László Darvasi: Wintermorgen
Novellen
„László Darvasi, der Erkunder des Unbegreiflichen, hat früh die Novelle als form entdeckt, in der seine Kunst der Verrätselung und Verdichtung ihren stärksten Ausdruck findet.“ (Klappentext) – Es sind nicht die Novellen, die ich kenne, in denen ein nicht erwarteter Einbruch das Schicksal anstößt, zur Wende führt, das Leben aus seiner Bahn wirft. Darvasis „Novellen“ erzählen von Menschen, in deren eherner Tradition es keine Sicherheiten gibt. Es braucht nur den minimalen Anstoß, um die Bahn zu kippen, um das Leben aus der Routine zu werfen. Insofern ist weder der Erzähler noch sind seine Figuren verwundert über die Schieflagen, das nicht aufzuhaltende Scheitern, die Brüche. Sie halten die Devianz für das Gängige.
Darvasi teilt seine 35 Texte in drei Gruppen: Gott, Heimat, Familie. Natürlich bilden alle drei keinen Halt, spenden keinen Trost, setzen bloß einen vagen Rahmen, der die Bewegungen zusätzlich einengt. Der Unterschied ist, dass man sich in der Familie persönlich kennt – ohne sich leiden zu können.
Zum Beispiel: „Der Tod meines Nachbarn“ aus der Gruppe „Heimat“. Es beginnt, wie viele der Texte, mit der absurden Logik, die, einmal gesetzt, nicht mehr aufzuhalten ist und in die Katastrophe führt. Wobei die Katastrophe auch eine der Logik sein kann.
Jeder weiß, dass ein anständiger Nachbar so einen Filzhut besitzt, wie Jan Gielespiele in Harter Einsatz einen getragen hat. Deshalb fragte ich meinen neuen Nachbarn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, ob er so einen Hut besitze, worauf der Typ leichthin mit der Schulter zuckte, auch er sehe keinen solchen Hut auf meinem Kopf, worauf ich zurückgab, bis dato hätte ich keinen Nachbarn gehabt, weshalb verständlich sei, dass ich einen Hut wie Jan Gielespiele in Harter Einsatz einen getragen habe, bisher nicht benötigt hätte.
Sie jedoch, ich sah ihm in die Augen, haben genau gewusst, dass Sie einen Nachbarn haben würden, als Sie dieses Grundstück und das Haus darauf kauften. (…)
Das Wetter war trüb, Amseln scharrten unter den Buchsbäumen, ich finde, der Tod ist auch von der Art, er scharrt, stöbert ständig herum, und schließlich rauscht er, den sich ringelnden Wurm im Schnabel, mit langsamen, doch kraftvollen Flügelschlägen über den Garten hinweg. Natürlich kaufte ich den Hut noch am selben Tag, genau so einen, wie ihn Jan Gielespiele in Harter Einsatz getragen hat. Dann spazierte ich demonstrativ ein paarmal vor dem Haus meines Nachbarn auf und ab. (…)
Weil ein Nachbar beobachtet, mein Liebling. Einer, der nicht beobachtet, ist gar nicht dein Nachbar, das ist existentiell, genau dieses Wort gebrauchte ich, es wäre absurd. Sieh dir nur an, ich hob den Finger, was sich am Balkan abspielt, wie die Völker sich dort belauern, auch die Araber und Juden belauern sich in einem fort, von den Amerikanern gar nicht zu reden, die haben die meisten Nachbarn, denn offensichtlich betrachten sie den ganzen Erdkreis als Nachbarn!
Wenn also dieser Mann, der neben uns eingezogen ist, sinnierte meine Frau, denn sie machte die Dinge gerne kompliziert, dich nicht beobachtet, mich und dich, warf ich ein, also uns nicht beobachtet, fuhr sie fort, dann ist er nicht unser Nachbar? (…)
Am nächsten Tag regnete es erneut, mir fiel auf, dass das Wetter, seit mein Nachbar mein Nachbar war, launischer geworden war. Feindselige, hinterlistige Pfützen warfen hinter mir Blasen, als ich zu ihm hinüberging. Ich musste nicht lange klopfen. Mein Nachbar öffnete überrascht die Tür, was kann ich für Sie tun, fragte er, ich kam sogleich zur Sache, Sie beobachten uns, sagte ich, jedes Wort ein wenig betonend, Herr Nachbar, setzte ich noch mit Schärfe hinzu, worauf er ein überraschtes Gesicht machte, was wollen Sie damit sagen, fragte er.
Ich will damit sagen, dass Sie kein Auge von uns lassen, und das wird früher oder später zu Komplikationen führen, antwortete ich trocken.
Was für Komplikationen?
Das weiß ich noch nicht, aber mit Sicherheit keine angenehmen, sagte ich.
Andere Fundstücke, aus anderen Geschichten: z.B. aus „Wintermorgen“ (Heimat):
Ich sah, dass er einen neuen Gartenzwerg hatte. Die Schaukel war gestrichen, er hatte Schotter und Kalk kommen lassen. Neben der Einzäunung für die Hühner lag ein Körper. Der Körper eines Menschen. Zuerst glaubte ich, er schlafe. Doch er schlief nicht. Er war tot. Daneben lag der Spaten. Ein neuer Spaten, registrierte ich. Die Hühner legten die Köpfe schief und betrachteten den Körper neugierig. Eines steckte den Kopf durch das Drahtgeflecht und pickte neben den Fingern herum.
»Das hast du gefunden?«
»Genau.«
»Wie kann man so etwas finden?«
Als wir ins Haus traten, stieg uns der Duft der frisch zubereiteten Suppe in die Nase.
Oder aus “Tips für Hundehalter” (Gott):
Da fiel ihm ein, dass er ja keine Wohnung mehr hatte. Er stand unschlüssig da, dann zog er sich den braunen Arbeitsmantel über, nahm Mull aus der Erste-Hilfe-Box und verband den Hund. Das genügte fürs Erste. Er setzte sich neben den Tisch, starrte die zahnlückigen Bücherregale an, er erinnerte sich gar nicht mehr, wann er sie das letzte Mal geordnet hatte. Er hatte sich hier einquartiert, da kostete es mehr Mühe, die Ordnung in der Bücherei aufrechtzuerhalten. Er besaß keine Wohnung mehr, seit einiger Zeit lebte er hier.
Das war jetzt sein Zuhause.
oder aus “Mein kleiner Bruder und ich” (Familie):
»Sie vögeln«, flüstere ich hinunter, und mein Bruder schweigt, er grübelt darüber nach, dann stellt er eine neue Frage.
»Was bedeutet das.«
»Das bedeutet nichts, das macht man.« »Und warum machen sie das.«
»Mutter singt gerne. Und Vater repariert gerne.« »Muss ich auch einmal reparieren?«
»Ich weiß nicht, Kleiner, ich weiß wirklich nicht.« »Ich hab solche Angst«, schluckste mein Bruder. »Ich will nicht reparieren. Ich will nicht.«
Geschrieben ist das Absonderliche in der Sprache des Alltäglichen. Eine Methode, die zuweilen ein wenig an Kafka denken lässt, die sich aber abnützt, weil sie nicht prägnant ist, weil das Erzählte zu wenig über sich hinaus weist. So kanns kommen, so ist es eben. Auch wenn am Schluss einer tot sein sollte. Darvasi scheut nicht das Derbe, das Dörfliche, das Versoffene, den sich einstellenden Sex.
Lang hab’ ich so wenig mit einem Buch anfangen können wie mit „Wintermorgen“. Wie hängen die „Novellen“ zusammen? Gibt es einen Bezugspunkt? Sich ähnelnde Lebenskatastrophen? Die Nation, speziell die gegenwärtige, als Folie von Erleben oder Kritk? Ich hab nichts gefunden, keinen Hintergrund, keinerlei Anklage. Verrätselungen ja, aber sollten die sich nicht zumindest partiell auflösen lassen? Verdichtungen schon, aber was wird aus komprimierter Gleichartigkeit. Vielleicht Absurdität, ein wenig Kafka. Vielleicht liegt das am Zustand des Landes, das sich weigert, in der Gegenwart anzukommen?
Auf dem Cover brennt der Stuhl. „A Ja, László Darvasis imaginationsstarke, grausam-absurde Erzählwelt erzeugt Gänsehaut. Aber sie erschüttert auch, weil in ihrem Kern ein Funke Liebe glüht oder verhohlene Sehnsucht nach Schönheit und Transzendenz. (…) Ganz grosse Literatur.“ (Ilma Rakusa, NZZ) Albträume in Serie verflachen die Erschütterung. Vielleicht hab ich das Buch auch nicht unvoreingenommen genug gelesen, hab zu sehr nach Motiven gesucht. Für mich brennen die „Novellen“ wie Strohfeuer, auf den Geschichten liegt eher die Asche.
2016 350 Seiten
Seite beim Suhrkamp-Verlag mit Leseprobe
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Joost Zwagerman: Duell
„Kennst du das Zitat des rumänischen Philosophen über Bach? Ach, wie war noch sein Name? O ja, Cioran, genau! Nun, was ich sagen wollte, ist, daß Cioran einmal folgende Behauptung aufgestellt hat: >Gott hat Johann Sebastian Bach viel zu verdanken.< Phantastisch, oder? Es ist mehr als nur eine bloße Umkehrung, finde ich. Dieser Satz berührt den Kern alles Schönen, Wahren und Guten. Über Rothko können wir dasselbe sagen: >Gott hat Mark Rothko viel zu verdanken.< Zu einem anderen Schluß kann man nicht kommen, wenn sich einem Untitled No. 18 offenbart … Und wenn schon Gott Rothko viel zu verdanken hat, wieviel haben wir dann diesem wunderbaren Mann zu verdanken? Der Gedanke, das Bewußtsein, daß die Betrachtung eines Rothkos uns einen kurzen Blick auf eine Schönheit schenkt, die sogar Gott sprachlos macht, das müssen wir in unserer Ausstellung im MoMA zeigen, mit Untitled No. 18 als pochendes Herz unserer Schau, don’t you think so, Jelmer?«
Das sind die letzten Sätze des „echten“ Epilogs der Novelle. Jelmer Verhooff ist – noch – Direktor des Hollands Museum, des “wichtigsten Museums für moderne Kunst in den Niederlanden”, das vorübergehend geschlossen werden soll. “Für die sechs Monate, die das Hollands noch geöffnet sein würde, organisierte Verhooff im Eiltempo eine letzte Ausstellung, die zunächst Reactions heißen sollte. Zwanzig junge niederländische Künstler, die nicht älter als Dreißig sein durften, sollten in einen »Dialog« mit einem klassisch-modernen Meisterwerk aus der Sammlung des Museums treten.” Zu den Ausgewählten gehört auch Emma Duiker, die “Gemälde zeitgenössischer Meister bis ins kleinste Detail kopierte, immer mit Zustimmung der betreffenden Künstler, die ihr manchmal sogar mit Informationen zu praktischen Dingen wie Farbsorten, Farbschichten, Impasto, Pigmenten, Bespannung halfen. Mitunter arbeitete Emma Duiker überdies mit Röntgen- und Mikroskopieuntersuchungen, die Restauratoren durchgeführt hatten. Sie hatte sogenannte Doubles von Arbeiten von Sigmar Polke, Gerhard Richter, Jörg Immendorff, Cy Twombly und anderen weltberühmten Malern gemacht.” Sie “selbst empfand sich mehr als eine reproduzierende Künstlerin. Das sagte sie zumindest zu Verhooff, als er sie einmal besuchte. Der ‘Komponist’ Rothko könne auf unterschiedliche Weise gespielt werden, und sie versuche aus ihrer Darstellung von Untitled No.18 mehr als eine normale »Aufführung« zu machen; sie unternehme den Versuch, die Seele des Machers offenzulegen.” “Gerade durch diese Aufführung”, so ein Kritiker, “gelinge es Emma Duiker, einen Hauch der Sublimität eines der anmutigsten, fragilsten Werke Rothkos sichtbar zu machen. Und diese Leistung sei für sich ebenso sublim.”
Es begibt sich nun, dass Emma Duiker, das Werk, das sie “aufführt”, den echten Mark Rothko, entführt und an verschiedenen Orten in Europa hängen lässt, in Bibliotheken. Altenheimen, Klassenzimmern. Sie versteht das als “Kunstaktion” wider den elitären Kunstbetrieb, Untitled No. 18 soll allen gehören, seine Wirkung zeigen, sie will die „totale Demokratisierung“ der Kunst.. Emma Duiker ist Idealistin. Jelmer Verhooff ist entsetzt, das Werk ist 30 Millionen wert, er macht sich für den Diebstahl verantwortlich und entdeckt das Bild schließlich in einer Schule in Slowenien. Mit seinem schrulligen Restaurator reist er dorthin, bei der umständlichen, im Kleinkriminellen verborgenen Rettungsaktion wird das Bild aber zerstört, der Museumsdirektor selbst hat es mit der Faust durchschlagen.
Die Auseinandersetzung mit dem “Wert” von Gemälden und der Frage, inwiefern diese “echt” sein können, ist der eine Schwerpunkt von Zwagermans Novelle, eine “grandiose Meditation über Handwerk, Originalität und Genie“ (Denis Scheck). Deutlich mehr Raum nimmt die detektivische Aktion der Wiederbeschaffung ein, am Rande der Legalität, verborgen vor Medien und Kunstöffentlichkeit. Das ist stellenweise spannend, oft skurril, immer ironisch, das Hauptthema erschöpft sich aber doch recht schnell. Ich lese das Buch gern, Scheck verhebt sich aber wieder mal in seinen euphoristischen Empfehlungen.
2010 150 Seiten
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Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis
Es müsste sie doch noch geben, die guten Dinge: das {Wahre, Schöne, Gute} Echte. Auch die Liebe, vor allem, die Jugend. Julius Reither ist um die 60, sein Kleinstverlag findet nicht mehr die Leser, die gute Bücher zu schätzen wissen. Abends klingelt es an seiner Tür: Leonie Palm, seine Nachbarin, auch sie hat ihren Beruf verloren. Verloren haben sie auch ein Kind: Leonies Tochter beging Selbstmord, Reithers Ungeborenes wurde abgetrieben. Das Leben scheint an ein Ende gekommen.
Zwei, die Pleite gemacht haben, Sie mit einem Verlag, Reither, ich mit einem Hutladen. Und das nicht nur, weil es keine Hutgesichter mehr gibt. Nein, weil die Leute meine Hüte nicht mehr brauchen, so wie sie Ihre Bücher nicht mehr brauchen, weil sie schon seit Jahren etwas ganz anderes wollen als handgemachte Hüte oder gute Bücher, das ist die Wahrheit.
Nach ein paar Gläsern Wein und vielen Zigaretten ist man bereit für den Aufbruch. Gemeinsam in die verlorenen Zeiten. Nach Süden. Der unvorherzusehende Start in die Novelle mit Leonies Auto, sie fahren abwechselnd, rauchen noch mehr, damit sie sich nicht entscheiden müssen. Jede Zigarette wird auch ausgedrückt, das Dingsymbol? Verpassen sie auch diese, die letzte (?) Gelegenheit? Sie siezen sich bis Seite 80. Sie hören Paul Anka von einer abgewickelten Kassette. Das gute Alte, die Manufactum-Novelle. Die Fahrt dauert ewig, vorbei an Tankstellen, Blicke auf Müll und Meer, leise Gespräche über die Vergangenheiten, “beide trugen sie ihre Sonnenbrillen, also gab es keine Blicke in die Augen”, unzählige Zigaretten, – “jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben!”.
Behutsame Annäherung und genaue Worte dafür in Endlosschleifen. Sie sehen Flüchtlinge, die sich nach Norden schleppen, ich hielt das zunächst für ein zeitgenössisches Accessoire, ärgerlich in der Kombination mit der Wohlstandsflucht in die alten Zeiten. Doch erfährt die Novelle eine Wendung, als sie in Catania auf ein Mädchen treffen, wohl aus Nordafrika, eine scheue Streunerin, “verstockt” und “mit allen Wassern gewaschen” kommt sie ihnen vor. Das Flüchtlingskind schließt sich ihnen an, “fast wie ein Hündchen”, dem man etwas zu fressen gibt, “Eltern mit Tochter, hätte man meinen können”. Da passt Kirchhoff die Motive wieder zusammen, nach zwei Dritteln wird die Erzählung interessant. Schließlich findet man in Sizilien noch die echten Menschen, die guten, hilfreichen, ehrlichen: Flüchtlinge aus Nigeria, auf der Suche nach der Zukunft, im Norden.
Kirchhoff inszeniert die Novelle und kommentiert ständig seine Inszenierung. Ersteres ist gut für die Komposition, die Beschreibung ist legitim, Reither ist ja Verleger, Lektor, weiß, was man von Geschichten erwartet. Jedes Wort prüft er, der Erzähler auf seine Zulässigkeit, fragt, ob er es stehenlassen könne, ob es präzise sei, ob es echt sei. Dennoch nervt das Verfahren, man hätte das als Leser ja auch selbst gemerkt haben können.
Und der Kuss, der dauerte an, hatte seine eigene Zeit, die mit der übrigen Zeit in keiner Verbindung stand, ja Zeit war das falsche Wort dafür; es war eine einzige Aussöhnung mit dem Vergänglichen, man war Besiegter und Sieger zugleich, seinem Gehäuse entrissen und zugleich aufgehoben, bis die Consecutio Temporum dann doch in den Kuss eindrang mit der Frage, wer ihn wie beendet. (…) Reither lag auf dem Rücken und weinte – und hätte das in einem Buch wohl auch so stehengelassen -, er weinte um sich, und Punkt. …
Wie warm war es tatsächlich, und wie warm war es ihm, das wäre dann ein Anhaltspunkt, ob ihm etwas den Kopf verdreht hat – eine der Wendungen, die man in Büchern jüngerer Schreiber schon vergeblich suchte, als käme es auch nicht mehr vor, dass einem der Kopf verdreht wird. Von anderen Wendungen gar nicht zu reden, sein Herz verlieren, auf Wolken schweben, Feuer und Flamme sein, den Himmel auf Erden erleben, und was inzwischen sonst noch dem Schlager und evangelischen Pfarrern überlassen bleibt. Im Übrigen sah er nicht eine Wolke, es gab nur ein paar ferne Schleier auf seiner, der Fahrerseite, zu dünn, um auch nur gedanklich darauf schweben zu können, wie feiner Nebel, und demzufolge tauchte auch bald das Meer auf; hinter einem Küstenstreifen aus welligem Grasland erstreckte es sich in tiefem Blau. Da, schau, das Meer, sagte er, aber die Beifahrerin hörte ihn gar nicht. Leonie schlief – zwei Worte wie eine eben erfundene oder eine vom Himmel gefallene Wendung, Leonie schlief. …
Kapitel gegen Ende eines Buchs nehmen in der Regel an Umfang ab, wie die am Ende eines Lebens, das keine langen ruhigen Zeiten mehr hat, nur noch solche von Einschnitt zu Einschnitt, der erste Freund, der zu Grabe getragen wird, das letzte Umarmen eines Körpers, den man noch nicht kennt – Reither sah diese zwei, drei Schlusskapitel förmlich auf sich zukommen, als ein Afrikaner in gelbem Sportanzug mit Kapuze neben ihm in die Hocke ging, auf seinen Rucksack gestützt, das Gesicht dunkler als der Nachthimmel, bis auf das Rötlich-Weiße in den Augen und die hellen Zähne – ein reines Wiedergeben von Phänomenen, wie der Afrikaner von ihm sagen könnte, dass er ein älterer, am Boden liegender Mann sei, Mitteleuropäer, blutend und an eine Weinflasche geklammert; am Boden zerstört wäre kaum zu viel gesagt. Can 1 help you? …
Bliebe jetzt nur noch zu klären, womit die Geschichte, die ihm noch immer das Herz zerreißt, enden sollte – wenn er die alten Maßstäbe anlegte, genau mit jenen Falten, die aus der Mode waren.
Eine Novelle über das Verfertigen von Novellen in Zeiten der Flüchtlingskrise. Kunstvoll gearbeitet, penetrant mit dem Geist und der Sprache des Verflossenen kokettierend, “pathetisch in der Evokation großer Momente der Verzweiflung und des Glücks“ (Ulrich Rüdenauer, SZ), ein sehr bemühtes Spiel. Eine Altmännernovelle.
2016 225 Seiten
Was mir durch den Kopf geht – Widerfahrnis.
Und warum gerade das?
(„Das widerfahrnishafte Ereignis irritiert uns, weil es in seiner positiven Bedeutung nicht innerhalb unseres faktischen Welthorizontes verstehbar ist. (…) Im Widerfahrnis werden wir mit der Frage nach dem eigenen Sein konfrontiert.“ (Martin Heidegger))
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P.S. IKEA ist einen Schritt voran. Die echte Familie, die sich Bodo Kirchhoff erschreiben will, sitzt auf dem Katalog-Titelblatt schon um den Tisch. Die Vereinnahmung der Flüchtlinge ist ohne novellistische Aufwendungen gelungen. Welch Glück, dass einem sowas Schönes widerfährt.“Not consumers“. Menschen. Ganz ohne Rauchen.
Ganz angekommen ist aber erst, wer nicht nur die deutschen Tische,sondern die deutsche Sehnsucht kennt: Der Immigrant auf dem Italien-Trip.
Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren
Wie kann man eine Novelle verschenken? – Vielleicht ist das Thema, wiewohl aktuell, nicht tauglich? Ein Gruppe junger Engländer feiert in einem tunesischen „Resort“ die Hochzeit einer der ihren. Man tritt ihnen nicht zu nahe, wenn man sie als Finanzschnösel bezeichnet, früher gab’s das Wort „Neureiche“, „Barbaren“ passt schon. So leer der Kopf, so gesucht der Kick. Party. Da trifft sie der Schicksalsschlag. England ist finanziell – und damit überhaupt – ruiniert. Der Teppich fliegt nicht mehr.
Um fünf nach neun, Londoner Zeit, wurde der Handel eingestellt. Zur selben Zeit sprach der englische Finanzminister als Erster aus, was bereits offen zutage lag, dass das Land unter diesen Umständen für lange Zeit nicht mehr in der Lage sein würde, seine horrenden Staatsschulden zu bedienen. Marc und Kelly, bei denen es bereits fünf nach zehn war, schliefen in ihrem Beduinenzelt. Zu diesem Zeitpunkt überstieg die Rechnung für die Hochzeit, die sie in Tunesischen Dinar zu bezahlen hatten, gerade den Wert ihres Londoner Reihenhauses in Pfund Sterling, das noch zu achtzig Prozent der Bank gehörte, einer Bank, deren Anwälte gerade Insolvenz anmeldeten und eine E-Mail an die Mitarbeiter aufsetzten, in der sie ihnen vorschlugen, doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.
Als der englische Premierminister vor die Presse trat und den Staatsbankrott verkündete, war Saida schon seit Stunden auf den Beinen und brachte mit ihren übernächtigten Mitarbeitern das Resort auf Vordermann. Sie klaubten Flaschen und zerbrochene Gläser aus den Blumenbeeten, schaufelten Erbrochenes in eine Schubkarre, und Saida zwang Rachid, in den Pool zu steigen, um eine Gartenliege herauszufischen und Kellys Bruder zu wecken, der in seinem gelben Schwimmring, den Kopf nach hinten gekippt, im Wasser trieb.
Das ließe sich erzählen, das ließe sich aufblasen, um dann mit der Nadel reinzustechen und die – heiße Wüsten – Luft abzulassen. Lüscher tut das auch. Aber er tut das zu spät und zu mutlos. Der Schlag trifft erst auf Seite 90 von 125. In der Novelle darf man das unerhörte Ereignis zu Beginn erwarten, der Protagonist soll sich daran abarbeiten. Lüscher traut seinem Yuppie-Rudel ein literaturfähiges Scheitern nicht zu. Das Rudel hat zu wenig Charakter(e), der Schlag trifft sie unvorbereitet, aber ins Leere. Ist ja nichts da.
Quickys Saubannerzug verschaffte sich ungehindert Zugang zur Küche, scheiterte aber, trotz der Zuhilfenahme eines schweren Fleischklopfers, an den massiven Stahltüren der Kühlkammern. Dann, so beschied Quicky, werde man eben auf die Jagd gehen müssen, und begann, seine Truppe mit den scharfen Klingen aus einem großen Messerblock zu bewaffnen. Das war der Moment, in dem sich Willy seiner Kinder und seiner Frau entsann und sich unauffällig absentierte.
Im Folgenden führten zwei ebenso zufällige wie läppische Ereignisse zu einer Gemengelage, die in einer Katastrophe aus Feuer und Blut kulminierte. –
Kiffen, kotzen, die Sau rauslassen. Als Sau muss ein Kamel herhalten. Lüscher versucht zu retten. Er hat den Schweizer Fabrikerben Preising in die Oase verfrachtet, verschafft ihm Bekanntschaft mit Pippa, der Mutter der Braut, das erzeugt etwas Sympathie und Distanz. Aber Preising wird zunehmend an den Rand der Ereignisse gedrängt, er bleibt Beobachter der Zuckungen. Lüscher braucht einen weiteren Kunstgriff, der nicht aufgeht: der Erzähler. Eine Figur, die keinen Namen hat und keine Rolle als die des Zuhörers, Stichwortgebers spielt. Ein kompositorischer Aufwand, der leerläuft. Preising und der Ich-Erzähler promenieren im Garten einer psychiatrischen Anstalt, doch Lüscher lässt auch diesen Strang liegen, sagt nicht, wie sie dorthin kamen, weshalb sie dort sind, Geschickt – oder zufällig? – wechselt er von direkter zu indirekter Rede zum Erzählerbericht.
“Die Art und Weise, wie sie vom Tod ihrer Tochter sprach, überraschte mich. Als würde sie am Tresen eine Geschichte zum Besten geben, wie sie zu einer besonders eindrücklichen Narbe gekommen war oder ein Fingerglied verloren hatte. Aber vielleicht war es das. Vergleichbar mit dem Verlust eines Körperteils, einer Amputation als Folge eines grotesken Unfalls. Für jemanden wie mich, der nie welche hatte», sagte Preising, «ist es schwer vorstellbar, was der Verlust eines Kindes bedeutet.»
Er blieb vor einer kleinen Bank an der gelben Mauer stehen. «Du hingegen», sagte er, ohne mich anzublicken, «weißt ja, was es bedeutet.» Nein, das wusste ich nicht. Preising irrte sich. Nur weil man etwas erlebt hatte, hieß das noch lange nicht, dass man wusste, was es bedeutete. (…) «Bitte», sagte ich und zog mir einen der gusseisernen Gartenstühle her, «deine Geschichte.»
«Ich hatte», sagte Preising, »das Gefühl, Pippa spreche gerne über ihre Tochter, und dieser Umstand ermutigte mich zur Nachfrage. Es sei ja gemeinhin für junge Leute leichter zu wissen, was sie nicht mögen, sagte ich, so zumindest sei es mir als junger Mensch vorgekommen, als zu wissen, was man möge. Ob sie, Laura, gewusst habe, was sie möge? 0 ja, allerdings, antwortete Pippa, kalte Länder, schlechtes Wetter, Bücher von Sebald, schwierige Männer. Sie lachte.»
Danach, so behauptete er zumindest, hätten sie eine geraume Weile geschwiegen. Es war Pippa, die das Gespräch wieder aufnahm und eine geistreiche Bemerkung, an die sich Preising allerdings nicht mehr im Detail erinnerte, aber er war sich sicher, dass sie sehr geistreich gewesen sei, über die Schwierigkeit des Hochzeitsfestes an sich machte.
Martin Halter spricht in der Frankfurter Rundschau von einer „altfränkisch verschnörkelten“ Sprache, mit der sich der Erzähler von den „Barbaren“ abheben will. Roman Bucheli lässt in der NZZ wenig Gutes am „Frühling der Barbaren“. Verena Auffermann bespricht die Novelle im DRadio positiv (auch als Audio).
Jonas Lüscher liest auf zehnseiten.de aus dem Roman
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Véronique Bizot: Meine Krönung
Ich werde mich an den Gedanken gewöhnen müssen, auszugehen. Die Leute, die neulich hier waren, haben darauf bestanden, nachdem sie festgestellt hatten, dass ich mich noch auf den Beinen halte. Ein Empfang ist geplant, in einem Palast oder einem Palasthotel, das habe ich nicht ganz mitbekommen, auch nicht das Datum dieses Empfangs. Es wird Trinksprüche, ein paar Reden und Champagner geben, man kennt das ja. Selten Champagner allerdings in einem Physikerleben. Ich mag übrigens keinen Champagner. Meine erste Frau hat mir das bitter vorgeworfen, aber ich lege keinen Wert darauf, meine erste Frau zu erwähnen, die ich übrigens fast vergessen habe, wie auch die Zeit meiner Ehe, von der ich nur noch Einzelheiten in Erinnerung habe. Offenbar interessieren mich heute nur noch Einzelheiten, offenbar hat mich der Sinn fürs Ganze verlassen, auf jeden Fall muss ich mir mit dem behelfen, was da kommt, und viel kommt da nicht mehr, oder ich erwarte nicht mehr viel. Aber dass ich nichts erwarte, heißt nicht, dass ich gar nicht warten würde, das habe ich irgendwann begriffen. Die Aussicht auf einen Empfang zu meinen Ehren macht mich aller dings nervös, ich ertappe mich bei dem Gedanken, vor dem geplanten Empfang zu sterben, wobei es gar nicht so einfach ist zu sterben, was ich auch irgendwann begriffen habe. Ich war schon lange nicht mehr irgendwohin eingeladen. Von der letzten Einladung, der ich gefolgt bin, habe ich nur noch in Erinnerung, dass die Wohnung von einem Ende bis zum anderen mit rotem Stoff bespannt war und dass man uns, als wir in diesem roten Esszimmer Platz genommen hatten, eine Fischsuppe servierte und ich mir sagte, sieh an, eine Fischsuppe, eine Fischsuppe, natürlich, was kann man anderes von diesen Leuten erwarten, die mich eingeladen haben.
Gilbert Kaplan hat die Achtzig hinter sich und jetzt soll er für eine Erfindung geehrt werden, die er in seiner frühen Zeit als Physiker gemacht hat und an die er sich nicht mehr erinnern kann. Eine unerhörte Begebenheit, die sein Leben aus der Bahn zu werfen droht. Kaplan will sich wehren. Seine Gedanken schweifen, sie treffen aber nur noch sehr Naheliegendes, Teile seiner Wohnung etwa, wenige Augenblicke draußen, auch Kleidung und Nahrung sind ihm eher unwichtig geworden. Manchmal denkt er noch an seine Brüder oder Schwestern, kann aber auch mit ihrem Leben wenig anfangen. Nahe steht ihm nur noch seine Haushälterin, Madame Ambrunaz, nicht ganz so alt wie er, natürlich in der gebotenen Distanz. Er weigert sich, nach China zu reisen, er weigert sich sogar, mit Madame Ambrunaz ans Meer zu fahren, gewisermaßen um ein bisschen für den großen Auftritt zu üben.
Véronique Bizot skizziert das mit leisem Humor, bzw. sie lässt, was natürlich geschickter ist, Monsieur Kaplan selbst erzählen. Man kann ein bisschen mitfühlen mit seiner Vergesslichkeit und auch ein bisschen darüber Schmunzeln. Und so können auch die Gedanken besser schweifen, denn Kaplan ist selbst dafür verantwortlich. Oder eben nicht mehr. Die Sätze werden lang, finden kein Ende, aber das passt so. Es ist keine große Geschichte, eher ein Novelle, eine Übung.
2010 127 Seiten
Véronique Bizot: Eine Zukunft
In “Eine Zukunft” treibt VéroniqueBizot ihren Erzählstil noch ein bisschen weiter. Die Sätze werden noch länger. Nicht ganz so endlos geschleift wie bei Thomas Bernhard, aber man kann schon ein bisschen an ihn denken. Auch die Handlung ist noch weniger strukturiert als bei “Meine Krönung”. Paul soll sich um das Haus seines Bruders Odd kümmern, er macht sich auf ins französische Gebirge, wird immer wieder mit Odd verwechselt, ist mit seiner Aufgabe überfordert und schafft es auch nicht recht, Klarheit in die Familienverhältnisse zu bringen. Wie ist das nun mit den Brüdern und Schwestern. Paul kommen Erinnerungen an seine Hochzeit, die sie recht stillos in einer Bäckerei “feiern”, wo sie mit Plastikbesteck Würste im Teigmantel essen, an eine Reise in den Dschungel Malaysias, die er fast nicht überlebt hätte. Er möchte endlich „einen Gedanken (…) haben, der diese Bezeichnung verdient, keine Meinung, erst recht keine Überzeugung, einfach nur einen Gedanken, etwas wie einen kräftigen Faden, der irgendwohin führt„.
Es ist nicht ganz leicht, Ordnung und Sinn in die Geschichte zu bringen. Sie lebt auch mehr von Assoziationen als von einer durchgängigen Handlung, erschließt sich in Andeutungen und Weglassungen, hat aber doch ein Ende.
2011 144 Seiten
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Josh Weil: Das neue Tal
Stillman Wing ist 71 Jahre alt. Er hat bei Pfersick gearbeitet, der ihm gekündigt hat, weil er zu alt ist. Damit ist eigentlich auch sein Leben beendet, hat sein Ziel und seinen Sinn verloren. Seine Frau Ginny ist schon lange aus Virginia weggezogen nach Kalifornien, er hat den Kontakt verloren, nur seine Tochter Caroline lebt bei ihm, aber auch sie ist kein Halt, sie findet selbst keinen. Er nennt sie liebevoll „Blueberry“ und er “macht sich Sorgen um Caroline, sie ist schon 35, fettleibig und lebt in den Tag hinein, immer bringt sie neue, nutzlose Liebhaber nach Hause” (Klappentext), Stillman nennt sie “Ficker”. Dann holt er sich eines nachts einen alten Traktor von seinem Chef, einen Deutz MTZ222, Baujahr 1928, wie Stillman.
Der Deutz stand dort hinten, wo er all die Jahre gestanden hatte, und Stillman, der schon seit fast ebenso lange hier war, stand neben ihm und betrachtete ihn. Die Sonne ging auf. Oder sie hätte es zumindest tun sollen. Die Wolken waren über Nacht dichter geworden, und der Hof hinter den riesigen Metallhütten von Pfersick & Son sah so schwarz aus wie das Feld dahinter, das so schwarz aussah wie die Bäume, die sich gegen die noch schwärzeren Hügel stemmten.
Dieser Deutz wird der Inhalt von Stillman’s Restleben. Niemand soll erfahren, dass er den Traktor auseinandernimmt, um ihn wieder gangbar zu machen; alle wissen es, es interessiert sich aber niemand dafür. 5 Jahre arbeitet Stillman am Deutz, die Kräfte schwinden, die Augen werden schwach, die Erinnerungen lassen sich immer weniger abwehren. Schließlich zieht Caroline in eine Landkommune, sie flieht vor ihrem verständnislosen Vater und lässt Stillman allein mit seinen Gedanken und dem Deutz-Diesel zurück. Für Stillman verschwimmen die Jahreszeiten und die Lebenszeiten.
Er überzieht alle Teile mit frischem Motorenöl und setzt sie wieder ein, in der exakt umgekehrten Reihenfolge, in der er sie entnommen hat. Während er mit dem Holzhammer auf die Ventilschäfte klopft, um sicherzugehen, dass die Schließhaken an ihrem Platz bleiben, geht er in Gedanken die Geburtsdaten von seiner Mutter, seinem Vater, Caroline und Ginny durch. Dann alle Telefonnummern, die er je auswendig gewusst hat, selbst die von Ginny in Kalifornien, obwohl er sie nie unter dieser Nummer angerufen hat, ebenso wenig wie sie ihn von dieser Nummer aus. Dann versucht er sich an die genaue Augenfarbe seiner ersten Freundin zu erinnern, dann an die des alten Les Pfersick, dann an Carolines, an Ginnys – er erinnert sich überrascht daran, dass ihre Augen im richtigen Licht lila aussehen konnten und in einer anderen Art von richtigem Licht sehr, sehr tiefblau; in dem Licht, das durch ihr Schlafzimmerfenster gefallen war, hatte er schmale silberne Einsprengsel darin sehen können, wenn er morgens vor ihr aufgewacht war und geduldig neben ihr gelegen und zugesehen hatte, wie der goldene Streifen das Fenster fand, hindurchschlüpfte, über die sich an ihren Schienbeinen ballende Bettdecke kroch, an ihren Schenkeln entlang zu ihrer Hüfte hinaufstieg und weiter zu ihren Schultern, ihrem Nacken, ihren Lippen und schließlich ihren Augen; ihre Lider hoben sich: diese dunklen Pupillen, die ihn ansahen, die wundersamen silbernen Flecken in diesem Blau. Als er das untere Ende zusammensetzt, vergisst er die Öldichtung der Kurbelwelle und muss noch einmal von vorn anfangen. Während des Zusammenbaus hat er sorgfältige Markierungen auf Malerkreppstreifen gemacht und sie auf die Lagerdeckel geklebt; jetzt kann er sie kaum noch lesen.
Er schließt die Augen, damit sie sich ausruhen können. Draußen werden Schneeflocken am Fenster vorbeigetrieben. Schnee?, denkt er. Im Mai?, und einen Moment lang gerät er beinahe in Panik, während er seinen Körper durch die Zeit fallen fühlt.
Josh Weil gelingt es in seiner Novelle, dieses “Durch-die-Zeit-Fallen” lebendig werden zu lassen. Er lässt Stillman älter und schwächer werden und noch eigenbrötlerischer, er lebt von Müsli, mit seinem Nachbarn Pferkins hat er seit Jahren nicht mehr gesprochen. Weil lässt ihn so sein, er entwürdigt ihn nicht. Präzise und mit den nötigen Fachbegriffen beschreibt er die Arbeit am Deutz, dann vergehen in einem Satz – wie in Stillmans Zeitwahrnehmung – Tage und Monate und Jahre. Man muss beim Lesen aufpassen, es ist aber nicht entscheidend, ob es Mai ist oder Winter. Stillmans Gedanken schweifen, nur wenig kontrollierbar, in die Vergangenheit. Der Deutz wird zum Symbol, für die Vision einer Restauration und für die Vergänglichkeit, überflüssig wie der alte Mann. Was wäre gewonnen, wenn die Maschine noch einmal zum Laufen gebracht werden könnte. Alles für Stillman. Traktor und Leben werden eins. Weil hat dies auch in eingestreuten Skizzen sichtbar gemacht. Der Traktor ist “ein pädagogisches Mahnmal, ein tonnenschweres Symbol für jene unverwüstliche Solidität und Zähigkeit, mit der die Vorväter einst das wilde Land urbar machten und es sich als Lebensraum erschlossen“ (Christopher Schmidt, SZ). Hier ist auch mein einziger – deutscher – Einwand, denn Weil bindet das für Stillman frevelhafte Leben der Kommunarden und mit ihnen seiner Tochter an die Mythen der Amerikaner von ihrem romantizierten Lebensraum.
Stillman malte es sich in Gedanken aus: Er fuhr auf diesen neuen Reifen über den neuen Straßenbelag, mit dem sie die ganze Stadt gepflastert hatten, auf sie zu, die neue Lackierung des brummenden Deutz glänzte, ihre Augen weiteten sich. Ich bin so stolz auf dich, würde er zu ihr sagen. Und sie würde sagen: Hast du daran die ganzen Jahre gearbeitet? Er würde strahlen. Ist der schön, würde sie mehr hauchen als sagen, wie sie es tat, wenn sie so erstaunt war, dass sie ihren üblichen Sarkasmus vergaß. Er gehört dir, würde er zu ihr sagen. Er konnte schon fast ihre weit ausgebreiteten Arme spüren.
2009 125 Seiten
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Rainer Wieczorek: Zweite Stimme
Die Frau ist gestorben, Tochter Paula studiert im fernen Kiel die „Zukunft der Arbeit“, Wilhelm Baumeister lebt allein im jetzt zu großen Haus am Odenwald. Er war Schriftsetzer, ein Beruf, der sich von der Linotype über den Lichtsatz bis zur Computerisierung stark verändert hat und nun fast überflüssig ist. Wie Baumeister.
Eher zufällig trifft er auf den Künstler Richard Skala aus einem Nachbardorf. Skala ist das, was man einen Konzeptkünstler nennen könnte; seine Werke vergehen im Entstehen, zurück bleibt die Idee. Er bezeichnet sich als Spaziergangswissenschaftler.
Skala öffnete die Lederbänder und nahm den Glaskolben heraus.
2000 ml stand auf der Flasche. 2000 Milliliter, aber man sah keinen Inhalt. Skala hielt ihm eine Reihe von Fotos hin, die ihn zeigten, wie er, mit weißem Kittel bekleidet, in einer Außenküche auf einem Zweiplattenherd Siegellack zum Schmelzen bringt, die bereits versiegelte Flasche ein zweites Mal dieser Prozedur unterzieht und sie abschließend mit einem Stempel prägt, der eine in einem Quadrat eingeschriebene Wolke zeigt.
Baumeister nickte. Bedächtig entfaltete er die topografische Karte, ein schottisches Exemplar, das unter anderem den bekannten Loch Lomond zeigte. Mit Bleistift war eine Route eingezeichnet, Hinweg, Rückweg; in der Nähe eines hohen Berges war der Entnahmeort angekreuzt und mit einer Wolke versehen. Baumeister nahm das andere Blatt zur Hand und las, was Skala eingetragen hatte. Bei dem Berg handelte es sich augenscheinlich um den Ben Lomond; in 345 Metern Höhe herrschten bei einem Luftdruck von 974 Hektopascal 5,5 °C Außentemperatur bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 91%. Die Entnahme (»Time of Sampling«) fand zwischen 12.58 p.m. und 12.59 p.m. statt.
»Und was war da entnommen worden?«
Skala sah ihn spöttisch an: Konnte es wirklich so lange dauern, bis bei Baumeister der Groschen fiel? 2000 ml einer schottischen Wolke waren hier auf Flasche gezogen worden, ein minimaler Eingriff, wie Skala versicherte.
Weiß war die Wolke gewesen, auch orangefarben, mit leichten Grautönen, folgte Baumeister den Eintragungen auf dem Formular, sie roch wie Sommergras, war weiblichen Geschlechts und gehörte – jetzt oder damals? – der Glasgow School of Art. (…)
»Zur Vollständigkeit sei angemerkt, dass zu einem cloud-walk-kit auch noch der bei der Wanderung benutzte Spazierstock« … »der Firma james Smith & Sons« … »gehört« … »eine Spezialanfertigung«, fielen sie sich gegenseitig ins Wort: Skala lächelte anerkennend und fuhr fort, »den ich aus Platzgründen getrennt von den Wolkenkisten lagere«. Jetzt öffnete Skala die beiden unteren Schubladen einer zweiten Kommode, die bis zum Rand mit Spazierstöcken gefüllt waren, mit zuordnenden Zetteln versehen.
Baumeister hat die Beschäftigung für seinen Ruhestand gefunden. Er bietet Skala einen Teil seines Hauses, einen verglasten Anbau, als Lager für seine cloud-walk-kits an und macht sich daran, Skalas “Werke” akribisch zu archivieren. Paula hilft ihm bei der Anschaffung eines Computers und bei dessen Bedienung. Später führt Skala ein neues Projekt durch, die Klangtransformation einer Landschaft. Mit aufwändiger Technik sammelt er Naturgeräusche aus der Umgebung, verstärkt sie über ein Netz von Lautsprechern und bannt die Schallereignisse auf eine Langspielplatte, die er in Plasikfolie einschweißt. Die Aktion selbst dauert 72 Stunden.
Die Landschaft würde als akustischer Informationsträger dekonstruiert, meinte ein Besucher am zweiten Tag der Beschallung, und Baumeister schrieb sich diese Formulierung dezent auf; er wollte zu gegebener Zeit darüber nachdenken.
Nach dem Abendessen setzte sich Baumeister mit einer Flasche Spätburgunder auf die Außentreppe des Wohnhauses.
So viel stand fest: Skalas Kunst würde zukünftig nicht mehr archivierbar sein.
Er war das zweite, das dritte Mal von einer Entwicklung überrollt worden, auf die er nicht den mindesten Einfluss gehabt hatte, so ist das, Paula, dachte er, wir machen unsere Pläne, treffen unsere Entscheidungen, arbeiten so sorgfältig, wie es geht, und dann geschieht alles, als gehörten wir nicht dazu.
Rainer Wieczoreks “Künstlernovelle” lässt den Leser nicht nur über postmoderne Kunst nachdenken, sondern auch über den Sinn von Beschäftigungen, Berufen, die Frage, ob das Alter mehr bieten muss als den Erhalt des Hauses und die Ernte von Tomaten und Mirabellen. Es geht um “Nützlichkeit und Verwertbarkeit”. In nüchterner Sprache schreibt er über die bedeutsamen Ausuferungen des Alltags und des Lebens. Die Personen sind alle sehr sympathisch, auch der Künstler. Das verleiht der Novelle einen Hauch von vormoderner Humanität und Leichtigkeit. Für Jochen Schimmang (taz) ist “Zweite Stimme” die “schönste Entdeckung dieses Bücherherbstes” 2009.
2009 138 Seiten
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Uwe Timm: Freitisch
Wieder ein Mosaikstück aus Uwe Timms Werdegang. Fiktiv, natürlich, aber man darf das schon in die Erzählungen um Freunde und Verwandte einordnen. Für sich macht diese Novelle wenig her, als Puzzleteil füllt sie Lücken, man fragt, wie viele Timm noch findet.
Zwei Freunde, eher Bekannte aus der Zeit vor dem „heißen Sommer“ in München treffen sich nach Jahrzehnten in Anklam, einem Städtchen im Pommerschen mit einiger Geschichte und weniger Gegenwart. In München saßen sie am Freitisch beieinander, „in der Kantine einer spendablen Versicherung, und kreisten in Gesprächen um Gott und die Welt und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Arno Schmidt“ (Klappentext). Die Freunde sind sich fremd geworden, fremd geblieben, und so lassen sie, wie man’s so tut, alte Taten wieder auferstehen. Damaliges Ultra war die Idee, den eigenbrötlerischen Schriftsteller in Bargfeld zu besuchen. Davon würd’ ich auch erzählen, aber es reicht auch bei Timm nicht für einen Roman, auch nicht für die Novelle, „der freilich alles Novellenhafte fehlt: nicht nur die unerhörte Begebenheit, sondern sogar eine mitteilenswerte Handlung“ (Jörg Magenau, DeutschlandradioKultur). Ina Hartwig findet dagegen ein bislang zu wenig beachtetes Merkmal: „Freitisch“ „gehorcht der Gattung Novelle (in Novellen wird gern gegessen)“ (SZ). Gerahmt wird die Anekdote von Betrachtungen über die „blühenden“ Stadt-Landschaften in und um Anklam, der eine Freund macht in Mülldeponien und hat hier zu tun, der Erzähler war Lehrer, hat also nicht viel zu erzählen. (Ausnahme: „Regensburg ist doch eine wunderschöne Stadt.“) Arno Schmidt als Kern der „Novelle“, als „Falke“ – Timm spielt mit diesem Gedanken – ist zu weit weg, zu weit hergeholt. (Natürlich sollte man manches von Schmidt wieder mal lesen.)
Timm formuliert souverän, ohne Schnörkel, gelassen. Die Zeitebenen sind fugenlos verknüpft, das ist vielleicht das Gelungenste an diesem ansonsten unspektakulären kleinen Text.
Und Sie? Freiwillig hier?, fragte Euler.
Durchaus. Dienstverpflichtung gibt’s ja nicht. Er schien wirklich ahnungslos, was des deutschen Beamten Rechte und Pflichten sind.
Lehrer, Deutsch, Geschichte. Wie gesagt, jetzt pensioniert. Rosen und Porree. Und so nebenher ein Antiquariat, nichts Großes und mehr als Tarnung vor Frau und Familie. Ich sammle Erstausgaben. Verkaufe aber praktisch nichts. Kann mich einfach nicht trennen. Höchstens mal, wenn ich was doppelt oder dreifach habe. Bin wie ein Wirt, der sich selbst der beste Gast ist. Spezialisiert auf Achtundsechzig und Arno Schmidt.
Ich sah ihn an, intensiv, ja ich fixierte ihn. Damit hat er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, mit seinem Vorleben konfrontiert zu werden.
Er hatte an unserem Vierertisch die Schmidt-Lektüre eingeführt. Auch der Jurist, der außer der Zeitung und seinen Kompendien kaum etwas las, hatte sich »Kühe in Halbtrauer« geliehen. Falkner und ich hatten das Buch gekauft, natürlich Hardcover.
Und der Streit zwischen Falkner und ihm, dem Mathematicus, darum sein Spitzname Euler, über die Bedeutung von Arno Schmidt war der Cantus firmus in den Tischgesprächen, die sonst über Gott und die Welt gingen, Hochpolitisches und ganz Alltägliches.“
Schnell gelesen schnell vergessen. Müsste der Schriftsteller nicht in schneller Folge Bücher veröffentlichen, könnte man die vielen Episoden des Erlebens in einem größeren Werk bündeln, der Faden würde sich finden lassen. Aber für das Alterswerk ist es noch zu früh.
2011 135 Seiten
Leseprobe des KiWi-Verlags
(auch als pdf – mit dem roten Käfer-Cabrio-Cover)
Lesung und Gespräch mit Uwe Timm (BR2-radioTexte) 30 Minuten
Michael Kleeberg: Barfuß
Eigentlich die klassische Novelle. Dicht, sprachfertig, das unerhörte Ereignis, die entblößten Füße als Doppelsymbol von Freiheit und Schutzlosigkeit, alles da. Kleeberg modernisiert das Personal, sein Protagonist Arthur K., meist K. genannt, ist Mitinhaber einer florierenden Pariser Werbeagentur, das Ereignis, das sein Leben auf den Kopf stellt, bedient sich zum Eintritt moderner Technologie, hier dem „Minitel“, einem französischen Vorläufer des Internets, und das Thema ist Masochismus. Lediglich die Sprache bleibt die der Novelle des 19. Jahrhunderts, einerseits angenehm und schön zu lesen, andererseits bemüht verstaubt, in verkrampftem Kontrast zum Sujet.
Schauder überlief ihn. Am nächsten Tag war für 15 Uhr ein Treffen bei einem Kunden anberaumt, das voraussichtlich den ganzen Nachmittag in Anspruch nehmen würde. Als K. dort ankam, teilte die Sekretärin ihm unter einem Schwall von Entschuldigungen mit, sein Gesprächspartner habe kurzfristig ein wichtiges Meeting wahrnehmen müssen und nicht einmal mehr Zeit gehabt, die Agentur zu benachrichtigen, bevor K. unterwegs war. Natürlich würde der ausgefallene Nachmittag entlohnt. K. sah aus dem Fenster im 19. Stock über das dunstige Paris im Sonnenglast hin und hatte Mühe, seine Euphorie zu verbergen. Freiheit! Das sengende Glück betäubte sein Hirn, und er hatte nur einen Gedanken: Hinaus in die Straßen, schweifen, anonym, unbekannt, einen gestohlenen freien halben Tag lang, da niemand ihn suchte, niemand ihn kannte, ledig aller Bindungen in der Stadt untertauchen, hinaus durch den Spalt, der plötzlich klaffte in der Wand zwischen ihm in seinem engen Anzug und der staubig schwitzenden lebendigen Stadt. Als er den Wagen in einer Tiefgarage beim Louvre geparkt, Schuhe und Strümpfe abgestreift hatte und barfuß auf dem öligen Betonboden stand, war er ein anderer geworden. Einen Moment verwundert, hielt er inne: Dies war also, was er tat, wenn er nicht nachdachte, sondern die Zügel schießen ließ – er folgte einer Kraft, die ihn direkt anzog. Er fühlte sich auf einem dünnen Seil der Unschuld balancieren, Freiheit ist immer nur ein Weg, nie ein Ziel, keinen Gedanken jetzt daran, wohin sie führen sollte, es galt, sie dauern zu lassen. Wenn man träumt, daß man träumt, steht man kurz vorm Erwachen, aber manchmal war es möglich, einen angenehmen Traum per träumerischem Willensakt zu verlängern. Er stieg hinauf ins Licht und merkte an der Art, wie seine Füße den Boden berührten, voll abrollend, daß er sich nicht peinlich war.
Peinlich wird die Novelle mit ihrem elaborierten Geschwafel über die Möglichkeiten, durch extreme Unterwerfung zur einzig möglichen Form von „Freiheit“ zu gelangen, durch ihre Steigerung bis hin zu pseudoreliösen Exzessen, zur nervenden Fetischisierung der baren Füße, durch den konstruierten Kontrast zwischen als öde und sinnleer empfundenen Berufs- und Familienwelt K.s und seiner neurotischen Enthemmung bei seinem Peiniger.
„Barfuß“ kann man als interessante und bedacht komponierte Neuinszenierung der Gattung lesen. Harald Jähner bezeichnete in der FAZ die Novelle ziemlich verärgert als „ausgesprochen halbseidene […] ermüdende Farce des verspießten Glücks“. Das habe ich beim Lesen zunächst nicht ganz so arg empfunden, vor allem weil die patinierten Sätze doch erfreuen. Aber rückblickend kann ich Jähners Verdikt doch verstehen.
1995 150 Seiten
Gut gefallen haben mir einige der Geschichten aus Kleebergs „Der Kommunist vom Montmartre“ (1967)
Maximilian Steinbeis: Schwarzes Wasser
Die Haustür steht halb offen. Im Widerglanz schimmern auf dem Steinfußboden unzählige verschiedene Sohlenabdrücke, in verwirrendem Durcheinander sieht man die Menschenmasse sich über das Haus ergießen und wieder herausströmen, gerafft in einen einzigen geräuschlosen Augenblick. In der Ecke liegt eine aufgeplatzte Chipstute auf dem Boden und glänzt rotmetallisch. Auf dem Fensterbrett neben der Tür drängeln sich die Bierflaschen, aber sie erinnern sich nicht, daß sie je mit Geklirr aneinandergeschlagen sind und im Licht des Stroboskops aufgeblitzt haben, so weit ist das weg und so lange ist das her. In einigen von ihnen stehen Bierreste wie starre Wassersäulen, und auf mancher Oberfläche sieht man in der grünen Schwärze eine mausetote Zigarettenkippe schwimmen. In einer anderen Welt, in der es eine Zeit gibt, war der Stuhl neben der Garderobe einst unter einem großen Haufen Jacken und Mäntel begraben, aber nicht in dieser: Eine verschossene Jeansjacke liegt über der Lehne, die niemand vermißt. Sonst nichts.
So enden Partys. Diese hier war die Fete zu Elisabeths zwanzigstem Geburtstag, für die sie ihre Entjungferung eingeplant hatte. Man erfährt nur nebenbei, ob’s heut’ passiert ist und wenn ja, mit wem, denn Steinbeis nimmt das recht gewöhnliche Fest als Stoff für seine Erzähl-Etuden. Man könnte es Novelle nennen, was er da zusammenstellt, denn in die – für den Leser – eher belanglose Feier schiebt er die Lebens- und Liebeserzählung des steinalten Wolodja, des Großvaters des gleichnamigen Freundes von Elisabeth. Der junge W. hat wenig Interesse an Frauen, der alte stellt sich als Verführer an den schwarzen Wassern dar. Das ist schon reizvoll, die ironische Melancholie des Greises inmitten des Party-Chaos-Gedröhnes im selben Haus. „Die Anmut der wie aus einem fernen Jahrhundert daherkommenden Binnenerzählung, (…) die ruhigen Momente des Innehalten und der visuellen Prägnanz zeigen einen Erzähler, der Begehren und Rede kunstvoll verflicht.“ (Andrea Gnam in der NZZ). Altmeisterlich an Zeitgeistern vorbei geschrieben.
2003 140 Seiten
Bis auf ein paar Seiten bietet Google-Books den Text im Internet an. Ich weiß nicht, ob das gut ist.
Matthias Politycki: Jenseitsnovelle
Hinrich Schepp kommt nach Hause, wo es seltsam riecht, und er macht eine irritierende Entdeckung auf seinem Schreibtischsessel: das unerhörte Ereignis.
Jedenfalls waren es keine verfaulten Blumenstengel gewesen, die er beim Eintreten gerochen hatte, das stand nun fest. Schepp stützte sich mit den Armen auf und blickte Doro in das, was er von ihren Augen noch sehen konnte; ihr die Lider zu schließen, wagte er nicht. Wie lang sie hier wohl schon saß und auf ihn wartete und tot war? Er tastete nach ihrem Puls, mehrmals mußte er ansetzen, weil er sich so vor der Kälte ihres Handgelenks erschrak, daß er sofort zurückzuckte; er war sich ohnehin sicher, daß es hier nichts mehr zu spüren gab. Ob man trotzdem einen Arzt holen sollte, holen mußte?
Der Blick fuhr ihm übers Parkett davon und in die große Leere, er sah sich am Totenbett seiner Mutter, wie er reglos stand, weil er es schier nicht vermochte, sie zum Abschied zu berühren, sah sich, wie er ihr schließlich wortlos die Hand auf die Stirn legte – und unvermittelt wieder in der eichenholzharten Gegenwart des Schreibtischs, auf dem tatsächlich eines seiner Manuskripte zu liegen schien. Offenbar hatte Doro daran korrigiert und, wie gewohnt, eine kurze Nachbemerkung dazu geschrieben.
Das Manuskript “Marek, der Säufer” ist ein weggelegt geglaubter Romananfang Schepps, des kauzigen alten Sinologen, und die Rand- und Nachbemerkungen setzen ein Wechselspiel in Gang zwischen fiktiver Handlung des Romans in der Novelle und dem Novellenpersonal, Schepp und seiner Frau Doro und einer rätselhaft faszinierenden Polin Dana.
Schepp, bis gestern ein Glatzeüberkämmer alten Schlages, zwischen Melancholie und Größenwahn still schwankend, nun rasierte er sich den Schädel kahl, wählte buntere Einstecktücher, ein kräftigeres Rasierwasser, verlieh sich mit der einen oder anderen spitzfindigen Bemerkung eine Wichtigkeit, die ihm mit Gelächter belohnt wurde, oh, er war seiner Vernunft so überdrüssig geworden. Kaum forschte er noch, bald publizierte er überhaupt nicht mehr; in das respektvolle Mitleid, mit dem man ihn bislang am Lehrstuhl behandelt, mischte sich da und dort ein leiser Spott, einmal bekam er mit, wie man sich über ihn als »Professor Unrat« lustig machte. Was wußten Doktoranden denn schon. Im übrigen bot er zum ersten Mal einen Einführungskurs in das »I Ging« an, sehr zur Verwunderung von Doro, die er im Grunde nurmehr nachmittags traf, zur Teestunde.
So hätte das wahrscheinlich ewig weitergehen können. Und dann tauchte sie doch wieder auf, die Frau, an die er tagtäglich voll schaudernder Bewunderung dachte, Schepp hatte längst nicht mehr damit gerechnet. Als er eines Abends das La Pfiff betrat, wäre er fast in sie hineingestolpert, kein Zweifel möglich; mit ihrem Schriftzeichen am Hals war sie unmißverständlich gebrandmarkt. Noch dazu für einen Sinologen, die Sache war eben doch kein Zufall, sondern von der langen Hand des Schicksals für ihn arrangiert, für ihn, der als einziger die Zeichen zu lesen wußte.
Das Zeichen, das Dingsymbol, das zwischen den beiden Fiktionalebenen vermittelt, ist das Kan, „das Abgründige“, das endlose Meer, das zwischen dem La Pfiff und dem Jenseits liegt, das man gemeinsam zu durchschwimmen sich versprochen hat. Dana trägt es als Tattoo am Hals, Doro hätte es begreifen können. Doch es kommt ganz anders.
Die „Jenseitsnovelle“ ist ein Spiel mit Stilen, mit Fiktionen, mit Leben und Tod. Im Ernst des Alterns und Sterbens liegen die seichten Abgründe der trivialen Tresenexistenzen.
Die „deutliche und überdeutliche Symbolik wird trickreich und mit postmoderner Ironie dargeboten“. (Richard Kämmerlings in der FAZ) Das heißt natürlich auch, dass weder die Novelle noch ihre Personen ernst genommen werden können. Dennoch kurzweilig – auch weil kurz.
2009 – 125 Seiten
Martin Walser: Mein Jenseits
Als einer, der nördlich der Donau zu Hause ist, fällt es mir nicht ganz leicht, mich in die bodenstämmige Metaphysik des Oberschwaben einzudenken.
Augustin Feinlein ist der Prototyp des (Walserschen) Losers, zumindest verortet er sich als solcher. Er kann nicht segeln, nicht tanzen, will diese oberflächlichen Bewegungsdinge auch gar nicht, aber er verliert darüber und deshalb auch sein Einziges: seine Eva (!) Maria (!). Und zwar verliert er sie, über den Umweg eines Bergsteigers, an seinen designierten beruflichen Nachfolger, den deutlich jüngeren, deutlich größeren und deutlich alerteren Dr. Bruder(!)hofer, den Tänzer und Segler.
Man kennt die Antagonisten aus dem „Fliehenden Pferd“. Helmut Halm, der „Versager“, und Klaus Buch, der zupackende Prätendent, beharken sich fast bis zum Untergang. Auch hier geht’s ums Segeln, ums Leben, um die Frau. Auch Dr. Bruderhofer, Walsers diesmalige andere Seite, „segelt jedes Jahr mit Eva Maria an dieser türkischen Küste auf und ab, ohne dass er weiß, an was er vorbeisegelt“, an den Stätten frühen Christentums nämlich, dem, was zählt im Leben – für Feinlein.
Augustin Feinlein ist ein Unmoderner, ein Übriggebliebener (lat. reliquus). Das macht ihn nicht unsympathisch. Er stemmt sich mit seinen geringen Kräften gegen die Zumutungen technischer Oberflächlichkeit, gegen Dr. Bruderhofer, den er hassen möchte, den er nicht hassen kann, denn es wäre projizierter Selbsthass. Feinlein sucht sich seine Refugien in der Vergangenheit. Er fliegt nach Rom, um sich dort – allein – in der Kirche Sant’ Agostino Caravaggios Madonna dei Pellegrini anzusehen mit den dörflich erdigen Fußsohlen des Pilgerpaares. Rom, das alte, „mein Jenseits“. Er weigert sich, in den modernen Trakt seiner Klinik umzuziehen. Und er klaut das Reliquiar, das Überbleibsel der ländlichen Religiosität. „Kurze Zeit war ich ein Sieger.“ „Wenn das Kreuz bei mir hätte bleiben können, hätte Dr. Bruderhofer keine Chance gehabt, mich zu vernichten.“
Wenn einer im Leben nicht kriegt, was er haben hätte wollen, wenn einer noch dazu so alt geworden ist, dass er es auch nicht mehr bekommen wird und sogar das, was er noch hat, seinen Beruf, abgeben muss, auch das an seinen persönlichen Widersacher, so sucht er sich Ersatz. Wo? Im Glauben. Oder: Er wird „allmählich komisch“, hält sich an seine „Mödelen“, seine „Skurrilitäten“.
So einfach ist es nicht. Denn Augustin Feinlein ist Wisenschaftler, er glaubt nicht. Er forscht und durchschaut. Und wenn man weiß, dann muss und kann man nicht glauben. Schade. Aber: „Dass der Glauben die Welt schöner macht, als das Wissen, stimmt doch.“ Das ist Beschwörung, Selbstbeschwörung. „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst, wenn mir das gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt.“ In dieser Welt. Aber der Wunsch steht im Konjunktiv. Meersburger Inkantationen: Mein Jenseits als Aphorismus:
Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.
Es ist schön, etwas zu glauben. Auch wenn’s nie für lange gelingt. Manchmal nur eine Sekunde, und weniger als eine Sekunde. Aber eine Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Verzweiflung nicht zu hoch bezahlt. Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon.
Die Weisheiten des Altersnarren. „Und so redet er dahin und redet immer mehr, bis, schon lange vor dem redseligen Schluss, jedem Leser überdeutlich ist, dass das Reden die Form der Glaubenssuche ist, die einzige, die dem Helden und wohl auch seinem Autor zur Verfügung steht.“ (Thomas Steinfeld in der SZ)
Der Oberschwabe als Reliquie. Eine Novelle mit Abschweifungen, aber doch zentriert, zurückhaltend und zugleich aufdringlich. Auch sprachlich.
Abschließend noch ein paar Gedanken aus Walsers Metaphysik:
Ich weiß, dass es den Himmel nicht gibt. Aber es gibt das Wort mit allem Drum und Dran. Genau so die Hölle. Natürlich gibt es sie nicht. Aber wir haben sie geerbt. Himmel und Hölle. Innen sind wir ausgestattet mit Himmel und Hölle und mit allem dazwischen. Himmel und Hölle existieren, ohne dass wir daran glauben. So das meiste. Es existiert, ohne dass wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran. Ganz von selbst. Unwillkürlich. Wenn es den Himmel gäbe, könnten wir nicht daran glauben. Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben. Aber dieses Nichtglauben unterscheidet sich kein bisschen vom Glauben. Das ist EINE Art von Gefühl oder Existenz. Immer unterschieden vom Wissen.
So ähnlich sagt das Papa Benedetto auch. Lasst sie doch dran glauben.
Michael Köhlmeier:
Idylle mit ertrinkendem Hund
Was will Köhlmeier erzählen? Er will von seiner Tochter Paula erzählen, die 2003 mit 21 Jahren gestorben ist, verunglückt bei einer Wanderung in Hohenems.
Darüber aber gibt es nichts zu erzählen. Die Familie war beim Unfall nicht dabei, man hat die Todesnachricht von der Polizei. Es bleibt die Trauer der Zurückgebliebenen. Die aber ist sehr privat, lässt einen nicht los, wie üblich wird aber nicht das Schicksal der Tochter betrauert, der man ein „atemberaubendes Talent“ (Verlagswerbung) zuschreibt, deren kurzes Leben man verklärt, sondern der eigene Schicksalsschlag. Man kann die Trauer in die Natur hinaustragen, man kann heulen, ein Schriftsteller weiß, dass er darüber schreiben muss, auch um diese Trauer zu verarbeiten. Dann aber wird der Fall öffentlich, man wird zum Lesen gebeten.
Die Unfähigkeit über die Trauer zu schreiben, steht im Mittelpunkt der Novelle. Kursiv herausgehoben. Da der Erzähler niemand findet, dem er seine Trauer mitteilen kann, erfindet er seinen Lektor, doch auch dieser interessiert sich dafür nicht, gibt am Ende sogar sein Lektorat ab. Also bleibt der Dialog als Selbstgespräch.
Hier ein Gespräch, wie ich es gern mit ihm geführt hätte (Sturm, Nacht, Heide, eine Hütte, Lear und sein Narr):
»Wie kann ich über den Tod unserer Tochter schreiben?«
»Willst du denn darüber schreiben?« »Das möchte ich, ja.«
»Ich denke, ich weiß, wo das Problem liegt. Du bist dir nicht sicher, ob du Literatur machen willst oder bloße Erinnerung, hab ich recht?«
»Ich will, dass sie bei mir ist. Und ich habe die Hoffnung, dass sie näher bei mir ist, wenn ich über sie schreibe. «
»Ich bin überzeugt, dass es so ist. Aber wenn du über sie schreibst, ist es Literatur, und dann kommen Überlegungen ins Spiel, die deinen Wünschen und Hoffnungen Zügel anlegen und sie womöglich sogar zurechtbiegen wollen, weil Dramaturgie nötig ist, damit eine Erzählung daraus wird. Wäre das nicht wie ein Verrat?«
Das geht noch eine Weile weiter so. Am Ende des fingierten Gesprächs sagt der fiktive Lektor – wie erwünscht:
“Aber auch darüber würdet ihr schreiben müssen.” Ihr, das sind Köhlmeier und seine Frau Monika, die Erzähler-identen Hauptpersonen.
Wenn man als Schriftsteller von etwas nicht erzählen kann, muss man etwas anderes erzählen. Eine Rahmenhandlung wird gebraucht. Der Lektor reist an, ein etwas seltsamer Mensch, den man – lang wirds geschildert – endlich duzt, um ihn sympathischer und zum netten Familienbesuch werden zu lassen, der gern im Wintergartendschungel der Köhlmeiers sitzt (Idylle). Dieser Lektor, Dr. Beer, geht, wie die Köhlmeiers, auch gern spazieren und begegnet dabei einem herrenlosen Hund (Pudel/Falke), der ihn, zunächst gegen seinen Willen, begleitet. Dr. Beer erzählt die Hundestory mehrfach, weil der Hund die nächste Aufgabe übernehmen soll. Er verunglückt (Schicksal). Er bricht ins Eis ein, Köhlmeier kann ihn retten. Böse gesagt: Er schafft hier stellvertretend, was ihm bei seiner Tochter nicht gelang.
Im Krankenhaus verabschiedet er sich von Dr. Beer.
“Was soll ich damit anfangen?”, fragte ich.
“Womit?”
“Mit dieser Geschichte.”
Die Geschichte “Wie ich einmal einen Hund rettete” ist packend erzählt. Aber wäre sie ohne den Tod der Tochter des Erzählens wert? Trägt der Rahmen die Handlung allein? Ich halte die Novelle für zu konstruiert, zu bemüht, zu inkonhärent.
Oder, wenn ich mich täusche: „Klüger und tröstlicher und zugleich raffinierter kann man über einen Schicksalsschlag und das, was man seine „Verarbeitung” nennt, kaum schreiben.“ (Christoph Bartmann in der SZ). Oder Thomas Lohnes in der Zeit: „Eine Art Miniatur ist dabei entstanden, ein verstörend schönes Bild über den Verlust. Es ist der Versuch, die tote Tochter mit Worten aufzufangen. Der Versuch, einen Hund zu retten und die eigene Trauer, nein, nicht zu verarbeiten, aber in einem unvergesslichen Buch zu erzählen.“
Mutter Monika „hat eine Erzählung über sie (Paula) geschrieben“. Fühlt sich Vater Michael in der Pflicht, auch öffentlich trauern zu müssen? „Spazierengehen stabilisiert uns einigermaßen.“ Auch von Friedhofsbesuchen und Beruhigungsmitteln ist die Rede, vom Trost der Musik. Und von der allabendlichen Hoffnung, dass die verlorene Tochter wenigstens im Traum zurückkehren möge. Lasst sie doch in Frieden!
2008 – 110 Seiten
Martin Halter in der FAZ über Paula Köhlmeiers Erzählungen unter dem Titel „Maramba“: „Lauter vergebliche Aufbrüche, unerfüllte Hoffnungen, alltägliche Tragödien. Was ihre Figuren sich zu sagen haben, dauert eine Zigarette, und die Liebe hält auch selten länger. (…) Man redet aneinander vorbei, wird betrogen, verlassen oder geht selbst wortlos weg“. Auch wenn ihm manches „unfertig“ und auch „unreif“ erscheint und trotz einiger sprachlicher Ausrutscher – Köhlmeiers Blick sei „immer unsentimental und genau, ihre Sprache lakonisch hart und kühl.“ Stimmt. Aber leider steht bei den „Maramba“-Rezensionen immer dabei: unerfüllte Hoffnungen. Das macht die oft guten Geschichten nicht besser.
Ganz am Rand erwähnt Michael Köhlmeier Besuche im Jüdischen Museum von Hohenems. Mehr Interessantes dazu auf der Homepage.
Henning Boëtius: Tod in Weimar
Siegmund von Arnim (18), der Sohn von Bettina von Arnim, besucht im März 1832 den alten Goethe (82) und ist damit dessen letzter Gast. Das ist verbürgt.
Goethe stirbt am 22. März 1832; auch daran ist nicht zu zweifeln.
Henning Boëtius denkt sich da einen Zusammenhang. Könnte der Besuch des Jungen nicht Ursache für den Tod des Alten sein? Weit hergeholt? Wurscht.
Boëtius beschreibt detaillliert und intim den verschrumpelnden Goethe. So genau will man das eigentlich gar nicht sehen. Aber Boëtius’ Goethe stellt sich dieser Schmach:
Wie schal steht es angesichts dieser Fakten um die dumme Forderung der Humanisten, ein schöner Geist gehöre in einen schönen Körper! Wollte er sie erfüllen, dann hätte er in seinem Kopf sämtliche Ideale und erhabenen Gedanken mit billigen Zoten, grauenhaften Lügen und lächerlichen Vorurteilen zu vertauschen. Nein, in einem häßlichen Körper kann der Geist durchaus noch eine bescheidene Ansehnlichkeit wahren. Davon ist jedenfalls angesichts dieses Leibes auszugehen, von dem er wünschte, es sei nicht sein eigener, sondern der eines toten Bettlers in der Anatomie.
Er wäscht diesen Körper wie schon lange nicht mehr, denn er will mit dem Jüngling eine Kutschfahrt durch Weimar zu seinem Gartenhaus machen. Annäherungen deuten sich an, lassen sich nicht vermeiden, werden durch Rumpelwege dichter.
Sie stehen vor dem Glücksstein. Ein großer Steinquader, auf dem eine Steinkugel ruht. »Agathe Tyche. Fortuna. Die Göttin des Glücks und des Zufalls. Zumeist wird sie als Frau mit dem Füllhorn, dem Steuerruder und dem Rad dargestellt. Dies hier ist meine Version. Der Würfel und die Kugel, begreifen Sie? Es ist die das ganze Dasein durchdringende Dualität: Das Beharrende und die Bewegung, beide müssen sie sich vereinigen. Dort, wo die Kugel den Quader berührt, entwickelt sich eine unvorstellbare Kraft der Vereinigung der Gegensätze. Was ist unser Schicksal anderes als die Wirkung, die diese Kraft erzeugt!«
Eine „Vereinigung“ Goethes mit Siegmund ist nicht verbürgt. Boëtius versucht deren Plausibilität zu erklären. Er bemüht dazu Goethes Vorliebe für „schöne Jünglinge“ und „Frauen im Leib eines Knaben“ und er (er)findet einen Grund für Siegmunds Besuch: Dessen Mutter, Bettine von Arnim, hatte sich vor Jahrzehnten Goethe nicht nur an den Hals geschmissen und will jetzt ihre Liebesbriefe zurück, um sie vermarkten zu können – und Bettines Mutter Maximiliane bezeichnet Boëtius als Goethes „einzige große Liebe“, die ihm „wie ein androgyner Engel“ vorgekommen war.
Die Novelle ist ein Spiel mit Anspielungen, interessant vielleicht nur, wenn man etwas von Goethe weiß oder wissen will – über den greisen Goethe zwischen Verkalkung und Selbstglorifizierung – oder über seine Variationen über die Dualität der Geschlechter.
Natürlich erinnert der Titel an den „Tod in Venedig“. Auch hier erlebt der Alte eine letzte Amour fou, bei der er sich den Tod holt. Auch hier weiß der Alte so viel, dass er bildungsbürgerlich erklären, umschwurbeln und verdrängen kann. Auch hier verspielte Fiktion. Aber Weimar ist nicht Venedig.
1999 115 Seiten mit Illustrationenen von Johannes Grützke