Nachrichten vom Höllenhund


Ahrens
10. Mai 2022, 14:58
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Henning Ahrens: Mitgift

» So ist das nun mal. So gehört es sich.«

Die Leebs. Der Hof. Sie gehören zusammen, seit sechs Generationen, seit 200 Jahren. Hans Wilhelm Leeb ist ein hitzköpfiger Mann, er herrscht tyrannisch über Hof, Frau und Kind, „die Gebote der heiligen Schrift stehen über allem“. Seit August Wilhelm Leeb den Hof 1865 an die „Mission“ vererbt, kämpfen die Nachfahren darum, den „Hof seiner Familie zurückholen“  zu können,  „koste es, was es wolle“. Das sind Rückblenden.

Die erzählte Geschichtszeit beginnt im Zweiten Weltkrieg. Wilhelm („Der erste heißt immer Wilhelm.“ – Man findet die Wilhelms auf einer Übersichtsseite.) Leeb ist im Kriegseinsatz in der Ukraine. Er hat erfahren, diszipliniert zu sein und von allen anderen Disziplin zu verlangen. Die Devise »Es geht nicht darum, was du willst. Du stehst in der Pflicht, und die Pflicht, die wird schlussendlich zur Freude, mein Sohn.  Wie auch  …« — er sah Willi listig an — »… die Freude zur Pflicht wird. Nicht wahr?« hat die Jahrhunderte überstanden und klebt als „Mitgift“ am Hof. Es ist auch ein passendes Motto für die Kriegsbegeisterung Wilhelms, er fühlt sich als Nazi-„Herr“ bannig wohl. Gerade als er sich auf der ukrainischen Erde als Landwirtschaftsführer eingelebt hat, geht der Krieg verloren. Wilhelm sieht sich betrogen, gerade noch gelingt ihm die Flucht. Einen Ukrainer und zwei Ukrainerinnen nimmt er mit in die „Heimat“. Die Begeisterung von Frau und Kindern über die Rückkehr des Familienoberhaupts ist verhalten.

Er hätte souverän und würdevoll Einzug halten müssen! Stattdessen ist er auf den Hof gepoltert, als wäre es nicht der seine. (…)
   Während er dasteht und seinen Blick über die Scheunen, die Ställe und die Kastanie schweifen lässt, die neben dem Tor zur langen Diele steht, überkommt ihn ein Gefühl der Verlorenheit: Weder hat man die Haustür zu seiner Begrüßung mit Eichenlaub geschmückt, noch lässt sich jemand blicken, und sein Sohn — sein Fleisch und Blut — hat gar Reißaus genommen.

Sein mentales Erbe erlaubt nur eine Reaktion: Disziplin und Herrschaft. Die Verbitterung über die Niederlage des Vaterlandes, womit er sich identifiziert, verschärft den Ton.

»Aufräumen!«, knurrt er. »Man muss erstmal aufräumen   in dieser Weiberwirtschaft. Schluss mit dem   Schlendrian! Ihr werft alles weg? Schön, dann ziehe ich hier neue Saiten auf, ihr werdet schon sehen, und mit euch …« — er zeigt der Reihe nach auf seine Kinder — »… fange ich an.« Er hält seiner Frau das Glas hin, und sie schenkt   gehorsam Doppelkorn   nach. Alle haben unwillkürlich den Kopf eingezogen, nur Oma Leeb nicht, die aufrecht dasitzt und ihren Sohn mit unergründlicher Miene durch die Nickelbrille betrachtet. Ihre Hände ruhen auf der im Schoß liegenden Leinenserviette mit dem   eingewebten    Monogramm; sie lässt ihre Daumen so rasant umeinanderkreisen, als würden sie das Räderwerk ihres Denkens antreiben.

   Das sieht aber nur der neben ihr sitzende junge Wilhelm. Er gibt nicht viel auf die Worte seines Vaters, der gerade erst heimgekehrt ist und deshalb nicht erfassen kann, was sie geleistet haben, aber das wird er schon noch begreifen. Wilhelm nimmt sich ein Beispiel an der Großmutter und drückt den Rücken   durch. »Wir haben gut gewirtschaftet, Vater«, widerspricht er, »gemessen an den schwierigen Bedingungen   während des Krieges. Und genauso danach, ja bis heute, denn vieles ist nach wie vor ein Problem, etwa die Beschaffung von Saatgut oder Setzkartoffeln, von Dünger ganz zu schweigen, und…«

  Sein Vater unterbricht ihn. »Ich bin nach all der Zeit, nach vier erniedrigenden …« — er presst das Wort zwischen den Zähnen hervor  — »… Jahren nicht heimgekehrt, um mir Vorträge anzuhören, Wilhelm! Ich bin heimgekehrt, um zu handeln. Ich bin nicht heimgekehrt, um am Katzentisch zu sitzen, sondern …« — er pocht auf die Tischplatte — »… um den mir gebührenden Platz einzunehmen. Was ihr gemacht habt, ist mir gleich. Was ich ab jetzt tue — das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?« Er starrt ihn herausfordernd an.

   Der junge Wilhelm ist wie vor den Kopf gestoßen. »Ja, sicher«, murmelt er, »und trotzdem …«

   »Ab jetzt gibt es kein >Trotzdem< mehr. Keine Widerworte. Ab jetzt wird pariert. Und das …« — sein Vater sieht sich in der Runde   um — »… gilt für alle!« Als sein Blick auf seine Mutter fällt, verstummt er. Und Oma Leeb lässt die Daumen kreisen, kreisen und kreisen, wie sich die Erde dreht.

Schon der Großvater von 1870, Willi, wollte Lehrer werden, wollte den Hof nicht übernehmen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Der Wilhelm von 1931, Willem genannt, wogegen er sich vergebens sträubt, kann sich mit seiner „Mitgift“ nicht anfreunden. »Du bist doch ein Leeb, also reiß dich zusammen!  Was willst du denn machen, wenn du in der Hitlerjugend bist? « Der Vater ist zu laut, erwartet zu viel, die Mutter ist nur eine Frau, Willem schleicht in den Kuhstall, legt sich in die Rinderkrippe. „Da will ich lieber tot sein, denkt er, dann würde ich den Eltern weder Kummer noch Verdruss bereiten. Dieser Gedanke treibt ihm Tränen in die Augen.“

Der Ochse, es ist Kastor, der mit den Locken zwischen den Hörnern, stößt die feuchte, weiche Schnauze gegen Wilhelms Gesicht, er muss erstmal gucken, ob das, was da in der Krippe liegt, auch schmeckt, ist ja klar, und dann spürt der Junge die raue, feuchte Zunge auf der Stirn und auf den Wangen. Er beißt die Zähne zusammen, seine auf der Brust liegenden Hände verkrampfen sich, und er bekommt es mit der Angst, hoffentlich tut das nicht weh, aber alles ist besser, als das Geschrei seines Brüderchens und seines Vaters zu hören, und seiner Mutter ist er sowieso egal. Also fügt er sich in sein Schicksal und harrt des Maules, das ihn verschlingen wird.

„Mitgift“ ist kein „Dorfroman“, der Hof und seine Nachbarhöfe sind das Zentrum des Lebens, der Mühen und der Gedanken. Der Hof ist das Universum, selbst die Heiratskreise drehen sich um ihn. Der Hof wird stets als bedroht und zugleich bedrohlich empfunden. Die Menschen leben für ihn, buckeln, walten, die Männer fühlen sich zum Tyrannisieren gezwungen und empfinden kein Glück dabei. Der Krieg bringt einerseits alles ins Wanken, nur unter großem Aufwand lässt sich der Hof durch die Zeit bringen, für den Hof-Herren ändert sich gar nicht so viel, die Ideologie fußt ja in der Politik wie auf dem privaten Besitz auf dem Völkischen, auf dem Deutschtum, auf den überkommenen Hierarchien. Unerträglich wird es für den Hoferben, wenn diese eingebrannten Geisteshaltungen angezweifelt werden, wenn die alten „Werte“ plötzlich nicht mehr geachtet werden, nichts mehr gelten sollen. Angriffe auf den Mann, den Herrn.

Die niedersächsische Provinz scheint besonders bodenverbunden, exemplarisch deutsch, doch sind die Schicksale auch in anderen Regionen die gleichen. Die Katastrophen, den Krieg, ordnet man in den Lebensverlauf ein und hat sie zu ertragen. „Freiheiten“ kennt man nicht, man muss „in die Fußstapfen der Vorväter treten, so war es nun mal“. Gegen die Nöte der Frau soll „Klosterfrau Melissengeist“ helfen. „Die historisch weiter ausgreifenden Szenen liest man ein bisschen so, als blättere man in einem Familienalbum. Interessant sind die Realien. Man erfährt, wie wenig selbstverständlich Traktoren und fließendes Wasser noch bis weit in die Bundesrepublik hinein waren und wie hart, patriarchalisch, Gefühlen gegenüber indolent und dem Hof alles unterordnend das Leben war.“ (Dirk Knipphals, taz)

Henning Ahrens springt mit den Kapiteln durch die Zeit. Die Erzählordnung folgt nicht der Chronologie, sondern erzeugt historische Konnexionen, bildet Zusammenhänge ab, bebildert die Mechanismen der „Mitgift“ Zwischen diesen Geschichten aus der Vergangenheit wird auf das Ende geblendet: 1962. Die „Totenfrau“ Gerda Derking, nicht heiratstauglich, weil ohne Mitgift, wird zum Hof gerufen, einer ist gestorben, er fühlte sich der „Mitgift“ nicht gewachsen. Zusammen mit Lisbeth und Fräulein Bernhard sitzt sie in ihrem Garten und kommentiert die Hofwirtschaft wie ein griechischer Chor.„Es ist ein Buch wie Schwarzbrot. Man muss kräftig kauen, bis sich der Geschmack entfaltet. Aber ein Buch, das ins Mark geht, langsam erzählt, mit genauem, warmem Blick.“ (Peter Helling, NDR)

2021 – 340 Seiten

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Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich

Henning Ahrens im Gespräch | #fbm21 24.10.2021 ∙ Frankfurter Buchmesse 2021



Roth
5. Oktober 2019, 17:27
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Joseph Roth: Das Spinnennetz

rothspinnennetzDer „Hitler-Putsch“, das war 1923 im November. Im Oktober und November 1923 erschien in der Wiener Arbeiter-Zeitung ein Fortsetzungsroman von Joseph Roth. Roth war 29, sein erster Roman blieb ohne Ende.

Im Mittelpunkt steht Theodor Lohse. Aber der Roman heißt „Das Spinnennetz“, denn Lohse vernetzt sich geschickt und skrupellos und fügt sich in rechtsnationale Kreise im Umfeld von General Ludendorff ein. Als WK1-Leutnant hat er keine Orientierung gefunden als den eigenen Wunsch aufzusteigen, beachtet zu werden, zur Spinne zu werden. Er mordet, intrigiert, dient sich an, sucht Verbündete. Ein geheimes Netz muss natürlich fragil bleiben, keinem ist zu trauen, auch Benjamin Lenz nicht, der als Doppelagent agiert, aber über Wissen und Geld verfügt. Immer wieder gerät Lohse an Juden und fühlt sich von ihnen gedemütigt. Schließlich heiratet er Elsa von Schlieffen, adelig, national, antisemitisch und in der Tradition erzogen, dass sie zu einem Mann „aufschauen“ muss. Man kennt die Typen aus vielen Romanen, Filmen und Geschichtsbüchern. Das besondere an Roths Roman sind seine Entstehungszeit und der Schreibstil.

Theodor Lohse:

Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine frem­de Gewalt, und er fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Mil­lionen Buntheiten vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren Männern. Sooft er durch das Brandenburger Tor ging, träumte er den alten, verlore­nen Traum vom siegreichen Einzug auf schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an der Spitze seiner Kompanie, von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen geküßt, von Fahnen umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich getragen und liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines freiwil­ligen Eintritts in die Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des Krieges. Die schmerzende Be­schimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese hatte dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelan­gem Marsch, das brennende Weh in den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle Weiß der verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.

Der Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krank­heit, die lange unsichtbar in Gelenken, Nerven, Mus­keln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt, der man nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst.

Die Zeiten:

In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel. Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen waren verhaßt.

Der Hass:

Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. Er hätte gern ein Märtyrer seines Ruhmes werden, der Volkstümlichkeit des Namens sein Leben opfern mögen. Es schmerzte ihn der Zwang zur Na­menlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte. Und je geringer die Kraft seiner Überzeugung wurde, desto mehr erweiterte er die Gebiete seines vorgetäusch­ten Hasses: Nun sprach er nicht nur gegen Arbeiter und Juden und Franzosen, sondern auch gegen den Katholi­zismus, die Römlinge. Er überfiel den Saal, in dem der katholische Schriftsteller Lambrecht sprach. Er saß in der ersten Reihe. An ihm vorbei rauschten Sätze einer frem­den, unverständlichen Sprache. Aber ein Wort fiel nie­der, das Wort »Talmud«.

Die Arbeiter:

Die Arbeiter gingen mitten im grauen Regen. Grau waren sie wie er. Unendlich waren sie wie er. Aus grauen Quartieren kamen sie wie er aus grauen Wolken. Sie waren wie ein Herbstregen. Unaufhörlich, unerbittlich, leise. Wehmut verbreiteten sie. Sie kamen, die Bäcker mit den blutlosen Gesichtern, die wie aus Teig waren, ohne Muskel und Kraft; die Menschen von der Drehbank mit den harten Händen und den schiefen Schultern; die Glasbläser, die nicht älter werden sollten als dreißig Jahre: kostbarer, tödlicher, glitzernder Glasstaub stach in ihren Lungen. Es kamen die Bürstenbinder mit den tiefen Augenhöh­len, den Staub der Borsten und Haare in den Poren der Haut. Es kamen die jungen Arbeiterinnen, von der Arbeit gezeichnet, mit jungen Bewegungen, verbrauch­ten Gesichtern. Es gingen die Tischler. Sie rochen nach Holz und Hobelspänen. Und die riesenhaften Möbel­packer, groß und überwältigend wie eichene Schränke. Es kamen die schweren Arbeiter aus den Brauereien, sie stampften wie große Baumstämme, die gehen gelernt haben; die Graveure kamen, in den Falten ihrer Gesich­ter den kaum sichtbaren Metallstaub; die Zeitungssetzer, die übernächtigten, die zehn Jahre und länger nicht eine ganze Nacht geschlafen hatten; sie haben gerötete Au­gen und blasse Wangen und sind nicht vertraut mit dem Licht des Tages.

Die Straßenkämpfe:

Der Zug der Arbeiter singt die Internationale. Sie singen falsch, die Arbeiter, aus vertrockneten Kehlen. Sie singen falsch, aber mit rührender Kraft. Es singt eine Kraft, die weint, eine schluchzende Gewalt.

Anders singen die jungen Studenten. Aus gepflegten Kehlen tönende Gesänge, volle runde Klänge, siegreiche Lieder, blutige Lieder, satte Lieder, ohne Bruch, ohne Qual, kein Schluchzen ist in ihren Kehlen, nur Jubel, nur Jubel.

Ein Schuß knallt. (…)

Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen. Er schmettert die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt er mit den Ab­sätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden Hände. Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.

Es wurde Abend. Feuchte Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg der Ordnung.

Es war ein Sieg der Ordnung.

Der Sieg:

Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen hatten – der starb unterwegs, und die schwarzen, großen Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.

Das ist geschriebener Expressionismus. Stakkato-Sätze. Wortblitze. Stilversuche. Ein Text für die schnell gelesene Zeitung, ein Text für die rasend empfundene Zeit. Der Roman hat seine Aktualität nur teilweise verloren. Heute sieht man den Typ “Lohse” als verblendete Witzfigur, erklärt ihn mit dem Krieg und den Wirren der Republik, die keine “Ordnung” für sich finden konnte. Der Rahmen des Geschehens ist aktuell wie je, denn auch hinter den heutigen “Witzfiguren” stehen Netzwerke, wie sie speichelnd Uwe Tellkamp in seinem “Eisvogel” beschreibt: rechte Geheimorganisation mit terroristischen Visionen. Großes Geld, das im Hintergrund die Meute anstachelt. Natürlich ist der „Schoß“ fruchtbar.

Jospeh Roths „Das Spinnennetz“ von 1923 erschien erst 1967 (!) als Buch. 1989 machte Bernhard Wicki aus dem kurzen Roman einen über dreistündigen Film (mit Ulrich Mühe als Theodor Lohse und Klaus Maria Brandauer als Benjamin Lenz).

1923          125 Seiten (TaBu)

Romantext bei Projekt-Gutenberg

Hörspiel des BR

 

 



Guez
7. Dezember 2018, 14:26
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Olivier Guez:
Das Verschwinden des Josef Mengele

guezmengeleMengele ist der Fürst der europäischen Finsternis. Der stolze Arzt hat Kinder seziert, gefoltert und verbrannt. Der Sohn aus gutem Hause hat fröhlich pfeifend vierhunderttausend Menschen in die Gaskammer geschickt. Lange hatte er geglaubt, sich wieder aus der Affäre ziehen zu können, er, »die Spottgeburt von Dreck und Feuer«; er, der sich für einen Halbgott hielt, der Gesetze und Gebote mit Füßen getreten und anderen Menschen, seinen Brüdern, teilnahmslos so viel Leid und Kummer zugefügt hatte.

Ich weiß, dass dieser Schreckensmensch sich der Strafe durch die Flucht nach Südamerika entzogen hat und dass er dort 1979 gestorben ist. Ich habe mich wiederholt aufgeregt, dass er – wie viele andere – zig Jahre lang unbehelligt weiterleben konnte, aber muss ich auch wissen, wie es diesem Mengele im „Exil“ ergangen ist, wie er „gelitten“ hat? Muss ich gar Mitgefühl für sein Los aufbringen?

Olivier Guez begleitet Mengele durch Südamerika in der Art des „recit“ (link: Vuillard), einer nachempfindenden Geschichtserzählung, wie sie in Frankreich gerne gelesen wird. „Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen.” (Guez) Da muss nicht alles genau so gewesen sein, aber das Geschehen ist gut recherchiert und wird für den Leser anschaulich, auch der Leser kommt nah an die Personen. Oft näher, als er will und als ihm guttut. In Frankreich wurde der Roman zum „Sensationsbestseller“ (Klappentext). Darf man davon ausgehen, dass das Buch in Deutschland mehr von Gruselfaszinierten oder wiederaufziehenden Nazis gelesen wird?

Mengele ist ein unangenehmer Mensch. Arrogant, überheblich, uneinsichtig, voll larmoyanten Selbstmitleids, manisch ichfixiert. Das heißt im Konglomerat auch: dumm. Einer, der das Wort „Herrenmensch“ in Anspruch nimmt wie auch unreflektiert die „Herrenrasse“. Ein Nazi.

»Papa, was hast Du in Auschwitz gemacht?«
Unwirsch hält Mengele inne, man unterbricht ihn selten. »Meine Pflicht«, sagt er rundheraus, »meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien«.

Guez zeigt das schon deutlich als hohle, substanzlose Ideologie. Aber er steht oder sitzt daneben, immer, überall, lange, zu lange und er feit sich nicht gegen das Melodram.

Mengele hat sich noch nie so einsam gefühlt wie in die­ser Gewitternacht. Während er schnurrbartkauend Galle spuckt, streifen Blitze die Finsternis und der Himmel grollt, als beharkten Stalinorgeln die Hügel, auf denen die Farm Santa Luzia liegt. Hölle und Verdammnis, murmelt er, Gott, wie tief ist er gefallen, wie schnell ist er in den letzten drei Jahren von der Erdoberfläche gerutscht, verschwunden, un­bedeutend, nur noch von zwei zarten Fädchen am Leben ge­halten, dieser ungarischen Familie, die ihn früher oder spä­ter verraten wird, und dem penetranten Gerhard, diesem absoluten Versager und brasilianischen Pseudo-Nazi. Die feinen Schnüre drohen jeden Moment zu zerreißen. Fürch­terlich! Im Morgengrauen sinkt Mengele schweißgebadet auf sein Bett.

Was soll das !?

Neben den Geschichten mit Mengele gibt Guez Einblicke in die Geschichte um Mengele. Auszüge aus seinem “Wirken” in Auschwitz, einen kleinen Abriss der peronistischen Faschistokratie im Argentinien der 50er-Jahre, Einblicke in die bundesrepublikanische Interesselosigkeit am Verfolgen der Nazi-Täter, Ausblicke auf Fritz Bauer und den Eichmann-Prozess, Exkurse nach Günzburg, wo Mengeles Sippschaft einen florierenden Landmaschinenhandel betrieb. Das ist informativ, das ist wichtig, auch in Deutschland, auch heute. Ohne Bedeutung ist Mengeles Gabardineanzug und damit letztlich auch der Roman von Olivier Guez.

Seit die Stammers seine Identität herausgefunden hatten, nagte die Angst an ihm, und die Nachrichten über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, den er von Weitem mitverfolgte, sobald ihm eine Zeitung in die Hände fiel, setzten ihm nachhaltig zu. Er flehte Sedlmeier an, ihn aus dieser Falle zu befreien. Er war am Ende, erschöpft von der ewigen Flucht von Versteck zu Versteck, von seinem Leben als Einsiedler, ein gehetztes Tier zwischen Jaguaren und Ameisenbären. Und dann die Savanne mit ihrer vermaledeiten Hitze! Er war nicht mehr in der Lage, drei Seiten am Stück zu lesen: Bald würde er komplett verrückt. Sedlmeier half ihm auf und reichte ihm ein Taschentuch, nachdem er seinen Gabardineanzug abgeklopft hatte.

2017            220 Seiten

Bericht von ttt

Gespräch mit Olivier Guez auf SWR1-Leute (40 Minuten)

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Vuillard
20. Mai 2018, 16:55
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Éric Vuillard: Die Tagesordnung

vuillardtagesordnungÉric Vuillard konfrontiert die Nazi-Regierung mit verschiedenen Gesprächspartnern – und er lässt sie sehr schlecht aussehen. Nein, nicht die Nazis. Da kommt es zu einer „Konferenz“ der Ankerleute der deutschen Wirtschaft mit Göring – und die Bosse zucken die Börsen, dass es sogar der Partei fast die Stimme verschlägt. Da empfängt Göring den englischen Lord President of the Council Halifax und dieser Lord aus altem Adel lässt sich von den Nazis vollstinken und denkt, er habe Hitler besänftigt (Appeasement). Da besucht der österreichische klerikalfaschistische Kanzler Kurt Schuschnigg Hitler auf dem Berghof und wird von diesem dermaßen als Witzfigur vorgeführt, dass der Berichterstatter Vuillard seine zornige Freude daran hat.

Éric Vuillard setzt sich bei den Treffen mit an den Tisch und erzählt so enragiert wie ironisch distanziert davon. Er hat den Vorteil, später zu leben, im Nachhinein vieles/alles besser einschätzen zu können. Und doch wird man als Leser darin bestätigt, dass man es auch schon vor 80 Jahren hätte spüren, sehen, wissen können, ja müssen, was da vor sich ging. Nicht, dass damit die Nazis entlastet würden, aber dass die Gegner (?) samt und sonders solche Hampelmänner waren, macht einen Éric Vuillard wütend. Und diese Wut überträgt sich auf den Leser.

Wir könnten uns nun reihum jedem der vierundzwanzig das Palais betretenden Herren nähern, ihre geweiteten Kragen, ihre Krawattenknoten streifen, uns für einen Au­genblick in ihren knabbernden Schnurrbärten verlieren, zwischen den Tigerstreifen ihrer Jacketts die Gedanken schweifen lassen, uns in ihre traurigen Augen versenken, und dort, tief auf dem Grund der gelben und bitteren Ar­nikablüte fänden wir die gleiche kleine Tür; wir würden an der Klingelschnur ziehen und in die Zeit zurückrei­sen, wo uns die immergleiche Abfolge von Ränken, klu­gen Eheschließungen und dubiosen Geschäften geboten würde – der eintönige Bericht ihrer Großtaten. (…) Wir sind im Nirwana der Industrie und Finanz. Bisher sind alle still und ma­nierlich, ein bisschen groggy nach der bald zwanzig­minütigen Wartezeit; der Rauch ihrer Lötkolben brennt ihnen in den Augen. (…)
Endlich betritt der Reichs­tagspräsident den Raum: Hermann Göring. (…) Göring macht seine Hausherrenrunde, hat für je­den ein persönliches Wort und schüttelt wohlmeinend sämtliche Hände. Doch der Reichstagspräsident ist nicht nur zu ihrer Begrüßung gekommen, er nuschelt ein paar Willkommensworte und kommt umgehend auf die baldi­gen Wahlen am 5. März zu sprechen. Die vierundzwanzig Sphinxe lauschen aufmerksam. Der in Aussicht stehende Wahlkampf sei entscheidend, erklärt der Reichstagsprä­sident, mit der Instabilität des Regimes müsse nun end­lich Schluss sein; die Wirtschaftstätigkeit verlange Um­sicht und Entschlossenheit. Die vierundzwanzig Herren nicken andächtig mit dem Kopf.

„Die Tagesordnung“ ist kein Roman. Vuillard nutzt schriftstellerische Freiheiten, doch ist er überzeugend informiert, nennt Quellen, greift auf Protokolle oder „Wochenschauen“ zurück. Er gibt sich auch als gestaltender Erzähler zu erkennen. Im Französischen nennt man die Methode „recit“, im deutschsprachigen Raum kommt dem die Geschichtserzählung nahe. Ein subjektiver Faktor liegt schon in der Anordnung des Materials, auch die Begrifflichkeiten werden nicht neutral sein können, Schließlich mischt sich der Erzähler selbst ein, auch fragend.

Hätte der Reichsjägermeister ihn also tatsächlich in seinen Schal aus Nebel und Staub gewickelt? Dabei muss Lord Halifax doch genau wie die vierundzwanzig Hohe­priester der deutschen Industrie hinlänglich über Göring Bescheid gewusst und die Grundzüge seiner Geschichte gekannt haben, sein Leben als Putschist, sein Faible für Fantasieuniformen, seine Morphiumsucht, seine Inter­nierung in Schweden, die niederschmetternde Diagnose, die auf Gewaltbereitschaft, psychische Störung und De­pression hinwies, seine Selbstmordneigungen. Er konnte doch nicht einfach am Bild des Jungfernflughelden, des Ersten-Weltkriegs-Piloten, des Fallschirmverkäufers und alten Soldaten festhalten. Halifax war weder naiv noch dilettantisch; er muss zu gut informiert gewesen sein, um diesen Ausflug, bei dem man die beiden in einem kleinen Film das Wisentgehege bewundern und einen übertrie­ben lässigen Göring über seine Lebensweisheiten dozie­ren sieht, nicht ein bisschen dubios zu finden. Unmög­lich konnte er Görings bizarre kleine Hutfeder übersehen, den Pelzkragen, seine abstruse Krawatte.

Vuillards Haltung wird auch deutlich, wenn Vuillard vom „Anschluss“ Österreichs erzählt. Die Österreicher stehen an der Einmarschstrecke und wedeln mit den gekauften Hakenkreuzfähnchen, doch die Deutschen kommen nicht, sie stecken im Panzerstau, wie lächerlich, kein Fahrzeug kann alleine fahren. Wo ist dieses Wissen geblieben? Auch darum geht es Vuillard.

Wir werden es nie wissen. Man weiß nicht mehr, wer spricht. In einem bestürzenden Fluch haben sich die Fil­me von damals in unsere Erinnerungen verwandelt. Der Weltkrieg und sein Präludium werden in diesem unend­lichen Film mitgerissen, in dem das Wahre nicht mehr vom Falschen zu unterscheiden ist. Und da das Reich mehr Regisseure, mehr Schnittmeister, Kameramänner, Tontechniker und Maschinisten rekrutiert hat als alle an­deren Protagonisten dieser Tragödie, kann man sagen, dass bis zum Kriegseintritt der Russen und Amerika­ner die Bilder, die uns vom Krieg überliefert sind, für die Ewigkeit von Joseph Goebbels inszeniert wurden. Die Ge­schichte entrollt sich vor unseren Augen wie ein Film von Joseph Goebbels. Einfach sagenhaft. Die Wochenschau­en werden zum Vorbild der Fiktion. So erscheint der An­schluss als grandioser Erfolg. Doch die Bilder wurden natürlich erst nachträglich mit dem Jubel unterlegt; mit­hilfe der sogenannten Overdub-Technik. Und es ist gut möglich, dass keine jener unglaublichen Ovationen bei den Auftritten des Führers dem geglichen hat, was wir hören.
Ich habe mir diese Filme nochmal angeschaut. Na­türlich darf man sich keine Illusionen machen, es wur­den aus ganz Österreich Nazi-Militanten herbeigekarrt, Gegner und Juden inhaftiert: eine ausgewählte, bereinig­te Menge; doch es sind echte Österreicher aus Fleisch und Blut, keine bloße Kinomenge. Es sind ausgelassene, blond bezopfte Backfische aus Fleisch und Blut, und das kleine Pärchen, das lächelnd mitbrüllt – ach, all diese lächeln­den Gesichter! Diese Gesten! Die Wimpel, die im Zug­wind der Wagenkolonne flattern! Kein einziger Schuss wurde abgefeuert. Wie traurig!

Vuillard erzählt dem Informierten wenig Neues, er erzählt es aber anders. Er erzählt es wertend, wie es einem Historiker nicht geziemt, und er erzählt es mit ungezähmtem Zorn, wie es einem Schriftsteller zukommt, wenn er seinen Job ernst nimmt. Iris Radisch erfreut sich an Pointen und Aperçus und einer kleinen Prise französischen Pathos‘ (ZEIT), Christina Lenz findet, der Autor entreiße das Bekannte dem gewohnten Blick und forme es zu einem „schaurigen“ Kammerspiel, virtuos montiert, spannend und hochpolitisch. (FR) Vuillards Dreh, historische Szenen knapp, genau bis zur Schweißperle der Figuren zu kondensieren, macht dem SZ-Kritiker Joseph Hanimann sichtlich Freude. Und lässt ihn Teil der Szene werden. Dass es sich dabei stets um schräge Momente handelt, Augenblicke, in denen die Geschichte kurz aus dem Ruder läuft,macht die Sache für den Rezensenten so reizvoll. Jochen Schimmang (FAZ) betont, Vuillard „zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. (…)Guido Knopp hätte es besser gemacht.“ Liegt das „Missverstehen“ am Rezensenten oder an der Zeitung? Ist diese Art der Kritik nicht auch schon ideologisch? (Kritikermeinungen nach Perlentaucher)

Schauen wir, wie gesetzt und vernünftig sie an jenem 20. Febru­ar warten, während der Teufel direkt hinter ihnen auf Ze­henspitzen vorbeischleicht. Sie plaudern; ihr kleines Kon­sistorium gleicht auf ein Haar hundert anderen dieser Art. Wir sollten nicht glauben, dass all das einer fernen Vergangenheit angehört. Es sind keine vorsintflutlichen Monster, jene Geschöpfe, die in den Fünfzigerjahren kläglich verschwunden sind, unter dem von Rossellini dargestellten Elend, in den Trümmern Berlins. Ihre Na­men gibt es noch immer. Ihre Vermögen sind unermess­lich. Ihre Gesellschaften sind zum Teil zu allmächtigen Konglomeraten zusammengewachsen. (…) Krupp war jedoch nicht der einzige, der derlei Dienste in Anspruch nahm. Auch seine Kumpane des Geheimtreffens vom 20. Februar nutzten sie; hinter den verbrecherischen Leidenschaften und der politischen Gestik wurden dabei ihre Interessen bedient. Der Krieg war profitabel gewesen.

2017             120 Seiten



Boschwitz
12. April 2018, 19:23
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Ulrich Alexander Boschwitz:
Der Reisende

boschwitzOtto Silbermann wird abrupt aus seinem Leben gerissen. 1938 bei den Novemberpogromen stürmen und verwüsten Nazis die Wohnung ds Geschäftsmanns, er kann gerade noch durch den Nebenausgang entkommen. Damit aber steht er auf der Straße, die Verbindungen zur Familie und zu Bekannten sind gekappt. Er ärgert sich, zu lange mit der Ausreise gewartet zu haben, er fühlte sich als Deutscher und WK1-Teilnehmer sicher. Er will seine Hoffnung nicht aufgeben: „Es muss doch Leute geben, die trotz aller Gelegenheiten anständig und Menschen bleiben. Die nichtzum Schwein werden, nur weil sie eine Pfütze sehen, in der es sich suhlen lässt.“ Jetzt sind Grenzen und Fluchtwege verschlossen.  Kein Einzelschicksal. Der Versuch, nach Belgien zu kommen, endet in einem Wald.Es können ja nicht alle zu uns kommen“, erklären im die Grenzwächter.

Silbermann trägt in seiner Aktentasche Geld bei sich, das ihm Möglichkeiten und Sicherheiten zu versprechen scheint. Es bindet aber auch seine Aufmerksamkeit. Schnell stellt er fest, dass seine Kompagnons sich von ihm abwenden. Sein Prokurist Becker raubt Silbermann Geld, Boschwitz beschreibt ihn als Prototyp des „arischen“ Profiteurs, als „Allegorie auf den diabolischen Pakt, den die NS-Regierung mit der deutschen Bevölkerung einging: Wir organisieren die Vernichtung, ihr profitiert davon, wer sollte sich da beschweren? (Alex Rühle, SZ). Silbermanns Sohn in Paris kann oder will nichts für ihn tun, seine Frau ist zu ihrem Nazi-Bruder an die Ostsee gefahren. Jeder Kontaktversuch stellt ein Risiko dar, Silbermanns bisheriges Leben hat ihn nicht auf diese Art von Gefahr vorbereitet. Er fühlt sich isoliert, hilflos, er beginnt zu hyperventilieren, zu strampeln und da kann man natürlich nichts richtig machen, da fällt man auf.

Silbermanns Lebensraum verengt sich zusehends. Da er sich auf offener Straße beobachtet fühlt und stets fürchtet, als Jude erkannt zu werden, setzt er sich in den Zug. Überall ist es besser als dort, wo man gerade ist; man möchte reden, sich absichern, doch jeder Versuch kann in der Finalität des KZs enden. Er sieht nicht wie ein Jude aus – damals schien man Juden auf den ersten Blick zu erkennen -, doch in seinem Pass steht sein Name und der „J“-Stempel, eine Kontrolle wäre das Aus.

Zornig warf er die Zigarette, die er sich angesteckt hatte, fort. Was ich auch getan habe, dachte er, heute be­kommt es ein neues Gesicht, denn heute bin ich ein an­gezweifelter Mensch, ein Jude.
Er stieg in den inzwischen eingelaufenen Zug ein.
Soll das denn nun ewig so weitergehen? Das Rei­sen, das Warten, das Fliehen? Warum geschieht nichts? Warum wird man nicht festgehalten, verhaftet, verprü­gelt? Sie treiben einen bis an die Grenze der Verzweif­lung, und dort lassen sie einen stehen.
Er sah vom Fenster aus ein vorbeifliegendes, sauberes, reizvolles kleines Bauerndorf.
Das ist alles nur Kulisse, dachte er. Das einzig Wirk­liche ist die Jagd, die Flucht.
Er lehnte sich zurück.

Ich möchte schwätzen, dachte Silbermann. Ich möchte ununterbrochen schwätzen. Er lehnte den Kopf an seinen aufgehängten Mantel und schloss die Augen. Er lauschte auf das Rattern der Räder.
Berlin – Hamburg, dachte er.
Hamburg – Berlin
Berlin – Dortmund
Dortmund – Aachen
Aachen – Dortmund
Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender.
Ich bin überhaupt schon ausgewandert.
Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland.
Ich bin in Zügen, die durch Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied. Wieder hörte er auf das Sto­ßen der Räder, die Musik des Reisens.
Ich bin in Sicherheit, dachte er, ich bin in Bewegung. Ja, und es ist beinahe gemütlich.
Räder rattern, Türen gehen, geradezu vergnüglich könnte das sein, man denkt nur zu viel.
Dann lächelte er. Früher veranstaltete die Reichsbahn Fahrten ins Blaue, erinnerte er sich. Jetzt veranstaltete sie die Reichsregierung.

Ulrich Alexander Boschwitz schrieb den Roman 1939 im Exil in Australien, er war 27 Jahre alt. „Der Reisende“ erschien 1939 in englischer Übersetzung in London und ein Jahr später in den Vereinigten Staaten. Der Fischer Verlag, dem es in den fünfziger Jahren angeboten wurde, lehnte eine Publikation ab. 1963 empfahl Heinrich Böll den Roman vergeblich seinem Hausverlag Middelhauve. 2018 gibt Peter Graf das Buch erstmals auf Deutsch heraus. (Mehr Informationen)

Wenn man den Roman liest, ist man im Jahr 1938. Heute können wir zurückblicken auf das, was nach 1938 folgte. Boschwitz sah nur, was sich anbahnte, doch das war deutlich genug. Aber man musste es auch sehen wollen. „Für einen Juden ist eben das ganze Reich zu einem Konzentrationslager geworden.“, sagt Silbermann. „Heutzutage mordet man wirtschaftlich.“ Boschwitz lässt den Leser hautnah miterleben, was das bedeutet. Er führt die Mitreisenden vor als „Charaktermasken ihrer Epoche: der bräsige Gestapomann, der reizbare, weil „jüdisch“ aussehende Parteigenosse, das Mädchen, dessen Verlobter im Konzentrationslager war, die pedantische Zimmerwirtin, die mitleidige Anwaltsgattin“ (Andreas Kilb, FAZ). „Alles Verräter, dachte er, alle, alle, alle. Keiner hält stand. Sie ducken sich, und sagen: Wir müssen, aber sie wollen auch. Was sind denn die berühmten Gelegenhei­ten ohne diejenigen, die sie ausnützen?“ Dabei sind nicht alle Nichtjuden böse, sind nicht alle Juden sympathisch. Aber darauf kommt es nicht mehr an, wenn einem mit dem Stempel der Makel aufgedrückt ist. Das Weglaufen vor der Gefahr ist in die Gedanken gewandert, auch sie kreisen ohne Ziel, ausweglos. Deprimierend, intensiv. Vergleichbar mit Anna Seghers. Leider aktuell.

Es gab Epochen, in denen viele Menschen vor Lebensträgheit fast an sich selbst erstick­ten und sich darum verzweifelt in abenteuerliche Affä­ren stürzten und mit den Stühlen, auf denen sie allzu bequem saßen, zu ihrer eigenen Erheiterung recht ge­fährlich hin und her wackelten. Man holte sich seine Emotionen von der Börse. Nun aber werden sie einem ausreichend geliefert. Als Kind träumte ich den Zügen nach. Wie gerne wäre ich mitgefahren, immer weiter ge­fahren.
Jetzt fahre ich. Jetzt fahre ich.

Das logische Ende ist, dass das Überleben nur noch möglich scheint, wenn man seine Humanität opfert.

»Sie kompromittieren mich ja«, stieß Silbermann ge­reizt und verdrossen hervor.
Hamburger sah ihn an. Sein Gesicht verlor den Aus­druck des Behagens, das es beim Essen angenommen hatte, seine Augen weiteten und sein Mund öffnete sich, als wollte er etwas sagen, doch er schwieg. Er neigte den Kopf, bis er fast auf seiner rechten Schulter auflag. Dann stand er wortlos auf, nahm von dem neben ihm stehen­den Stuhl Hut und Mantel und kleidete sich an.
»Hamburger«, sagte Silbermann. »Ich habe das nicht so gemeint. Es ist mir nur so rausgerutscht.

Mit verstörten Blicken sah er sich in dem Lokal um. Was trennt mich denn eigentlich noch von euch, dachte er. Wir gleichen uns auf geradezu beängstigende Weise.
Er aß zu Ende, bezahlte und verließ dann das Lokal.

 

1939/2018           305 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

 

Ulrich Alexander Boschwitz:
Menschen neben dem Leben

Ein Großstadtroman. Anfang der 1930er-Jahre, Berlin natürlich. Kriegsbehinderte, Arbeitslose, Bettler, Entwurzelte, verfallendes Bürgertum, Frauen, die, da sie sonst nichts haben, ihre Körper für billiges Geld verkaufen. Wohnen ist ein prekäres Gut, da muss schon einmal ein fensterloser Kellerraum neben dem Lager des Gemüsehändlers reichen. So ein Roman hat sein Personal schnell beieinander, die Handlung ergibt sich aus den Scharmützeln des Überlebens. Allianzen täten not, doch wem kann man trauen.

Als Referenzen nennt Herausgeber Peter Graf Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (von 1929), Falladas Romane von Anfang der 1930er-Jahre, daneben Irmgard Keun, Vicky Baum, Kästner, Tergit, etwas früher die Bilder von Heinrich Zille, Walther Ruttmanns Film „Berlin – Die Sinfonie einer Großstadt“. Ulrich Alexander Boschwitz’ „Menschen neben dem Leben“ erschien 1937, zuerst auf Schwedisch. Peter Graf hat ihn wiederentdeckt und ihn 2019 publiziert.

Die Tauentzienstraße bebte. Die riesigen, zweistöckigen Autobusse sausten wie fahrende Häuser von Haltestelle zu Haltestelle. Straßenbahn folgte auf Straßenbahn. Sie surrten vorbei, klingelten und benahmen sich so anspruchsvoll wie nur möglich. Die Ketten der Autos rissen nicht ab.
Um die Mittagszeit fuhren alle Direktoren und Direktörchen zum Essen. Sie hatten es eilig und zeigten es auch. Sie hupten und tuteten wild durcheinander und fraßen die Nerven der Leute, die zu Fuß gingen.
Benzingestank und Auspuffgase verpesteten die Luft.
Wie schön ist es, bequem in einem Auto zu sitzen. Hinten aus dem Auspuffrohr kommt der Qualm in schmutzigen Schwaden hervor. Man selbst sitzt vorne, man selbst merkt nichts davon, man selbst gibt Gas und braust davon. Nur die anderen, die Unbekannten, die Uninteressanten bekommen das Gas mit Luft vermischt in die Lungen. (…)

Die Autos standen in Reih und Glied. Das Verkehrs­signal verbot die Weiterfahrt. Endlich wechselten die Far­ben. Wie eine Herde wilder Tiere brüllten die Autos auf. Vorwärts. Der Schlachtruf der Großstadt ertönte.
Hysterisch klingelten die Straßenbahnen. Dumpf grollten die großen Autobusse. Leise meckerten die Klingeln der Fahrräder. Die Autos und Lastwagen stie­ßen eine dunkle, mit hellen Tönen gemischte Musik aus. Vorwärts!
Berlin hatte keine Geräuschverbote. Man merkte es.

Auf einer Bank, die auf einer in den Asphalt ge­quetschten, kümmerlichen Grünanlage stand, saß Frau Fliebusch und sah verständnislos auf den Verkehr. Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht. Frau Fliebusch war die Frau von gestern. (…)
Frau Fliebusch begriff die Zeit nicht mehr, und das war ihr Unglück. Ihre Vorstellungswelt bewegte sich im­mer noch in der Vorkriegszeit. Alles, was später gekom­men war, all das Fliebusch-Feindliche, der Krieg und die Inflation und alle Ergebnisse des Krieges, all die Übel der letzten Neuzeit, waren an Frau Fliebusch vorüberge­rauscht wie ein entsetzlicher Traum.
Sie glaubte nicht daran. Sie glaubte nicht, dass dies alles Wahrheiten, nüchterne, alltägliche Wahrheiten wa­ren. So wie sie bis heute noch nicht begriffen hatte, dass Fliebusch, Wilhelm Fliebusch, der kraftvolle, schöne Wil­helm, einer Granate zum Opfer gefallen war. Auch dass ihr Geld, ihre sechzigtausend Mark, entwertet worden waren, glaubte sie nicht. (…)
Unentschlossen sah sich Frau Fliebusch um. Wo sollte sie hingehen?

Aber „Wahrhaftigkeit, das weiß Boschwitz, erlangen seine Figuren vorderhand nicht durch einen scheinbar objektiven Realismus, sondern durch das gleichzeitige Sichtbarmachen der naiven, gefühlsgesteuerten, mal rücksichtsvoll, oft rücksichtslos ichbezogenen und von Traumata durchzogenen Lebenswirklichkeit von Fund­holz und seinen Freunden, bei denen Irrationalitäten, Selbstbetrug und Verdrängung notwendiger Bestandteil der Überlebensstrategie sind.” (Peter Graf im Nachwort)

Der Arbeitslose Grissmann stand gegen den Blinden Sonnenberg.
Zwei geprügelte Menschen standen vor der Explosion. Sie explodierten gegeneinander. Sie sahen in sich gegen­seitig den Todfeind. Den Feind, dessen bloße Existenz das Leben vergiftete. Sie lagen beide unter den Rädern des Lebens. Ihre Revolte gegen das Leben wurde zu einer Revolte gegen sich selbst.
Die Räder zerquetschten sie, verkrüppelten sie, kör­perlich oder geistig. Aber die Räder standen jenseits ih­rer Fassungskraft.
Das Leben war gegeben, wie es war. Es zu ändern, stand nicht in ihrer Macht.
Sie konnten nur einer den anderen zerstören. Sie konnten sich nur sekundenlang befreien von dem Druck, der auf ihnen lastete, indem sie den anderen ver­nichteten.Sie konnten sich nur ein Ventil schaffen, ein Ventil für erlittene Enttäuschungen und für alle Leiden.
So wie zwei Nationen plötzlich ohne scheinbare Not­wendigkeit übereinander herfallen, sich begeistert in Kriege treiben lassen für die Interessen Unbekannter und Ungenannter, so gab es auch für Menschen Augen­blicke, in denen sie sich hemmungslos dem Vernich­tungstrieb unterwarfen.

Boschwitz beschreibt seine Figuren nicht nur, er analysiert sie, erklärt ihre psycho-sozialen Defizite, Getriebenheiten. Er setzt sie als Spielfiguren ein, führt sie, lässt sie leiden und scheitern. “Sie bewegen sich in einem tragischen, immer wieder aber auch komischen und von einer überwältigenden Menschlichkeit grundierten Ereignisgeflecht ungelenk und doch stetig aufeinander zu, bis sie sich schließlich alle eingefunden haben an dem Ort ihrer schicksalhaf­ten Begegnung” (Peter Graf), im »Fröhlichen Waidmann«.

In “Der Reisende” focussiert sich Boschwitz auf das Einzelschicksal, treibt seinen Otto Silbermann in die ausweglose Verzweiflung. Das geht einem näher.

1937 / 2019 300 Seiten



Modiano
16. November 2014, 17:55
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Patrick Modiano: Dora Bruder

dorabruder

Vor acht Jahren stieß ich in einer alten Zeitung, dem Paris-Soir vom 31. Dezember 1941, auf Seite drei zufällig auf eine Rubrik »Zwischen gestern und heute«. Ganz unten las ich:

»PARIS
Gesucht wird ein junges Mädchen, Dora Bruder, 15 Jahre, 1,55 m, ovales Gesicht, graubraune Augen, sportlicher grauer Mantel, weinroter Pullover, dunkelblauer Rock und Hut, braune sportliche Schuhe. Hinweise erbeten an Monsieur und Madame Bruder, 41 Boulevard Ornano, Paris.«

50 Jahre später macht sich der Erzähler, den man mit dem Autor ineinssetzen darf, auf die Spur dieser Dora Bruder. Nicht die wenigen Fundstücke, Dokumente, Listen, Fotos führen ihn, er sucht eher, wie sich die Lebenswege der Dora Bruder in die Stadtlandschaft eingeschrieben haben. Paris ist Modianos Terrain, er durchstreift die Stadt auf der Suche nach Abdrücken, findet vieles zerstört oderverändert, gleicht die Ansichten mit seiner Erinnerung ab. Er erinnert sich an seinen Vater, seine Kindheit, an Texte, assoziiert. Das Ergebnis sind Mutmaßungen, so könnte es gewesen sein, Sicherheit gibt es nicht, dafür hat das Leben der Dora Bruder zu wenig historisch dokumentierte Bedeutung. Modiano interessiert auch das Schicksal des Mädchens, doch mehr beschreibt er die Windungen und Zufälle seiner Suche, die Kreuzungen von Lebenswegen mit den Orten der Stadt. Leise, tastend, auf den Wegen des Vergessens und den Spuren von sich selbst.

Dieses Viertel um den Boulevard Ornano herum kannte ich schon lange. In meiner Kindheit begleitete ich meine Mutter zum Flohmarkt von SamtOuen. Wir stiegen an der Porte de Clignancourt aus dem Bus und manchmal auch vor dem Rathaus des achtzehnten Arrondissements. Das war immer am Samstag oder am Sonntag nachmittag.

Es sind Menschen, die wenig Spuren zurücklassen. Als wären sie namenlos. Sie heben sich nicht ab von gewissen Straßen in Paris, von gewissen Vorstadtlandschaften, wo sie – wie ich durch Zufall entdeckte – gewohnt haben. Was man von ihnen weiß, kann oft in einer bloßen Adresse zusammengefaßt werden. Und diese topographische Angabe steht im Kontrast zu all dem in ihrem Leben, was man nie erfahren wird – dieser weiße Fleck, dieser Block aus Unbekanntem und Schweigen.

Man sagt sich, daß wenigstens die Orte einen leichten Abdruck von den Menschen bewahren, die an ihnen gewohnt haben. Abdruck: Einbuchtung oder Ausbuchtung. Ich habe jedesmal ein Gefühl von Abwesenheit und Leere verspürt, wenn ich an eine Stelle gekommen bin, wo sie gewohnt hatten.
Zwei Hotels gab es damals in der Rue Polonceau: Das eine, im Haus Nr. 49, wurde von einem nicht näher bezeichneten Rouquette geführt. Im Straßenverzeichnis war es unter der Bezeichnung »H6tel Vin« eingetragen. Das zweite, im Haus Nr. 32, stand unter der Leitung eines gewissen Charles Campazzi. Diese Hotels trugen keine Namen. Heute sind sie verschwunden.

In jenem Winter 1926 verlieren sich die Spuren von Dora Bruder und ihren Eltern in der nordöstlichen Vorstadt, am Ufer des Canal de 1’Ourcq. Eines Tages werde ich nach Sevran fahren, aber ich fürchte, daß auch dort die Häuser und Straßen ihr Gesicht verändert haben, wie in allen Vorstädten. Ich kenne die Namen einiger Betriebe, einiger Bewohner der Rue Liegeard aus jener Zeit: Nummer 24 war das Trianon de Freinville. Ein Cafe? Ein Kino? In der Nummer 31 lagen die Caves de 1’Ile de France. Ein Doktor Jorand belegte die Nummer g, ein Apotheker, Platel, die 30.

Mit siebzehn war Les Tourelles für mich nichts weiter als ein Name, den ich am Ende von Jean Genets Buch Wunder der Rose entdeckt hatte. Darin zählte er die Orte auf, an denen er dieses Buch geschrieben hatte: LA SANTE. GEFÄNGNIS LES TOURELLES 1943. Auch er war hier inhaftiert gewesen, als Strafgefangener, kurz nachdem Dora Bruder fortgebracht worden war, und sie hätten einander begegnen können. Wunder derRose war nicht nur von den Erinnerungen an die Strafkolonie Mettray durchdrungen – eine jener Erziehungsanstalten, in die man Dora schicken wollte -, sondern auch, wie mir heute scheint, von der Sante und Les Tourelles.
Aus diesem Buch konnte ich ganze Sätze auswendig. Einer davon kommt mir wieder in den Sinn: »Dieses Kind lehrte mich, daß der wahre Kern des Pariser Argots traurige Zärtlichkeit ist.« Dieser Satz beschwört mir Dora Bruder so eindringlich herauf, daß ich das Gefühl habe, ich hätte sie gekannt. Man hatte den gelben Stern Kindern mit polnischen, russischen, rumänischen Namen aufgezwungen, die so pariserisch waren, daß sie mit den Häuserfassaden, den Gehsteigen, den unzähligen Grautönen verschwammen, die es nur in Paris gibt. Wie Dora Bruder sprachen sie alle mit Pariser Akzent und gebrauchten Argotwörter, deren traurige Zärtlichkeit Jean Genet verspürt hatte.

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Dora Bruder war die Tochter von Ernest Bruder, geboren in Wien (Österreich) und Cécile Burdej aus Budapest (Ungarn). Dora wurde am 25. Februar 1926 in Paris geboren. Sie war wie ihre Eltern Jüdin. “Vater und Tochter, verließen Drancy am 18. September zusammen mit eintausend anderen Männern und Frauen in einem Transport nach Auschwitz.” Die französische Verwaltung hat, das erfährt man nebenbei, die deutschen Besatzungsvorschriften willfährig ausgeführt.

1997      150 Seiten

Patrick Modiano:
Die Gasse der dunklen Läden

modianogasseWir waren wieder in der Rue de Rome. Gestern abend ging ich bis zur Nummer 97, und ich glaube, als ich das hohe Gitter sah, die Schienenstränge und drüben auf der anderen Seite die DUBONNET-Reklame, die die gesamte Fläche einer Hauswand einnimmt und deren Farben seither sicherlich verblaßt sind, empfand ich das gleiche Gefühl der Angst wie damals.
Nummer 99, das Hötel de Chicago, heißt nicht mehr Hôtel de Chicago, aber in der Rezeption war niemand in der Lage, mir zu sagen, wann der Name geändert wurde. Es ist auch unwichtig.
Nummer 97 ist ein sehr breites Gebäude. Wenn Scouffi im fünften Stock gewohnt hat, dann befand sich Denises Appartement darunter im vierten. Auf der rechten oder auf der linken Seite des Hauses? Die Vorderfront hat auf jeder Etage wenigstens zwölf Fenster, so daß jedes Stockwerk wahrscheinlich in zwei oder drei Appartements unterteilt ist. Ich betrachtete lange diese Front, in der Hoffnung, einen Balkon oder die Form, vielleicht die Läden eines Fensters wiederzuerkennen. Nein, in meiner Erinnerung war nichts.

Der Erähler weiß nicht, wer er ist. Erstreift durch Paris, sammelt Namen, Adressen, Fotos, die ihm Hinweise auf seine Identität geben könnten, hangelt sich an Erinnerungsfetzen entlang. Wie ein Puzzle setzt er Fundstücke zusammen verschiebt oder verwirft sie. Kennt ihn jemand, kennt jemand einen, die er – vielleicht gekannt hat? “Ist er wirklich dieser Pedro, für den andere ihn halten und für den er sich schließlich selber hält? War er tatsächlich mit dem Mannequin Denise verheiratet, das auf geheimnisvolle Weise verschwand? Und was geschah nach Kriegsende an der Grenze zur Schweiz?” (Klappentext) “Vielleicht wird am Ende daraus dann ein Leben . . . Ob es sich um das meine handelt? Oder um das eines anderen, in das ich geschlüpft bin?

In diesem Labyrinth von Straßen und Boulevards waren Denise Coudreuse und ich uns eines Tages begegnet. Zwei Wege, die sich trafen, zwei von den zahllosen, die täglich Tausende und Abertausende von Menschen gehen, wie Tausende und Abertausende von kleinen Kugeln eines riesigen elektrischen Billards, die manchmal aufeinandertreffen. Und von all dem blieb nichts, nicht einmal die leuchtenden Spuren, die ein Glühwürmchen beim Vorüberfliegen hinterläßt.

Eine Variation von Modianos Thema: die Spurensuche auf dem Stadtplan von Paris nach den “Echolauten” von Personen, die suche nach den Wurzeln des Ich, die Verwehungen, die Unmöglichkeit, zu Gewissheiten zu gelangen. Der Krieg hat die Verhältnisse verwirbelt, die Wege von Personen aus der ganzen Welt überschneiden sich in Paris, sie suchen neue Ziele, neue Lebensräume, neue Gewissheiten. Die Schicksale sind immer auch jüdische Schicksale. Ein wenig Spannung genügt Modiano, viel wichtiger ist die genaue Beschreibung von Straßen, Häusern mit ihren Fassaden und Wohnungen, Cafébars und Restaurants, Interieurs. Auch die Menschen werden exakt beobachtet: Frisuren, Kleidung, Stimmungen, Haltungen. Trotz aller Präzision bleibt alles im Ungewissen. Vorgetäuschte Nüchternheit bei innerer Anspannung.

Ich glaube, man hört in den Hausfluren noch lange die Schritte all der Menschen widerhallen, die dort ein- und ausgingen und die seitdem verschwunden sind. Es bleiben Schwingungen davon zurück, schwächer werdende Wellen, die man aber aufzufangen vermag, wenn man darauf achtet. Wahrscheinlich bin ich nie Pedro McEvoy gewesen, ich war nichts, aber Wellen durchdrangen mich, schwache, die von weither kamen, und stärkere, und alle diese verstreuten Echolaute, die in der Luft schwebten, verdichteten sich und wurden ich.

Übersetzt wurde der Roman von Gerhard Heller, der 1940 bis 1944 literarischer Zensor der nationalsozialistischen Propagandastaffel im besetzten Paris war.

1978      160 Seiten (TaBu)



Decours
28. Juli 2014, 20:26
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Jacques Decours: Philisterburg

philisterburg

Ich habe mir selbst versprochen, dass ich bloß Tatsachen wiedergebe. Bis jetzt habe ich vor allem räsoniert. Das geht auf Kosten der Einheitlichkeit. Aber ein Kunstwerk will ich sowieso nicht hervorbringen.

Jacques Decour schreibt in sein Tagebuch, was er bei seinem Aufenthalt als französischer “Austauschlehrer” in Deutschland 1930 wahrnimmt. Neben der Schule mit ihren Lehrern, Schülern und Methoden sind das Leute, denen er begegnet, etwa seine Zimmerwirtinnen, Zeitungen, die Stadt mit ihren Gebäuden, Straßen, Aufmärschen. Es fallen ihm viele Unterschiede zu Frankreich auf, doch ihm geht es darum, diese Diefferenzen einzuordnen, zu lelativieren. Decour ist erst 20 Jahre, kaum älter als die deutschen Schüler, doch er urteilt differrenziert, er denkt: politisch. Decour “behauptet seine Zweifel nicht nur, er führt sie vor. (…) Der in Tagebuchform geschriebene Text entwickelt Gedanken, unterzieht sie scharfer Kritik, verwirft oder verbessert sie, rekapituliert sie, resümiert. Philisterburg zeigt die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben.
Aber Philisterburg leistet noch viel mehr: In einer unbarmherzigen Genauigkeit protokolliert Decour die eigenen Regungen, gerade auch die peinlichen, ob das Mitgerissenwerden vom lutheranischen Choral oder vom Choral der marschierenden SA, ob den Ekel vor hässlichen Passanten oder das Fasziniertsein von einer Entschlossenheit, die ihm selbst noch unmöglich ist. Weil er sich nichts durchgehen lässt, weil er mit seiner Leidenschaft erkennt, nicht gegen sie, weil er sich selbst als Teil des Geschehens begreift, wird sein Bericht wahrhaftig. Er zieht sich nicht vorsichtig auf den Beobachterposten zurück, denn »Ansichten verpflichten«” schreibt Stefan Ripplinger in seinem Vorwort. Das Tagebuch ist also mehr als bloße Beobachtung, Decour “räsoniert”, man sollte das beim Lesen auch tun. Daraus entsteht Geschichte.

Ein Historiker bin ich nicht und verstehe nichts von Methodenfragen. Ich weiß nur, dass ich noch nie solch eine Geschichtsstunde erlebt habe. Für die meisten Schüler in Frankreich sind die Geschichts- und die Geographiestunde die langweiligsten und am wenigsten nützlichen Schulstunden von allen. Wer überhaupt etwas am Geschichtsunterricht findet, betont, wie gut er das Gedächtnis übt. Der Unterricht wird frontal vom Lehrer erteilt, der, meist mit Notizzetteln bewaffnet, die ganze Zeit über redet. Am wichtigsten sind die Daten und das am häufigsten eingesetzte Lehrbuch ist das nicht vorhandene des Kammerdieners.
Was soll Geschichtsunterricht? Soll er dem Gedächtnisjunger Bourgeois ein paar Namen, Daten, Anekdoten einprägen, die sie dann später im Salon abspulen können, damit jeder merkt, dass sie »Kultur« haben? Das ist die äußerliche Geschichte, die Geschichte der Dummköpfe. »Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.« Dieses Goethewort hat Nietzsche seiner Betrachtung über die Historie vorangestellt. Darin ist die ganze Diskussion zusammengefasst. Das Gedächtnis ist bloß ein Hilfsmittel. Wir lernen die Geschichte kennen, um die Ereignisse zu begreifen, denen wir beiwohnen, damit wir ihnen unsere Haltung und unser Handeln logisch anpassen können.
Die Art, wie Herr Apel unterrichtet, macht es möglich, die Barriere beiseitezuräumen, die für viele zwischen der Geschichte der Vergangenheit und derjenigen, die sich vor unseren Augen ereignet, befindet. So vermittelt er seinen Schülern nützliche Kenntnisse, was dem Herrn Kammerdiener wohl kaum in den Sinn käme. Unversehens sahen sich die Deutschen in die Republik versetzt. Statt an die Leine genommen zu werden, erhielten sie nun Wahlzettel. Dass sie nicht mehr an der Leine sind, bedauern viele, und viele wissen nicht, was sie mit einem Wahlzettel anfangen sollen.
Sie sollten Lektionen in Politik erhalten.

Die meisten falschen Vorstellungen, die gerade im Umlauf sind, sind aus absurden Verallgemeinerungen entstanden, die in einer ungezügelten Eingebildetheit ihren Ursprung haben. (Alle spotten über den Engländer mit seinen rothaarigen Frauen und alle kopieren ihn.) Die frechsten Verallgemeinerungen gehen aus dem Glauben an den Fortschritt und die Gottähnlichkeit des Menschen in der Natur hervor. Goethe ruft aus: Zurückhaltung in der Beobachtung des Wirklichen! Aber darin liegt genau die Schwierigkeit.
Sich dem Untersuchungsobjekt unterzuordnen, zu versuchen, es nicht zu zergrübeln – das ist gerade das, wozu Wesen unfähig sind, denen die Rhetoriklehrer beigebracht haben, noch die letzte Geringfügigkeit in ihre Ausführungen einzubauen.
Um den ins Leere gehenden Spekulationen den Weg zu verlegen, bemühe ich mich darum, hier nur bescheidene, wahre Fakten aufzuzeichnen. Hin und wieder ergibt sich eine Folgerung von selbst, und ich will in meinem Bericht nicht voreingenommen sein und eine naheliegende Schlussfolgerung bloß aus Feigheit aussparen. Ansonsten bloß bescheidene, wahre Fakten. Ihren Wert haben sie in sich selbst. Für den, der sich ein umfassendes Bild von Deutschland machen will, sind sie wertlos. Um den Verallgemeinerern den Wind aus den Segeln zu nehmen, betone ich: Ich befinde mich in Philisterburg und bewege mich nicht vom Fleck. Hier ist nicht Deutschland, sondern Preußen und selbstverständlich nicht das ganze Preußen. Inwiefern diese Industriestadt von 300 000 Einwohnern repräsentativ ist, mögen die Journalisten entscheiden.
Hiermit gebe ich mir den Auftrag, alle Fakten, die ich als einzelne und besondere festhalte, zu überdenken.
Manchmal werde ich eine Meinung haben. Ich werde sie aussprechen. Aber wie alle Meinungen wird sie unzureichend begründet sein. Auch will ich niemanden von ihr überzeugen. Sie steht da, um sich Luft zu schaffen und um die kostbare Maschine, mit der wir ins Blaue räsonieren, nicht einrosten zu lassen.
So einfältig bin ich nicht, dass ich an die Objektivität glaubte. Ich habe meine Vorurteile. Sie ergeben sich aus meiner Ablehnung bestimmter Dinge. Gegen die Pest des Nationalismus bin ich geimpft. Wenn ich überhaupt voreingenommen bin, dann für Deutschland. Das übliche Gerede vom germanischen oder vom romanischen Charakter, von der deutsch-französischen Verständigung finde ich lächerlich. Sie sind bloß ein Grund dafür, sich weiterzuentwickeln. Weil ich das Deutschland liebe, das ich kenne – das einiger Bücher -, wünsche ich, dass diese berühmte Verständigung kommt, und ebenso wünsche ich, von ganzem Herzen, die Vereinigten Staaten von Europa.
Die Utopie zu veralbern ist leicht, das weiß ich wohl. Die Idealisten nennen diese Haltung »grobianischer Materialismus« oder »Vulgärrationalismus«. Tatsächlich sollte man sich vor dieser Veralberung hüten, sie ist unergiebig.
Ebenso hüte ich mir vor dem Idealismus des Astrologen (er mag in mancher Hinsicht der edelste Mensch überhaupt sein, aber kann uns über irdische Dinge nichts sagen). Zwischen diesen beiden Haltungen hindurch steuere ich auf die Fakten zu, die ich respektiere; ich habe mich zum Sehen entschlossen. Meine Vorurteile kenne ich ja, ich will sie, so gut es geht, außen vor lassen.

Dezember

Die älteren Schüler, die mir zugeteilt worden sind, waren am Anfang noch neugierig und argwöhnisch. Beim ersten Mal kamen sehr viele. Binnen vierzehn Tagen hat sich ihre Zahl halbiert. Und nun sind es gerade noch vier oder fünf und unsere Unterhaltungen werden recht intim.
Was verblüfft, ist ihre Selbstsicherheit. Mit 17 scheinen sie sich schon in allen Fragen festgelegt zu haben. Sie wissen ganz genau, was sie lieben und was sie verachten, und sie halten damit nicht hinter dem Berg.
»Was halten Sie von Heine?«, habe ich sie gefragt.
»Heine ist kein Deutscher.«
»Warum?«
»Er ist Jude.«
»Und außerdem?«
»Sein Talent hat nichts Deutsches. Er gehört nicht zu den Unseren.«
So kategorisch zeigen sie sich in allem. Sie beurteilen ihre Lehrer nach deren politischen Meinungen. Beim Wort »Pazifist« verziehen sie vor tiefem Ekel ihr Gesicht. Ich befragte sie nach einem ihrer Lehrer, der mir gegenüber in zwar linkischen, aber aufrichtigen Worten viel Sympathie für Frankreich bekundet hat.
»Dieser Herr taugt nicht viel. Er ist Sozialdemokrat.«
Ich berichtete ihm diesen Ausspruch und zeigte mich über den Chauvinismus der Schüler erstaunt. Er gab mir die Antwort, die ich erwartet hatte:
»Das ist das Alter, das geht vorbei. Wir waren alle mal in dem Alter. «

„’Philisterburg’ – so heißt das Buch – ist ein literarisches Kleinod, kurzweilig, ja mitreißend.“ (Franziska Augstein, SZ) „Philisterburg“ ist als Beispiel Magdeburg.

125 Seiten

Rezension von Annett Gröschner im „Freitag“



Seethaler
18. Mai 2014, 19:09
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Robert Seethaler: Der Trafikant

trafikant

Der Franzl aus dem Salzkammergut geht in die große Stadt, nach Wien. Er hat eine Stelle gefunden bei einem „befreundeten“ Trafikanten, Otto Trsnjek. Viel ist nicht zu tun, Franzl soll ein bisschen im Laden helfen und vor allem Zeitungen lesen. Man schreibt das Jahr 1937 und es kommt, wie’s muss: Franzl verliebt sich in das erste Mädelchen, das ihm unter die Augen kommt. Eine „Runde“ aus Böhmen, mehr weiß er nicht von ihr. Bald ist sie wieder weg, Franzls Weg zum Franz endet in der erwarteten Enttäuschung. Franz ist verwirrt. Die Mama, mit der sich Franz(l) Postkarten und dann Briefe schreibt, heißt jetzt Mutter. Die Trafik liegt im Alsergrund, in der Währinger Straße und da ist nicht weit entfernt die Berggasse und da wohnt, wie man weiß, im 37-er Jahr noch der Professor Sigmund Freud, der sich mit Frauen auskennen soll und mit der Liebe. Der kommt ab und zu in die Trafik, um sich seine Zeitungen und seine Zigarren zu holen, und er kommt wie gerufen, denn er könnte ja dem Franzl in Liebesdingen professorale Hilfe leisten. Freud und Franzl freunden sich an, hilfreiche Ratschläge hat aber auch der väterliche Freund nicht zu bieten.

Franz sah ihn mit großen Augen an. Ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. Ja, dachte er, ja, ja, ja! Und im nächsten Moment brach es aus ihm heraus: »Ein Mädchen!«, rief er derart gellend, dass die drei alten Damen, die sich auf der anderen Straßenseite eben erst zu einer kurzen Gassentratscherei zusammengerottet hatten, verschreckt ihre kunstvoll ondulierten Köpfe nach ihnen umdrehten. »Ja, wenn das so einfach wäre … ! Endlich hatte er das ausgesprochen, was ihm schon seit langer Zeit, im Grunde genommen schon seit dem Tag, an dem seine ersten Schamhaare zaghaft zu sprießen begonnen hatten, sowohl das Hirn als auch das Herz umrührte. »Bislang haben das noch die allermeisten geschafft«, meinte Freud und bugsierte mit seinem Gehstock zielsicher einen Kiesel vom Trottoir. »Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es schaffen werde! »Und warum ausgerechnet du nicht?« »Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!« »Das ist nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand irgendetwas.« »Nicht einmal Sie?« »Gerade ich nicht!« »Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?« »Junger Mann«, sagte Freud und hielt an. »Man muss das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!« »Ach!«, sagte Franz in Ermangelung passenderer Worte, die die unermessliche Tiefe seines Unglücks zum Ausdruck bringen könnten. Und gleich noch einmal hinterher: »Ach!« »Wie dem auch sei«, sagte Freud. »Wir sind angekommen. Darf ich um meine Zigarren und meine Zeitung bitten?« »Aber natürlich, Herr Professor!«, sagte Franz mit hängendem Kopf und reichte ihm das Paket. BERGGASSE NR. r9 stand auf dem Schildchen über dem Hauseingang. Freud nestelte einen Schlüsselbund hervor, sperrte auf und lehnte seinen schmächtigen Körper gegen das schwere Holztor. »Darf ich Ihnen …« »Nein, du darfst nicht«, knurrte der Professor, während er sich schnell durch den Türspalt ins Innere drängte. »Und denk daran«, schob er hinterher und reckte seinen Kopf noch einmal ins Freie. »Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss. Ich wünsche einen angenehmen Tag!« Damit verschwand er im Dunkel des Hausflurs. Mit einem leisen Knarren schloss sich das Tor, und Franz stand alleine im Wind.

Inzwischen ist es 1938 geworden, in Wien wehen immer mehr rote Fahnen mit Hakenkreuzen, die Nazis werden rotzfrech, nisten sich ein, die Wiener machen sich klein, die Trafik verliert Kunden. Steine fliegen, Franz muss das Geschäft für Herrn Trsnjek führen, die Böhmin Anezka schließt sich einem Nazi an, Professor Freud hat sich mit der “Reichsfluchtsteuer” seine Ausreiseerlaubnis erkauft. Es dauert lange, bis der brave Franz die Geduld verliert und seine politische Unschuld. Der Ton der Erzählung wird bitterer. Robert Seethaler hat einen sympathischen Roman mit einem liebenswerten “Helden” in diese Stadt in Aufruhr geschrieben. Er nimmt sich Zeit für die bescheidenen Höhepunkte und die Katastrophen des Lebens. Zeit auch für die kleinen Dinge, das Essen und die Gerüche und die unscheinbaren Ecken des Bezirks. “Der Trafikant” ist ein leises politisches Buch, wie der Franz ein leiser Mensch ist. “Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen.“ Doch auch für die Ruhigen werden die Abgründe immer tiefer. “Der Trafikant” ist ein österreichischer Roman, Gerhard Polt sieht ihn “in der Tradition von Alfred Polgar und Joseph Roth”. Das Grauen schleicht sich durch die Lakonie des Erzählens, die feine Beiläufigkeit. Ohne Schmäh, dafür ist die Lage zu ernst. Freud und Franz trennt nicht nur das Alter, aber sie verstehen sich. Franz hat sich sogar angewöhnt, seine Träume aufzuschreiben; er pickt die Traumhappen als “aufgeklebte Absonderlichkeiten” an die Scheibe seiner Trafik und die Passanten beglotzen sie, ohne “auch nur das Geringste zu verstehen”.

„Freuds Gesicht hellte sich auf. Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter ,einfacher Leute‘ immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte. Und zwar nicht wie die über Jahrzehnte ausgebleichten und durchgesessenen Strickblüten auf einer der vielen Decken, die seine Frau immer so sorgfältig über die Couch drapierte und in deren dicken Wollfasern sich auf magische Weise der Staub der ganzen Wohnung zu sammeln schien. Nein, in diesem jungen Mann pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben.“

„‚Hm‘, meinte Franz und legte eine Hand an seine Stirn, um das wilde Durcheinander seiner Gedanken dahinter ein wenig einzudämmen. ‚Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?‘ Freud hob die Augenbrauen und öffnete langsam den Mund. ‚Könnte das sein? Habe ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt?‘ wiederholte Franz. Freud schluckte. ‚Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht.'“

  2013      250 Seiten (TaBu)

Homepage von Robert Seethaler mit Video-Lesung und Leseproben

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Hofmann
29. Januar 2014, 17:22
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Gert Hofmann: Veilchenfeld

veilchenfeld

UNSER PHILOSOPH IST PLÖTZLICH GESTORBEN, unser Leichenwagen hat ihn abgeholt. Lautlos, nämlich auf Gummirädern, sind die Leichenkutscher – keiner weiß, wer sie kommen ließ – am Montagmorgen bei ihm vorgefahren und von ihrem Bock gesprungen, wir haben es selbst gesehen. Wir lehnen an Höhlers Gartenzaun und machen uns nicht schmutzig. Die Leichenkutscher ziehen unter einem merkwürdig scharrenden Geräusch, das die Heidenstraße hinabläuft, den für Herrn Veilchenfeld vorgesehenen Sarg aus ihrem großrädrigen, feierlichen und klapprigen Leichenwagen und verschwinden, nachdem sie ihr mit einem Federbusch verziertes Pferdchen beiläufig am Hals beklopft haben. Sie werden Herrn Veilchenfeld doch nicht holen wollen? Doch, sie holen Herrn Veilchenfeld! Den ich noch gestern bei mittlerem Wetter so abends gegen acht in seinem Hintergarten gesehen habe, wie er, bleich, doch überzeugend in einem Fliederbusch stand. Hinter, nicht vor seiner Gartenmauer, die unten Risse hat zum Durchschauen für uns. Denn obwohl in unserer Stadt bekannt war, daß Herr Veilchenfeld nach seiner Entlassung zu uns herausgezogen war und nun ohne Anhang (die Mutter) in der Heidenstraße in dem Haus mit dem Erker wohnte, war er in letzter Zeit immer seltener zu sehen gewesen.

Wohnt er überhaupt noch hier, fragen wir den Vater.
Ja, sagt der Vater, er ist oben.
Und was macht er?
Er sitzt an seinem Tisch.
Und warum kommt er nicht runter?

WEIL ICH MICH unter meinen Büchern sicherer fühle als unter meinen Landsleuten, sagte Herr Veil­chenfeld immer zur Mutter und lächelte unter der Krempe seines schwarzen Hutes über das schmale, von ihm mit kurzen Schritten immer wieder um­gangene Gartenstück zu ihr auf die Straße hinaus.

Bernhard Veilchenfeld beschreibt sich selbst als “älterer, akademisch gebildeter Herr, Professor in außergewöhnlichen Verhält­nissen, aber sehr ruhig”, dass er Jude ist, arf er nicht auf den Zettel schreiben, mit dem er eine “Haushilfe” sucht, denn die Geschichte spielt 1938. Herr Veilchenfeld, in der Erzählung wird er immer nur “Herr Veilchenfeld” genannt, verschwindet allmählich aus der Stadt, der Straße, seinem Haus, seinem Leben. Er will sich unsichtbar machen, verschwinden, auch körperlich. Er will den Anfeindungen, Übergriffen, Redereien der geschwätzigen Erwachsenen entgehen.

Und dann, mein Gott, sein Gang!
Den er sich in seinem Hintergarten zugelegt haben muß, weil er da keinen Auslauf hat, sondern immer nur um die Bohnenstangen herumkriecht, das hat seinen Gang so verhunzt, hat die Mutter einmal über den Gang von Herrn Veilchenfeld gesagt. Der aus lauter Angst, Unwillen zu erregen – er weiß nie genau, wie weit er gehen darf – seit einiger Zeit etwas Schleichendes und Verstohlenes und, wenn er keinen Hut aufhat, Verbrecherisches an sich hat, das die Leute ja mißtrauisch machen muß, sagt sie. Und jeder sich fragt, was jemand mit so einem Gang bei uns zu suchen hat.

 Veilchenfeld wird dabei immer einsamer. “Frau Abfalter (…) nannte ihn – alles durch die Tür – erst »Professor«, dann »Veilchen« und schließlich »He«.“ Nur noch der Arzt kommt hin und wieder zu ihm, hält notdürftig Kontakt, weiß wenig, aber mehr als die anderen von ihm. Er darf nichts erzählen, er läuft mit.

Ein Schicksal eines Juden zur Nazizeit. Einen Ausweg gibt es nicht. Als veilchenfeld im Amt um ein Visum zur Ausreise aus Deutschland ersucht, wird er verhöhnt, sein Pass wird zerrissen.

Da hätten auch die beiden Herren mitleidig ge­lächelt und sich rechts und links von Herrn Thie­le aufgestellt. Dann ist Herr Thiele offiziell ge­worden und hat den Paß von Herrn Veilchenfeld vor sich auf den Schreibtisch gelegt und die Hän­de darüber gefaltet und in einem Ton, als würde er etwas aufsagen, ungefähr gesagt: Herr Profes­sor Bernhard Israel Veilchenfeld, kraft der mir verliehenen Befugnisse entziehe ich Ihnen hier­mit die Staatsangehörigkeit eines Deutschen und stoße Sie für immer aus unserer Volksgemein­schaft aus. Und dann hat Herr Thiele, noch ehe Herr Veilchenfeld hat nicken können, vor den zwei Zeugen den Paß in zwei Teile gerissen und die Teile dann immer weiter zerrissen, und den Deckel, weil er zum Zerreißen zu fest gewesen ist, mit einer Papierschere durchgeschnitten, das ging leichter. Bis von dem Paß nur noch Schnipsel übrig waren, die Herr Thiele vor sich zu einem Häufchen aufgeschichtet hat. So, hat er ge­sagt.
Herr Thiele, Herr Thiele, hat Herr Veilchenfeld gesagt und den Kopf geschüttelt, erzählt Herr Lachmann dem Vater und der Mutter auf der Bank über uns, aber der Herr Thiele hat einfach weiter gerissen und geschnitten, bis der Paß nicht zum Wiedererkennen war. Dann hat einer der Herren aus dem Nebenzimmer: Sie erlauben, Herr Thiele!, gesagt und einen Papierkorb geholt und ihn Herrn Thiele hingehalten, und Herr Thiele hat die Paß­schnipsel behutsam in den Papierkorb geschoben. Dann hat Herr Veilchenfeld rasch noch ein Formu­lar in fünffacher Ausfertigung datieren und unter­schreiben müssen. Daß er zur Kenntnis genommen hat, daß er nun kein Deutscher mehr ist. Nein, hat Herr Veilchenfeld gefragt. Nein, hat Herr Thiele gesagt.

Und was bin ich nun, Herr Thiele, hat Herr Veil­chenfeld gefragt und die Feder hingelegt. Jedenfalls kein Deutscher mehr, hat Herr Thiele ge­sagt und seine flachen Hände vor sich hingelegt. Und was, Herr Thiele, macht man in so einem Fall, wenn man nach so vielen Jahren plötzlich kein Deutscher mehr ist, hat Herr Veilchenfeld gefragt. Sonst bin ich ja auch nichts.

Die Erzählung beginnt mit dem Tod Veilchenfelds.Der Leser weiß das und fragt sich, warum Veilchenfeld gestorben ist, plötzlich. Gert Hofmann lässt ein Kind erzählen. Der neunjährige “Hänsel” steht noch außerhalb der Gesellschaft der Erwachsenen, ist noch nicht gleichgeschaltet, darf noch naiv sein. Das Kind darf den Professor in seiner geheminmisvollen Wohnung noch besuchen, es sucht verwundert nach dem Schatten des Mannes am Fenster, es stellt Fragen, die niemand beantworten will, ja, am liebsten würde man sie gar nicht hören. Nur der Vater macht Andeutungen, der Vater ist der Arzt. Gert Hofmann übernimmt die Perspektive des Kindes und kann so die Schrecken ganz ruhig erzählen, ohne Pathos, ohne Appell. Die Schrecken werden dadurch noch größer, grausamer, absurder.

Dann gleitet der Sarg, von der Frau Abfalter geleitet, in den Hinterhof hinein. Solche Höfe gab es damals bei uns. Und scheint, weil er unseren Philosophen enthält, nicht nur schwerer (das wäre natürlich), sondern auch länger (das wäre übernatürlich) geworden zu sein. Kaum daß er um die Hausecke geht, obwohl auch die Frau Abfalter nun ein paar Gummifinger mit anlegt. Und wird unter den Augen der Nachbarn, die sich inzwischen alle ihre Kissen geholt und sich auf ihren Fenstersimsen eingerichtet haben und ihre Köpfe rücksichtslos in die Heidenstraße schieben, über den Hinterhof geschleppt. Und dann, jenseits des verrosteten Hoftors, in die Heidenstraße hinein. Doch können wir, von der Gartenmauer her, alles gut verfolgen. Der Sarg, wahrscheinlich mit Herrn Veilchenfelds Kopf, seiner Überwelt voran, wird in den Leichenwagen geschoben, dann wird eine Pause gemacht. Das Hoftor, der Himmel, die Leichenträger, alles macht eine Pause, alles atmet auf.

Komm, Gretel, sage ich, doch sie will nicht kom­men. Komm, sage ich und ziehe sie. Hand in Hand, im gleichen Schritt, ohne den Sarg zu überholen, aus dem Hinterhof hervor, meine Schwester vor Grauen starr, die Frau Abfalter streift die Gummihandschuhe ab, die Leichenkut­scher schließen das Hoftor, die Nachbarn weisen auf den Sarg, der unter einem rascher fließenden Himmel in dem nach oben weiträumigen, aber auch nach allen anderen Seiten bequemen Leichen­wagen, der wie unsere Läden in der Helenenstraße Glasvitrinen hat, damit man die Blumen und die Kränze und den Sarg auch sieht, aber Blumen und Kränze gibt es keine, so daß die Vitrinen zugehängt sind und wir den nun toten Herrn Veilchenfeld nicht mehr sehen können. Wenn er uns, von dem schwarzen Pferdchen gezogen, davonrollt, aus der Stadt hinaus.

Eindringlich.

1986       185 Seiten (Tabu)

Von Gert Hofmann sollte man auch lesen:
Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga



Fallada
30. November 2013, 16:40
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Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein

fallada

Hans Fallada schrieb seinen Roman “Jeder stirbt für sich allein” 1946. Der Inhalt basiert auf Prozessakten über Otto und Elise Hampel. Als sie die Meldung erhielten, ihr Sohn sei „gefallen“, beschließt Otto Hampel, anti-nazistische Postkarten zu schreiben und sie in Gebäuden in ganz Berlin auszulegen. Seine Frau unterstützt ihn dabei, sie werden schließlich gefasst und 1943 hingerichtet. Im Buch nennt Fallada die beiden Otto und Anna Quangel, beide unpolitisch, unbedarft, wortlos.

»Was meinst du«, fragt Anna, »was mit unsern Karten ge­schieht?«
»Alle werden zuerst einen Schreck bekommen, wenn sie diese Karten daliegen sehen und die ersten Worte lesen. Alle haben doch heute Angst.«
»Ja«, sagt sie. »Alle …«
Aber sie nimmt sie beide, die Quangels, aus. Fast alle haben Angst, denkt sie. Wir nicht.
»Die Finder«, wiederholt er hundertmal Durchdachtes, »werden Angst haben, dass sie auf der Treppe beobachtet wor­den sind. Sie werden die Karte schnell fortstecken und weg­laufen. Oder sie legen sie auch wieder hin und verdrücken sich, und der Nächste kommt …«
»So wird es sein«, sagt Anna, und sie sieht das Treppenhaus vor sich, irgend solch ein Berliner Treppenhaus, schlecht be­leuchtet, und jeder, der eine solche Karte in der Hand hat, wird sich plötzlich fühlen, als sei er ein Verbrecher. Weil eigentlich jeder denkt wie dieser Kartenschreiber und doch nicht so denken darf, weil Tod auf solchem Denken steht …
»Manche«, fährt Quangel fort, »werden die Karte auch so­fort abgeben, an den Blockwart oder die Polizei: nur schnell fort mit ihr! Aber auch das macht nichts aus, ob in der Partei oder nicht, ob Politischer Leiter oder Polizist, sie alle werden die Karte lesen, sie wird Wirkung in ihnen tun. Und wenn sie nur die eine Wirkung tut, dass sie wieder einmal erfahren, es ist noch Widerstand da, nicht alle folgen diesem Führer …«
»Nein«, sagt sie. »Nicht alle. Wir nicht.«
»Und es werden mehr werden, Anna. Durch uns werden es mehr werden. Vielleicht bringen wir andere auf den Gedan­ken, solche Karten zu schreiben, wie ich es tue. Schließlich werden Dutzende, Hunderte sitzen wie ich und schreiben. Wir werden Berlin mit diesen Karten überschwemmen, wir werden den Gang der Maschinen hemmen, wir werden den Führer stürzen, den Krieg beenden …«
Er hält inne, bestürzt von seinen eigenen Worten, von die­sen Träumen, die sein kühles Herz so spät noch aufsuchen.
Aber Anna Quangel sagt, begeistert von dieser Vision: »Und wir werden die Ersten gewesen sein! Niemand wird es wissen, aber wir wissen es.«
Er sagt plötzlich nüchtern: »Vielleicht denken schon viele so wie wir, Tausende von Männern müssen schon gefallen sein. Vielleicht gibt es schon solche Kartenschreiber. Aber das ist egal, Anna! Was geht es uns an? Wir tun dies!«
»Ja«, sagt sie.
Und er, noch einmal hingerissen von den Aussichten des begonnenen Unternehmens: »Und wir werden die Polizei in Gang setzen, die Gestapo, die SS, die SA. Überall wird man von dem geheimnisvollen Kartenschreiber sprechen, sie wer­den fahnden, verdächtigen, beobachten, Haussuchungen ma­chen – vergeblich! Wir schreiben weiter, immer weiter!«
Und sie: »Vielleicht werden sie dem Führer selbst solche Karten vorlegen – er selbst wird sie lesen, wir klagen ihn an! Er wird toben! Er soll doch immer gleich toben, wenn was nicht nach seinem Willen geht. Er wird befehlen, uns zu finden, und sie werden uns nicht finden! Er wird weiter unsere Anklagen lesen müssen!«
Sie schweigen beide, beide geblendet von diesem Ausblick. Was waren sie eben noch? Unbekannte Existenzen; im gro­ßen, dunklen Gewimmel hatten sie mitgewimmelt. Und nun sind sie beide ganz allein, getrennt, erhoben vor den andern, mit keinem von ihnen zu verwechseln. Es ist Eiseskälte um sie, so allein sind sie.

Jeder lebt für sich allein, jeder andere kann ein Spitzel sein, man darf sich niemandem anvertrauen. Fallada ist nah an seinen Personen, zeigt ihre Sprachlosigkeit, ihre verschluckten Gefühle. Die Willkür hat die Familien zerstört, es gibt keine intakten Beziehungen mehr, die Männer strampeln sich ab, Moral kann nicht aufkommen, alle werden zu habgierigem und versoffenem Geschwerl. Dabei lässt Fallada den Leser die totale Herrschaft der Nazis gegen das Volk erleben. Die Nazis sind bei Fallada allesamt grobe Primitivlinge, die sich brutal und angsterfüllt an ihr Parteiamt klammern. Auch auf der Seite der Parteimitglieder regiert die Furcht, für jedes unbedachte Wort kann man eingesperrt, gefoltert, getötet werden. Fallada verfolgt falsche Fährten, lässt die Hauptpersonen ein ganzes Kapitel lang aus den Augen, widmet sich gesellschaftlichen Randfiguren, die mit der Gestapo in Berührung kommen, die zeigen, wie durchdringend das Gewaltmonopol der Partei ist.

Auch diese Frau Häberle würde man sich näher ansehen. Es war ein Jammer mit diesem Volk! Jetzt, wo der größte Krieg für seine glückliche Zukunft geführt wurde, selbst jetzt noch war es widerspenstig. Überall, wo man hinroch, stank es. Kommissar Escherich war fest davon überzeugt, dass er in beinah jedem deutschen Haus solch einen Wust von Heimlichkeiten und Lüge finden würde. Fast keiner, der ein reines Gewissen hatte – von den Parteigenossen natürlich abgesehen. Übrigens würde er sich schön hüten, bei Parteigenossen solche Untersuchung wie eben die bei der Schönlein durchzuführen.

Der Widerstand, den der Roman thematisiert, ist von vornherein hilflos und zum Scheitern verurteilt, er diente in erster Linie dazu, das Gefühl eigener Ohnmacht zu betäuben. Dennoch ist man nach der Nazizeit froh gewesen, dass sich überhaupt Widerstand finden und beschreiben ließ. “In den USA, Großbritannien, Israel und Frankreich war das Werk in den Jahren 2002 bis 2009 ein Bestseller. In Deutschland wurde der Roman daraufhin erstmals in einer ungekürzten Originalfassung neu veröffentlicht und erwies sich auch dort als Verkaufserfolg.“ (wikipedia)

Falladas Text war zunächst für den Fortsetzungsabdruck in der „Neuen Berliner Illustrierten“ vorgesehen. Das erklärt die Einteilung in 10-Seiten-Kapitel und auch die Ausführlichkeit der Darstellung.

Der Autor schreibt in einer Vorbemerkung: “Mancher Leser wird finden, dass in diesem Buche reichlich viel gequält und gestorben wird. Der Verfasser gestattet sich: darauf aufmerksam zu machen, dass in diesem Buche fast aus­schließlich von Menschen die Rede ist, die gegen das Hitler­regime ankämpften, von ihnen und ihren Verfolgern. In diesen Kreisen wurde in den Jahren 1940 bis 1942 und vorher und nachher ziemlich viel gestorben. Etwa ein gutes Drittel dieses Buches spielt in Gefängnissen und Irrenhäusern, und auch in ihnen war das Sterben sehr im Schwange. Es hat dem Verfasser auch oft nicht gefallen, ein so düsteres Gemälde zu entwerfen, aber mehr Helligkeit hätte Lüge bedeutet.

Berlin, am 26. Oktober 1946.            H. F.

2011     700 Seiten

Ausführliche Inhaltsangabe und knappe Bewertung bei Dieter Wunderlich
http://www.dieterwunderlich.de/Fallada-jeder-stirbt-allein.htm

Leseprobe beim Aufbau-Verlag
http://www.aufbau-verlag.de/media/Upload/leseproben/9783746628110.pdf

Georg Diez im Spiegel: “Buch aus dem Nichts – Die Sehnsucht nach dem guten Deutschen“
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-78076207.html

Adam Soboczynski in der Zeit: “Fallada im Volksstaat”
http://www.zeit.de/2011/18/L-Fallada

Verfilmung von Alfred Vohrer (1975) bei youtube (1:40)
http://www.youtube.com/watch?v=HuRkWCOpXtE



Hanika
29. Juni 2012, 16:30
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Iris Hanika: Das Eigentliche

Hans Frambachs Job und Aufgabe ist die „Vergangenheitsbewirtschaftung“. Die Gräuel der Nazizeit bestimmen und belasten sein Leben, für ihn ist dies „Das Eigentliche“. »Was eigentlich nicht auszuhalten ist, das ist die vollkommene Sinnlosigkeit dieses Leids. Jeden Leids. Es ist die Sinnlosigkeit, nicht das Leid, was nicht auszuhalten ist. Weil diese Sinn­losigkeit, diese Sinnlosigkeit dieses Verbrechens einen vielleicht bald erkennen ließe, daß überhaupt alles sinnlos ist.« Dieser Sinnlosigkeit kommt er nicht bei, auch nicht durch seine Arbeit, die ihm wichtig ist und die ihm doch selbst den Sinn seines Lebens immer fragwürdiger erscheinen lässt. Es stört ihn immer mehr, dass das Denken an die Opfer zur “Bewirtschaftung” geworden ist, mechanisches Registrieren von Dokumenten, und ,schlimmer noch, zur „Gedenkindustrie”, zur “Konkurrenz um die interessantesten Opfer”.

Frambachs Leben ist einsam geworden in seiner Melancholie, seiner “Akedia”. Seine Frau ? Partnerin ? Vertraute ? Graziela hat ihn verlassen, sie sucht den Sinn ihres Lebens bei einem Joachim und setzt dabei völlig auf das Glück des Körpers, ihr Eigentliches. Auch ihre Sucht dauert nicht lange, auch sie hält ein solches Leben nicht aus. Sie kehrt nicht zu Frambach zurück, aber sie ist und bleibt seine Partnerin für das Gespräch, seine einzige, für das Vertauen und den Sinn im Leben. Es wird natürlich gefragt, ob diese Gleichsetzung von Tod und Sex sein darf, ob das nicht obszön ist. Frambach besucht das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und er findet sich auf dem Weg der Häftlinge zu den Gaskammern. „Er konnte nicht umdrehen, jene hatten das auch nicht gekonnt.“ Aber dann biegt er doch ab, „vielmehr seine Füße hatten das getan, die hatten sich unter seinen Beinen von selbst nach rechts gedreht und waren in die Richtung gegangen, in die sie zeigten, nämlich die Lagerstraße hinunter zum Ausgang„. „Als er durch das Tor getreten ist, das Lagergelände verlassen und die Landstraße erreicht hat, folgt im Text eine Leerzeile, nach der ein knapper Satz steht: „Und war frei.““ Andreas Plattmann (FAZ) fragt sich, ob man so schreiben darf. Er gesteht es Hanika zu: „All das hält auch der zweiten Lektüre stand, weil es auf nahezu sämtliche Weisen, die der Literatur zu Gebote stehen, den Zwiespalt dessen aufzeigt, was Erinnerung ist.“

»Ich bin eben beim Nachdenken auf die Akedia gekommen, weil ich damit vielleicht erklären könnte, worin es eigentlich besteht, wie es sich äußert, mein Unglück. Es ist auch mehr eine Ahnung, ich weiß es wirklich noch nicht genau. – Aber vielleicht kann man das sowieso nicht genau wissen.«
»Mit Akedia wird ein Zustand beschrieben, in dem Mönche sich befinden, denen die Freude an Gott abhanden gekommen ist«, versuchte sie, ihm zu helfen.[…]
»Mir ist nicht die Freude an Gott abhanden gekommen«, sagte er schließlich, »sondern die Freude an der Vergangen­heitsbewirtschaftung. Mir ist die Gewißheit abhanden ge­kommen, daß ich diese Arbeit tun muß. Es ist nicht so, daß ich dächte, sie müsse nicht getan werden. Ich frage mich nur, ob ich sie tun muß. Das heißt, ob ich sie weiterhin tun muß, ich habe sie ja nun schon sehr lange getan. Nur ist es halt in­zwischen keine Arbeit mehr, die getan werden muß, sondern aus dieser Arbeit ist das Shoah-Business geworden. Und darin fühle ich mich fremd. Weil das für mich eben kein Geschäft ist. Wirklich nicht. Ganz im Gegenteil.« 

Dieser Zustand der permanenten Aufdeckung des Verbre­chens der Altvorderen war nicht schön, doch nötig, und als er nicht mehr nötig schien, war es gar nicht mehr schön. Da besann der Staat sich auf seine Pflicht seinen Bürgern gegen­über und beschloß, ihnen diese Bürde abzunehmen, indem er das Gedenken an das Verbrechen der Vergangenheit zu seiner immerwährenden Aufgabe erklärte. Die Verpflichtung, sie zu erfüllen, wurde in Denkmäler hineingegossen, deren Zahl um so schneller wuchs, je länger das Verbrechen zurücklag.
Jeder Ort, und derer waren viele, an dem das Verbrechen sich ereignet hatte, wurde in eine Gedenkstätte umgewandelt. Es wurde dieses Gedenken nicht mehr als eine bloß notwendige, sondern als die edelste Aufgabe des Staates angesehen, und nirgends war es ehrenvoller zu arbeiten als im Institut für Vergangenheitsbewirtschaftung, das in der Mitte der Haupt­stadt des Landes angesiedelt war, weil hier, und das war eben offiziell, das Herz des Landes schlug. (Natürlich befand sich in diesem Gebäude nur die Zentrale des Instituts; seine vielen Nebenstellen waren übers ganze Land verteilt.)
So war die Dunkelheit, aus der dieser Staat vor langer Zeit hervorgekrochen war, in das hellste Licht gestellt und zu sei­nem Eigentlichen erklärt worden, was nur logisch war, schließ­lich war es der Grund seiner Gründung.
Es wußten alle darum.
Es war kein Geheimnis und mußte nicht diskutiert wer­den.
Es war wirklich das Eigentliche.
Nur war es nicht mehr interessant, seit es auf dem Präsen­tierteller dargeboten wurde und wie von tausend Sonnen so hell und von allen Seiten beleuchtet war. Aus dem Blitzkrieg war Blitzlicht geworden und aus der Wirklichkeit dieses Ver­brechens eine Geschichte aus alten Zeiten.

2010         175 Seiten (Tabu)

Homepage von Iris Hanika mit Rezensionen und Leseprobe



Becher
16. März 2012, 18:24
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Ulrich Becher: Murmeljagd

Albert von ***, genannt Trebla, wird auf der Flucht vor den rachewütigen österreichischen Nazis des Anschlussgebiets 1938 in die Schweiz verschlagen, ins Engadin, Pontresina, Puntraschigna. Die rätoromanischen Namen geben einen exotischen Schauplatz ab für die Geschichten, die Trebla in der Bergwelt erlebt. Die Murmeljagd als Doppelsymbol, Trebla, der Ge- und Verjagte, Trebla, der angrifflustige Jäger und Erzähler. Treblas Familie stammt aus den KuK-Grenzlanden, viel adelige und auch sonst bestaunenswerte Verwandtschaft. Trebla ist ein Roter geworden und steht so auf der richtigen Seite. Im ersten Krieg ist er Jagdflieger und verwundet geworden, er hasst die Kriegstreiber, erzählt aber ausgiebigst gerade auch vom Krieg. Er wird und fühlt sich verfolgt und kommt sich so sehr bedeutend vor und hat – vor allem – viel mitzuteilen. Nicht nur die aufregenden Erlebnisse im Engadin tischt Trebla dem Leser auf, sondern auch die vielen Erinnerungen, die Schicksale seiner Verwandten und Gefährten. Für sich alles interessant.

Trebla hat natürlich die politische Korrektheit für sich als pointierter Gegner Hitlers, des Kleinhäuslers, als ins Schweizer Exil gezwungenes Opfer, als letzter legitimer Sohn der KuK-Monarchie, die auch ihre schrulligen Abweichler ertrug bis die Nasozen anschlossen. Becher entwirft ein älplerisches Panoptikum im Engadin, in das ständig balkanesische und reichsdeutsche Phantasien einwuchern. Schon die Namensgebung soll beeindrucken: das geht von seiner Frau Roxane (Xane), die zunehmend aus dem Blick gerät, über den kunstreitenden Schwiegervater „Giaxa Giaxa“, dem Gebirgsmitrailleur Lenz Zbraggen, Segner Clavadetscher, Landadvokat Gaudenz de Colana, unendlich.

Trebla/Becher weiß alles und kennt alles. Und muss alles erzählen. Pferderassen, Uniformen, Umgangsformen, Weinsorten und Waffen, Edelgewächse, Frauen, Zigarren, Weltsprachen und die lokalen Idiome, Geschichte und Literatur, alles. Das imponiert, doch möchte man den Erzähler nicht vor sich sitzen haben in seiner ausufernden Egomanie. Das lässt an den Arno Schmidt der Zettelkästen denken, auch in seiner eigenen Schreibe. Bechers Stil ist treffsicher, witzig, ironisch und satirisch, wortverspielt, arrogant.

Hemmungslos selbstgefälliges Palaver. Das lässt sich durchaus genießen, aber nur in kleinen Portionen. Der Roman hat 700 Seiten.

Schon hier war ich drauf und dran, den Valentin mit der Bitte, sich kürzer zu fassen, zu unterbrechen. Allein die Konzentration, mit der er eine lange Serie spielte, hielt mich davor zurück.“ Das hätte Becher schon auf sich selbst anwenden können.

Ich wandte mich vom Ofen und sah den Privatdetektiv (wann mochte er seine Lizenz erworben haben?) wieder hinterm überdimensionalen Schreibtisch sitzen, nicht mehr gesteift, weit zurückgelehnt, und die Bürolampe war wieder niedergebogen, so daß aufs neue die Aquariumsbeleuchtung vorherrschte, und sein Hexengesicht, grünlich überfahlt, schwebte unwirklich wie ein Selbständiges, wie eine grüne Fastnachtslarve vor dem schwarzen Fries der Aktenkästen. Wie ich hinzutrat, entdeckte ich: Laimgruber hatte den Stehrahmen mit dem Brustbild des hochgeborenen Greises hokuspokus ausgewechselt oder mani­puliert, an blickte, an starrte mich daraus ein anderer, niedrig­geborener Austriak, Hitler-Hittler-Hüttler, Kleinhäusler Der Führer. Im selben Atemzug löste sich das Rätsel, das mir schon im Hof des Beethovenhauses aufgegeben. An WEN erinnerte das Gebaren, dessen Laimgruber sich jüngst befleißigte? Jener zwi­schen dem Suggestionsklimbim eines Schmierenhypnotiseurs und der Berserker-Treuherzigkeit eines wildgewordenen Bieder­manns wechselnde Ausdruck? und, soeben, diese Kabarett-Ein­lage eines chauvinistischen Paroxysmus, offenbarungsgläubigen Militarismus, dies monomaniakische Gestelz und Getänzel, dies geschraubte, dann wieder gebelferte Hochdeutsch, anklingend ans Oberdeutsch zwischen Donau und Moldau (Laimgruber ein gebürtiger Kärntner)? Diese Spießerdämonie? Oder diese Psychopathenallüre, sprunghaft wechselnd von wotanischer Er­grimmtheit zu leicht strizzihaftem austriakischem Charme und von dort zur Verwandlung in eine Tiroler Schemenläufer­Maske? Ob dem frischgebacknen Privatdetektiv voll bewußt war, daß er Kleinhäusler imitierte? der Laimgruber den Klein­häusler (dessen leibhaftiges Auftreten zu studieren ich kurz vor der >Machtübernahme<, in Berlins Sportpalast, Gelegenheit ge­funden)? Und war ihm bewußt, daß seit seinem Anfall eine der pomadisierten >Sardellen< hinabzottete in die hager-hohe Stirn, wie eine Karikatur der berühmten Führerlocke, die selber eine Karikatur war? Telepathie? Jedenfalls klebte er die Strähne ruck­zuck an den Schädel, indes ich fragte:
>Pardon, inwiefern liegt mein Wohl und Wehe auch heut in deiner Hand?<

Der Roman erschien 1969 und wurde 2009 zum hundertsten Geburtstag Bechers  wiederaufgelegt. In den Weihnachtstipps der SZ empfahl Juli Zeh die “Murmeljagd” als den Roman. Für mich Anlass, das Buch zu kaufen. Ich habe es nicht bereut, bin aber erleichtert, doch noch das Ende der Geschichte erreicht zu haben.

Hintergründe zum Stichwort “Exilliteratur” in der
Rezension von Volker Weidermann in der FAZ

 Leben und links bei wikipedia

 Projekt “Murmeljagd”
mit Erläuterungen zu Personal und Hintergründen



Hilsenrath
18. Januar 2011, 11:56
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Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur

Itzig Finkelstein macht mit sich 1600 weiteren Passagieren der Exitus, einem der ersten Schiffe, die jüdische Überlebende nach dem zweiten Weltkrieg nach Palästina bringen, auf ins damals britische Mandatsgebiet. Er engagiert sich für den Aufbau des Staates Israel, will keine Bäume pflanzen – es gibt schon 6 Millionen -, sondern kämpfen, zur Not auch mit Waffen, er baut sich auch eine Existenz auf, als Friseur, das hat er in Deutschland gelernt. Schon bald hat er seinen Laden, nein Salon, nennt ihn wieder „Der Herr von Welt“, heiratet und könnte zufrieden sein.

Die Konkurrenz! Daß ich nicht lache! Wer kann schon mit Itzig Finkelstein konkurrieren? Ein Mann, der beliebt ist in dieser Stadt! Den man respektiert! Ein Idealist! Ein Redner! Ein Terrorist! Ein Haganahmann! Ein Frontkämpfer! Einer, der sich im Suezkanal die Füße wusch im Zeichen des Davidsterns! Ein Volksheld! Und noch dazu: ein guter Friseur, ein erstklassiger, ein wahrer Künstler!

Itzig Finkelstein findet aber keine Ruhe, denn in ihm wühlt ein Problem. Er kann es nicht loswerden, denn er kann mit niemandem darüber sprechen. Sein Unfried ist: Er ist nicht Itzig Finkelstein. Er ist Max Schulz, der SS-Mann, der Massenmörder, der auch seinen Jugendfreund Itzig auf dem Gewissen hat. Sie waren – nicht – zu verwechseln: „Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne. Ich dagegen, Max Schulz, hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne.“

Moral kennt Max Schulz nicht, er will sie sich nicht leisten. Da er als Max Schulz gesucht wird, nimmt er die Identität Itzig Finkelstein an. Er ist so pervers, dass er sich sogar eine KZ-Nummer in den Unterarm tätowieren lässt. So schlägt er sich durch, bis er auf die „Exitus“ gerät, die bei der Ankunft in Palästina in „Auferstehung“ umgetauft wird.

Die Idee des Rollentausches ist vielleicht nicht ganz neu, man denke an Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“ oder an die Ähnlichkeit von Charlie Chaplins Friseur (!) mit Hitler. Hilsenrath lässt die Geschichte vom Täter erzählen, ein weiteres Tabu. Max Schulz rechtfertigt sich nicht, er lässt keine Grausamkeit seiner Biographie aus. Trotzdem verkommt er nicht zum Guten, seine Taten verraten ihn – und seinesgleichen – und klagen an. Er findet keine Ruhe mehr, er spricht in Gedanken mit dem „echten Itzig Finkelstein“, will damit seine Stachel loswerden.

Kennst du >Ihn<? Weißt du, wer der Mörder ist? Dein Mörder? Und der Mörder deines Vaters? Und der Mörder deiner Mutter? Soll ich dir das Geheimnis verraten?
Ha? Ich laß dich zappeln! Reiß ruhig deine toten Augen auf! Und spitze deine toten Ohren! Es wird dir nichts nützen. Ich verrate das Geheimnis nicht.

Lieber Itzig. Es heißt, daß man haßt, was man ver­leugnen will. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe immer wie ein Jude ausgesehen … obwohl das nicht stimmt. Aber man hat es gesagt. Ja, man hat es gesagt: Der sieht wie ein Jude aus!
Denk mal nach, Itzig. Schon aus diesem Grund hätt‘ ich euch hassen müssen. Um zu verleugnen, was ich gar nicht bin … bloß, weil ich Angst hatte, ich könnte es sein. Oder: weil sie glaubten, daß ich es bin, obwohl ich wußte, daß ich es nicht bin. Kapierst du das?
Na also. Du kapierst das. Ich auch. Trotzdem hab ich euch nicht gehaßt. Sonderbar … wie? Das stimmt aber. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nie gehaßt. Warum ich euch nicht gehaßt habe? Ich weiß es nicht. Ich stelle nur fest: Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nicht gehaßt.
Was sagst du? Warum ich getötet habe? Ich weiß nicht warum. Vielleicht wegen der Stöcke? Da war mal ein gel­ber Stock und ein schwarzer Stock. Und andere Stöcke, farblose Stöcke. Und da waren Hände, viele Hände, die die Stöcke schwangen. Und jeder Stockschlag sauste auf meinen Hintern … oder auf den Hintern, den sie Seele nennen … denn die ist auch ein Hintern: die muß manch­mal herhalten! Oder: oft! Oder: sehr oft!
Na also. So war das. Und ich wollte auch mal den Stock schwingen. Oder die Stöcke. Aber anders. Gewaltiger. Kapierst du das? Na also. Du kapierst das.

 So gewaltig und maßlos hätt‘ ich den Stock oder die Stöcke aber nie schwingen können … wäre da nicht ein Befehl gewesen. Ein Befehl, der befahl: Schlag zu!
Verstehst du mich? Ohne Befehl hätt‘ ich nie gewagt, was ich gewagt hatte. Hätt‘ mich gar nicht getraut. Denn ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, war nur ein kleiner Fisch, ein ängstlicher, zappelnder, kleiner Fisch, der nur zuschlagen konnte, weil es erlaubt war.

Wir haben nicht nur Juden umgebracht. Wir brachten auch andere um. Wir haben auch andere erschossen und erhängt und vergast und totgeprügelt … andere … die keine Juden waren. Aber ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, wurde nur bei Judenmorden einge­setzt. Warum? Ich weiß nicht warum.
Es stimmt. Ich habe selber wie ein Jude ausgesehen … wenigstens dachten sie das … und deshalb mußte ich besser töten als die anderen … mußte ihnen zeigen, daß ich keiner war … ich meine … kein Jude war. Kannst du das verstehen? Wieviele ich umgebracht habe? Ich weiß es nicht. Ich hab sie nicht gezählt. Aber glaub mir, Itzig. Ich war kein Antisemit. Ich bin nie einer gewesen. Ich habe bloß mitgemacht. 

Kannst du mich hören, Itzig? Und kannst du mich sehen? Komm! Spiel mit mir! Such mich! Wo bin ich? Wo hab ich mich versteckt?
Ha, ha, blinde Kuh! Such mich. Komm, such mich. Wo bin ich? In meinem Hotelzimmer? Falsch geraten! In meinem Bett? Ja! Aber nicht in Berlin. Und nicht im Hotelzimmer! Lieber Itzig. Ich habe kein Zimmer. Und mein Bett ist nur eine Schlafstelle, eine Koje … so ähn­lich wie in Laubwalde … und doch nicht so. Denn ich, Itzig Finkelstein, bin ein freier Mann.

Die Freiheit muss er sich einreden, auch sein Engagement in und für Israel ist keine Buße, sondern entspringt zuerst seinem wenig reflektierten Geltungsbedürfnis, dem Wunsch, eine Rolle zu spielen. Ähnlich den “Mitläufern” der Nazis, den “Unzufriedenen”, wie sie Schulz‘ alter Lehrer Siegfried von Salzstange nennt.

 »Ich dachte – hier wären nur die Leute aus Wieshalle und Umgebung«, sagte ich zu Herrn Siegfried von Salz­stange. »Aber es sind mehr. Viel mehr! Ich sehe Millio­nen!«
»Hier ist fast ganz Deutschland versammelt«, sagte Herr von Salzstange.
»Was heißt: fast ganz Deutschland?«
»Nur die Unzufriedenen«, sagte Siegfried von Salz­stange.
»Hier sind die Unzufriedenen ganz Deutschlands versammelt!«
»Die Kommunisten?« fragte ich.
Mein früherer Deutschlehrer schüttelte den Kopf. »Die anderen«, sagte er – »die anderen Unzufriedenen. Denn es gibt eine andere Unzufriedenheit, und die kann der Kommunismus nicht heilen.« Herr von Salzstange grinste schwach – sagte dann: »Wenigstens nicht so gründlich.«
»Wer denn?« fragte ich. »Wer kann sie heilen?« »Adolf Hitler«, sagte Siegfried von Salzstange. »Er ist der große Heiler.«
Mein früherer Deutschlehrer bohrte eine Weile nach­denklich in der Nase. Dann sagte er: »Hier sind alle ver­sammelt, die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Menschen.«
»So«, sagte ich. »So ist das.«
»Ja, genau so«, sagte Siegfried von Salzstange, » – hier sind die verkrachten Existenzen versammelt – auch die Kurzatmigen und die Arschlecker von Beruf, Leute, die im Leben nicht richtig vorwärtskamen, entweder, weil sie keine Puste hatten und das planmäßige Kriechen nie richtig gelernt hatten, oder weil der Arsch, den sie leck­ten, unersättlich war.«
Mein Deutschlehrer grinste eine Weile verloren. »Und natürlich auch die anderen«, sagte er dann nachdenklich und blickte mich dabei ernst an: » – wie sagte ich doch vorhin: die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Men­schen: die Glatzköpfe zum Beispiel, auch die sind hier versammelt – gucken Sie sich doch mal um – und auch die zu dünnen und die zu dicken, Leute mit zu kurzen Beinen und Leute mit zu langen, die zu alten und die zu jungen, die Perversen ohne Partner und die Impotenten, Leute mit Würgerhänden, die bisher nicht würgen durf­ten, weil ihnen gesagt wurde, sie dürften nur streicheln, auch die Brillenträger sind gekommen und die Brillen­trägerinnen, denn >Er< hat gesagt: >Lasset die Kindlein zu mir kommen!< Aber die Kindlein – das sind die Ver­hinderten! – Ja, so ist das«, sagte Herr von Salzstange, »vor allem die Verhinderten – die, die gerne mal möch­ten und nicht können.«

Der Roman zeigt recht ausführlich die Geschichte Israels vom UN-Plan der Aufteilung Palästinas 1947 bis zum 6-Tage-Krieg 1967. Breit erzählt Schulz auch die Stationen und Fährnisse seiner Flucht vor der Roten Armee und den Partisanen in Polen. (Hier fließen wohl auch Erfahrungen Hilsenraths ein.) Immer wieder trifft Schulz auf Frauen, lässt sich von ihnen aushalten, auch quälen, immer sind es Monster, seine Frau Mira dicker noch als seine Mutter, Frau Holle mit dem Holzbein oder die polnische “Hexe” Veronja. Am überzeugendsten wird dem Leser, er wird direkt angesprochen, der unaufhaltsame Weg des Jungen Max Schulz von seinen fünf Vätern zum Nazi vorgeführt. Immer derb, immer deftig.

1977      465 Seiten

+2

dtv-Leseprobe

dtv-Unterrichtsmodell von Tina Rausch



Zusak
17. Januar 2010, 16:38
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Markus Zusak: Die Bücherdiebin

Der Raum schrumpfte. Es herrschte ein Maß an Stille, von dem sie nie gedacht hätte, dass es möglich war. Die Stille dehnte sich aus, wie ein Gum­miband, das nur zu gerne gerissen wäre. Das Mädchen durch­brach sie.
»Darf ich? «
Die beiden Worte standen auf einem unendlich weiten, mit Holz belegten Feld. Die Bücher waren kilometerweit weg. Die Frau nickte.
Ja, du darfst.pfte, bis die Bücherdiebin die Regale mit ein paar kleinen Schritten erreichen konnte. Sie fuhr mit dem Handrücken das erste Regal entlang und lauschte dem rhyth­mischen Ticken, das ihre Fingernägel auf den abgerundeten Buchrücken verursachten. Es klang wie ein Instrument, das Geräusch rennender Füße. Sie nahm beide Hände. Sie veran­staltete ein Wettrennen. Ein Regal gegen das nächste. Und sie lachte.
Ihre Stimme entfaltete sich, hing hoch in ihrer Kehle, und als sie endlich aufhörte und mitten im Raum stehen blieb, ver­brachte sie einige Minuten damit, zwischen den Regalen und ihren Fingern hin und her zu schauen.
Wie viele Bücher hatte sie berührt?
Wie viele hatte sie gefühlt?
Sie ging wieder hin und tat es noch einmal, diesmal viel lang­samer, diesmal die Handfläche den Büchern zugewandt, ließ sich von der kleinen Hürde eines jeden Buchs das Fleisch ihrer Hand verschieben. Es fühlte sich an wie ein Zauber, wie Schön­heit, getaucht in strahlende Linien aus Licht von einem Kron­leuchter. Mehr als einmal hätte sie fast ein Buch von seinem Platz genommen, aber sie wagte nicht, sie zu stören. Sie waren einfach vollkommen
.

Der Tod und das Mädchen. Das Mädchen schreibt sein Tagebuch, das der Tod findet, es der alten Frau zurückgibt und jetzt dem Leser als Tod erzählt, was geschah. Das klingt nach Konstrukt, ist es auch, erscheint schließlich aber nicht nur plausibel, sondern sehr poetisch. Poetisch ist auch die Sprache. Immer machen sich die Wörter und Töne selbständig, hängen im Raum oder steigen in den Himmel, berühren, im doppelten Sinn. Der Himmel ist sehr weit, oben, aber er hat ein Refugium auf der Erde, die Himmelstraße in Molching. Dort lebt Liesel bei ihren Stiefeltern, dort lebt ihr Freund, der „Saukerl“ Rudi, und dort sterben auch alle bei einem Bombenangriff am Ende der Nazizeit. Liesel und ihre Leute sind die Guten, oft sehr Guten trotz äußerer Grobheiten, die Nazis sind die Bösen, und das ist auch richtig so, aber doch ein bisschen schwarzweiß.

Liesel ist die „Bücherdiebin“, aber es dauert lange, bis sie lesen lernt, bis das Bücherstehlen zum Mittel des Überlebens wird und Liesel auch zum Schreiben treibt. Was in den „gestohlenen“ Büchern steht, ist nicht so wichtig (?), aber man kann es vorlesen, z.B. bei Luftangriffen, wenn alle im Keller versammelt sind. Zusak erzählt sehr anschaulich, auch langatmig, es gibt ja auch zu viele wichtige Episoden, obwohl der Roman „eigentlich bloß ein schmales Bändchen werden“ sollte (Klappentext).

Das erste Mal war es weiß. Gleißend.
Einige von euch werden wahrscheinlich denken, dass Weiß gar keine Farbe ist. Völliger Blödsinn. Das stimmt nicht. Weiß ist zweifellos eine Farbe, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ihr mit mir streiten wollt. 
 

 Ja, es war weiß.
Es war so, als ob der ganze Erdball in Schnee gekleidet wäre. Als ob er ihn angelegt hätte, so wie ihr einen Pullover anzieht. Neben der Bahnstrecke verliefen Fußspuren, eingesunken bis zum Schienbein. Die Bäume trugen Decken aus Eis.
Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, war jemand gestorben.

  Ich habe mir auf den ersten 200 Seiten oft überlegt, das Buch wegzulegen. Lästig war mir das langsame Voranschreiten, lästig die ständigen Ansprachen des Todes, der den Leser an die Hand nimmt und ihn durchs Buch führt, lästig auch die poetisierende Sprache.

Es ist ein Buch für Kinder. Es ist ein gutes und wichtiges Buch für Kinder, wenn sie die Geduld haben für 600 Seiten. Es ist ein gutes und wichtiges Buch für Jugendliche.

Und solche Bücher sollen natürlich auch Erwachsene lesen. Ich habe es nicht bereut.

2006          590 Seiten

Lange Leseprobe, Infos und links vom Verlag 
Rezension radiergummi-blog | Rezension dradio

 

Ich habe auch Zusaks Roman “Der Joker” von 2002 gelesen. Auch das ist poetisch und spannend erzählt. Auch hier geht es darum, dass es gute und schlechte Menschen gibt und dass es doch viel schöner wäre, wenn alle gut wären oder sein könnten. Eigentlich recht sonderbar für einen Schriftsteller aus dem Jahrgang 1975.

Der Australier Markus Zusak ist innerhalb kurzer Zeit der zweite junge englischsprachige Autor, der die Geschichte Nazi-Deutschlands (Österreichs) verarbeitet hat. Wie John Wray in „Die rechte Hand des Schlafes“ erzählt er von Erlebnissen seiner Eltern – allerdings mit völlig anderen Mitteln und Absichten.



Wray
14. November 2009, 19:00
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John Wray: Die rechte Hand des Schlafes

Ein seltsam altmodisches Buch. John Wray, ein 29-jähriger Amerikaner, schreibt einen Text über Kärnten 1938 und hat damit in den USA Erfolg.

Oskar Voxlauer hat mit Müh und Not den Ersten Weltkrieg überlebt, sich dann bis in die Ukraine durchgeschlagen, dort eine Frau gefunden und verloren und ist jetzt wieder in seiner Kärntner Heimatstadt. Sein Vater ist gestorben, seine Mutter, eine Bildungsbürgerin, die er Maman nennt, alt. Voxlauer findet sich schwer zurecht, er lässt sich von einem befreundeten jüdischen Wirt als Wildhüter in den nahen Bergwäldern anstellen. Die Nazis überschwemmen die Täler und prügeln sich auch die Hänge hinauf. Auf den Bergen lebt noch ein Kommune von Lebensreformern und die zunächst geheimnisvoll erscheinende Else. Natürlich verlieben sich Oskar und Else und halten auch zusammen, als Elses Cousin Kurt, der örtliche SS-Führer, den beiden nachstellt.

Erzählt wird episch breit, die Natur ist malerisch und unschuldig; kitschig, kalt und neblig und voll schwachen Sonnenlichts. Das lässt sich angesichts des ernsten Themas verkraften. In gedanklichen Rückblenden berichtet Voxlauer über seine Erlebnisse im und nach dem Ersten Weltkrieg; auch der Nazi Kurt darf in Ich-Form von seiner Beteiligung an der Ermordung des österreichischen Kanzlers Dollfuß erzählen. John Wray verbindet die Ebenen von Fiktion und Fakten nicht ungeschickt. Ich finde nicht, wie viele Rezensenten betonen, dass die Figuren zu schwarz-weiß gezeichnet sind, eher wirken sie in ihrer Unentschlossenheit, in ihren Versuchen, sich zwischen den Parteien durchzuwinden, überfordert und verweigern die Anteilnahme. Andererseits ist das Thema im Süden Österreichs auch heute noch virulent und der Roman damit auch als Zeit-Geschichte zu lesen.
„Wo sich der mainstreamige Diskurs des journalistischen Antifaschismus nur noch in der Wiederholung längst bekannter Tatsachen ergeht und die Zeitgeschichtler sich in nobles Schweigen hüllen, findet John Wray mit der Gegenüberstellung des Nazis mit dem Kommunisten ein offenes österreichisches Territorium“, schreibt Erich Klein im Wiener Stadtmagazin „Falter“. (Ansonsten sei das Werk eine „Kitschorgie“. Wie aber soll man schreiben über eine Bergwelt, in deren Landeshymne es noch heute heißt: Wo Mannesmut und Frauentreu’|die Heimat sich erstritt aufs neu‘,|wo man mit Blut die Grenze schrieb|und frei in Not und Tod verblieb;| hell jubelnd klingt’s zur Bergeswand:Das ist mein herrlich Heimatland!)

Eines Morgens, als sie, er mit seiner Angel, zusammen am Bach saßen, ertappte er sich dabei, wie er gebannt ihren Hinterkopf anstarrte, auf dem die Schatten der Uferpflanzen spielten. »Was ist?«, fragte Else nach einiger Zeit und drehte sich nach ihm um. »Pauk hat erzählt, dass dein Vetter wieder da ist«, sagte er und holte behutsam die Schnur ein.
»Ja.«
Er blickte auf. »Du hast das gewusst?«
»Seine Mutter hat angedeutet, dass er von ihr wissen wollte, wo ich wohne. Ich weiß nicht genau, ob sie’s ihm verraten hat« »Ah«, sagte Voxlauer.
Else tauchte den Absatz ihres Schuhs leicht ins Wasser. »Sie hat nicht gesagt, wie lange er bleiben wird. Möglicherweise war er nur auf der Durchreise, ich weiß es nicht.«
»Er ist der Leiter der neuen Reichsverwaltung«, sagte Voxlauer langsam. »Zuständig für das Gebiet von Gressach bis zur Steiermark. Ich glaube, er wird eine ganze Weile hier bleiben.« »Ich habe sie gebeten, ihm auszurichten, er soll nicht kommen, Oskar. Und ihm nicht zu sagen, wo ich bin. Mehr kann ich nicht tun, oder?«
»Er wird bald wissen, wo er dich finden kann. Er weiß es schon.« »Warum sagst du so was?« Sie wich seinem Blick aus. Voxlauer schloss die Augen. »Weil er bei der SS ist. Darum.« Sie antwortete nicht.
»Du hast mir nicht erzählt, dass er bei der SS ist. Hast du’s vergessen?«
»Ich hab dir gesagt, dass er ein Illegaler war.« Sie stand langsam auf. »Spielt das eine Rolle?«
»Es spielt allerdings eine Rolle, ja.«
»Na gut, Oskar, jetzt weißt du’s.« Sie ging hinter ihm vorbei, nahm ihr Netz und verschwand zwischen den Büschen. Voxlauer saß lange bewegungslos da und starrte aufs Wasser.
Nach einer Stunde kam Else zurück und stellte ihr Netz neben ihm ab. »Schau, Oskar.« Sie nahm mit ihrer Pinzette einen Fal­ter mit tiefblauen Flügeln heraus, die zinnoberrot und purpurn geädert und gesprenkelt waren. Die Unterseite der Flügel glit­zerte wie Lapislazuli. »Der hat noch Platz in Resis Kasten, meinst du nicht?«

2000     420 Seiten

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Ähnliches Thema, auch Kärnten:
HERMANN BROCH: DIE VERZAUBERUNG (1954)

Broch geht es darum, den psychischen, massenpsychologischen sowie politischen Ursachen und Mechanismen nachzuspüren, die zu faschistischen Systemen in Europa führten. Dichterisches Modell ist ein Alpendorf, in das ein Fremder namens Marius Ratti kommt. Jeder sozialen Schicht und den verschiedenen Generationen vermag Ratti die Erfüllung geheimer Hoffnungen und Wünsche glaubhaft zu versprechen. Indem er Interessengegensätze ausnutzt, die Jugend militarisiert, Minoritäten verfolgt, eine zukünftige materielle Überlegenheit des Dorfes über die Nachbardörfer verheißt und es versteht, massenwahnartige Ekstasen auszulösen, ergreift Ratti die Macht. Broch geht es darum, den psychischen, massenpsychologischen sowie politischen Ursachen und Mechanismen nachzuspüren, die zu faschistischen Systemen in Europa führten. (Amazon)

John Wray: Retter der Welt