Nachrichten vom Höllenhund


Ross
25. März 2020, 14:52
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Fran Ross: Oreo

franrossoreoTrizina liegt in der Argolis auf der griechischen Halbinsel Peloponnes. Ihr antiker Name war Troizen, die Stadt gilt als Geburtsort von Theseus. Theseus’ Vater hieß Aigeus, die Zeugung war einigermaßen rätselhaft.

Da Aigeus glaubte, dass die Königstochter Aithra von ihm schwanger sei, versteckte er ein Schwert und ein Paar Sandalen unter einem schweren Stein. Sollte Aithra ein Sohn geboren werden, so solle dieser, wenn er stark genug sei, den Stein zur Seite rollen und mit den deponierten Dingen zu ihm nach Athen kommen. Das ist von Belang, da Fran Ross Aigeus, Aithra und Theseus als „Figuren“ des Romans auflistet und ihre „Darsteller“ Samuel Schwartz, Helen Clark und Oreo nennt. Oreo (16), die eigentlich Christine heißt, also weiblich ist, ist die „Heldin des Romans“, die Familiengeschichte ist ähnlich unübersichtlich wie die die von Theseus. Oreos Vater ist Jude, ihre Mutter Schwarze. Aigeus hatte sich nach Athen verzogen, Schwartz verließ Frau und Kind nach New York.

Der erste König von Troizen soll Oros geheißen und seine Reich Oraia genannt haben. Das Mädchen Oreo nannte sich nach einem mit einer weißen Creme gefüllten schwarzen Doppelkeks. „Oreo ist aber auch ein Schmähbegriff für Schwarze, die durch höhere Bildung, Religion oder Familie vermeintlich Teil der weißen Kultur geworden sind oder es gerne sein würden.” (Max Czollek im sehr informativen Nachwort)

Auch die Autorin Fran Ross hat einen jüdischen Vater nud eine schwarze Mutter.
Das alles muss man nicht wissen, um dem Inhalt folgen zu können. Aber ein paar Informationen über jüdische Feste und Riten helfen beim Lesen. Im Buch gibt es auch einen Anhang hierzu und ein Glossar jiddischer Wörter, die Einordnung des amerikanischen Lebens in die griechische Mythologie macht die Lektüre erst (recht) zu einem Vergnügen.

Teil 1 heißt „Troizen“, meint Philadelphia und beschreibt die „Mischpoke“. Herausragend sind die Großmutter mütterlicherseits: Louise und Helen, die „Mutter der Heldin“ Christine aka Oreo. Louise ist bekannt für ihre Sprechweise und ihr Faible für Essen.

Zu Helens frühesten Erinnerungen gehört, wie sie bei Louise auf dem Schoß saß und genötigt wurde, »’bier ma diier, Tor­nado Bernice« (probier mal die hier, tournedos Bearnaise), ihr dabei über die Schulter sah und das erstaunlich weiße Ge­sicht ihrer Mutter mit dem von deren Vater verglich, dem ab­soluten Farbtyp 1, wenn es je einen solchen gab. Sein Porträt hing in einem ovalen Rahmen im Esszimmer. (…)

Louise sprach nur in groben Zügen, das Wer, Was, Wo, Wann, Wie und Warum mussten die Angesprochenen je­weils selbst einfügen. Namen merkte sie sich nur selten (»Da gehn Miss Hießdienoch und ihre Tochter.«), oder sie nahm erst zwei-, dreimal Anlauf, bevor sie den tödlichen Sprung auf die Beute schaffte (»Juuhuu, Jenkins … ich meine Mabel … ach nee, George!«), oder griff zu ähnlich klingenden Ersatz­wörtern (das »Kiel« in »Geh in‘ Laden ’ne Flasche Kiel holn« stand für Pril). Auch im Umgang mit Zeit blieb sie vage. Stun­den oder Minuten gab sie grundsätzlich nicht an. Immer nur »halb«, »vittelvö« oder »vittelnä«. Entsprechend war alles zwi­schen 3 Uhr 1 und 3 Uhr 25 bei ihr schlicht »vittelnä«. Woher sie die Südstaatensprüche hatte, die ihrer Sprache die Würze gaben, wusste niemand. Als Helen heranwuchs, sagte Louise oft, solange sie zwei Löcher in der Nase habe, wolle sie » ver­dammich« sein, wenn sie je begreifen würde, wie diese ihre Tochter derart »schlurich« (schluderig) sein könne, und dass ihre Haare aussähen »wie’n Heuhauf’m« und ihr Zimmer »wie ‚m Teufel sein Hühnerstall« und sie bloß »Stroh im Kopp« habe und sich manchmal benehme wie ein »Straßenköter« und ein »Heidenkind« sei, weil sie sich weigerte, in die Golgatha-Bap­tistenkirche zu gehen, und was ihr tägliches Treiben angehe, naja, man wisse ja, »Gott mach‘ hässlich nich’«.

Die Krönung von Louises Kochkunst ist “La Carte du Diner d’Helène” .

Helen schrieb (…) auf einen Zettel, welche Ta­lente sie hatte:

    1. Mimesis
    2. Kopfgleichungen
    3. Singen
    4. Klavierspielen.

Soweit sie wusste, war die Nachfrage nach schwarzen Imitato­rinnen nicht eben groß. (»Und jetzt mache ich James Cagney, wie er Mae West Steppen beibringt, und zwar Buck-and-Wing.« Cagney: Klicketi-klick, Klicketi-klick. Mae West: Umpfti-umpf, umpfti-umpf. Cagney :»Du, du, du miese Ratte – es heißt buck, mit b!«) Ihre Kopfgleichungskapazitäten kommerzialisieren wollte sie nicht. Und Nr. 3 und 4 waren die Klischee-Plusse und -Minusse. Trotzdem nahm sie die 4.

Es gibt auch noch Bruder Jimmy C, Haustiere und –lehrer und viel Sprach-WITZ (“Weg des Interstitiell Treffsicheren Zorns”), gern auch derb und feucht:

Vom anderen Ende kam ein Stöhnen, dann ein heiseres: »Ich würde doch ganz gern persönlich vorbeikommen und die komplette Untersuchung vornehmen.«
»Dann tun Sie das doch«, erwiderte die Bestöhnte liebrei­zend.
»Ich bringe meine Instrumente mit«, sagte der Doktor in einem letzten Täuschungsversuch.
»Mehrere?«, fragte Oreo. »Eins reicht doch. Ach übrigens, Herr Doktor, mir sind endlich ein paar Wörter eingefallen.
Weiß gar nicht, wieso mir die vorhin entfallen waren.« Sie sprudelte einen Haufen Wörter heraus, die mit F und N und P anfangen und sich auf Zicken und Hageln und Noppen rei­men.
Jetzt entfuhr dem Doktor ein Keuchen im Format Masters und Johnson. In einer Stunde sei er da, japste er. Oreo ver­sprach, ihn auf der Veranda zu erwarten, bekleidet mit einem Begonienblatt.
Dann lief sie schnurstracks drei Häuser weiter zu Betty Williams und erzählte ihr, sie wolle einem Bekannten einen Streich spielen. Betty Williams war die Kieznymphomanin. Sie würde für zwei Cent einen Pümpel pimpern. In West Phil­adelphia hatte die Geschichte von Betty und dem Freund aller Klempner Sagenstatus. Damit war jeder, der das Wort Freund nicht als Schibboleth verstand, sondern auf einen Menschen bezog, automatisch als nicht hiesig enttarnt und wurde zum Objekt von xenophobischem Hohn und Spott. Betty willigte gern ein, ihrer jungen Freundin zu helfen.

Teil 2 heißt “Mäandern” und folgt in der besagten Methode Oreos Weg zu ihrem Vater nach New York.

Dann zog sie die Kor­del der schwarzen Handtasche (Modell Pferdeheusack) auf, schob die Socken beiseite, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, und zog die kaffeeverkleckerte Liste mit seinen Hinweisen heraus.

    1. Schwert und Sandalen
    2. Drei Beine
    3. Der Große Riss
    4. Sau
    5. Tritte
    6. Zwirbel
    7. Größen
    8. Down by the River
    9. Tempel
    10. Glückszahl
    11. Gestrüpp
    12. Segel

Sie strich den ersten Punkt durch. Wenn der zweite genauso weit hergeholt war wie der erste, dann konnte »Drei Beine« alles heißen, von kaputter Stuhl bis siamesische Zwillinge. Egal. Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hinge­hen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.

Die Kapitel beziehen sich auf die griechische Mythologie: “Oreo folgt der Theseus-Sage mit all ihren Volten.“ (Klappentext) Der Weg schlängelt sich vorbei am Bösewicht Peripetes, am Fichtenbeuger Sinis, am Krommyionischen Schwein Phaia, dem Wegelagerer Kerkyron oder dem Gliedausrecker Prokrustes. Bei Fran Ross heißen sie natürlich anders. Die Zwergenfamilie, die in gräßlichen Reimen spricht, der üble Zuhälter Parnell mit seinen 9 „Dirnelein“, eine geschmuggelte Bulldogge. Oreo besiegt sie alle mit ihren sehr speziellen Methoden. Ihr Motto: „Nemo me impune lacessit“, bzw, auf südstaatisch: „Mir saacht kein Nigger nich, was ich zu tun und zu lassen hab!“ Das alles wirkt hier wohl reichlich unübersichtlich. Aber Du solltest dich nicht abschrecken lassen. Einfach mal lesen.

“Gibt es authentisches schwarzes, jüdisches, weißes, femi­nistisches Schreiben? Nein, antwortet Ross mit Oreo, schon die Frage verengt den Umgang mit Literatur auf eine politische Debatte um kulturelle Aneignung und Authentizität, die sich niemals für alle Teile einer Gruppe beantworten lässt. Die Rea­litäten jeder einzelnen Person sind so radikal vielfältig, dass es das gesamten literarischen Kanons bedarf, um sie darzustellen”. (Max Czollek) “’Oreo’ ist ein köstliches, sprachexplosives Anti-politische-Korrektheitsprogramm, und ein Genuss für alle, die schon immer postmoderne Romane mochten. Denn identifikatorisch ist hier gar nichts, eher wirkt es so, als habe die Autorin alles (…) durch einen Mythen-Fleischwolf gedreht.“ (Maike Albath, SZ) „Wir wussten es nicht, aber wir haben auf dieses Buch ge­wartet.” (Max Czollek)

1974        280 Seiten           Deutsche Erstausgabe 2019

Für die Übersetzung erhielt Pieke Biermann den Preis der (ausgefallenen) Leipziger Buchmesse 2020

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