Nachrichten vom Höllenhund


Sanyal
27. Mai 2021, 14:34
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Mithu Sanyal: Identitti

Wow, dachte Nivedita, also sagte sie: »Wow.«

Postkolonialismus und Identitätsflausen. Privates bleibt Hirngespinst, Politisches wird absorbiert, in die Blase eingemeindet, in Wortbrei gegossen. Die Relevanz ist natürlich innerhalb der Gemeinde hoch, ja, füllt das ganze Denken, außerhalb derer, die sich ge- und betroffen fühlen, stelle ich mir die Frage: Will ich das wissen, will ich das lesen, will ich das nicht an anderer Stelle konkreter lesen? Ist/sind die Autorin und ihr Roman-Personal nicht Teil jener Kraft, die Erkenntnis will und Verwirrung schafft?

Saraswati schenkte Nivedita ein Vokabular und eine Sprache für ihr Leben. Und nicht nur ihr. Im Kreis der von Saraswati ausgewählten Studierenden kommunizierten sie in einem fantastischen akademischen Abkürzungscode miteinander in dem ein Wort ganze gewaltige Gedankenkonzepte ersetzen konnte: desi, happa, subaltern. Imagined communities,  critical race theory, Interselectionalität. Und alle nickten wissend und bei jedem dieser Worte, zwei Silben, drei Silben, ein paar Zungenbewegungen nur, entstand ein ungeheuerliches, nie gekanntes Gefühl von Gemeinsamkeit, auch wenn die meisten nur vage Vorstellungen davon hatten, was eine imagined  community sein sollte und Subalterne nicht einmal erkannt hätten, wenn sie ihnen mit Petersilie garniert auf einem Tablett serviert worden wären.

Nivedita fühlt sich als Inkarnation von Kali (> Cover), der Göttin des Todes/der Zerstörung/der Erneuerung. Kali ist „Die Schwarze“. Nivedita fühlt sich nicht zuhause in ihrem „Indischsein“, sie ist Tochter einer Deutschen und eines indischen Vaters, sie lebt in Düsseldorf-Oberbilk, studiert an der Heinrich-Heine-Universität Postcolonial Studies, sie bloggt als @identitti über Gender/Rassismus/Sexualität. Sie nennt sich ‚Mixed Race-Wonder-Woman‘.

„Ich war in Düsseldorf in meinem Großwerden immer irgendwie ‚falsch‘. Wenn ich nach Indien gegangen bin, habe ich zwar die richtige Hautfarbe gehabt, aber die falsche Körpersprache. Es war immer das Gefühl, irgendwas stimmt mit mir nicht. Das ging so weit, dass wenn ich in den Spiegel geguckt habe, ich mich ja nicht als Person of Colour gesehen habe, sondern als Weiße mit irgendwie komischer Haut.“

Niveditas Sonne, ihr Gravitationszentrum ist ihre Professorin. Die Affinität zwischen Lehrerin und Studentin ist überwältigend. Saraswati (Sanskrit „die Fließende“) ist die Göttin der Weisheit und Gelehrsamkeit. Nivedita vergöttert vergöttinnt sie. Saraswati heißt bürgerlich Sarah Vera Thielmann. Eine „Weiße“! Ein Schock! Ein Shitstorm!

Und jetzt sollte also auch noch Saraswati weiß sein. What’s happening,  Saraswati?, tippte Nivedita probeweise unter dasselbe Selfie, postete es jedoch nicht, weil bereits zu viele Twitterati ihre Wut über Saraswati auskippten.   Barbara stach in ihr Ei, ließ den Dotter über die Bohnensprossen laufen und seufzte: »Ah, Soul Food!«
   »Comfort Food«, korrigierte Nivedita automatisch.
»Na, was habe ich dir gesagt«, sagte Barbara zu Paul, »sogar in einer Krise ist sie noch pc.«
    »Was ist un-pc an Soul Food?«, fragte Paul Barbara, und Barbara fragte Nivedita: »Richtig, was  ist un-political correct an Soul Food?«
    »Nichts, aber nur nichts, wenn du damit   afroamerikanisches Essen und afroamerikanische   Kultur meinst. Hast du Amiri Baralcas Essay über Soul Food gelesen?«
    Barbara kräuselte ihren ironischen Mund   zu einem noch ironischeren Lächeln: »Was   denkst du?«
    »Tschuldigung, ich wollte nicht …«, sagte Nivedita peinlich berührt.
    »Predigen?«, schlug Barbara vor.
    »Dozieren«, sagte Nivedita. »Es ist nur so, dass Soul Food eine ganz spezifische  Bedeutung hat und wenn  wir es einfach für alles verwenden, was lecker ist, ist das cultural appropriation …«
    »Was?«, fragte Paul.
    »Kulturelle   Aneignung – ich habe dir doch gesagt, dass sie nicht so gut Deutsch spricht«, sagte Barbara.
    »Und damit wären wir zurück beim   Thema!«, bemerkte Paul. »Ist die AfD schon auf den Zug aufgesprungen?«
    Und ob, war sie!

Die AfD Echte Werte @DieAfDEchteWerte So weit ist es bereits gekommen:  Deutsche Professorin verkleidet sich als Negerin, um Gendergaga   unterrichten zu dürfen #KündigtSaraswati
    Bernd Höcke @BerndHoecke Heimatzerstörung im deutschen Bildungssystem   #KündigtSaraswati
    Trotzki im Exil @DefendThe Indefensible Saraswati spielt Rechten in die Hände    #SaraswatiShame
    Jürgen Brings @Jürgen_der_Schäfer Der Islam gehört nicht zu Deutschland! #KündigtSaraswati

Diese Doppel-Entlarvung ist ein klug gesetzter Aufhänger für die komplexen identikativen Diskurse, ein Zentrum mit immer unendlicheren Verästelungen.  Was aber für die Kennerinnen spannendes Wieder- oder Selbsterkennen sein wird, wird für den Unbelasteten lang und länger. „Nivedita fühlte ein Kribbeln zwischen ihren Schulterblättern.“ „Die Wärme kehrte zurück in Niveditas Glieder.“ Ich mag oft den Namen Nivedita Nivedita nicht mehr hören. Der/die Eingeweihte wird/kann sich an der Ironie erfreuen (sofern er/sie die Ironie von innen her erkennt), der Nichteingeweihte hat zumindest die Gelegenheit die vielen eingeweihten Termini durchzugoogeln. (https://de.wikipedia.org/wiki/Postkolonialismus / https://de.wikipedia.org/wiki/Subalternit%C3%A4t / https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturelle_Aneignung / https://de.wikipedia.org/wiki/Rachel_Dolezal / https://de.wikipedia.org/wiki/Bell_hooks /// https://de.wiktionary.org/wiki/Debunking …)

Aber dann lässt Mithu Sanyal Saraswati wieder auf Gustav Landauer stoßen und spielt zugleich postmodern mit der Authentizität von Zitaten.

Saraswatis Lieblingssatz lautete: »Wie Gustav Landauer sagt, ist die erste revolutionäre Handlung, gut mit den Menschen, die wir lieben, umzugehen.«  Nivedita hatte es nie geschafft, dieses Zitat bei Landauer zu finden.  Am nächsten kam vielleicht: Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht.
    Nivedita hatte das immer als Kommentar zu ihrer Beziehung mit Simon gelesen – als Aufforderung, sich einen Mann zu suchen, der sie nicht nur liebte, solange sie ihm unerreichbar war.

Wir müssen schreiben, als würden unsere Seelen und unser Geist bereits in jener besseren Welt leben, die wir herbeischreiben wollen, wenn wir die bestehenden Verhältnisse     kritisieren – vor allem, wenn wir die bestehenden Verhältnisse kritisieren. Denn Veränderung ist nur möglich, wenn zumindest ein Teil von uns bereits in der Zukunft lebt und der Rest     dorthin nur noch folgen muss. So zeigen wir, dass Veränderung nicht nur erstrebenswert ist, sondern möglich.

Nivedita hatte das letzte Wort unterstrichen – doppelt! -, damals, als sie dieses Buch wie komplett alle Bücher Saraswatis mit glühendem Eifer gelesen hatte, weil sie Saraswati sein wollte. So zu lesen war für sie die einzige vorstellbare Form gewesen, unter die Haut einer anderen Person zu schlüpfen. Aber ich habe sie dabei nicht wirklich verstanden. Zumindest nicht so, wie ich sie jetzt lese und verstehe, mit all dem Wissen um ihren Verrat. Oder handelte es sich gar nicht um Verrat, sondern um eine radikale Form von »in der Zukunft leben«?  Vielleicht war Saraswati weniger transrace als beyond-race. Over-the-racebow?

Saraswati schließt Nivedita in ihrem Kokon selbstermächtigten Wohlwollens ein. Nivedita erhofft sich den ganzen langen Roman über von Saraswati Befreiung von ihrem diffusen Leidensdruck, checkt aber nicht, dass sie sich – nicht zuletzt – von Saraswati emanzipieren muss. Niveditas Cousine/Spiegel-Image Priti ist pragmatischer: „Nivedita’s got a broken heart.“ (Zwischenfrage: Ist es denkbar, dass die Ursache für gebrochene Herzen gern in der Hautfarbe gesucht wird?) Saraswati: „Dein Problem ist … dass dir … eine Grundsicherheit fehlt … weil du dich nirgends richtig zugehörig fühlst.“

„Identitti“ ist ein Postroman. Ein Roman, der locker ironisch mit seinen Themen-Hypes umgeht und sie zu beyond erklärt. Ein Roman mit einer bemüht verzweifelten „Heldin“, die noch im opfergeschwängerten Hierundjetzt steckt, die aber in der Lehrerin eine Weg-Weiserin in die transfuture findet, auch wenn sie sich den ganzen Roman über an deren fließender (flow!) Abgeklärtheit abarbeitet. Ein Roman, der in einen „Exorzismus“ mündet (Handys aus!), die Seelenstimmungen spiegeln sich auch hier in den Wolken: „Ein Windstoß erfasste Nivedita und sie bemerkte, dass die Wolken nicht mehr grau, sondern schwefelgrün waren und sichunheilvoll aufzutürmen begannen.“ Sollte das ironisch gelesen werden, passt Kali nicht herein, die Göttinnen vertragen sich nicht mit ‚Aufklärung‘, auch wenn sie weiblich und blau sind und in Indien designt wurden. Ich lese es als, ja doch, Schwulst.

Es geht gut aus. In langen Windungen schreibt Mithu Sanyal Niveditas „Heilung“ herbei und diese kann ihren unzuverlässigen Simon ablegen und sich neuen Bestimmungen und Zugehörigkeiten zuwenden. Im Nachwort erklärt Mithu Sanyal ihr Thema: „trans. Gender and Race in an Age of Unsettled Identities“ (entlehnt von Rogers Brubaker) und erläutert das Mashup-Verfahren, das Sampeln von Stimmen, Namen, Anspielungen, Sprachen, das Spiel von Fiktionen und Wirklichkeiten. Der letzte Satz des Romans gehört Nivedita: „Let love flow like a river.“ (Kali zugeschrieben)

Gert Scobel (Diplom-Katholik) maßt sich an, das als „echte Weltliteratur“ zu dekretieren und drängt: „Unbedingt lesen! Und wenn Sie das ganze Jahr nix anderes lesen – das Buch lesen!“ Das ist hoch gegriffen. Vieles ist Mithu Sanyal aber gelungen: die Verarbeitung des vieldiskutierten Problems zu einem in Inhalt und Form zeitgemäßen Roman, die Lockerheit und Ironie, die man diesem Diskurs nicht zugetraut hätte, die umfassende Empathie, die vermittelte und stets relativierte Gelehrsamkeit. Die privaten Teile der Erzählung werden bei jüngeren Leser:innen besser ankommen.

Nachtrag: „Die ganzen Menschen sind komplett verhext von Identitätspolitik. Es ist die Hölle. Die reden nur noch über Farben, nur noch über Farben … Und da gelingt es dieser Autorin und diesem Roman nicht, auf Abstand zu gehen. … Nein. Die ganze Auseinandersetzung als solche ist der absolute Wahnsinn, das ist die Farbtheologie, die alles, was wir je an Errungenschaften hatten, rückabwickelt. Rückabwickelt.“ (Mansplainer Ijoma Mangold, outragiert im Gespräch) Er ist der Zeit voraus, aber so kann man es auch sehen.

2021 – 430 Seiten

Leseprobe und anderes beim Hanser-Verlag

Buch-Trailer und Gespräch in 3SAT Buchzeit (ab Minute 32)

2-3



Wolff
14. Mai 2021, 13:47
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Iris Wolff:
Die Unschärfe der Welt

Lange hatte sie sich eine Sehnsucht nach Zugehörigkeit eingeredet. Irgendwann, dachte sie, wäre sie unbemerkt vom Rand in die Mitte vorgedrungen. Sie würde sonntags in dieKirche gehen und an allen anderen Feiertagen. Kuchen backen und Hühner schlachten, die noch immer die Glöcknerin für sie köpfen musste, weil sie es nicht über sich brachte. Sie würde mit Samuel Besuche machen, statt mit ihm unterm Pfirsichbaum zu liegen oder über die Felder zu spazieren.
Doch wie leicht täuschte man sich, weil das, was man glaubte und wünschte, unterdessen längst zu etwas anderem geworden war.
   Es gab keine Mitte für sie, keine Zugehörigkeit, und sie fürchtete, dass sie ihr Kind zum Verbündeten gemacht hatte. Etwas würde für alle Zeit hierher zurückkommen, oder ging von hier aus — die Richtung ließ sich nicht bestimmen. Der Grad des Glücks wurde hier festgelegt, der Grad der Freiheit, die notwendig war, doch jedes Dahinterfallen (das unvermeidlich war) würde Samuel feststellen müssen.
   An was würde er sich erinnern?  Das kühle Blech der Schubkarre, in das sie ihn setzte, wenn sie im Garten zu tun hatte. Den Geschmack der Nova-Trauben, deren harte Schalen er in ihre Hand spuckte. Den Geruch des Geißblatts an der rückseitigen Hausmauer. Den Korridor mit den zugigen Fenstern, die Küche mit der Speisekammer, aus der sie regelmäßig Mäuse verjagten. An die Nachmittage bei Nachbarn, wo ihn jeder verwöhnte, die ihm zugemutete Disziplin in der Kirche. An die Gäste, die von Juni bis September im Pfarrhaus übernachteten, den Zungenschlag der Rumänen und Slowaken, ihr Hochdeutsch oder den Banater Dialekt — vielleicht aber wären es ganz andere Dinge, die sie nicht bemerkte, nicht sehen konnte.

Natürlich: die Zugehörigkeit. Man sucht sie, weil man – meint, dass man – sie braucht. Aber: Sie ist brüchig geworden, dort, wo man lebt, wo man lebte. Siebenbürgen, Banat, Hermannstadt, Arad, der Marosch, das Dorf, das kennt man, obwohl auch dort alles anders geworden ist, man fremd geworden ist, die falsche Sprache spricht und weil auch das Land, Rumänien, unsicher geworden ist. Florentine lebt noch dort, ist dort noch zuhause, aber sie ist alt geworden. Die Zukunft der Jüngeren ist „unscharf“.

Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrung heran. Sie mochte es, ihren Gedanken nachzuhängen, während sie Ribisel und Himbeeren zupfte, Trauben erntete, Äpfel pflückte – zuzuhören, was die Wörter miteinander verhandelten, welche Erinnerungen sie anrührten. Sie waren in einem unbestimmten Raum angesiedelt, in dem Denken und Fühlen ineinander übergingen.

Vier Generationen, ein existenzieller Bruch. Karoline und Johannes, die ältesten, sind noch heimisch in der kleinen Welt, die ihre Vorfahren aus der Pfalz und anderen südwest“deutschen“ Regionen donauabwärts besiedelt haben und die ihnen  zur – nicht zuletzt sprachlichen – Heimat geworden ist. Florentine und Hannes, der Pfarrer, versuchen zu bewahren, registrieren aber schon die Veränderungen und reagieren mit Beflissenheit oder, wie Florentine, mit Schweigen, mit Misstrauen den zu eindeutigen Wörtern gegenüber. Samuel, der Sohn, „erbt“ die Sprachenthaltsamkeit, spricht spät sein erstes Wort: zăpadă. Schnee. Nicht deutsch.

 »Erzähl mir von der Transilvania.«   Samuel sah von der Matratze herunter. Karline hob den Blick. Die Lichtschlitze der geschlossenen Fensterläden spiegelten sich in seinen Augen, bildeten eine Linie mit den geraden Brauen. Es herrschte keine Einigkeit darüber, welche Farbe seine Augen hatten. Hellbraun, sagten die meisten, doch Karline, die sich nicht zwischen Gänsegrau und Zimtbraun entscheiden konnte, attestierte ihnen mangelnde Phantasie.
  Sie sahen einander an, Karline auf dem Hocker, mit dem Rücken an den Matratzenturm gelehnt, der Junge auf der wassergrünen Matratze, zwei Handbreit unter dem Plafond.
Etwas beschäftigte ihn. Er war immer stiller geworden, je näher die Abreise rückte, was Karline bemerkte, obwohl oder gerade weil er grundsätzlich still war.
  »Die Transilvania?«
  Der Junge nickte.
  Sie hatte ihm diese Geschichte oft erzählt. Ob er die Abweichungen erkannte? Ob er merkte, was sie ausließ, hervorhob, wo sie aus lauter Lust übertrieb? Man musste beim Erzählen aufpassen. Kam man von einer vorgegebenen Spur in ungewisses Fahrwasser, konnte sich noch etwas anderes zu Wort melden, Sehnsüchte, Ängste, Wahrheiten. Sie waren in jene Kammer eingezogen, mit wandernden Türen und trüben Fenstern, und es schien ausgemacht, dass man nichts, am wenigsten Hoffnungen, ein für alle Mal hinter sich lassen konnte.
  Karline erwartete das Launische, Unberechenbare, Widersprüchliche geradezu. Die Leute erzählten ihre Geschichten auf seltsam feststehende Weise. Als wären sie genau so passiert. Dabei war, das ahnte Karline, jede Geschichte auf hundert mögliche Weisen passiert, und alle waren gleich wahr und nicht wahr.

 Das Fremde kommt unerwartet. Anfang der Siebzigerjahre tauchen Bene und sein Freund Lothar, Lehramtsstudenten aus der DDR, als Gäste auf. Sie waschen sich nackt am Brunnen und küssen sich. Später flieht Samuel mit einem Kleinflugzeug nach Deutschland und trifft dort einen der jungen Ostberliner wieder. Bene und Samuel fahren Ende 1989 nach Rumänien. Jetzt erst erfährt Samuel, dass er mit Stana eine Tochter hat: Livia. Schwierige Familienverhältnisse in schwierigen Zeiten. Iris Wolff widmet jedes der Kapitel (jede Erzählung) einer Person. „Wie Räder, die um ihre jeweilige Achse kreisen und zugleich miteinander verbunden sind, zentriert sich das Geschehen um wechselnde Figuren.“ (Meike Fessmann, SZ) Erst nach und nach erfährt man, in welcher Beziehung diese zu den anderen steht. Auch das macht das Erzählen ungewiss. Man muss mitraten, wie die Personen in das Geflecht eingebunden sind. Manches möchte man auch noch einmal lesen.

„Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit jedem Erzählen verändert sie sich, stetig, unmerklich. Einzelheiten werden hinzugefügt, andere ausgelassen. Irgendwo wächst die Unbestimmtheit, etwas rückt immer weiter fort, bis es ganz vergessen ist. An anderer Stelle wird etwas immer deutlicher, als sähe man durch blankes Glas.

Die Sprache ist poetisch, zart, nachdenklich, mit schönen Bildern, Kitsch liegt dabei nicht immer fern. Die Politik und die Geschichte spielen herein und bestimmen das Geschehen, doch Iris Wolff schreibt eher eine einfühlsame, schwebende, fluide Prosa. Die „Unschärfe“ der Welt. Iris Wolff wurde1977 in Hermannstadt geboren, emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland und lebt in Freiburg im Breisgau. Die größte Liebe gehört – wie immer  – der Großmutter.

2020 – 215 Seiten

 

 Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Liebevoller Buchtipp von Matthias Zehnder
(youtube – 6 ½Minuten)

Literarisches Zentrum Gießen: Lesung mit Iris Wolff
(youtube – 1Stunde15)

Druckfrisch-Gespräch mit Iris Wolff (9 Minuten)

+2

Lesefreundliche Darstellung



Prizkau
20. Januar 2021, 15:09
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Anna Prizkau:
Fast ein neues Leben
(Erzählungen)

Anna Prizkaus Erzählungen sind Mosaiksteine. 12 Geschichten auf 100 Seiten, manche nur fünf Seiten lang, verfugte Splitter, die das „neue“ Leben mit dem „alten“ zu einer Biographie zusammenlegen. Russland, Deutschland. Alte Sprache, neue Sprache, altes Land, neues. Das sind vorläufige Bezeichnungen, man lebt im Zwischenraum, will ankommen, dazugehören, ist aber noch in der Herkunft verhaftet, die einer Steine in den Weg legt, die eine verwurzelt, einer Freiheiten nimmt, zumindest einschränkt. Diese Friktionen sind spannend, sind keine neuen Phänomene, haben aber literarische Konjunktur. Stanišić, Ohde, Othmann …, die Erzählungen von der – kulturellen, sozialen – ‚Eroberung’ des neuen Landes passen recht gut in die „gegenwärtige Mode, zwischen Autor und Erzähler bzw. Protagonist keinen Unterschied zu machen“ (Erik Schilling).

Für die, denen das neue Land ihr altes ist, ist der leise Clash der Kulturen interessant, weil man immer klarer sieht, wenn man von außen blickt, wenn man so im als „normal“ Empfundenen das Absurde entdecken kann. Andere Höflichkeiten, andere Essgewohnheiten, andere Rollenverteilungen, andere Bürokratien. (Als älterer Leser gesellt sich dazu das Erstaunen über die Empfänglichkeit für den kulturellen Austausch, für die Universalität des Schämens über das „Alte“ gegenüber dem vermeintlich überlegenen Neuen.)

Ist es Zufall, dass die letzten Bücher, die ich zu diesem Thema las, von – jungen – Frauen stammen? Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren und kam 1994 mit ihrer Familie nach Deutschland. Auch ihre Biografie zeigt, wie offen die Zukunft den Neugierigen steht. (Es bleibt die Frage, wie man diese Wissbegier erwirbt. Wahrscheinlich stehen dahinter anspruchsvolle Eltern. Oder solche, gegen die man ankämpfen kann.) Je jünger man ist, wenn man ins neue Leben eintritt, desto schneller lernt man, auch und besonders die Sprache. (Lustig: Anna Prizkaus Beoabachtung „Er zog die Schultern hoch und runter.” und danach “Ich schob wieder die Schultern hoch und runter.” – Aber vielleicht ist das genauer  als das erwartete ‘Achselzucken’.) Weniger genau sind bei den jung Emigrierten wohl die Erinnerungen an das “Alte”. Besonders heikel, wenn Verwandte ins Spiel kommen, Großmütter etwa oder irgendwelche Tanten. Vermittler können hier die Eltern sein, andererseits verzögert sich bei ihnen die Einübung in das “Neue”. Hierbei könnten die Kinder helfen, wenn sie sich nicht ihrer schämen.

 “Er wollte mit mir kommen, das wollte ich nicht. Denn meine Eltern waren zu Hause. Ich war mir sicher, wenn er sie sehen, mit ihnen sprechen würde, dann würde er nicht mehr mit mir gehen wollen. Nicht, weil ich glaubte, dass Marcel etwas gegen Fremde hatte. Ich glaub­te nur, er würde dann begreifen, dass ich nicht war wie er, nicht einmal wie die anderen.”

Dieses Selbstbild resultiert aus Erfahrungen, die man nicht abwehren kann, wenn man die Mechanismen nicht kennt, wenn man noch nicht perfekt ist in dem neuen Leben. „Das fremde Leben in einer fremden Sprache in einem fremden Land. Das Lügen im neuen Land. Das Schweigen und Verschweigen. Der Wunsch, so auszusehen, so zu sprechen wie alle anderen. So zu sein wie sie. Die Angst vor dieser einen Frage: Woher kommst du?

»Ein Spiel zum Kennenlernen«, sagte die Studienleiterin damals. Das war drei Jahre vorher, im Herbst gewesen, im Masterstudium. Alle Studenten fühlten sich erkältet und er­wachsen. Sechzehn halb junge Menschen, die nach Theater aussahen. Ein Seminarraum, der nach Grundschule aus­sah. Dann kam das Spiel. Die Studienleiterin sagte, dass der Raum Deutschland sei. Norden an der Tafel, Süden hinten. Man musste dorthin gehen, wo man herkam. Die meisten standen an den Fenstern, weil da der Westen war. Ich stellte mich auch an die Fenster, in den Westen, weil ich schon 18 Jahre an den Fenstern lebte. Die Studienleiterin schaute auf eine Liste, dann zu mir: »Nein, nein, nein! Sie müssen in den Osten, wo Sie geboren worden sind. So geht das Spiel.« Sie öffnete die Tür des Seminarraums. Und ich stand dann allein im Flur, während die anderen an den Fenstern lehnten, sich kennenlernten, Small Talk machten.

Die vielen Beobachtungen verwebt Anna Prizkau in ihr Erzählen und diese Überlagerungen bilden die literarische Qualität ihrer Geschichten. Nicht die Thematik, die findet sich ähnlich in den meisten Migrationserzählungen. (Der Boom wird sich verlaufen: „Hier interessieren die Konflikte Ihrer Protagonisten niemanden. Der Stoff ist OUT.“) ) Die Schlaftabletten der Mutter tauchen schon in der ersten Geschichte auf, in der letzten erfährt man, was zu ihnen führt.

Seit diesem Sommertag, an dem meine Mutter zum Frühstück zwei Packungen Schlaf­tabletten schluckte und danach immer wieder in der Klinik war. Es gab keine Gespräche mehr. Es gab ein »Wie geht es ihr?« – »Es geht schon, mach dir keine Sorgen« und ein »Was gab’s bei euch zu essen? – »Dies und das«. Sie lebten immer noch zusammen, obwohl sie sich nicht liebten.” (Thanky Panky) – “»Du sollst so was nicht sagen«, sagte sie, setzte sich an ih­ren Sekretär, fing an zu schreiben. Sie schaute mich nicht an, sie sagte nichts mehr. Ich sagte auch nichts mehr und schlug die Tür hinter mir zu. Das, was sie schrieb, sah ich erst spä­ter, nach der Schule, es war auf Deutsch, sie schrieb: »Ich bin an allem schuld.« Der Brief lag auf ihren Zwetajewa-Ge­dichten, daneben die zwei Tablettendosen. Sie waren leer.
An diesem Tag war Mathe ausgefallen. (Boss)

Ausbruchsversuche der Eltern, Sackgassen ihres Weges in das neue Leben. Anna Prizkau nutzt Symbole, um ihre Beobachtungen zu fokussieren, zu zentrieren: die Hand auf den Oberschenkeln, der nicht ganz geheure Fahrstuhl, die Eisbecher auf der Sonnenterrasse, die Skulptur eines “Fackelläufers”.

Die Stories sind für sich zu knapp, um sie allein verstehen zu können, sie stehen in keiner Chronologie, figurieren im Set aber “fast ein neues Leben” der Erzählerin bzw. Autorin. Anna „Prizkaus kurze, harte Geschichten bezeugen mit ihren kurzen, geschliffenen Sätzen den Triumph der Literatur über ein Schreiben, das seine Autorinnen, Protagonisten und Leserinnen im Käfig der „Identität“ gefangen hält. Die einen sitzen drin, die anderen schauen drauf.“ (Ulrich Gutmair, taz)

Sehr angetane Rezension von Marko Martin in der
Jüdischen Allgemeinen

Anna Prizkau im taz-Gespräch mit Ulrich Gutmair (50 Minuten)

Anna Prizkau – Autorenseite bei der F.A.S.

2020 – 110 Seiten

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Othmann
12. Dezember 2020, 19:11
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Ronya Othmann:
Die Sommer

Leyla. Sie ist 17, geht in der Nähe von München aufs Gymnasium, interessiert sich für Ausgehen, Abhängen, Klamotten, die Hobbies deutscher Mädchen der Jetztzeit. Leylas Mutter ist Deutsche, eine „falsche Heirat“, wie Vaters Verwandte sagen, denn der Vater ist êzîdischer Kurde (jesidisch, sagt man in Deutschland). Es gibt viele Verwandte  und sie leben in einem abgelegenen Dorf im gebirgigen Nordosten Syriens, an der Grenze zur Türkei, Kurdistan. Leyla besucht das karge Dorf in jeden Sommerferien, „Die Sommer“ werden ihr zur Heimat, besonders zur Großmutter fasst sie Vertrauen. Natürlich sind ihr Blick, ihre Beobachtung, ihr Erleben auch von Deutschland bestimmt, aber es ist auch „ihr Dorf“, ihr Leben in einer vergehenden Welt. Die Gerüche, der Geschmack, das Schlafen, Kochen, die Tiere, die Frauen und die Männer, Mythen und Normen, Routinen und Kommunikation, Tee und Musik.

Im Dorf waren ihre Tage und Jahre getaktet in Feste und Erntezeiten, in Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, in Morgengebete und Abendgebete, in das Füttern der Hühner und die Arbeit auf dem Feld, in das Backen von Brot und das Einlegen von Kohl, in das Bewässern des Gartens und den Tee mit den Nachbarn. (…) Im Dorf war nie niemand da, es gab keine Klingeln, die Türen waren immer offen, die Nachbarn kamen und zogen die Schuhe vor dem Haus aus, ein richtiger Haufen von Schuhen und Plastikschlappen. Die Nachbarn blieben zum Tee, gingen erst irgendwann viel später wieder, und gleich darauf kamen die Freunde des Großvaters, und irgendwann schliefen Leyla und die Cousins auf dem Hochbett in einer Reihe ein, neben ihnen am Rand die Großmutter. (…) Später fragte sich Leyla manchmal, ob sie sich weniger allein fühlen würde, wenn sie nie im Dorf gewesen wäre. Ob sie, wenn sie nicht wüsste, dass sie allein war, sich einfach nicht allein fühlen könnte. (…)Alles bedeutete etwas. Man soll nicht auf die Erde spucken, weil auch die Erde heilig ist, sagte die Großmutter etwa, während sie im Hof vor der Küche saß und das Gemüse für das Abendessen schnitt. (…) Den Namen des Bösen soll man niemals nennen, fuhr die Großmutter fort, als Leyla ihr die Petersilie reichte. Weil Gott keinen Widersacher kennt, sagte sie, aber das habe ich dir schon gesagt. Man soll auch keine Schlangen töten, sagte die Großmutter, während sie die Petersilie im Spülbecken wusch, denn die Schlange ist ein Zeichen der Jahreszeiten, der Zeit und des Weges.

Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Ddie êzidische Version:

Wie die Großmutter es ihr gesagt hatte: Sie, Leyla, vom Stamm der Xaltî, vom Xûdan der Mend, aus der Kaste der Murids, war ein Kind vom Volk des Engels Pfau. Das kam ihr sehr bedeutsam vor.
War jedoch Zozan in der Nähe, vermied Leyla es, das Bild zu küssen. Sie konnte nicht genau sagen, weshalb, vielleicht aus Angst, sich vor Zozan lächerlich zu machen. Sie selbst jedenfalls hatte Zozan nie dabei beobachtet, wie diese das Bild küsste oder auch nur beachtete. Auch sah sie Zozan nie beten.
Als Leyla aber eines Tages das Bild küsste, kam Zozan doch zufällig gerade ins Zimmer. Zozan lachte. Du kannst es so oft küssen, wie du willst, rief sie, das macht aus dir noch lange keine Êzidin. Êzidin ist, sagte sie und klang dabei wie eine Lehrerin, wer einen êzidischen Vater und eine êzidische Mutter hat. Du bist keine Êzidin, denn dein Vater hat eine Deutsche geheiratet.
Das stimmt nicht, sagte Leyla leise und stand trotzig in der Mitte des Zimmers. Es geht immer nach dem Vater.

Die Frage nach der Herkunft. Den Wurzeln. Die Frage, wer man ist. Die individualistische deutsche Version:

Ist es nicht schwierig, so zwischen den Kulturen aufzuwachsen? Dein Vater ist sicher streng? Trägt deine Mutter Kopftuch?
Antwortete Leyla, nein, wir sind keine Muslime, nein, wir sind keine Araber, nein, wir beten zu Hause nicht und fasten auch nicht an Ramadan, aber ja, meine Oma und meine Tanten tragen Kopftücher, dann warf sie nur noch mehr Fragen auf. Sagte Leyla, wir sind Êziden, dann wussten die anderen gar nicht mehr, wo­von sie sprach.
Alles an Leyla irritierte immer alle. Die Bäckerin im Ort, den Zahnarzt, die Apothekerin, die Lehrerinnen in der Schule.
Leyla stand vor dem Spiegel, betrachtete das verwässerte Blau ihrer Augen und ihre dunklen, fast schwarzen Haare. Leyla Has­san, dieser verräterische Name.
Mein Vater kommt aus Kurdistan, sagte Leyla, und die Leute antworteten darauf.- Kurdistan gibt es nicht. Mein Vater kommt aus Syrien, sagte Leyla dann, dachte an ihren Vater und schämte sich.
Bist du mehr deutsch oder kurdisch, fragte die Mutter der Schul­freundin. Deutsch, sagte Leyla, und die Mutter der Schulfreun­din wirkte zufrieden.
Fühlst du dich mehr deutsch oder kurdisch, fragte Tante Felek. Kurdisch, sagte Leyla, und Tante Felek klatschte vor Freude in die Hände.
Du darfst nie vergessen, dass du Kurdin bist, sagte der Vater. Ich vergesse auch niemals, dass ich Kurde bin. Ich war im Gefängnis, weil ich Kurde bin.

Leyla bedeutet „Nacht“ , ihren Vornamen hat sie von kurdischen Kämpferinnen, Heldinnen der Familie, mit ihrem Familiennamen Hassan ist sie in Deutschland markiert.

Ronya Othmanns Roman hat drei Themen. Das erste ist das Leben im kurdischen Dorf. Ein Kosmos der ethnischen Strukturen. Die zweite Erzählung stammt vom Vater. Er spricht in der Ich-Form mit Leyla von seinen Lebensanschauungen und –entwürfen, von politischen Hintergründen, von seiner gefährlichen Flucht nach Deutschland.

Ich glaube nicht an Gott, sagte der Vater und spuckte die Schale eines Sonnenblumenkerns auf seinen Teller. Leyla nickte, sie hatte es schon tausendmal gehört. Der Vater erzählte es jedem, der es hören oder nicht hören wollte. Religion ist nur etwas für arme oder dumme Menschen. Für Menschen, die es nicht besser wis­sen. Religion ist Opium für das Volk, diesen Satz sagte der Vater auch immer wieder. Den Armen und den Dummen verzieh er, nicht aber denen, die er Fanatiker nannte.

Er ist politisch links engagiert. In Syrien gelten die Êziden als adschnabi, als staatenlos, sie haben keine Bürgerrechte, der Sprachraum schwankt zwischen Kurdisch, Türkisch, Arabisch. Als der Syrienkrieg beginnt, sitzt der Vater den ganzen Tag vor dem Fernseher oder Computer und schaut aus allen möglichen Sendern Nachrichten aus dem Nahen Osten. Das viele Ich-Erzählen irritiert etwas, da eigentlich Leyla die Protagonistin ist. Wenn von ihr in der dritten Person erzählt wird, wirkt das im Vegleich oft wie ein distanzierender Bericht. Aber es wollen eben auseinanderliegende Teile des Familienschicksals miteinander verbunden werden. Leyla ist zunächst zu jung, um das zu überblicken.

Im dritten Teil konzentriert sich die Geschichte wieder auf Leyla. Sie hat ihr Abitur und zieht zum Studieren nach Leipzig. Leyla will auch Arabisch lernen, ihre Aufmerksamkeit wird aber von Sascha beansprucht. Eine deutsche Liebe, Leylas Eltern sollen davon nichts erfahren.

Die Großmutter sagte oft zu Leyla: Wenn du groß bist, heiratest du Aram. Oder: Wenn du groß bist, heiratest du Nawaf. Auch alle anderen sprachen immerfort über das Heiraten, selbst der Großvater. Die Autokorsos, die dann über die Landstraßen fuhren, von den Dörfern in die Stadt, von der Stadt in die Dörfer, die laute Musik, die aus Lautsprechern dröhnte, die Frauen, deren Haare vor Haarspray starr waren, die geschminkten Gesichter, die langen Kleider, die jubelnden Menschenmengen. Nichts war hier wichtiger als die Hochzeiten, dachte Leyla. (…) Leyla war froh, dass der Vater in allen diesen Dingen auf ihrer Seite war. Ständig erzählte er allen, Leyla werde die Schule fertig machen, sie werde studieren. Leyla, sagte er stolz, wird Medizin studieren, oder Jura. Und dann wird sie an den Internationalen Strafgerichtshof nach Den Haag gehen. Meine Tochter, sagte er und hob den Zeigefinger, wird nicht früh heiraten. Das verbiete ich ihr. Bevor sie ein Studium abgeschlossen hat, darf sie nicht heiraten. Wozu heiraten, sagte der Vater, damit sie einem Mann die Wäsche macht und Essen kocht?

Leyla studiert Germanistik. Sascha ist eine junge Frau. Ronya Othmann hat mit Leyla mehr gemein als das Y im Vornamen. “Die Sommer” enthält mehr Kulturgeschichte, mehr Welt- und Regionalpolitik, mehr gestreute Informationen, als einem Roman eigentlich guttut. “Die Sommer” ist interessant, weil es ein typisches Schicksal eines Flüchtlingskindes der 2. Generation beleuchtet. In Deutschland geboren, aber “du darfst diese Geschichte nicht vergessen, sagte der Vater, das ist deine Geschichte, Leyla.” “Die Sommer” zeigt den schon länger hier Lebenden, die sich “Deutsche” nennen, dass man nicht als irrevelant abtun kann, was sich in anderen Gegenden der Welt abspielt. Dass man seine “Wurzeln” nicht von heute auf morgen kappen kann. Solche Geschichten sind wichtig und werden gerade viel geschrieben und gedruckt und ausgezeichnet und auch gelesen.

2020 – 285 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag

Ronya Rothmann liest aus “Die Sommer”
bei zehnseiten.de (15 Minuten)

FAZ-Autorengespräche: Ronya Othmann
über ihren Roman „Die Sommer“ (24 Minuten)

Artikel „Jesiden“ bei wikipedia

Ausführliche Information üder Jesiden

Kompakte Informationen

„OrientExpress“ – Kolumne von Ronya Ortmann bei der taz

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Stanišić
27. Oktober 2019, 16:25
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Saša Stanišić: Herkunft

stanisicherkunftAlso doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt!

Autofiktion. So heißt das jetzt und ist der Hype der Stunde. Das Fernsehn hat’s mit der Dokufiktion vorgemacht. Die dokumentarischen Szenen – gerne in schwarzweiß – fließen in die Spielfiguren hinein, der Protagonist ist zertifiziert, auch wenn er das Produkt des Autors ist, die Realität gewinnt Farbe und Gefühl.

Saša Stanišić’ Saša Stanišić gibt’s wirklich. Er ist 1992 mit seinen Eltern von Višegrad/Bosnien nach Heidelberg/Deutschland geflohen, hat 26000 Tweets abgesetzt und soeben den Buchpreis 2019 des Börsenvereins des Deustchen Buchhandels gewonnen.

Das ausgezeichnete Buch „Herkunft“ ist damit noch „verkäuflicher“ geworden, obwohl es sich nicht Roman nennt. Saša Stanišić gibt es wirklich, er hat es in Deutschland bis zur Schilddrüsenentzündung gebracht. Disease-Authentifikation. Das Buch ist eins von Herkunft und Ankunft, die dazwischenliegende Flucht ist der Weg von gewachsenem und verfügtem Familienleben zur Ungewissheit darüber, was kommt. Stanišić sagt, er habe Glück ghabt, dem Krieg zu entkommen und er hat sich sein weiteres Glück erarbeitet, seinen deutschsprachigen Literaturvordergrund“ (Mely Kiyak, ZEIT)

Im Krieg ist nicht nur Jugoslawien zerplatzt, sondern auch, wie vieles andere, die Stanišić-Familie. „Mutter muss mit fünfunddreißig ihr Leben in Višegrad aufgeben.“ Die Eltern erhielten in Deutschland keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, sie gingen zuerst wieder zurück und 1998 in die USA, andere Verwandte können da und dort in Europa besucht werden, Großmutter Kristina blieb in Bosnien und vergaß. Saša machte in Heidelberg Abitur, studierte und durfte deshalb bleiben und ist heute – assimiliert? Heimisch?

Saša Stanišić mixt in kurzen Kapiteln Geschichten, Anekdoten und Reflexionen der Ankunft mit solchen der Herkunft, wobei die Herkunft zeitlich und politisch-geografisch gesplittet ist in die Erinnerung an Kindheit, Jugend und Familie im damaligen Jugoslawien und Nach-Forschungen im Nachkriegs-Bosnien, das „Heimat“ nur noch in vermitteltem (?) Sinn ist. Das alte Jugoslawien, das war die Zugehörigkeit, das waren die Partisanenlieder, das war die Mutter als Marxismus-Dozentin, das war Tito. Sein Bild in der Stube. Das war die Zeit, als der serbische Vater die bosnische Mutter heiraten konnte, die Zeit vor den verwilderten Nationalismen. Das waren dann aber auch die Schüsse und die Angst der Mutter wegen ihres „muslimischen“ Vornamens, die Gräuel, die Peter Handke* in Višegrad nicht finden wollte.

Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial der Nationalismen nicht länger stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. Sie wurden von Intellektuellen unterstützt, medial verbreitet und so oft wiederholt, bis man ihnen, Mitte der Achtziger, nirgends mehr entkam. Von ihnen hatte Vater gelesen, bevor er mit Mutter und mit der Schlange tanzte.

Als Überlebende ist noch die Großmutter da, die auch für den erwachsenen Saša noch ein – entschlüpfender – Haltepunkt ist. „Die Großmutter und der Reigen“, Großmutter isst einen Pfirsich und gibt dem Totengräber nichts ab“, „Großmutter und die Zahnbürste“, undund. Über Demente zu erzählen, ist immer lustig, auch wenn es so mitfühlend geschieht. Saša ist 14, als er nach Heidelberg „geflohen kam“ (Mely Kiyak), erst in Deutschland erreichte er das Alter, selbstständig zu handeln und sich darüber klar zu werden. Die Kapitel der Ankunft sind für mich die interessanteren. Nicht so sehr die Jugendstreiche, die gehören dazu, sondern die disparaten Gruppen und Milieus, in die man sich hineinfinden und in denen man sich zurechtfinden muss. Das ist für Leute, die neu im Land angekommen sind, mühsamer, als es für „Einheimische“ schon ist. Die multiethnische Clique an der ARAL bietet Unterschlupf, weil niemand dabei ist, der einen dissen könnte, die „Internationale Gesamtschule“ ist auf Flüchtlinge eingestellt, man kann sich emporarbeiten, wenn man so neugierig und beflissen ist, wie Saša. (Er darf sich hier sogar als Dichter erproben. “Mein Pseudonym war: Stan Bosni.” – Gespräch mit dem Deutschlehrer von Saša Stanišić, Werner Nikisch) „Ich las. Lernte. Spielte Bach auf der Gitarre und übte Headbangen, und manchmal schloss ich ein­fach lange die Augen, um mich zu erfinden.” Die Eltern können einem kaum Hilfe sein, im Gegenteil, eher muss hier der Schüler zum Vermittler der Kulturen werden. Das ist immer bei Geflohenen oder Zugewanderten der Fall, Saša Stanišić kann das reflektieren.

1998 mussten meine Eltern das Land verlassen. Heidelberg ist bis heute eine ihrer Lieblingsstädte in der Vorstellung dessen, was sie für sie hätte sein können, wenn ihnen ein normales Leben möglich gewesen wäre. Die Welt ist voller Jugoslawen­Fragmente wie sie oder ich es sind. Die Kinder der Geflüchte­ten haben längst eigene Kinder, die Schweden sind oder Neu­seeländer oder Türken. Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt.

Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschüt­terung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. Ich muss nachdenken, um mich zu erinnern, wie die Kinder meiner Cousinen heißen. An den Gräbern meiner. Großeltern müt­terlicherseits habe ich noch kein einziges Mal eine Kerze an­gezündet.

Ich schiebe nicht dem Krieg und der Entfernung die Schuld zu für meine Entfremdung von meiner Familie. Ich schiebe Ge­schichten als Übersprungshandlungen zwischen uns.

Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abge­schottet, sondern zugehört haben.

Ein guter Gastgeber ist auch ein guter Gast, besagt ein bosnisches Sprichwort. Die Eltern von Rahim waren gute Gastgeber, und ich machte mir eine Million Gedanken, ob es gutgehen könnte, sie als Gäste bei uns zu haben. Wie sich meine Eltern und Großeltern fühlen würden und wie ich. Ich wollte, dass uns als Familie etwas gelingt, wenn auch nur etwas so Einfaches wie ein Abendessen mit neuen Bekann­ten.

Ich wünschte es mir speziell für meine Mutter, die in Jugoslawien so gern Gastgeberin gewesen war.

Das nächste Mal, als ich wieder bei ihnen aß – es gab etwas, das aus nur drei Zutaten bestand, die ich alle nicht kannte, dabei war es ein fränkisches und kein arabisches Gericht -, sprach ich die Einladung aus: Kommen Sie auch einmal zu uns? (…) Ich habe meinen Eltern nicht von der Einladung erzählt. Ich traute mich auch nicht, sie noch einmal gegenüber Rahims Eltern auszusprechen. Sie haben mich natürlich nicht daran erinnert.

Saša Stanišić’ Methode des Infragestellens ist ambivalent. In seinem oben angehefteten Tweet zu Fertigstellung des Buchs schreibt er: „Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre. Das Buch heißt HERKUNFT. Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen. Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.“ Öffentlich gemachte Selbstbescheidung ist immer auch fishing for compliments. Der Dichter will wahrhaftig sein, weiß aber zu wenig, um dafür herkunftsdragogarantieren zu können. Der Autor darf suchend irren. Autofiktion. Der Leser ist zur Mitsuche eingeladen, er darf mitirren. So soll es sein, es ist aber eben auch Methode. „Wer klug ist, weiß ohnehin, dass Identität kein Kleidungsstück ist, in das man einmal hinein- und nie wieder hinausschlüpft. Sondern vielmehr eine komplexe Mixtur aus Herkunftsmythen, Erzählungen, Erfindungen, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Widersprüchen.“ (Ulrich Rüdenauer, SWR2)

Nach dem „Epilog“ folgt noch ein Text-Adventure, das diese Methode augreift. „Der Drachenhort“, in den Hauptrollen Großmutter, der auf dem Cover abgebildete Drache und ich, der Leser. Schön, ein weiteres Spiel mit der Fiktion und der Fantasie, lesenswert eher für Fans von Rollenspielen. »Nationalismus und Separatismus erschüttern Europa. Was tun? Vielleicht erst mal neue Heimatschriftsteller wie Saša Stanišić lesen.« Ein Leseappell von Karin Janker (SZ) auf dem Schutzumschlag.

2019           370 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Saša Stanišić spricht über sein Buch „Herkunft“

Saša Stanišić liest aus „Herkunft“

Sašas Tweets

Thread zu Herkunft

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*  Die Süddeutsche Zeitung hat Peter Handkes Reisebericht
„Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, der 1996 in der SZ erschienen ist, online gestellt.

Teil 1                       Teil 2