Auður Ava Ólafsdóttir:
Miss Island

Ich bin wach.
Der Dichter schläft.
Ich war noch nie auf der Insel und ich weiß auch nicht viel darüber. Island liegt am Rande von Europa, weit im Norden, dort leben knapp 400000 Menschen, 135000 davon in der Hauptstadt Reykjavik. Island ist eines der am dünnsten besiedelten Länder der Erde.
Die Isländer haben eigenartige Namen, sprechen eine nordgermanische Sprache, essen gewöhnungsbedürftige Speisen und haben neben alten sogar ein paar Schriftsteller, deren Namen man an anderen Orten kaum kennt. (Halldór Laxness erhielt 1955 den Literatur-Nobelpreis.)
Auður Ava Ólafsdóttirs Roman „Miss Island“ („Ungrfú Ísland“) erschien 2018 und erzählt von einer jungen Frau, die wie viele andere von Dalir, wo die «Laxdaela Saga» spielt und wo Island besonders isländisch ist. Ihr wichtigstes Lebensanliegen ist zu schreiben. Zu überleben, um schreiben zu können. Sie heißt Hekla Gottskálksdóttir, ist nach einem der höchsten Vulkane Islands benannt und marschiert auf dem Cover von dort, wo sie war, in die Zukunft.
„In Island steht die Welt still. Das muss auch Hekla erfahren, als sie – 22-jährig mit ihrer Remington-Schreibmaschine, einem Romanmanuskript, dem »Ulysses« von James Joyce und einem englischen Lexikon – in einen verrauchten Überlandbus steigt, der sie vom elterlichen Hof nach Reykjavík bringt. Dort, in der Stadt der Poeten, will sie ihren Traum verwirklichen und mit Büchern berühmt werden.“ (Prix Médicis étranger 2019)
Auf Island lebt man im Norden, Osten, Westen oder Süden. Überall Provinz, die vermeintliche Zukunft liegt im Südwesten: Reykjavik. Auch dort fällt Hekla auf: Sie trägt Hosen, sie hat einen schwulen Freund, sie gesellt sich zu den „Dichtern“, die sich im Café „Mokka“ treffen, alles Männer. Und die auch alle mehr Kaffee trinken als sie dichten. Schreiben ist ein populäres, aber prekäres Milieu und ein in der Zeitung publiziertes Gedicht ist schon ein Glanzpunkt.
Es ist Arbeit, Schriftsteller zu sein
»Das war mir ein bisschen unangenehm«, sagt der Dichter, als er spätabends nach Hause kommt. »Wie du plötzlich da aufgetaucht bist, als wolltest du mich abholen.«
»Wir haben über Steinn Steinarr diskutiert«, sagt er und nimmt mich in den Arm. »Von meinem Bewusstsein zu deinen Lippen ist wegloses Meer. Aber sie fanden dich süß. Ich bin fast geplatzt vor Stolz, als du mit deiner roten Baskenmütze und deinen offenen Haaren reingestürmt kamst. /Egir der Gletscherpoet fand, du sähst aus wie ein Mitglied der französischen Resistance, und Daöi Traumfjord meinte, du würdest ihn an eine junge, ungezähmte Stute erinnern.«
Er lächelt mich an.
»Ich habe die schönste Freundin von allen.«
Der Dichter wartet auf mich, als ich von der Arbeit nach Hause komme, und hat gute Nachrichten.
»Sie wollen ein Gedicht von mir im ljaviüinn abdrucken!«
Schon seit dem Frühling liege sein Gedicht Relammende Glut in der Redaktion der Zeitung, erzählt er mir.
Er ist überglücklich und aufgewühlt und zieht mich an sich. Dann lässt er mich sofort wieder los und wandert durch den Raum.
»Ich habe Stefnir den Bachbarden gebeten, das Gedicht zu lesen, und er war begeistert. Er hob besonders die zweifache Wiederholung von >Hölle< hervor: höllenkalte Hände, höllentiefer Sand… da der Morgen naht. Er schlug vor, dass ich ein Wort austausche und bis der Tod dich heimsucht anstelle von bis der Tod dich holt schreibe. >Du musst nur ein Wort ändern<, meinte er.«
»Ja, das hat einen anderen Klang«, stimme ich ihm zu.
Der Dichter hält inne und setzt sich aufs Bett. Ihm sind Zweifel gekommen.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, ich sollte zwei Wörter in dem Vers austauschen, der mit lindert Pein beginnt und mit dämmriger Dunst verborgener Hoffnungen endet.«
Hekla schreibt Romane – für die Schublade. Sie hat eine Schreibmaschine mitgebracht, aber sie muss im Hotel Borg als Serviermädchen arbeiten und sich von den Gästen begaffen und begrapschen lassen. Man rät ihr, an der Wahl zur Miss Island teilzunehmen, das passe besser zu einer hübschen jungen Frau. Um Geld für ein Zimmer zu sparen, zieht sie zu Starkaður, den sie aber immer nur „der Dichter“ nennt. Eine der Lakonien des Romans.
(Ausführliche Inhaltsangabe bei Dieter Wunderlich)
Auður Ava Ólafsdóttir erzählt vom Leben und Sehnen einer jungen Frau im Jahr 1963 auf einer abgelegenen und reichlich isolierten Insel. Von der Welt erfährt man nicht viel, ein Konzert der Band Beatles wird erwähnt, ein Lied von ihnen: „Love Me Do. Es stach heraus“ aus den üblichen Seemanns-Walzern.“ Martin Luther King erhält den Friedensnobelpreis. Die Insel Surtsey wird vulkanisch „geboren“, an Heklas 21. Geburtstag. Für Hekla zählt nur eines: Schreibend herauskommen aus der Enge von Raum und Zeit. Sie hat eine Freundin, Ísey, auch sie schreibt – ins Tagebuch, ihr fehlt der absolute Wille zum Ausbruch: »Ich werde nie ins Ausland kommen, Hekla. Genauso wenig wie meine Mutter und meine Großmutter. Was soll ich denn da? Lýdur war auch noch nie im Ausland. Ich habe den Mann meines Lebens getroffen und weiß, wie mein Leben aussehen wird, bis ich sterbe.« »Ich weiß, es ist der älteste Traum des Menschen zu fliegen, und du möchtest die Wolken von oben und die Sterne von Nahem sehen, aber mir ist klar, was du vorhast, Hekla.“
Worauf ich im Roman – vergebens – warte, sind Textproben aus den Romanen Heklas. Ausführlich sind die Briefe zitiert, die sich Hekla und Ísey schreiben. Die Anspielungen auf isländische Literatur, Dichter und Mythologien kann ich alleine nicht entschlüsseln, die Bedeutung der Natur muss ständig mitgelesen werden. Großen Raum nimmt Heklas Beziehung zu den zwei Männern ein, zum Dichter und zu Davíð Jón John Johnsson, dem Jugendfreund, der als Homosexueller keine Zukunft auf Island des Jahres 1963 findet. Mit ihm wandert Hekla schließlich aus. Nach Süden, wo man sich allerdings auch erst einleben muss. »Da sind ein paar Dinge, an die du dich gewöhnen musst«, erläutert er. »Sie essen Schwein, mitsamt der Kruste, und machen aus Schweinefleisch auch Frikadellen. Außerdem essen sie Hühnchen. Und sie trinken unter der Woche mitten am Tag Bier. Die Kneipen haben immer geöffnet. Und noch was, Hekla, abends wird es dunkel, selbst im Frühling.«
Kristina Maidt-Zinke freut sich über „die luftig-lakonische Sprache, mit der es ihrer Erfinderin gelingt, Milieus und Menschen so zu charakterisieren, dass das Wesentliche, mal subtil ironisch, mal sarkastisch, dann wieder unmittelbar anrührend, zwischen den Sätzen aufscheint“ (SZ).
2018 – 235 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag