Vater hat eine Deutsche geheiratet.
Das stimmt nicht, sagte Leyla leise und stand trotzig in der Mitte des Zimmers. Es geht immer nach dem Vater.
Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Die individualistische deutsche Version:
Ist es nicht schwierig, so zwischen den Kulturen aufzuwachsen? Dein Vater ist sicher streng? Trägt deine Mutter Kopftuch?
Antwortete Leyla, nein, wir sind keine Muslime, nein, wir sind keine Araber, nein, wir beten zu Hause nicht und fasten auch nicht an Ramadan, aber ja, meine Oma und meine Tanten tragen Kopftücher, dann warf sie nur noch mehr Fragen auf. Sagte Leyla, wir sind Êziden, dann wussten die anderen gar nicht mehr, wovon sie sprach.
Alles an Leyla irritierte immer alle. Die Bäckerin im Ort, den Zahnarzt, die Apothekerin, die Lehrerinnen in der Schule.
Leyla stand vor dem Spiegel, betrachtete das verwässerte Blau ihrer Augen und ihre dunklen, fast schwarzen Haare. Leyla Hassan, dieser verräterische Name.
Mein Vater kommt aus Kurdistan, sagte Leyla, und die Leute antworteten darauf.- Kurdistan gibt es nicht. Mein Vater kommt aus Syrien, sagte Leyla dann, dachte an ihren Vater und schämte sich.
Bist du mehr deutsch oder kurdisch, fragte die Mutter der Schulfreundin. Deutsch, sagte Leyla, und die Mutter der Schulfreundin wirkte zufrieden.
Fühlst du dich mehr deutsch oder kurdisch, fragte Tante Felek. Kurdisch, sagte Leyla, und Tante Felek klatschte vor Freude in die Hände.
Du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist, sagte der Vater. Ich vergesse auch niemals, dass ich Kurde bin. Ich war im Gefängnis, weil ich Kurde bin.
Leyla bedeutet „Nacht“ , ihren Vornamen hat sie von kurdischen Kämpferinnen, Heldinnen der Familie, mit ihrem Familiennamen Hassan ist sie in Deutschland markiert.
Ronya Othmanns Roman hat drei Themen. Das erste ist das Leben im kurdischen Dorf. Ein Kosmos der ethnischen Strukturen. Die zweite Erzählung stammt vom Vater. Er spricht in der Ich-Form mit Leyla von seinen Lebensanschauungen und –entwürfen, von politischen Hintergründen, von seiner gefährlichen Flucht nach Deutschland.
Ich glaube nicht an Gott, sagte der Vater und spuckte die Schale eines Sonnenblumenkerns auf seinen Teller. Leyla nickte, sie hatte es schon tausendmal gehört. Der Vater erzählte es jedem, der es hören oder nicht hören wollte. Religion ist nur etwas für arme oder dumme Menschen. Für Menschen, die es nicht besser wissen. Religion ist Opium für das Volk, diesen Satz sagte der Vater auch immer wieder. Den Armen und den Dummen verzieh er, nicht aber denen, die er Fanatiker nannte.
Er ist politisch links engagiert. In Syrien gelten die Êziden als adschnabi, als staatenlos, sie haben keine Bürgerrechte, der Sprachraum schwankt zwischen Kurdisch, Türkisch, Arabisch. Als der Syrienkrieg beginnt, sitzt der Vater den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Computer und schaut aus allen möglichen Sendern Nachrichten aus dem Nahen Osten. Das viele Ich-Erzählen irritiert etwas, da eigentlich Leyla die Protagonistin ist. Wenn von ihr in der dritten Person erzählt wird, wirkt das im Vegleich oft wie ein distanzierender Bericht. Aber es wollen eben auseinanderliegende Teile des Familienschicksals miteinander verbunden werden. Leyla ist zunächst zu jung, um das zu überblicken.
Im dritten Teil konzentriert sich die Geschichte wieder auf Leyla. Sie hat ihr Abitur und zieht zum Studieren nach Leipzig. Leyla will auch Arabisch lernen, ihre Aufmerksamkeit wird aber von Sascha beansprucht. Eine deutsche Liebe, Leylas Eltern sollen davon nichts erfahren.
Die Großmutter sagte oft zu Leyla: Wenn du groß bist, heiratest du Aram. Oder: Wenn du groß bist, heiratest du Nawaf. Auch alle anderen sprachen immerfort über das Heiraten, selbst der Großvater. Die Autokorsos, die dann über die Landstraßen fuhren, von den Dörfern in die Stadt, von der Stadt in die Dörfer, die laute Musik, die aus Lautsprechern dröhnte, die Frauen, deren Haare vor Haarspray starr waren, die geschminkten Gesichter, die langen Kleider, die jubelnden Menschenmengen. Nichts war hier wichtiger als die Hochzeiten, dachte Leyla. (…) Leyla war froh, dass der Vater in allen diesen Dingen auf ihrer Seite war. Ständig erzählte er allen, Leyla werde die Schule fertig machen, sie werde studieren. Leyla, sagte er stolz, wird Medizin studieren, oder Jura. Und dann wird sie an den Internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag gehen. Meine Tochter, sagte er und hob den Zeigefinger, wird nicht früh heiraten. Das verbiete ich ihr. Bevor sie ein Studium abgeschlossen hat, darf sie nicht heiraten. Wozu heiraten, sagte der Vater, damit sie einem Mann die Wäsche macht und Essen kocht?
Leyla studiert Germanistik. Sascha ist eine junge Frau. Ronya Othmann hat mit Leyla mehr gemein als das Y im Vornamen. “Die Sommer” enthält mehr Kulturgeschichte, mehr Welt- und Regionalpolitik, mehr gestreute Informationen, als einem Roman eigentlich guttut. “Die Sommer” ist interessant, weil es ein typisches Schicksal eines Flüchtlingskindes der 2. Generation beleuchtet. In Deutschland geboren, aber “du darfst diese Geschichte nicht vergessen, sagte der Vater, das ist deine Geschichte, Leyla.” “Die Sommer” zeigt den schon länger hier Lebenden, die sich “Deutsche” nennen, dass man nicht als irrevelant abtun kann, was sich in anderen Gegenden der Welt abspielt. Dass man seine “Wurzeln” nicht von heute auf morgen kappen kann. Solche Geschichten sind wichtig und werden gerade viel geschrieben und gedruckt und ausgezeichnet und auch gelesen.
2020 – 285 Seiten
Ronya Rothmann liest aus “Die Sommer”
bei zehnseiten.de (15 Minuten)
FAZ-Autorengespräche: Ronya Othmann
über ihren Roman „Die Sommer“ (24 Minuten)
Artikel „Jesiden“ bei wikipedia
Ausführliche Information üder Jesiden
„OrientExpress“ – Kolumne von Ronya Ortmann bei der taz

Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: Migration, Neue Heimat, Osteuropa
Saša Stanišić: Herkunft
Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt!
Autofiktion. So heißt das jetzt und ist der Hype der Stunde. Das Fernsehn hat’s mit der Dokufiktion vorgemacht. Die dokumentarischen Szenen – gerne in schwarzweiß – fließen in die Spielfiguren hinein, der Protagonist ist zertifiziert, auch wenn er das Produkt des Autors ist, die Realität gewinnt Farbe und Gefühl.
Saša Stanišić’ Saša Stanišić gibt’s wirklich. Er ist 1992 mit seinen Eltern von Višegrad/Bosnien nach Heidelberg/Deutschland geflohen, hat 26000 Tweets abgesetzt und soeben den Buchpreis 2019 des Börsenvereins des Deustchen Buchhandels gewonnen.
Das ausgezeichnete Buch „Herkunft“ ist damit noch „verkäuflicher“ geworden, obwohl es sich nicht Roman nennt. Saša Stanišić gibt es wirklich, er hat es in Deutschland bis zur Schilddrüsenentzündung gebracht. Disease-Authentifikation. Das Buch ist eins von Herkunft und Ankunft, die dazwischenliegende Flucht ist der Weg von gewachsenem und verfügtem Familienleben zur Ungewissheit darüber, was kommt. Stanišić sagt, er habe Glück ghabt, dem Krieg zu entkommen und er hat sich sein weiteres Glück erarbeitet, seinen deutschsprachigen Literaturvordergrund“ (Mely Kiyak, ZEIT)
Im Krieg ist nicht nur Jugoslawien zerplatzt, sondern auch, wie vieles andere, die Stanišić-Familie. „Mutter muss mit fünfunddreißig ihr Leben in Višegrad aufgeben.“ Die Eltern erhielten in Deutschland keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, sie gingen zuerst wieder zurück und 1998 in die USA, andere Verwandte können da und dort in Europa besucht werden, Großmutter Kristina blieb in Bosnien und vergaß. Saša machte in Heidelberg Abitur, studierte und durfte deshalb bleiben und ist heute – assimiliert? Heimisch?
Saša Stanišić mixt in kurzen Kapiteln Geschichten, Anekdoten und Reflexionen der Ankunft mit solchen der Herkunft, wobei die Herkunft zeitlich und politisch-geografisch gesplittet ist in die Erinnerung an Kindheit, Jugend und Familie im damaligen Jugoslawien und Nach-Forschungen im Nachkriegs-Bosnien, das „Heimat“ nur noch in vermitteltem (?) Sinn ist. Das alte Jugoslawien, das war die Zugehörigkeit, das waren die Partisanenlieder, das war die Mutter als Marxismus-Dozentin, das war Tito. Sein Bild in der Stube. Das war die Zeit, als der serbische Vater die bosnische Mutter heiraten konnte, die Zeit vor den verwilderten Nationalismen. Das waren dann aber auch die Schüsse und die Angst der Mutter wegen ihres „muslimischen“ Vornamens, die Gräuel, die Peter Handke* in Višegrad nicht finden wollte.
Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial der Nationalismen nicht länger stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. Sie wurden von Intellektuellen unterstützt, medial verbreitet und so oft wiederholt, bis man ihnen, Mitte der Achtziger, nirgends mehr entkam. Von ihnen hatte Vater gelesen, bevor er mit Mutter und mit der Schlange tanzte.
Als Überlebende ist noch die Großmutter da, die auch für den erwachsenen Saša noch ein – entschlüpfender – Haltepunkt ist. „Die Großmutter und der Reigen“, Großmutter isst einen Pfirsich und gibt dem Totengräber nichts ab“, „Großmutter und die Zahnbürste“, undund. Über Demente zu erzählen, ist immer lustig, auch wenn es so mitfühlend geschieht. Saša ist 14, als er nach Heidelberg „geflohen kam“ (Mely Kiyak), erst in Deutschland erreichte er das Alter, selbstständig zu handeln und sich darüber klar zu werden. Die Kapitel der Ankunft sind für mich die interessanteren. Nicht so sehr die Jugendstreiche, die gehören dazu, sondern die disparaten Gruppen und Milieus, in die man sich hineinfinden und in denen man sich zurechtfinden muss. Das ist für Leute, die neu im Land angekommen sind, mühsamer, als es für „Einheimische“ schon ist. Die multiethnische Clique an der ARAL bietet Unterschlupf, weil niemand dabei ist, der einen dissen könnte, die „Internationale Gesamtschule“ ist auf Flüchtlinge eingestellt, man kann sich emporarbeiten, wenn man so neugierig und beflissen ist, wie Saša. (Er darf sich hier sogar als Dichter erproben. “Mein Pseudonym war: Stan Bosni.” – Gespräch mit dem Deutschlehrer von Saša Stanišić, Werner Nikisch) „Ich las. Lernte. Spielte Bach auf der Gitarre und übte Headbangen, und manchmal schloss ich einfach lange die Augen, um mich zu erfinden.” Die Eltern können einem kaum Hilfe sein, im Gegenteil, eher muss hier der Schüler zum Vermittler der Kulturen werden. Das ist immer bei Geflohenen oder Zugewanderten der Fall, Saša Stanišić kann das reflektieren.
1998 mussten meine Eltern das Land verlassen. Heidelberg ist bis heute eine ihrer Lieblingsstädte in der Vorstellung dessen, was sie für sie hätte sein können, wenn ihnen ein normales Leben möglich gewesen wäre. Die Welt ist voller JugoslawenFragmente wie sie oder ich es sind. Die Kinder der Geflüchteten haben längst eigene Kinder, die Schweden sind oder Neuseeländer oder Türken. Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt.
Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschütterung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. Ich muss nachdenken, um mich zu erinnern, wie die Kinder meiner Cousinen heißen. An den Gräbern meiner. Großeltern mütterlicherseits habe ich noch kein einziges Mal eine Kerze angezündet.
Ich schiebe nicht dem Krieg und der Entfernung die Schuld zu für meine Entfremdung von meiner Familie. Ich schiebe Geschichten als Übersprungshandlungen zwischen uns.
Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.
Ein guter Gastgeber ist auch ein guter Gast, besagt ein bosnisches Sprichwort. Die Eltern von Rahim waren gute Gastgeber, und ich machte mir eine Million Gedanken, ob es gutgehen könnte, sie als Gäste bei uns zu haben. Wie sich meine Eltern und Großeltern fühlen würden und wie ich. Ich wollte, dass uns als Familie etwas gelingt, wenn auch nur etwas so Einfaches wie ein Abendessen mit neuen Bekannten.
Ich wünschte es mir speziell für meine Mutter, die in Jugoslawien so gern Gastgeberin gewesen war.
Das nächste Mal, als ich wieder bei ihnen aß – es gab etwas, das aus nur drei Zutaten bestand, die ich alle nicht kannte, dabei war es ein fränkisches und kein arabisches Gericht -, sprach ich die Einladung aus: Kommen Sie auch einmal zu uns? (…) Ich habe meinen Eltern nicht von der Einladung erzählt. Ich traute mich auch nicht, sie noch einmal gegenüber Rahims Eltern auszusprechen. Sie haben mich natürlich nicht daran erinnert.
Saša Stanišić’ Methode des Infragestellens ist ambivalent. In seinem oben angehefteten Tweet zu Fertigstellung des Buchs schreibt er: „Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre. Das Buch heißt HERKUNFT. Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen. Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.“ Öffentlich gemachte Selbstbescheidung ist immer auch fishing for compliments. Der Dichter will wahrhaftig sein, weiß aber zu wenig, um dafür garantieren zu können. Der Autor darf suchend irren. Autofiktion. Der Leser ist zur Mitsuche eingeladen, er darf mitirren. So soll es sein, es ist aber eben auch Methode. „Wer klug ist, weiß ohnehin, dass Identität kein Kleidungsstück ist, in das man einmal hinein- und nie wieder hinausschlüpft. Sondern vielmehr eine komplexe Mixtur aus Herkunftsmythen, Erzählungen, Erfindungen, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Widersprüchen.“ (Ulrich Rüdenauer, SWR2)
Nach dem „Epilog“ folgt noch ein Text-Adventure, das diese Methode augreift. „Der Drachenhort“, in den Hauptrollen Großmutter, der auf dem Cover abgebildete Drache und ich, der Leser. Schön, ein weiteres Spiel mit der Fiktion und der Fantasie, lesenswert eher für Fans von Rollenspielen. »Nationalismus und Separatismus erschüttern Europa. Was tun? Vielleicht erst mal neue Heimatschriftsteller wie Saša Stanišić lesen.« Ein Leseappell von Karin Janker (SZ) auf dem Schutzumschlag.
2019 370 Seiten
Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Saša Stanišić spricht über sein Buch „Herkunft“
Saša Stanišić liest aus „Herkunft“
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* Die Süddeutsche Zeitung hat Peter Handkes Reisebericht
„Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, der 1996 in der SZ erschienen ist, online gestellt.
Fatou Diome: Der Bauch des Ozeans
George Weah kam aus dem westafrikanischen Liberia zum AC Milan und wurde Weltfußballer des Jahres 1995. (Zweiter wurde Paolo Maldini.) Jetzt bewirbt sich Weah um das Amt des Präsidenten seines Herkunftslandes, in dem 85% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.
Der französische Präsident Macron hat „vergangene Woche vorgeschlagen, sogenannte Hotspots in Libyen einzurichten: Auffanglager, in denen geprüft werden soll, wer eine Chance auf Asyl in Europa hätte und wer schon an der Reise über das Mittelmeer gehindert werden sollte. Macron begründete diese Vorverlagerung der Grenzkontrolle humanitär: Diejenigen, die Schutz oder auch nur ihr Glück in Europa suchen, sollen geschützt werden vor den tödlichen Gefahren, die sie dafür zu riskieren bereit sind – und vor der bitteren Enttäuschung, die sie in einem Europa, das sie nicht will, erwarten würde. (Carolin Emcke)“
Das steht nicht in Fatou Diomes Roman „Der Bauch des Ozeans“ aus dem Jahr 2003. Das steht in der Süddeutschen Zeitung vom August 2017. Aber es zeigt, dass die Themen 14 Jahre später noch die gleichen sind, dass keine Lösungen gefunden wurden und dass Romane die Probleme nicht beseitigen können. Auch wenn dies Anliegen der Autorin ist.
Madické, der kleine Bruder der Erzählerin, sitzt auf einer kleinen senegalesischen Atlantikinsel vor dem Fernseher und ärgert sich, dass die Übertragung der Spiele seines Idols Paolo Maldini (AC Milan) nicht störungsfrei ist. Er träumt von einer Karriere in der französischen Liga, die Schwester, als Schriftstellerin in Frankreich erfolgreich, soll helfen: Geld, Kontakte, Erfahrung.
Salie aber, die Erzählerin, hat den Überblick, sie hat Bildung, sie ist eine altera ego der Autorin. Sie weiß um die vielen gescheiterten Träume von Afrikanern, die in Europa nur das Paradies sehen. Sie weiß, dass die Nachrichten in die Heimat geschönt sind, nicht vom Elend berichten. Man verschließt Augen und Verstand. Die Schwester setzt alles ein, ihren Bruder zu desillusionieren, ihm die Augen zu öffnen; sie will ihn vor der „bitteren Enttäuschung“ warnen.
Auch Madické war besessen von diesem Traum. Er zählte auf mich. Ein einziger Gedanke beherrschte ihn: fortgehen, weit fortgehen, über die schwarze Erde fliegen, in dieses weiße, von tausend Lichtern funkelnde Land; fortgehen, ohne zurückzuschauen. Wer über das Hochseil seiner Träume tanzt, dreht sich nicht um. Er wollte ans andere Ende des Ozeans, wo du fürs Einsammeln von Hundekötteln ein Gehalt von der Stadt beziehst, wo du fürs Nichtarbeiten Geld bekommst… dorthin, wo das Gras soviel grüner ist… wo schon die Babys im Mutterleib ein eigenes Bankkonto haben und, kaum daß sie auf der Welt sind, einen Karriereplan. Wer sich dieser Sehnsucht in den Weg stellte, war verflucht.
Diese bittere Erfahrung machte ich, als ich in den Sommerferien, ein paar Monate vor der Europameisterschaft, nach Hause kam. Mein Brude wollte um jeden Preis auswandern. Er war groß geworden mit der fixen Idee, fortzugehen, um an derswo Erfolg zu haben. Ältere hatten ihn mit die sein Wunsch angesteckt, der ihm immer mehr al seine Bestimmung erschien. Auswandern war das Leitmotiv für seine Zukunft, sein gesamtes Leben. (…)
Es wurde meist spät, bis Madické und seine Freunde in den Gassen des schlafenden Dorfs verschwanden. Der Mann aus Barbès warf sich aufs Bett und kaute an seiner Wange. Zum Glück hatte er seine Stellung wieder behaupten können, ja sogar ausgebaut. Gleich nach seiner Rückkehr hatte er damit angefangen, wahre Wunderdinge zu berichten, die großartiger waren als alles, was je über Paris geschrieben wurde. Er war zum besten Botschafter Frankreichs geworden und sonnte sich in dessen Glanz. Er brauchte die Massage nicht für seinen kleinen Mann – die Anzahl seiner Erben zeigte, daß ihm Rocco nichts voraushatte außer ein paar Millionen -, sondern gegen den Albtraum, daß ihm von seinen vielen Lügen wie Pinocchio eine lange Nase wachsen könnte. Er verkaufte Salz für Zucker, und sein Publikum fraß ihm aus der Hand, weil beides im Mondlicht gleich glitzert. Er verdrängte sein schlechtes Gewissen: War es denn so schlimm, nur bestimmte Erinnerungen auszuwählen und zu vergolden? In Wahrheit war er in Paris der Neger gewesen. Doch von dieser erbärmlichen Existenz, über die er den Mantel des Vergessens gebreitet hatte, schimmerte in seinen farbigen Schilderungen nichts durch.
Fatou Diome schreibt über die schützende und erdrückende Gemeinschaft im Senegal, die den “Westler” als “Individualisten” brandmarkt und man versteht, weshalb die Familie/der Clan auch für Afrikaner in Europa so wichtig sind. Sie schreibt über die Stellung der Frauen, die nur innerhalb ihrer Familie eine denkbare und dienende Rolle spielen.
Nach den uralten Gesetzen der Ahnen schlossen sie eherne Bündnisse im Interesse der Sippen und besiegelten das Schicksal der Mädchen. Nicht Liebende wurden da vereint, sondern Familien zusammengeschmiedet. Der einzelne ist nur ein Glied in der Kette des Clans. Jede Lücke wird sofort durch eine Heirat geschlossen. Die Äste des Palaverbaums reichen bis in die Betten, in denen die getroffenen Vereinbarungen vollzogen werden. Die traditionelle Diplomatie ist nur die Spitze der Pyramide, die auf dem Dreieck zwischen den Beinen der Frauen gründet.
Die traditionelle Gemeinschaft gibt Sicherheit, aber sie erdrückt dich auch und walzt dich platt. Sie zermalmt dich wie ein Mörser, damit sie dich besser verdauen kann. Die Bande, die dich mit der Gruppe verknüpfen, nehmen dir die Luft zum Atmen, und du denkst nur noch daran, sie zu zerreißen. Das Feld der Pflichten und das der Rechte liegen zwar nah beieinander, aber das erste ist so weitläufig, daß du es dein Lebtag lang beackerst und erst zum zweiten kommst, wenn das Alter dich von der Arbeit befreit. Das Gefühl der Zugehörigkeit ist eine selbstverständliche innere Gewißheit; der Zwang dazu nimmt dir das Recht auf Selbstbestimmung. Aber sag das mal den Herdentieren, die stur ihre Werte wiederkäuen! Dann beschimpfen sie dich als Individualistin, als Kopie der Kolonialherren, und schließen dich aus. Frauen sind da am schlimmsten.
Wenn man den Roman liest, versteht man, weshalb Mauern und Meere den Drang nach Norden ins unermesslich reiche Europa nicht eingrenzen können. Man begreift, dass der Flüchtling, der nach Libyen oder weiter nach Süden zurückgebracht wird, dort nicht bleiben kann. (Man müsste ihn einsperren.) – Vielleicht liest man solche Romane aber nur, wenn man das alles schon verstanden hat. – “Ich will Ihnen sagen, was wirklich schamlos ist: wie die Dritte Welt verhungert, während der Westen aus allen Nähten platzt.” Das aber ist, wie vieles im Buch, politisches Statement, keine Fiktion. Aus Europa ist keine Hilfe zu erwarten:
Die Linke ist eine Kaviarlinke, die macht die Armen mit leeren Reden besoffen und frißt sich selbst mit gutem Gewissen voll. Die Linke ist zwar die Mutter der kleinen Leute, aber statt uns Milch zu geben, stellt sie lieber ihre schönen Brüste zur Schau. Und Integration gibt es auch bloß für die Nationalelf.
Der Roman endet im positiven Trugbild. Die in Frankreich erfolgreiche Schwester schickt ihrem Bruder Geld, damit er auf der Insel einen Laden eröffnet. Aber das ist nur einen Lösung für einen Menschen. Wer wird bei hm einkaufen? Was, wenn ein zweiter Laden aufmacht? Immerhin kann Madické sich einen störungsfreien Fernseher leisten.
„Der Bauch des Ozeans“ ist eine politisch gefärbte Sozialanalyse in Form einer Familiengeschichte. So kann sie exemplarisch sein, in ihren Figuren austauschbar, so wird sie zum konsumierbaren Roman. Diome zeigt auch, wie wichtig die Sprache ist zum Verstehen des Lebens, zur Begründung von Tradition. „Auch wenn du noch so nach Liebe hungerst, wirst du keinen Seeigel küssen.” »Nimm mich mit, Ozean, dein bitterer Bauch sei mir ein weiches Lager. Die Legende sagt, daß du jedem Zuflucht gewährst, der dich darum bittet.«
2003 275 Seiten
Leseprobe beim Diogenes-Verlag
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Shumona Sinha: Erschlagt die Armen !
Wie die Autorin Shumona Sinha stammt die Erzählerin des Romans aus Indien; sie lebt in Paris und ist an ihrer Hautfarbe als Migrantin etrkennbar. Als Dolmetscherin in der Asylbehörde steht sie zwischen dem bürokratischen Apparat und den ehemaligen Landsleuten. Zu beiden fühlt sie sich nicht zugehörig; beide erwarten Loyalität zu den Gesetzen bzw. Verständnis für ihr Anliegen, die Anerkennung als Asylberechtigte. Dieses Dilemma reibt die Erzählerin auf, sie hält den Belastungen nicht mehr stand und lässt ihre Wut in der Metro an einem Migranten aus. Sie schlägt ihm eine Flasche über den Kopf und wird festgenommen. Erschlagt die Armen! (Titel eines Gedichts von Charles Baudelaire)
Mit ihrer Zwischenperspektive beleuchtet Shumona Sinha einen besonderen Aspekt der Migration nach Europa. Sie thematisiert den Zustand zwischen Weggehen und erhofftem Ankommen im „gelobten“ Land. Ihr Herkunftsland, das ist das „Land aus Lehm“, und sie werden es auch im glatten Europa nicht los.
Sie trugen ihre Heimat, ihr Vaterland, ihre Religion bei sich. Sie waren verstreute Ländereien einer Nation, die durch sie weiterexistierte, in der Schwebe, wie ein Luftschloss. Ihre unbesiegbaren, uneinnehmbaren, undurchlässigen Schlösser in der Stadt und um die Stadt herum.
Im Apparat der Behörde „kommen die Dolmetscher aus verschiedenen Kontinenten und Ländern zusammen, aber es ist eine falsche, eine trennende, unberechenbare Nähe. Stacheldraht zwischen uns. Niemandsländer zwischen uns. Den anderen zu kennen, wäre genauso riskant wie die Überquerung der Grenzen, Meere und Ozeane. Jeder ist eine Welt für sich. Jeder trägt eine ganze Welt in sich, eine chaotische Welt. Hinter dem Anschein von Ähnlichkeit sind die Bewohner des globalen Dorfs unendlich weit voneinander entfernt, vereint und gleichzeitig so allein. Manchmal laufen wir einander über den Weg. Die Industriellensöhne und die Söhne der Dorfimame, die Doktoranden und die Gemüseverkäufer, die Mitteleuropäerin und die Russin, die Albanerin und der Armenier, der Inder und die Singhalesin, die Bengalin und die Chakma, die Mongolin und der Nepalese, der Kongolese und der Tschader, der Kurde und der Araber, die Türken und die Araber, die Araber und die Pakistaner, alle waten in derselben Langeweile und lauern darauf, an die Reihe zu kommen und ihre Sprachengymnastik zu beginnen.
“Sprachengymnastik” nennt sie die verlangten und für die staatlichen Stellen eingeübten Methoden, sich mit den Lebenswelten auseinanderzusetzen. Die Dolmetscherin muss auf der richtigen Seite stehen, sie muss politisch korrekt handeln und sprechen, obwohl eine solche Korrektheit nicht vorgesehen ist.
Die Dolmetscher aus den ehrgeizigen, im Wandel begriffenen Ländern, aus den nachtragenden Waisen-Ländern haben sich geschworen, nicht die Speichellecker der Länder des Nordens zu werden.
Ich wusste nicht, wie ich es ihm erklären sollte, aber ich versuchte trotzdem, ihm eine langsame Entwicklung verständlich zu machen, die nichts mit familiären oder beruflichen Zwängen zu tun hatte. Ich wollte ihm das versteckte Verlangen erklären, das Verlangen, das in endlosen Stunden des Lesens gewachsen war. Die Blendung. Die Trunkenheit. Bilder eines Lebens, getragen vom Strom einer fremden Sprache. Darin schwimmen und ertrinken. Auch mein Widerstreben gegen alles, das dieses Niveau nicht erreichte, das keine Erleuchtung brachte, das unweigerlich ins geistige Elend abstürzte.
Die Bewerber wollen nur eines: anerkannt werden. Darauf lassen sie sich vorbereiten mit den “Fabeln, die hinter der Bühne, in den Kulissen entstanden”. Doch der “Körper widerlegt das, was die Worte herbeireden. Ich wusste nicht mehr, wo der Körper aufhörte und die Sprache begann.”
Es war, als würden hunderte Männer ein und dieselbe Geschichte erzählen und als wäre die Mythologie zur Wahrheit geworden. Ein einziges Märchen und vielfältige Verbrechen. (…) Ich hörte mir ihre Geschichten aus zerhackten, zerstückelten, hingespuckten, herausgeschleuderten Sätzen an. Die Leute lernten sie auswendig und kotzten sie vor die Computerbildschirme. Menschenrechte enthalten nicht das Recht, dem Elend zu entkommen.
In der genauen Beobachtung und der präzisen Sprache für die Leiden der Menschen auf beiden Seiten – “die Verschmelzung der Zivilisationen” nennt sie „die albtraumhafte Verwirrung“ – liegt das Besondere des nachdenklichen und eindringlichen Romans. Shumona Sinha findet viele Bilder für die Entwurzelungen, auch ihrer eigenen, ihrer „traurigen Wut„. Und sie sieht ihre Rolle als Frau – die arbeitet, was die Männer, mit denen sie konfrontiert ist, nicht verstehen können.
Eleutheria, die Freiheit, beschreibt die Möglichkeit zu gehen, wohin man möchte. Ob Tier oder Mensch, der Wunsch zu gehen, wohin man möchte, ist unveränderlich. Ob Grieche oder nicht, frei ist niemand. Sie waren es nicht, keiner der Männer, die wir in unseren Büros empfingen, war frei. Sie werden es niemals sein. Aber sie werden frei sein zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie werden frei sein zu sagen, was sie für ihre Wahrheit halten. Sprechen ist eine Freiheit. Eine magere, aber immerhin.
2011 130 Seiten
Leseprobe bei Edition Nautilus
SWR – Buch der Woche (mit Audio)
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Aris Fioretos: Der letzte Grieche
Aris Fioretos kann bei seinem Roman auf bewährte Helfer zurückgreifen: Clio, die Muse der Geschichtsschreiber. Seine „Gehilfinnen Clios“, einem Kreis älterer griechischer Damen, sind am Werke einer „Enzyklopädie der Auslandsgriechen“. Daraus bedient sich Fioretos und verwebt die „losen Enden zu einem Faden“. Der Autor erläutert seine Methode im Vorwort, er mischt sich ständig ordnend ins Erzählen ein. „WIESO DAS? Es ist nicht ganz einfach, den Menschen zu beschreiben, der Jannis gegenüber saß. Dennoch müssen wir es versuchen.” Fioretos kann so auch die Chronologie aufbrechen, weil ja die Schicksale einer anderen Logik gehorchen. “Wunderbar raffiniert und kühn konstruiert” nennt das Dennis Scheck, doch führt das bei mir zu Schwierigkeiten, die Personen und ihre Erlebnisse in einen Zusammenhang zu bringen. (Ein Stammbaum ist mit abgedruckt.) In der zweiten Hälfte des Romans macht es mir Fioretos leichter, er konzentriert sich stärker auf Jannis’ Leben in Schweden als “Gastarbeiter”.
LEKTION: GLÜCK. Unser Jannis, der immer noch in Familie Florinos‘ Keller schläft, war überzeugt, dass ein Mensch nicht nur durch die Gefühle und Ereignisse beschrieben werden sollte, die er erlebt, sondern auch durch die Personen, aus denen er besteht – ganz oder teilweise, manchmal oder stets. Sonst treten Phantomschmerzen auf. (Vergleiche hierzu »Diese Jämmerliche Sache«.) Er war nicht der erste, dem dieser Gedanke gekommen war. Aber seit er seinen Vater verloren und die Großmutter ihn zu trösten versucht hatte, indem sie ihm erzählte, was vorgefallen war, als ihr eigener Vater starb, stellte er sich vor, dass ein lebendiger Mensch nicht bei Nagelrändern oder Haarspitzen aufhörte. Mal endete er bei der Ader, die sich über den zwiebelförmigen Fußknöchel eines anderen Menschen schlängelte, mal in der klebrigen Falte hinter den Ohren eines weiteren. »Sieh mal«, hatte Despina zu dem Siebenjährigen gesagt und die Kiefer aufgesperrt. »Ich dachte, der Mund wäre da, um mir zu ermöglichen, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Aber es stellte sich heraus, dass er wie dafür geschaffen war, deinen Vater an der Hand zu halten.« Daraufhin erzählte sie, als die Hasenscharte noch ein Kind gewesen sei, habe seine ganze Faust Platz in ihrem Mund gefunden. Die Großmutter meinte, es gebe Teile von Jannis, die in ähnlicher Weise mit Personen zusammengehörten, die geboren worden waren, bevor er selbst an einem Vormittag während der Besatzungszeit um ein Haar in einer Mülltonne ertrunken wäre, aber sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass er auch Organe in sich trug, die ihren rechtmäßigen Besitzer erst in ein oder zwei Generationen finden würden. Vielleicht sogar noch später. »Bis dahin kümmerst du dich um sie. Wie ich meinen Mund für deinen Vater aufhob. Vergiss das nicht. Menschen bestehen aus anderen Menschen.«
Die Griechen tragen ihr Griechentum in und mit sich, wo sie sich auch aufhalten mögen. Das ist eine drückende Bürde und sie ist dem Erreichen des Glücks nicht unbedingt dienlich. Dabei sind die Mitglieder von Jannis’ Familie selbst Eingewanderte, stammen zum Teil aus Smyrna in Kleinasien (heute Izmir), aber man lebt in Makedonien (wie schon Alexander der Große), in Neochóri, in Áno Potamiá. Schon das Wort “Auslandsgrieche” ist bezeichnend. Jannis Georgiadis geht nach Schweden, getrieben von der heimatlichen Enge und Not, ein wenig auch von der Militärdiktatur (1967 – 1974), gezogen von der Aufnahmebreitschaft Schwedens und bereits im Norden lebenden Landleuten. Fürs Erste kommt Jannis bei der Familie des Arztes Manolis Florinos unter, die „Integration“ ist nicht einfach, nicht nur die Syntax ist verdreht, sondern auch die Vorstellungen von Ehe. Jannis’ Beziehungsglück zerbricht am griechischen Erbe, „ weder hier noch dort zu Hause, ein Wanderer und Migrant, ein zäher Träumer”.
So sah das Leben aus. Lauter Übergänge. Erst wenn man seine Erlebnisse anderen vermittelte, verwandelten sie sich. Denn wenn man ein Ereignis wiedergab, wie Jannis es am ersten Abend auf dem Weg nach Balslöv getan hatte, verwandelte sich das Leben in eine Geschichte. Und Geschichten, das wusste er, bestanden aus lauter entscheidenden Augenblicken: Herzinfarkten, Militärputschen und Blitzeinschlägen, seltener aus dem Parfümtropfen hinter einem frisch gewaschenen Ohr, struppigen Ziegen oder quakenden Gummistiefeln, und praktisch nie aus nichtigen Anlässen zur Freude oder stechender Scham, trockenen, hilflosen Winden oder heißen Nächten so eng wie Schuhkartons. Geschichten waren das, was übrigblieb, wenn man das Leben entfernt hatte. Sie verwandelten Zufälle in Furchen auf dem Handteller.
Tatsache war, dachte Jannis, dass er auch jenseits dieser Tage andauerte und man in mehrere Richtungen gleichzeitig geboren wurde und sich entwickelte, vorwärts und rückwärts, und manchmal sogar seitwärts. Das Leben war wie ein Gewässer, das in alle Richtungen expandierte. Ein Tag wurde zum nächsten gelegt und dort gelagert, wohin die Zeit gelangte, nachdem sie stattgefunden hatte, eine schwerelose, stetig wachsende Ansammlung von Nichtigkeiten, die den meisten trist und in ihrer Einförmigkeit womöglich erdrückend erscheinen würde – wenn sie denn an sie dächten. Was sie aber niemals taten.
Jannis’ Leben ist voller solcher “entscheidenden” Augenblicke, doch kann auch der Leser oft nicht erkennen, was eine “Nichtigkeit” ist, eine Abschweifung des Autors, der zu viele Geschichten für wichtig hält, zu wenig weglassen kann. Ich habe öfter überlegt, das Buch wegzulegen, weil mir die Hauptperson fremd blieb, unter zu vielen Episoden verborgen, weil ich sie nur für eine Personifizierung hielt. Und das liegt nicht nur daran, dass der Roman ein “postmodernes Spiel” ist (Sandra Kegel, FAZ), sondern daran, dass sich der Autor nicht entscheiden kann zwischen Sprachverliebtheit mit“phantastischen Mückenschwärmen“ von Ideen,überfüllten Zettelkästen, auktorialen Einschüben und – über weite Strecken – auch konventionellem Erzählen – mit einer kunstvollen Metaphorik.
2009 415 Seiten (TaBu)
Dennis Scheck im Gespräch mit Aris Fioretos in “Druckfrisch”
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Jenny Erpenbeck:
Gehen, ging, gegangen
Anfangs hat es mich etwas irritiert, dass Jenny Erpenbeck mir nahelegte, mich dem Helden ihres Romans vertraut zu fühlen, indem sie ihn einfach Richard nannte. Ein pensionierter Altphilologe, ein soignierter Herr, der keinen Familiennamen hat, sondern bloß Richard heißt. Ich begreife aber, dass Richard mir nahesteht, denn er ist mein Avatar, der für mich die Fragen stellt und, was noch wichtiger ist, für mich handelt. Ich kann beim Lesen bleiben, auch wenn die Flüchtlinge vor der Tür stehen.
Gut, dass Richard aus der DDR stammt, so fühlt er sich immer noch ein bisschen fremd im Westen Berlins und er kann sich auch in Fluchtgedanken einfühlen, gut, dass er Altphilologe ist, so weiß er Fäden zu spinnen zu Herodot und auch zu Iphigenie und zu Johann Sebastian Bach und seinen Kantaten und all das hilft Richard zu verstehen und sich dabei als guter Mensch zu fühlen, als Humanist.
Richard liest, und während er liest, verrückt sich für ihn plötzlich auch der griechische Götterhimmel, der doch eigentlich sein Spezialgebiet ist, und er versteht plötzlich neu, was es bedeutet, dass sich für die Griechen das Ende der Welt da befand, wo heute Marokko ist, am Atlasgebirge, dort stemmte Atlas Himmel und Erde auseinander, damit Uranus nicht wieder in Gala hineinstürzt und ihr Gewalt antut. Die Gegenden, die heute Libyen, Tunesien, Algerien heißen, waren in der Antike das Gebiet vor dem Ende der Welt, also die Welt. (…)Die Amazonen, die Athene als erste verehrten, ursprünglich Amazigh genannte kriegerische Berberfrauen, tanzten am Ufer dieses Sees, von dort aus auch zogen sie in den Kampf – und sprachen Tamashek, die gleiche Sprache wie der, den Richard vor einigen Wochen, noch ganz in Verkennung der mythischen Lage, Apoll genannt hat: der Flüchtling aus Zimmer 2019.
Richard liest.
Der emeritierte Professor, der hier an einem Tag so vieles zum ersten Mal hört, als sei er noch einmal ein Kind, begreift nun plötzlich, dass der Oranienplatz nicht nur der Platz ist, den der berühmte Gartenbauarchitekt Lenne im 19. Jahrhundert konzipiert hat, nicht nur der Platz, an dem eine alte Frau täglich ihren Hund ausgeführt, oder ein Mädchen auf einer Parkbank zum ersten Mal ihren Freund geküsst hat. Für einen Jungen, der unter Nomaden aufgewachsen ist, ist der Oranienplatz, den er anderthalb Jahre bewohnt hat, nur eine Station auf einem langen Weg, ein vorläufiger Ort, der zum nächsten vorläufigen Ort führt. Beim Abriss der Hütten, der für den Berliner Innensenator ausschließlich ein Politikum war, hat dieser Junge an sein Leben in der Wüste gedacht.
Richards Frau, Christel, ist vor fünf Jahren gestorben, Kinder sind keine da, eher zum Zeitvertreib streift Richard durch die Stadt und wird vom Flüchtlingscamp am Oranienplatz angezogen. Was ist hier los? Was sind das für Leute? Nach dem Abriss des Camps, „Berlins größtem Zeltplatz“, im März 2014 folgt er den Flüchtlingen in die provisorischen Unterkünfte – und da beginnt der Roman. „Gehen, ging, gegangen“ sind die Chiffren, mit denen die Afrikaner Deutsch lernen, zunächst von einer äthiopischen Aushilfslehrerin, sehr hübsch, Richhard versucht sie zu googeln, Richard kann nützlich werden.
Richard hilft bei Behördengängen, er lässt einen Flüchtling bei sich arbeiten, bringt einem anderen das Klavierspielen nahe, isst mit ihnen, hört vor allem viel zu und erfährt vieles über das Leben – und Sterben – ihrer Familien in Nordafrika.Richard besucht sie in ihren Schlafsälen, kennt sie und ihre Namen, gibt ihnen neue: Apoll, Rufu, „der schwarze Mond von Wismar“. Für die Flüchtlinge ist es wichtig, ihre Geschichte erzählen zu können, bevor sie in die trostlose deutsche Bürokratie eingegliedert werden, hier- und dorthin verschoben.
Von dem Moment an, in dem sie eine Vereinbarung unterzeichnen, muss man sie auch verwalten. Bürokratische Geometrie, diesen Begriff hat er vor einigen Tagen in dem Buch eines Historikers über die Auswirkungen des Kolonialismus gelesen. Die Kolonisierten wurden durch Bürokratie erstickt. Gar nicht der ungeschickteste Weg, sie am politischen Handeln zu hindern. Oder wurden hier nur die guten Deutschen vor den bösen Deutschen beschützt? Das Volk der Dichter beschützt vor der Gefahr, noch einmal das Volk der Mörder zu heißen? Ein Propangaskocher in so einem Zelt auf dem Oranienplatz könne leicht einmal ins Kippen geraten, hatte in einem der anonymen Internet-Kommentare zu einem Zeitungsartikel gestanden, als der Platz noch von den Afrikanern besetzt war. Hatte der Senat also die Afrikaner in Sicherheit gebracht oder vielmehr sich selbst? Im letzteren Fall wäre das, was getan wurde – die wirkliche Unterbringung der Flüchtlinge in einem besseren Quartier – also nur eine Maske. Und was dann dahinter? Welches eigentliche Handeln hinter dem, was man sah? Wer spielte hier wem etwas vor? Richard, wie jeder, könnte natürlich der Mann mit dem Propangaskocher sein. Die Afrikaner wussten bestimmt überhaupt nicht, wer Hitler war, aber dennoch: Nur wenn sie Deutschland jetzt überlebten, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.
Der Roman ist nur vermittelt politisch, er berichtet von der „Verwaltung“, der deutschen Ordnung, dem Zwang zum Nichtstun, zum Warten auf Unbestimmtes, von den fehlenden Perspektiven, den ungewissen Ankündigungen. „Gehen, ging, gegangen“ „krankt auch daran, dass der harte gesellschaftliche Konflikt um die Flüchtlinge ausgeblendet bleibt. Die politische Frage, wie Zuwanderung denn nun zu regeln wäre und was das in der Praxis bedeutet, gerät gar nicht erst nicht in den Blick. (Jörg Magenau, SZ) Der Roman zeigt die Flüchtlinge in Situationen, die ihnen nicht bekannt sind. Sie finden sich alleine in Berlin nicht zurecht, weil sie noch keinen Stadtplan gesehen haben, obwohl sie eine gefährliche Flucht hinter sich haben.
Dann also eben Berlin. Ungewaschen saß er im Flugzeug. Nach der Ankunft sprachen rings um ihn alle die neue fremde Sprache, er verstand nichts mehr, konnte nur nicken. Sah Leute in einen Bus steigen: Fährt der ins Zentrum? Drei Nächte am Alex. Ein Mann sagte ihm, es gebe da einen Platz. Mit Afrikanern wie mir? Dann kann ich mich dort bestimmt endlich waschen. Der Mann kaufte ihm eine Fahrkarte am Automaten. Eine Maschine, aus der ein Fahrschein kommt? Deutschland is beautiful!
Jenny Erpenbeck meint es gut mit mir. Doch infolge der vielen Informationsangebote bin ich dem Wilkommenskulturisten Richard eher voraus, er hat mir zu den Flüchtlingen wenig Neues zu vermitteln. Im Vordergrund ist immer der Gute Richard, doch so nahe er mir steht, so wenig interessiert mich eigentlich seine Geschichte. Dazu kommt, dass Jenny Erpenbeck Richards Erleben und Wissen zu stark im Stil einer Christmas Carol erzählt, immer im Präsens, sodass man live dabei ist, und tatsächlich, es wird Weihnachten …
und dann steht der atheistische Richard, der eine evangelische Mutter gehabt hat, mit seinem muslimischen Gast vor dem illuminierten, heidnischen Weihnachtsbaum, auf den, das war bei Richard und seiner Frau immer die Regel, nur Kerzen aus echtem Wachs aufgesteckt sind. Der Thomaschor singt, die Gänsekeulen sind warmgestellt, die Klöße werden bald aufsteigen und der Rotkohl brodelt, mitsamt Essig und Nelken. Und nun soll sich der Gast, weil Richard sonst kein Geschenk für ihn hat, aus dem Schrank eine Winterjacke aussuchen und probieren, es findet sich eine, die Richard immer zu groß war, aber dem Blitzeschleuderer passt und gefällt. Thank you, 1 really appreciate that. Zum Essen setzen sie sich, weil es praktischer ist, in die Küche: Auch wenn’s nicht ganz so feierlich ist – no, what do you think, 1 like it, it’s nice hexe, very nice! But what about the burning candles an the tree?, sagt Raschid. Keine Angst, die Kerzen gehen von selbst aus, wenn sie heruntergebrannt sind, sagt Richard, als wäre diese Erfindung des Westens für ihn eine vollkommen selbstverständliche Sache. Das Essen scheint Raschid gut zu schmecken, wächst in Nigeria eigentlich Rotkohl?
… und dann erzählt Raschid die Geschichte seiner Flucht übers Mittelmeer:
Drei Tage fuhren wir einfach herum, ohne die Richtung zu wissen. Der Kapitän übersah nachts ein paar Bojen, da schrammte das Boot über Felsen. Der Motor ging kaputt. Panik brach aus.
Zwei Tage schaukelte das Boot wild hin und her. Wir konnten es nicht mehr lenken, und wir hätten auch nicht gewusst, wohin.
Fünf Tage insgesamt ohne Essen und Trinken. Es ging uns allen sehr schlecht. Einige sind gestorben. Und die, die noch lebten, hatten überhaupt keine Kraft mehr. Ich war so schwach. So schwach. Ich hab alles nur noch verschwommen gesehen.
Jenny Erpenbeck meint es gut mit den Flüchtlingen und mit den gebildeten Bürgern und mit mir.
2015 350 Seiten
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