Nachrichten vom Höllenhund


Rossbacher
25. November 2022, 17:07
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Verena Rossbaccher:
Mon Chéri und unsere demolierten Seelen 

»Ihnen gefällt meine Frisur?«
»Ja. Ich wusste allerdings nicht, dass es ein Dutt sein soll, ich fand gerade gut, dass Sie, wo heutzutage jeder einen Dutt trägt, keinen Dutt tragen. Es war eine Frisur ohne Namen, das fand ich gut.«
»Und jetzt, wo Sie wissen, dass es ein Dutt sein soll, finden Sie sie plötzlich nicht mehr so gut?«
»Das kann ich so nicht sagen. Da es nicht auch nur im Entferntesten an einen Dutt erinnert, hat sich an meiner Sicht auf die Dinge nicht viel verändert.«
»Ach so.« Ich schwieg.

In Verena Rossbachers „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ geht es um viele Nebensächlichkeiten. Aber ist das Leben nicht die Summe einer Unsumme solcher scheinbaren Marginalien: verbrannte Croissants, Ukulelen, Hochleistungsmixer, Schnittlauchsträhnen, Familienaufstellungen, Schokoriegel, der Heimlichgriff, Esoterikpraktiken, Chräbelis und ein Chäslädeli, Handke und der „Dutt“. Und Leonard Cohen. All diese Dinge und viele mehr tauchen immer wieder auf und das ist ein Strukturmerkmal dieses lebensklugen Romans. Ausnahme: „Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen.

Charly Benz ist 43 und hat es bis jetzt nicht geschafft, Ordnung in diese kleinen Dinge zu bringen, ihr Leben zu strukturieren, das meiste gelingt nicht wie geplant bzw. es fehlt ihr ein Plan. „Ich versuchte, die verschiedenen Teile zusammenzusetzen, aber ich konnte es nicht. Es war nur eine Ahnung, wie alles miteinander zusammenhing, nichts, was ich denken konnte. Ahnungen sind nichts, was man denken kann.“ Selbstoptimierung ist etwas anderes. Charly Benz tappert durch ihr Leben und lässt die Leserin hautnah teilhaben. Vieles kennt man und freut sich, es so treffend und amüsant aufgeschrieben zu sehen. So die Haushaltsführungsprobleme eines Lebens, wie es Charly „durchsingelt“: „Alle nahmen sich vor, am Abend was Schönes zu kochen. Entweder sie schafften es nicht, was einzukaufen, oder sie waren doch wieder zu spät dran oder es war dann einfach nicht schön, weil nicht schmackhaft.

   Nach zwei Kursen Kochen für Singles wusste ich haargenau, in welchen Mengen man einkaufen musste (Obst und Gemüse stückweise, Reis und Nudeln im Großgebinde) und welche Lebensmittel man vermeiden sollte, da sie von Einzelpersonen nicht schnell genug aufgebraucht werden konnten (feine, kalt gepresste Öle, Tomatenmark im Glas), ich war mir im Klaren darüber, dass Planung das A und O eines glücklichen Ein-Personen-Haushalts war, ich kannte alle Tricks für die, die einem stressigen Job nachgingen (vorbereiten und vorkochen, damit man unter der Woche immer was zum Aufwärmen zu Hause hatte), ich war, was die Singleküche anging, ein Profi und als Profi wusste ich eines nur zu gut: Es war nicht schön.“ „»Und ich denke«, sagte ich, »ich kann damit für meine gesamte Generation sprechen.«“ „Kochen lassen, bis das Wasser nicht mehr zu sehen ist.“

Charly Benz ist eine in ihrem und durch ihr Scheitern sympathische Hauptperson, die das Glück hat, selbst erzählen und ihre Sicht auf sich und die Welt in Frage stellen zu dürfen. Sie erinnert sich an vieles, auch Produktnamen, betreibt Trend-Dropping“, berichtet meist im Detail, wendet sich immer wieder an die Leserin und schon hat sie eine(n) für sich gewonnen. Verena Roßbacher stellt ihr auch einen romaninternen Gesprächspartner zur Seite: Herrn Herbert Schabowski, „einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell „PostEngel“ erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ). „»Ach, Herr Schabowski.«   »Ja, Frau Benz.“ Sie siezen sich bis zum Ende.

Der Roman verliert im zweiten Teil – vorübergehend – das Heiter-Depressive. Es geht um Leben und Tod und nichts weniger. Schabowski erkrankt an Krebs, Charly erbt ein Hotel in Bad Gastein und empfängt ein Kind. Ein „Wutzi“, für das drei Männer als Vater in Frage kommen.

Weihnachten ohne Hunde ist gar kein Weihnachten. Ohne Hunde, ohne Kinder und auch sonst ohne irgendwen, so sollte Weihnachten, das Fest der Liebe, auf keinen Fall sein, und dann lud ich alle ein. Und mit alle meine ich: wirklich alle.
  Schabowski und das Triumvirat, bestehend aus Quandt, Gabler und Dragaschnig — gut, das verstand sich fast von selbst, irgendwie waren wir ja fast eine Familie, Schabowski als väterlicher Freund, die anderen als befreundete Väter.
   Dazu lud ich aber — wie ich fand, ganz schön progressiv und auch innovativ —, haltet euch fest, Georg mit den Hundekindern Anduin und Almina und den hotten Tanguero ein. Er hieß Bernhard, wie ich bei der heimlichen Durchsicht von Sybilles Telefon erfahren hatte — Bernhard, völlig unpassend natürlich für einen Tango-Latin Lover.
  Vielleicht wird jetzt jemand einwenden, dass ich damit das Risiko in Kauf nahm, dass die Stimmung   irgendwann   kippte, aber ich kann mit gutem Gewissen berichten: Bis Sybille den Abend    sozusagen mit dem Arsch einriss, war er ein voller Erfolg.

Charly Benz erzählt die Geschichte(n) geschrieben wie gesprochen. Das schafft Nähe, Glaubwürdigkeit und Vertrautheit. Das verleitet auch zum Plaudern, zum Abschweifen, zum Werben um, „keine Ahnung“, Sympathie, „Dings“, Empathie. Der Roman wird 500 Seiten lang. Zu ausführlich beschäftigt sich die Ansprache – m.E. – mit den Methoden und der Bedeutung von esoterischen Systemen und yogatischen Techniken. Durchaus ambivalent, weil Charly Benz ja von Grund auf ironische Skeptikerin ist, sich angesichts segensreicher Wirkungen in harter Zeit – Geburt und Tod – zu einer wohlwollenderen Betrachtung bekennt. Die Frage, wer oder was die „Seelen demoliert“, verfließt in elegisches Wohlgefühl. „Face the Fear“.

Ich holte ein frisches Taschentuch aus der Packung und putzte mir die Nase. Wenn etwas eine Einbahnstraße ist, dann ist es schwer. Wenn man bei einer Geburt nicht mehr zurückkann, wenn es beim Sterben kein Zurück mehr gibt.  Wenn man das, was einem bevorsteht, nur noch akzeptieren kann, das ist für Menschen so schwer.

Über den Gipfeln ging die Sonne auf, kräftig und zart zugleich, jeden Tag, immer wieder wie ein Wunder nach einer langen Nacht. Es war der 26. September, die Hagebutten färbten sich rot, die Brombeeren schwarz, als Herr Schabowski, mein PostEngel, mein Freund, mein   Schabowski, aufhörte zu atmen und hinüberging in eine ungewisse Zukunft.

„Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans.“ (Kristina Maidt-Zinke) Es fehlt noch die Playlist für die besten Abspannsongs:

Ich habe festgestellt«, sagte er, als er die Hörer abnahm, »dass es so eine Art geheimes Genre gibt, nämlich die Songs am Ende eines Films. Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass die letzten Stücke oft die besten sind im ganzen Film? Und sie beeinflussen die Stimmung, mit der man aus dem Kino geht, den Film ausmacht.«
Er schwieg, ich überlegte, mir fiel so spontan kein Song ein.
   Als läse er meine Gedanken, sagte er: »Queen Bee von Johnny Flynn, bei der Neuverfilmung von Emma.«
  »Jesus, ja«, sagte ich, ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch bei Hänse zu Hause, unser Duell mit den Laserschwertern, ich merkte, wie ich ein wenig rot wurde, »Queen Bee! Ein Hammerstück!«
  »Get Well Soon, Oh Boy. Where do you go to my lovely, Darjeeling Limited. Boccherini, Master and Commander, die Bearbeitung für Cello und Geige. Wonderful life, Der Vorname — das ist ein bisschen geschummelt, es ist nicht das Lied vom Abspann, aber das letzte Stück des Films. Chapel of love, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, If you want to sing out, Harold and Maude, Du hast den Farbfilm vergessen, Sonnenallee, Sound of Silence, bei —«
   Ich lachte. »Haben Sie eine Playlist der Abspannsongs lustiger Filme gemacht?«
  »Richtig, Frau Benz. Fast alle Filme, die wir zusammen geschaut haben, enden mit einem Stück, das mich froh macht und zuversichtlich. Das ist merkwürdig, nicht? Dass ich zuversichtlich bin, obwohl es zu Ende geht.«
   »Das klingt gut«, sagte ich. Ich dachte ein wenig nach. Musik war sowieso rätselhaft. Ich meine, erinnern Sie sich, vor Weihnachten war ich mir noch so sicher, dass diese magic songs sozusagen jeden Mann fällten, der mir über den Weg lief, oder besser gesagt: mich fällten, aber tatsächlich funktionierte das irgendwie nicht mehr.  (…) Ich war natürlich einerseits froh, weil noch mehr Männer konnte ich einfach nicht unterbringen in meinem vollen Alltag, aber andererseits war ich auch ein wenig enttäuscht.

„Lustige Frauen, das lernen wir mit Verena Roßbacher, sind einfach unwiderstehlich!“ (Buchpreis Österreich 2022) Gilt das auch für Männer, die das Buch lesen? Spricht Verena Roßbacher nicht nur für die Generation, sondern auch für den Mann? Die frühe Charly Benz würde empfehlen, zum Lesen eine Flasche Wein zu trinken.

P.S.

Ich las ein Buch, Inhalt: egal, irgendwas mit Männern und Frauen und melancholischen   Verstimmungen, und sehnte mich nach einer Zigarette und — whoppa! — plötzlich lief It’s all over now, Baby Blue in der absoluten Hammerversion von Them.  Und klar, damit wir uns hier nicht missverstehen, auch ich finde, Bob Dylan ist der King und Them sind im Vergleich dazu ein paar unbedarfte Lakaien, gerade gut genug, sein Silber zu putzen, aber, ehrlich, bei Baby Blue haben sie einfach die Nase vorn. Haben Sie es im Kopf?

2022 – 505 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Geistesblüten“: Verena Roßbacher zu ihrem Roman »Mon Chéri und unsere demolierten Seelen« (45 Minuten)

Verena Roßbacher gewann mit „Mon Chérie“ den Österreichischen Buchpreis 2022.
„Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ erzählt eine Geschichte vom Loslassen. Zwischendrin gibt es Slapstick vom Feinsten.“

2


Henisch
1. April 2022, 16:52
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Peter Henisch:
Der Jahrhundertroman

Dort oben, an diesem Fenster, sagte er: Musil! … Robert Musil, in einem gestreiften Pyjama.

Da hat der alte Herr Roch den Jahrhundertroman geschrieben. D.h. es geht nicht ums ganze Jahrhundert, sondern um österreichische Poeten, die in den letzten hundert Jahren gewirkt haben. Da kommen schon einige zusammen. Um nicht alle zu nennen: Robert Musil, Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Franz Kafka, Peter Handke, Heimito von Doderer, Christine Nöstlinger, Ernst Jandl, Egon Friedell, Karl Kraus, Ödön von Horváth, Lili Grün, Joseph Roth. Herr Roch hat aber nicht so sehr die Literatur interessiert, sondern das Leben der Dichter, und darüber hat er Anekdoten verfasst.

Da der Herr Roch nicht mehr gut sieht und seit einem Schlaganfall auch nicht mehr so beweglich ist, sucht er nach jemandem, der ihm das Manuskript abtippt. In seinem Stammcafé, dem Café Klee, entdeckt er die junge Studentin Lisa, die dort als Aushilfsbedienung arbeitet. In ihr erkennt er eine verwandte Seele – sie hat auch schon Gedichte verfasst – und bietet ihr 2 € pro Seite, wenn sie den Text in den Laptop tippt. Da Lisa zögert, weil sie die Cafébesitzerin Frau Resch vor dem alten Roch warnt:

Ist der Herr Roch ein Autor? fragte sie die Chefin.
    Der? Ein Autor? –  Hören Sie zu, Lisa: Dieser Herr ist vor allem ein Dampfplauderer!
    Nun schloss ja das eine das andere vielleicht gar nicht aus. Und   Dampfplauderer – das klang ja beinahe harmlos.
    Doch die Frau Resch fügte diesem Urteil noch etwas hinzu:
    Passen Sie auf, Lisa, lassen Sie sich von dem nicht einwickeln!
    Und dann erhob sie ganz ungewohnt laut ihre Stimme: Das wollte ich Ihnen ohnehin schon längst sagen, Lisa, der Herr Roch ist ein Stammgast und es ist gut, wenn Sie angemessen freundlich zu ihm sind, aber es ist besser, wenn Sie dabei eine gewisse Distanz wahren!

Da sie aber das Geld reizt, besucht Lisa den Herrn Roch nach einiger Zeit in seinem ‚Depot’ im 8. Bezirk in der Florianigasse 4a.

Es dauerte eine Weile, bis Roch zur Tür kam. Seine Schritte hörten sich an, als käme er von weit her. Er blinzelte. Haben Sie es sich doch noch überlegt? Das freut mich. Kommen Sie weiter. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?    Und schon hatte er einen ihrer Ärmel ergriffen. Und dann den anderen.  Eher eine Behinderung als eine Hilfe. Aber sie ließ es über sich ergehen. Roch hängte ihren Mantel an einen schon etwas invaliden Thonet-Kleiderständer.    Dann stand er da und wusste ein paar Sekunden lang nicht weiter. Nehmen Sie Platz, sagte er schließlich. Vielleicht setzen Sie sich am besten in den Schaukelstuhl. Draußen regnet es. Sie sind ein bisschen nass geworden, nicht wahr? Warten Sie, ich werde uns ein Kännchen Tee machen.
   Und war schon verschwunden im dunklen Hintergrund. Der Raum war erstaunlich tief und gleichzeitig hoch. Keine flache Decke, sondern ein Gewölbe. Als sie vor der Tür gestanden war, hatte sie diese Dimensionen nicht erwartet.
   Und überall Bücher, Bücher und wieder Bücher … Bücher, die nicht nur in den Regalen standen, die an so gut wie jedem verfügbaren Stück Wand montiert waren, sondern auch in unglaublich hoch getürmten Stößen aus dem Boden wuchsen. Manche dieser Stöße sahen aus, als hätten sie schon längst umfallen müssen. Doch da und dort schien es, als hätte das eine oder andere Buch, das vielleicht gerade noch rechtzeitig hinzugefügt worden war, ein vages Gleichgewicht wiederhergestellt.

Die Dichter sind ja markiert durch eine gewisse Grundgrummeligkeit, manche geben sich auch miesepetrig, viele aber stzen gerne im Kaffeehaus auf eine Melange. Etwa im Bräunerhof, dem Brioni, dem Tirolerhof . Aber das„Hawelka kann er ohnehin nicht leiden … Dort stehen die Tische viel zu distanzlos beisammen … und dazwischen die bittersüßliche Luft … und gewiss sitzen da ein paar drittklassige Autorinnen oder Autoren mit  ihren  Anbeterinnen und  Anbetern,  Figürchen, deren   Selbstbewusstsein an ihre zeitweilige Präsenz  in  diesem  sogenannten   Künstlercafé geknüpft  ist.
    Im  Hawelka  unterschlüpfen? Kommt   nicht in Frage! ..
.“  für Thomas Bernhard.

Und ja, genau, die Ecke, an der dieser junge Mann steht, muss die von Lange Gasse und Josefsgasse sein. Wenn Roch die Augen schließt, sieht er diese Ecke vor sich. Und die andere Ecke, die mit der Trafik, ist wohl die von Lange Gasse und Zeltgasse. Der kleine Platz dazwischen ist noch nicht glatt asphaltiert wie heute, sondern gepflastert, in den Rillen zwischen den Pflastersteinen wächst da und dort Gras und Löwenzahn.
    Und der junge Mann wird die Straße überqueren und die Tabaktrafik betreten. Und wird eine Packung Zigarren kaufen und die Trafikantin wird ihm zulächeln. Und er wird denken:
Ach Gott, diese dürre Gräte, die ist mir zu alt! Aber zurücklächeln wird er trotzdem, denn er ist ein charmanter Mensch.
    Auf Wiedersehen, sagt die Trafikantin und sie betont das Wort Wiedersehen ganz besonders. Ja, ja, denkt Horváth, b’hüt dich Gott, schöne Gegend. Und geht mit großen Schritten an der Fleischerei neben der Trafik vorbei, obwohl da, in der offenen Tür, recht verführerische Würste hängen.

Und da sitzt einer im Zug. Sitzt im Zug und macht sich Notizen in ein kleines, schwarzes Buch. Ein Mann mit fahlen Haarbüscheln auf der Stirn, einem vergilbten Schnauzbart, der die Zahnlosigkeit (maximal drei Zähne) kaum mehr   hinreichend kaschiert. Sieht sein Spiegelbild in der Fensterscheibe, draußen ist Nacht. Sitzt im Speisewagen und schreibt und trinkt.
   Ist am Abend in Paris eingestiegen und wird am Morgen in Wien sein. Mit einem Zug, der durch die Schweiz fährt, nicht durch Deutschland. Längst ist er der letzte Gast im Speisewagen, ein Gast, der nichts isst, sondern nur trinkt und immer noch ein Glas mehr bestellt. (…)
   Ach ja, natürlich, denkt Roch, das ist Joseph Roth. Seine Leber wird nicht mehr lang durchhalten und auch die anderen Organe sind schon recht mitgenommen. Er weiß das, er ist ein Mann, der sich über seine Lebenserwartung keine Illusionen macht. Aber die Mission, in der er nun unterwegs ist, will er noch erfüllen.

… saß auf einer Bank, murmelt er, saß auf einer Bank im Volksgarten … saß auf einer Bank im Volksgarten mit – ach ja: mit aufgestelltem Mantelkragen  … Die Bäume kahl, die Rosenstöcke – was heißt das – verparkt? … Ach so: verpackt. Das heißt, bereits eingewintert.

   Also: … saß auf einer Bank im Volksgarten mit aufgestelltem Mantelkragen. Die Bäume kahl, die Rosenstöcke verpackt. Saß und schaute … Ja klar: … und schaute aufs Burgtheater
Also, das ist doch offensichtlich nicht Musil!
   Nicht?
   Nein, definitiv nicht, sagt Roch. Das ist nicht Musil, Lisa, das ist Thomas Bernhard!    Thomas Bernhard, wie  er zwei Stunden vor der  Uraufführung seines Bühnenstücks  Heldenplatz auf einer kalten Bank im Volksgarten sitzt und sich fragt, ob er Richtung Burgtheater weitergehen oder sich diese voraussichtlich schreckliche Uraufführung lieber ersparen soll. Zweifellos eine interessante Perspektive und sicherlich eine signifikante Passage – aber das werden Sie doch nicht für den Anfang des Romans gehalten haben!

Lisa hat die Blätter durcheinander gebracht, aber das macht nichts, auch Herr Rochs Fantasie wird angeregt, nochmals nachzusinnieren, zu versuchen, die Dichter zu sortieren. Und an Lisa zu denken. Vielleicht sind die vielen Dichter ja auch zum Vorwand geworden, dem alten Herrn Roch eine fantasierte Romanze zu gönnen. Oder Peter Henisch wollte seine mehr amüsanten als informativen oder gar unerhörten Geschichten über die Schriftsteller bloß nicht so schematisch erzählen wie Volker Weidemann, Uwe Wittstock oder Ralf Höller. Er hat ha nicht nur ein Jahr oder einen Monat im blick zu haben, sondern eben ein Jahrhundert.

Ja, und: Zu diesem Jahrhundert gehört nicht nur, dass die Schriftsteller durch die Welt oder von Kaffeehaus zu Kaffeehaus getrieben werden, dazu gehören auch die Flüchtlinge im 21. Jahrhundert. Lisa hat ein Flüchtlingsmädchen zur Freundin, Semira. Jetzt droht Semira die Abschiebung. Ob da nicht der alte Herr Roch in seinem Depot in der Florianigasse helfen könnte?

Ein Jahrhundertroman, ein Roman, dessen Autor den langen Blick hat, erzählfreudig verknüpft Peter Henisch das Alte mit der Jungen, packt auch noch die Kurve zu den Geschichten der neuesten Zeit. Ein sympathischer Roman, österreichisch in seinem milden Herabschauen auf die angesammelten Dichter. Nur Doderer ist eine Ausnahme, ein ungenießbarer Eigenbrötler, ein narzisstischer Nazi, der kriegt mehrPlatz.

Wer ich bin.  Nämlich der Schriftsteller, auf den die Kulturnation Österreich gewartet hat. Der Autor, auf den man stolz sein, den man als Repräsentanten des neuen und alten Österreichertums herumreichen kann. Jetzt sind jene, die noch vor kurzem das Maul gegen mich aufgerissen haben, auf einmal kleinlaut. Auch wenn sie hinter meinem Rücken mauscheln, klar, darüber mach ich mir keine Illusionen. Ich hab nach wie vor Feinde, vielleicht jetzt erst recht. Aber viel Feind, viel Ehr – nächstes Jahr, wird gemunkelt, soll ich den Großen Österreichischen Staatspreis bekommen. Und übernächstes vielleicht sogar den Nobelpreis. Es gibt einflussreiche Leute, die sich dafür einsetzen wollen – darunter, wohlgemerkt, auch ein paar Jüdinnen und Juden.
    Denkt Doderer. Und wenn er so denkt, richtet er sich gleich wieder ein wenig auf. So wie er dasteht, am Fenster, und in die Nacht hinausschaut. Brust heraus Bauch hinein, vielleicht schafft er sogar noch den Ansatz einer Erektion. Er ist Doderer, er ist stolz auf sich – auf die immerhin um dreizehn Jahre jüngere Frau an seiner Seite, auf Dorothea, ist er auch stolz.



2021 – 290 Seiten

2-3


Wisser
17. Oktober 2021, 16:51
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Daniel Wisser:
Wir bleiben noch

„Wir bleiben noch“ lese ich als Jugendbuch, denn die Liebesgeschichte ist zwar problematisch, aber doch sehr picksüß erzählt. Und österreichisch. Victor, Karoline und die Urli.

Victor, benannt nach Viktor Adler, Begründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreich, kennt Karoline schon seit ihrer Kindheit, doch jetzt, wo beide Mitte 40 sind, treffen sie sich wieder und verlieben sich aufs Heftigste ineinander. ❤️❤️❤️. Diese Liebe ist aber nicht überall gern gesehen, auch nicht in der Familie, denn: Victor und Karoline sind Geschwisterkinder. Das zentrale Thema, Wisser erzählt ausschweifend davon, jeden Tag, oft jede Stunde.

Da der Roman 2018 beginnt, ist er auch sehr modern und dafür stehen Auszüge aus Victors und Karolines Chats, die sie oft auch führen, wenn sie nebeneinander liegen.

6. Juni 2019 / 09:23

Karoline: gerade eine welle des glücks
Karoline: ❤️❤️❤️
Karoline: ich nehme es zurück
Victor:   was?
Karoline: dass ich angst habe
Karoline: ich bin sehr glücklich
Victor:   glück macht glücklich, wenn man rechtzeitig da
rauf schautKaroline: musst du immer noch lachen
Victor:   jetzt wieder 😁😁😁
Karoline: du lachst wie ein emoji

Das andere Thema ist die Sozialdemokratie bzw. das, was von ihr noch übergeblieben ist. 1986:

Jedenfalls kam die Rede auf die Bundespräsidentenwahl. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte niemand in der Familie je anders als sozialdemokratisch gewählt. Tante Margarete verdarb den Tag, als sie gestand, bei der Stichwahl für Waldheim gestimmt zu haben.
   Noch auf der Nachhausefahrt konnte Victors Vater sich nicht beruhigen. Victor erinnerte sich genau, dass seine Mutter versucht hatte, ihre Schwester zu verteidigen, auch wenn sie seit dieser Enthüllung ganz blass im Gesicht war — präkollaptische periorale Blässe, wie Karoline sagen würde. Während der Fahrt unterbrach Irmgard ihren ständig schimpfenden Mann Konrad harsch: »Jetzt hör auf. Es ist eine freie Wahl. Sie darf wählen, wen sie will.« Konrad nickte:  »Das stimmt: Sie darf wählen, wen sie will. Und eine neue Verwandtschaft kann sie sich auch gleich wählen!«
    Obwohl Irmgard ihre Schwester in diesem Gespräch verteidigte, entfernten sie sich zu dieser Zeit voneinander. Bei Familientreffen kam es regelmäßig zum Streit. Irmgard, die wie die Urli bei den Sozialdemokraten Parteimitglied war, verurteilte entschieden, dass Margaretes Ansichten immer reaktionärer wurden. Sie bezeichnete ihre Schwester als ausländerfeindlich und Sozi-Hasserin.

Da die Familie immer reaktionärer wird und in diesem Denken auch große Vorbehalte gegen eine Ehe der Geschwisterkinder bekunden, vermischen sich die beiden Stränge und münden in einen ausufernden Streit um das Erbe der Urli, das Haus in Heiligenbrunn. Die politischen Verwerfungen bleiben allerdings Beiwerk, aus „Wir bleiben noch“ wird kein politischer Roman, weil die Entwicklungen nicht erklärt werden, weil ihre Auswirkungen innerhalb der Familiengeschichte bleiben, meist als verbitterter Kommentar von Victor.

Victor wird mit jeder Seite vergrämter. Er verkriecht sich ins Heiligenbrunner Haus, löscht seine Social-Media-Accounts, reagiert nur passiv auf unbedingt nötige Pflichten – wie etwa die Scheidung von seiner bisherigen Partnerin Iris, wie etwa soziale Rest-Kontakte zur Familie. Es reicht gerade noch zum Kaffeekochen für Karoline, die später aufsteht als er, die sich andererseits ins örtliche Leben einmischt, als Ärztin, aber auch als Bürgermeisterkandidatin. Dass sie einen Vergangenheitsaffizierten wie Victor mitschleppt, wird sich nicht lange hinter den Romanschluss festschreiben lassen.

Der Zeitraum: September 2018 bis Oktober 2019. Da kann viel passieren, je nachdem, wie man Geschehen definiert. Daniel Wisser hält sich an den Alltag und das macht den Roman repetitiv, zäh, zu wenig Gehalt für 480 Seiten. Als Lob zitiert der Umschlag Claudia Kramatschek: „Daniel Wisser gelingt … etwas Erstaunliches: eine Leichtigkeit, der selbst Humor nicht fremd ist.“ Leichtigkeit ja, wenn man das geringe Gewicht der Erzählung betrachtet, Humor auch, ich hab bloß keinen gefunden, es sei denn, man begibt sich auf die Jugendebene und kann über einen wie Victor lachen. (Ausnahme: Dass die Nachbarin, Frau Veit, etwas zugenommen hat, verleitet Wisser zur Kapitelüberschrift: „Wie die Veit zergeht“. Haha.)

Was haben Sozialdemokraten und Breitmaulnashörner gemein? Sie sind vom Aussterben bedroht. So viel zum Cover und zum Humor.

»Hey, Schatz! Du bist schon da.«
  »Entschuldige, ich habe dich nicht gehört.«
  »Schon gut. Du entspannst dich bei deinem Holz. Alles gut?«
  »Es ist vollbracht.«
  Karoline gab ihm ein Küsschen.
  »Hast du schon gegessen?«
  »Nur Jause.«
  »Was möchtest du heute machen?«
»Holz.«
  »Dann lass ich dich jetzt. Ich mache Schopfbraten.«

„Und dann kamen jedoch die restlichen 330 Seiten schnöden Beziehungsalltags, abgedruckter Smartphone-Kurznachichten und platter Dialoge.“ (gaia bei lovelybooks.de.de) Aber: „Die hohe Dichte an Belanglosigkeiten, Liebesbekundungen und Herzsymbolen ist bisweilen auch enervierend – nicht ohne Grund. Er wollte damit, so Wisser, „die neue Aufmerksamkeitsökonomie und damit unsere Sicht, alles als Timeline zu sehen“, literarisch umsetzen.“ (Paula Pfoser, ORF.at) Der Autor muss natürlich befangen sein, hat er doch das Buch geschrieben, aber so zeitgeistflach wie dieser Selbstkommentar ist über weite Strecken auch „Wir bleiben noch“.

17.    Dezember 2018 / 12:48

Victor:    überlebt
Karoline:  und?  was sagt iris?
Victor:    sie kam als segelschiff verkleidet
Karoline:  hier ist so viel zu tun. montag ist schrecklich
Karoline:  noch dazu im dezember.  da sollen alle noch schnell operiert werden vor neujahr
Karoline:  was hast du gesagt?
Victor:    die wahrheit
Karoline:  gut. und wie nimmt   sie es auf?
Victor:    sie ist schockiert
Karoline:  dass du deine cousine liebst
Victor:    dass ich meinen schwanz in die fut meiner cousine stecke
Victor: X
Karoline:  aha! so kann man es auch sagen
Victor:    hab ich auch gesagt
Victor: XXX
Karoline:  A🏆YPSE NOW
Victor: DER 🏇 MANN
Karoline:  du bist so blöd. und jetzt?
Victor:    nächster termin im januar
Karoline:  passt
Victor:    ich glaube, das wird noch anstrengend
Karoline:  du hast alles richtig gemacht. ich liebe dich
Victor:    ich liebe dich
Karoline:  sehen uns um 5. muss jetzt arbeiten

2021 – 480 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

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Adler
25. Dezember 2020, 16:34
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Helena Adler:
Die Infantin trägt den Scheitel links

Home Sweet Home“ (Kapitel 1). Die Hölle. Die Barbaren. „Meine Hände sind klein, babyweich wie Pfoten. Ich blicke in die Runde der Bestien. Der Vater ein Grizz­ly, die Mutter ein Greifvogel mit Frauenkopf und die Schwestern, o Gott, die Schwestern! Zum Nachtisch riecht es milchig süß und leicht nach Verderben. Ein verstörender Geruch nach Frischgeborenem und Er­würgtem.

Helena Adler holt sich Inspirationen aus dem 16. Jahrhundert: “Nehmen Sie ein Gemälde von Pieter Bruegel. Nun ani­mieren Sie es.” Das österreichische Dorf kann man im Renaissance-Panoptikum wiederfinden, “Kinderspiele”, eingefroren im Inferno des Zuhauses.

Die Mutter, der Vater, die etwas älteren Zwillingsschwestern. “Krallen, Klauen, Hackebeil.” “  “Denn dein ist das Reich, die Kraft und die Herrlichkeit«, sagen sie feierlich, und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich an Gott glaubte. “Im Dorf nennt man mich Satansbrut. Oder Satansbraut. Beides verstehe ich nicht.” Un dann fällt die Kerze um, das Stroh beginnt zu lodern. „Ich bemerke nicht, wie die Kerze umfällt. Das Stroh zu lodern beginnt. “Die Holzwände zu knistern. Ich suhle mich im Dreck meiner selbst diagnostizierten Sozialverwaisung, während neben mir der Stall abbrennt und mein Kinderreich rodet.”

Die Familie bietet Schutz vor Ungemach und ist deshalb ein bitter umkämpfter Platz. Das jüngste Kind ist der besonderen Obhut ausgesetzt und kann nur überleben, kann nur ein ICH werden, wenn es lernt und übt, Widerstand zu leisten. Für Mädchen gilt das doppelt. Das Dorf ist eine Gemein-Schaft und bietet Schutz vor Fremden und solchen, die nicht so sind, wie das Dorf-WIR. Man darf der Gemeinschaft aller gegen alle nicht  abhanden kommen, beschützt werden kann nur, wer beobachtet wird – und beobachtet wird jeder. Und jede erst recht. Beobachtung heißt Kontrolle, nur dabei steht das Dorf zusammen. Der “Irrgarten der Gnadenlosigkeit”. Jeder Dorfroman lässt das ahnen, verkauft sich aber in seiner “charmant idyllisierenden oder mild elegischen Ausprägung“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ) als Idylle. Die Zeit vergeht nur als Jahreszeit, die Festtage planieren alles. Sogar der Pfarrer wird erträglich ertragen.

Helena Adler preist ihre “Abscheu vor dem Dickflüssigen”. Sie macht die Verhältnisse transparent. Ein knallharter Reality-Roman, mit Lust am Dreckigen, an Infamem, der “Nachgeburt”. »Die Nachgeburt ist etwas ganz Natürli­ches, der Rest von der Geburt, so wie beim Kuchenes­sen die Brösel. Oder vom Apfel das Gehäuse. Nicht gif­tig, aber ungenießbar. Das mit dem Teufel ist wieder eine andere Sache.« Das nachgeborene Mädchen härtet sich ab, kämpft sich durch, wird cool. “Ich zeige ihnen beide Mittelfinger und wachse einen Meter.”

Ich möchte einmal Kunst studieren. Ich möchte auf einer Body Farm nackt Verwesungs­prozesse dokumentieren. Ich möchte ein Stück von meinem Bauchfett kosten. Ich möchte mit Rilke, John Steinbeck und Samuel Beckett vögeln. Nein, ich will von ihnen gevögelt werden. Ich will meinen Schwes­tern einen Testflug ins Weltall spendieren. Ohne Rückfahrticket. Ich will die Schwestern zur Ernte am Watschenbaum zwingen. Ich möchte meinen Namen auf Infantin ändern. Und den der Schwestern auf Wol­pertinger. Ich möchte unseren Stammbaum fällen, die einzelnen Äste mit der Axt zerteilen und mit fremden Ästen veredeln. (aus Kapitel 13: Die Freiheit führt das Volk)

Die Flucht gelingt, die Erinnerung bleibt. Sie bleibt böse, aber der Abstand relativiert manches. “Ich lege meine Waffen nieder. Dann trinke ich Glet­schermilch zum Frühstück und stille mein Kind. Da­bei bemerke ich, wie ich selbst zu einer Wundergläu­bigen geworden bin. Und zu einer Mutter. Wie meine Mutter.

Die Zutaten sind die gleichen, wie sich auch die Dörfer gleichen. Helena Adler würzt deftiger, haut auf die Realitäten, findet schön brutale Bilder, Vergleiche, Anspielungen, aus dem Fernsehen, aus den Märchen, aus Sagen, “Überzeichnung, Übertreibung und die groteske Zuspitzung von Bauernhof-Klischees sind Adlers liebste Stilmittel“ (Kristina Maidt-Zinke). Das hebt ihren “Dorfroman” von anderen ab, das hat sie auf die Listen des deutschen und österreichischen Buchpreises gehoben. Sie hat einen neuen Namen angenommen, lebt aber nicht weit entfernt von ihrem Geburtsort. Was authentisch ist an ihrer rustikalenVivisektion ist nebensächlich, man freut sich an ihrer auch sprachlichen Phantasie. Die Anklage ist eher existenziell als sozial oder politisch. Die Kapitel tragen die Namen bekannter Kunstwerke, meist Gemälde, manchmal auch Installationen (Beuys, Zeige deine Wunde). Dank einer Liste im Anhang sind sie leicht nachzuschauen.

»Gussi, Gussi, Hola, Hola«, hast du geschrien, wenn du die Kühe in den Stall getrieben hast, und ich habe es dir nachgemacht. Du hast nur den Vater verdro­schen, nicht aber die Kühe. Und der Vater hat dann die Kühe verdroschen, nicht aber uns. »Wen soll man auch verdreschen, wenn man lauter Mädchen hat«, fragte der Vater im Wirtshaus in die Runde und wurde von allen anderen Säufern bedauert. Mädchen durften nur von Müttern verdroschen werden. Die Mutter hat sich beklagt, während sie die Ärmel hochgekrempelt hat, »aber einer muss es ja machen, Himmel, Arsch und Zwirn!« Denn irgendwer muss auf einem Bauernhof immer verdroschen werden. Irgendwer muss sein Ge­sicht und seinen Arsch hinhalten. Und irgendwer muss Stock und Gürtel in die Hand nehmen und zu­schlagen. bis sich der Orkus öffnet.

2020 – 185 Seiten

2-



Barta
19. Juni 2020, 18:50
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Dominik Barta: Vom Land

bartavomland„Ich schreibe, seit ich ein Kind bin oder zumindest ein Schüler.“ Das ist löblich für einen Zwölfjährigen, doch leider hat sich Dominik Barta in seinem Schreibvermögen nicht merklich weiterentwickelt. Holzschnittartig im Stil und weitgehend hechelnd parataktisch bis zur Monotonie im Satzbau baut Barta seine Bilder, unter den Wörtern findet selbst die Texterkennung kaum ein unbekanntes – was sonst selten vorkommt.

An den Bäumen hingen dicke Tropfen. Auf dem Vorplatz neben den Garagen standen Lachen. Die Wiese vor dem Haus funkelte in der Dunkelheit. Theresa atmete tief ein. Wasser schoss ihr in die Augen. Die Feuchtigkeit der Luft reizte ihre Nasenflügel. Der Geruch nasser Erde weckte Erinnerungen. Sie bog um die Ecke und ging zum Teich. Die glatte Oberflä­che spiegelte den unruhigen Himmel. Theresa wollte über das ganze Tal sehen und stieg den Hügel hinauf. Die Holzpat­schen sanken im weichen Boden ein. Der Morast heftete sich schwer an die Sohlen. Auf der Anhöhe setzte sie sich auf das Bänkchen und sog die Luft ein. Die Nacht war nicht kalt. Nur Feuchtigkeit streifte ihre Wangen. Vom Wiedererwachen ih­rer Sinne überwältigt, begann Theresa zu weinen. Sie ließ den Tränen freien Lauf.

An den Feldrainen gedieh roter Klatschmohn.” Natur und Emotionen, „Barta skizziert dieses Soziotop in so groben Zügen, dass man nicht sagen kann, ob die Erzählung mit Fleiß oder versehentlich ungelenk geraten ist.“ (Marie Schmidt, SZ) Mit Fleiß? So nehmen die Dorfbewohner die Natur wahr, erleben wäre hier der falsche Ausdruck, so karg, so ungeübt wie die sprachlichen Mittel sind auch die Gefühle. Und wenn die Gefühle dennoch übermächtig werden, wird man krank. So wie Theresa. „Dass Theresa Weichselbaum sich im sechzigsten Lebensjahr erschossen hatte, während ihr Gatte mit einem Araber aufs Feld hinausgefahren war – diese Koinzidenz schrie danach, interpretiert zu werden.” Das ist kein Satz aus dem Gerede des Dorfes, das ist die Analyse des in die Stadt Geflohenen. Barta mischt die Erzählstimmen, dass nur nach und nach und bis zum Schluss nicht ganz klar wird, wer gerade erzählt oder spricht. Der Außenstehende sieht immer klarer, hat auch die Kategorien der Beschreibung bereit. Manchmal wird da Du direkt an den Hörer oder Leser gerichtet.

Wie in allen Dörfern, regierte in erster Linie die Angst vor den Nachbarn. Was würden die Nachbarn denken? Was würden sie sagen? Ich bewunderte sie. Theresa schien gewappnet.(…)
Für uns Araber ist jeder Onkel, jede Tante, jeder Cousin, jede Cousine sehr wichtig, auch wenn es manchmal schwierig ist, mit allen auszukommen! Aber wo wären wir ohne Familie?«
Daniel wollte, dass Toti keine Schuld empfand. Er war sich seiner Sache sicher: »Aber bei uns ist es umgekehrt. Aus der Familie kommen alle Probleme und nur aus der Familie.«

Das sind gültige Sätze, für früher wie, und das betont Barta, auch für heute. In diesen Strukturen gärt das Dorfleben vor sich hin, man kommt ihm nicht aus. Wer’s nicht aushält oder den Normativen nicht genügt, muss weg, in die Stadt oder er oder sie muss zumindest eine Auszeit nehmen, kurz fliehen. Da der Roman 2020 erschien, hat Barta auch die Katalysatoren, die die latenten Verwerfungen zum Ausbruch bringen: die Flüchtlinge. Auch das Dorf zeigt seine Risse.

Der Pater Heinrich gehört einge­sperrt. Was der sich an dem einen Wochenende geleistet hat, das hält man nicht für möglich. Die Kirche verhöhnt ihre ei­gene Heimat. Hat sich dieser Idiot jemals überlegt, was er uns schuldig ist? Vor vier Jahren hat meine Bank die komplette Renovierung des Deckenfreskos in der Basilika übernom­men. Dabei schwimmt der Orden im Geld, das weiß jeder. Als Dank setzt er uns zwanzig Islamisten nach St. Marien?
(…) Verstehst du nicht? Diese Halbaffen kämpfen nicht. Sie ar­beiten nichts. Sie behandeln ihre Frauen wie Dreck. Bei je­dem Furz fuchteln sie mit dem Koran. Sie handeln mit Dro­gen. Sie stechen Autoreifen auf. Sie beschmieren Wände. Aber nein! Bestraft werden wir! Man selbst wird zur Sau ge­macht, weil man sich die Einhaltung der Gesetze erbittet. Diese Null von einem Inspektor hat mich beschimpft! Die Welt ist verrückt geworden. Anders lässt sich das nicht aus­drücken. (…) Max fügt sich eben nicht in deine romantisch-literarische Welt. Ihr redet immer von Toleranz. Aber einem liberalen Pielitzer, der Unmengen an Steuern zahlt und nichts anderes möchte als seine Ruhe – dem bringt ihr wenig Verständnis entgegen. Max sehnt sich nach Ruhe. Er ist der friedliebendste Typ, den ich kenne. Das ist die Wahrheit. Du müsstest sehen, wie liebevoll er mit dem Hund umspringt. Sein Rex und er – das ist wirklich ein Bild für Göt­ter!

Barta hat aber auch das Gegenbild: Daniel, der 16-jährige Enkel der Theresa nimmt sich den gleichaltrigen Syrer Toti zum Freund. Mit ihm baut er sich ein Refugium auf den Bäumen im Wald, Daniels Großvater Erwin schließt Toti ins Herz, weil er ihm eine zuverlässige Hilfe auf dem Hof wird. Flüchtlinge, Fremdenfeindlichkeit, Sprachlosigkeit, rechter Zusammenhalt, Dominik Barta schüttet das alles in seinen österreichischen Dorftopf, ohne groß umzurühren, ohne erkennbar zu ordnen. Dennoch gibt die Mischung einen doppelten Showdown: Staatsmacht contra Persönlichkeitsrecht, Individuum gegen patriarchale Dorfgemeinschaft. Hier stört auch das Satzstakkato kaum mehr, hier passt der Hauptsatzstil. Dennoch wirkt dieser Dorfroman bekannt, seine Zutaten sind geläufig und werden in den letzten Jahren gerne verwendet. Dominik Barta pointiert nicht präziser, hat keine neuen Muster, meidet nicht das Klischee.

“Dieser Text durchbricht die Kälte unserer Zeit und legt offen, was wir in unserem Innersten sind: vom Leben, in das wir ungefragt geworfen wurden, zutiefst versehrte Wesen.“ Katja Gasser vom ORF verfällt der Jugendlichkeit des Autors. „Wenn das Zwischenmenschliche politisch wird – Dominik Barta legt ein beeindruckendes Debüt vor.“ meint Imogena Doderer in der 3sat-Kulturzeit. Viele Kritiker sind euphorisiert und verbauen damit dem bei seinem Debüt doch schon 38-jährigem Barta den Weg zur Verfeinerung.

„Theresa rang nach Luft. Es ging nicht mehr.“

2020              265 Seiten

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Haas
28. April 2020, 17:10
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Wolf Haas: Junger Mann

haasjungermann„Er ist ein bisschen zu dick und ein bisschen zu jung für sie.“ So steht es in großen Buchstaben im Umschlag des Covers. Und „sie ist ein bisschen zu schön und ein bisschen zu verheiratet für ihn“.

Der „Tschick“ heißt hier Tscho und ist der Mann von der Elsa und der Erzähler ist 13+, arbeitet in den Schulferien in einer Tankstelle, ist groß für sein Alter, empfindet sich aber als zu fett und will deshalb abnehmen. Was natürlich auch mit der Elsa zu tun hat. Der Erzähler wird einmal, später, mit „Herr Haas“ angeredet. Siebzigerjahre, da war alles noch ein bisschen anders, deshalb können auch ältere Leser das Buch gut lesen, vielleicht eher noch als jüngere, eher auch als weibliche. „Rückwärts durch die Knie betrachtet war die Welt immer am interessantesten.“

Die Fast-Versuche ziehen sich durch das ganze Buch und landen als Waagen-Abbildung auch auf dem Cover. Der Tscho ist kein Intellektueller, sondern ein Schrauber und Fahrer. Er fährt einen Scania-Truck (vielleicht) bis nach Teheran, sicher aber bis Griechenland, um dort (vielleicht) Kühlschränke auszuliefern. Obwohl der Tscho auch ein Schweiger ist, nimmt er unter einem Vorwand auf eine dieser Fahrten auch den jungen Haas mit. Eine Road-Novel mit allen Zutaten, der junge Haaas macht allerlei Erfahrungen. Auch unterwegs bemüht er sich, nichts zu essen, trotz der besten Spaghetti in Triest, der Ražnjići in der Nähe von Novi Sad und überhaupt. Es ist schon was Eigenes, neben dem Tscho zu sitzen und ständig an dessen Frau zu denken. Vor allem, wenn der Tscho ständig auf seine Frau zu sprechen kommt und dabei Andeutungen macht, die einen aufwühlen, was man sich aber nicht anmerken lassen will. Und mann darf sich auch nicht heraushängen lassen, dass man auf eine „Pfaffenschule“ (Tscho) geht und so manches weiß und deshalb bald Matura macht. Der junge Haas ist überall auf fremdem Terrain, auch, weil er ja noch so jung ist. Der Leser weiß mehr und amüsiert sich. Der Tscho hat eine Marotte angenommen, um die sprachliche Überlegenheit des Mitfahrers einzuhegen: Er wiederholt dessen Worte. „»Neindanke – Jabitte! Du bist richtig gut erzogen, ha?« Als Antwort darauf bemühte ich mich, den Kaffee mög­lichst laut zu schlürfen. »Und?«, fragte der Tscho. »Hab ich gut gekocht?« »Nicht zum Saufen«, sagte ich. »Nicht zum Saufen, sagt er.« Immer ein Wort mehr, was soll man da machen. Ein weiterer Driving Gag.

Als sich eine Baustelle in den Weg stellte, konzentrierte ich mich doppelt. Das waren immer die Sachen, wo man einen Fehler machte. Überraschende Hindernisse. Einmal nach links, prägte ich mir ein. Das war beim Zurückgehen dann nach rechts. Die Baustelle war aber ein Glück. Sonst hätte ich die Gasse mit dem Fischmarkt nicht entdeckt. Außer im Fernsehen hatte ich noch nie einen Fischmarkt gesehen. Wie auf einem Jahrmarkt reihte sich ein Fischhändler an den anderen. Sie schrien herum, über die Gasse hinweg, schauten aber nicht böse. Es klang, als würden sie streiten, aber sie lachten dabei. Die Fische schauten böse. Sie meinten es aber nicht persönlich. Ich konnte ja nichts dafür, dass sie tot waren. Zumindest konnte ich nichts dafür, dass sie so wenig Kalorien hatten. Aber eines hätte ich mir nie gedacht. Wie riesig ein Thunfisch außerhalb der Dose war. Sardinen waren so groß wie immer. Bisher hatte ich in echt eigentlich nur Forellen gesehen. Mir fiel ein, wie ein Fischer einmal an unserem Haus vorbeigekommen ist und meiner Mutter eine Bachforelle geschenkt hat. Das war wahnsinnig nett von dem. Wir waren dann aber nicht sicher, ob sie wirklich tot war, obwohl wir wussten, wie man einen Fisch umbringt. Wir hatten ihr die Zunge schon zweimal hineingedrückt. Zuerst meine Mutter, dann ich. Aber weil der Schwanz in der Pfanne zuckte, haben wir sie mit gemischten Gefühlen gegessen.

Die Elsa. „Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, dass es der schönste Name der Welt war, noch vor Gabi und Petra.“ »Das ist ganz eine Süße, die sich der Tscho da geangelt hat. Ganz eine liebe Maus.«, sagte der Chef. »Der Chef war in Ordnung. « Das hilft dem jungen Haas aber auch nicht weiter, denn die Elsa ist nicht raffiniert, sondern unbefangen. Dass der junge Haas diesen Unterschied nicht gneißt und nicht einordnen kann, macht den Reiz dieser Geschichte aus. Und natürlich die leichte, lockere in Österreich erprobte Schreibweise, die Mischung aus Schmäh und Sentiment, das stilistische Überfliegen der lebenswirklichen Profanität.

Sie rückte erst damit heraus, als wir schon wieder im Auto unterwegs waren. Wahrscheinlich fiel es ihr leichter, wenn sie mich dabei nicht anschauen musste.
»Du wirst mich bestimmt auslachen. Aber ich möchte gern Englisch lernen.«
Nur gut, dass sie es nicht im Café gesagt hat. Womöglich hätte ich vor Enttäuschung die Eisbecher vom Tisch ge­wischt. Und nachher hätte ich mich entschuldigt. Im Auto konnte meine Enttäuschung nicht viel anrichten. Außer, dass sie mir das Antworten unmöglich machte. Sogar das verlegene Lachen klang verdächtig nach Kloß im Hals.
»Siehst du, jetzt lachst du doch«, protestierte die Elsa.
»Aber ich lach dich nicht aus.«
»Wieso lachst dann?«
»Weil da doch nichts dabei ist. Wieso traust dich das nicht sagen? Da brauchst du doch nicht so ein Geheimnis draus machen.«
»Was hast denn du geglaubt, was ich dich frage?« »Keine Ahnung.«
Bei jedem einzelnen Wort war ich froh, dass ich es her­ausbrachte.
»Du denkst dir, dass ich zu dumm bin für Englisch, oder?
Weil ich nicht in der Hauptschule war.« »Geh! Das lernst du leicht.« »Glaubst wirklich?« »Sicher.«
Statt auf den Verkehr zu achten, schaute sie jetzt mich an: »Wenn du mir manchmal ein bisschen beibringst. Ich könnte mir jeden Tag ein Wort merken.« (…)
Ich war zwar enttäuscht, aber ich schöpfte schon wieder Hoffnung. Immerhin hatte ich so Grund, regelmäßig bei ihr vorbeizuschauen. Und womöglich war es ja auch von ihr nur ein Vorwand. Sie wollte gar nicht Englisch lernen, sondern mich öfter sehen. Vielleicht war sie genauso feig wie ich und hat es sich in letzter Sekunde doch nicht zu sagen getraut und das Englischlernen vorgeschoben.
»Ich möchte nämlich die Krankenschwesternschule ma­chen«, erklärte sie mir. »Aber ich hab keinen Hauptschul­abschluss. Den muss ich vorher nachmachen.«
»Das schaffst du leicht.«
Vielleicht war ja auch die Krankenschwesternschule nur ein Vorwand. Unmöglich war es jedenfalls nicht.

Wolf Haas erzählt wie beiläufig, knapp und präzise und so liest man den kleinen Roman schnell und gerne und vergisst ihn wohl auch bald wieder. Ddie Personen haben ihre jeweiligen Defizite, sie passen gar nicht zueinander, aber sie sind doch alle “ganz in Ordnung”. Liab.

2018                240 Seiten

Gespräch im Literaturclub des SRF

der Freitag – Buch der Woche

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Kaiser
10. April 2019, 17:34
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Vea Kaiser: Blasmusikpop

blasmusikpopDas Dorf liegt erhaben auf einem Hochplateau am Fuße des Großen Sporzer, unterhalb der Gletscherregion, über lange Zeit kaum erreichbar von der Welt abgeschnitten, doch jetzt schreibt man auch dort die 2000er-Jahre.

Im Dorf hat sich wenig geändert, man verweilt am Vorabend der Industrialisierung, man kennt und heiratet sich untereinander, fremden Menschen und Bräuchen steht man reserviert gegenüber. Man hat an sich selbst schon mehr als genug, gesprochen wird der in dieser Gegend verständliche Dialekt.

Unmittelbare Nachbarn hatten die St. Petrianer nicht. Nördlich wurde das Dorf von den Sporzer Alpen begrenzt, deren Hauptkamm aus Gletschergipfeln so unwirtlich war, dass keines der Dörfer rundum je Anspruch auf dieses Bergmassiv gestellt hatte. Westlich erhoben sich Berge, die noch von Urwald überwuchert waren und weit im Osten, fast außerhalb des Tales, lag ein Dorf namens Strotzing, mit dem die St. Petrianer seit dem Mittelalter keinen Kontakt pflegten. Der einzige Ort, dessen Gemeindegrenze direkt mit St. Peter zusammentraf, war Lenk im Angertal. Lenk hatte trotz seiner bescheidenen Einwohnerzahl den Rang einer Stadt, allerdings wusste die gesamte Alpenrepublik, dass dies nur so war, damit es in den Landkarten der Hochalpen wenigstens einen roten Punkt gab, der auf Kultur und Zivilisation hindeutete.

Die Einwohner tragen die Namen von Bergen: Rettenstein, Trogkofel, Patscherkofel, Kaunergrat, Gerlitzen, Arber. Den Pfarrer, den Wirt, die Greißlerin, die Cafébesitzerin blasmusik2Moni, den Schreiner, den Arzt, die Hebamme, die Väter (trinken) und die Mütter (tratschen und backen Kuchen), viel mehr brauchts nicht. Ein Bilderbuchdorf, vorn und hinten im Buch ist der Dorfplan abgedruckt, man findet sich leicht zurecht. Klischee, soweit der Blick reicht. Johannes A. Irrwein hält die Dörfler für unzivilisiert, er hat seinen Herodot gelesen.

Die Bergbarbaren sind Herdentiere. Das Konzept des selbstbestimm­ten Individuums ist ihnen fremd, das Kollektiv bestimmt das Leben des einzelnen. Bereits mit dem Erwerb der Sprachfähigkeit schickt man die Kinder in die Jungschar, eine katholische Organisation, die zwar offizi­ell dazu da ist, den Glauben zu leben, in Wahrheit – wie ich aber berich­ten kann – bereits die Jüngsten manipuliert, so daß diese die Werte des Kollektivs annehmen. (…) Junge unverheiratete Männer müssen sich ebenso für das Gemeinwohl engagieren: Sie sind Mitglieder in der Feuerwehr, im Jägerbund, im Bauernbund, im Gemeinderat, im Pfarr­rat oder im Handwerkerkreis, denen sie bis zu ihrem Tod auf Treu und Ehr verbunden bleiben müssen. (…)Sie spielen Blasmusik, die jeglicher Harmonie entbehrt, pflegen Fußball auf einem abschüssigen Rasen, malen auf ihre Wohnhäuser alpine Blumenfresken, führen übles Volkstheater mit derbem Jargon auf und tragen traditionelle Kleider, die weltweit aus der Mode sind.

Im Dorf gibt es nur zwei „zivilisierte“, man könnte auch sagen: intellektuelle Bewohner: Johannes Gerlitzen, der „von einem Bandwurm für Welt und Wissenschaft begeistert“ das Dorf verlässt, um als studierter Arzt zurückzukommen, und dessen Ziehenkel Johannes A. Irrwein, der von seiner anfänglichen Begeisterung für Naturwissenschaften umschwenkt auf die Geschichte. Johannes darf aufs klösterliche Gymnasium im Nachbarort Lenk, schließt sich dort dem arkanen „Digamma-Club“ einiger Internatsschüler an und beschließt nach seiner Rückkehr in St. Peter am Anger Feldforschung zu betreiben. Sein Idol ist der antik-griechische Geschichtsschreiber Herodot. Sein Ziel: der Alpenherodot zu werden.

„Wie die Wissenschaft in die Berge kam“ nennt Vea Kaiser ihren Roman im Untertitel – und sie lässt sich ihre „klassische“ Bildung ganz schön heraushängen und konfrontiert sie mit dem zurückgebliebenen „Bergbarbaren“. Und so beobachtet Johannes A. Irrwein das Treiben der Bewohner im Dorf und Vea Kaiser stellt es ins Zentrum des Romans. Kinderspiele, Brauchtum, das Sonnwendfeuer, der Fußballverein, das Heiraten, das Saufen, das Aufstellen des Maibaums, alles ist ein- und festgefahren. Die überaus erzählfreudige Vea Kaiser reiht ein Klischeehäppchen ans nächste. Ich wollte das Buch nach 100 Seiten beiseitelegen, über Wissenschaft war bis dahin wenig zu lesen, das Dorfgeschehen erschöpft sich in Anekdötchen, oft gelesen, Bauerntheater. „Jeder Leser kann nicht anders als schon wissen, was ihm da für neu verkauft wird.“ (Hans-Peter Kunisch, SZ) Das Buch ist definitiv zu dick, nicht der Handlungsfortschritt ist zentrales Anliegen, sondern das Spiel mit bekannten Mustern und die Liebe zum erlesenen Stil. Aber „500 Seiten voller Schwänke und Schnurren, nur unterbrochen von herodotischen Chroniken über den ewigen Krieg zwischen Zivilisierten und Wilden, wirken doch etwas ermüdend“ (Martin Halter, FAZ). Und da das Setting schon auf Ironie aufbaut, wirkt die verbissene Binnenironie schließlich sekkant.

Währenddessen stand die Pfarrersköchin Grete mit einem Gesicht wie drei Tage Regenwetter auf der Kirchenstiege und blickte die Talstraße hinab. Sie hielt einen Rosenkranz in ihren Händen, vom Erdäpfelwasser so rau wie die unpolierten Holzperlen. Ihre Arme drückten den Wollstoff der olivfarbenen Strickjacke eng an das geblümte Kleid, als fröre sie im Sonnenschein des vorösterlichen Frühlingstages. Rund um Grete standen in kleinen Gruppen zusammengescharrt die Mitglieder der Mütterrunde. Die Männer waren des Wartens überdrüssig geworden und hatten sich im Kollektiv ins Wirts­haus begeben.
»I hab dem Subprior gestern am Telefon nu g’sagt, dass’s voi wichtig is, dass da Ersatzpfarrer vor 15:00 Uhr da is.« Grete sprach diesen Satz zum wiederholten Male, die Frau­en rundherum beschwichtigten sie.

Was „Blasmusikpop“ trotzdem „vergnüglich“ (Anderl) macht, ist das Auseinanderfallen von weitenteils banalen, ja abgenutzten Sujets und elaborierter Beschreibung. Herodot vs. Bergbarbaren. Vea Kaiser kennt sich aus – in beidem. Der Dialekt akzentuiert die Archaik des Erdverhafteten, womit nicht allein das Berglerische, sondern das Gesamtösterreichische gemeint ist. Aber er versöhnt auch: Wer so spricht, kann kein völlig schlechter Mensch sein, kein „Hochg’schissener”. Als solche “Hochg’schissene” an den Westhang von St. Peter ziehen, greift Vea Kaiser wieder zum Abklatsch. Der Architekt Nowak samt seiner Tochter Simona steigern das Geschehen zur Groteske.

»Soll i di langsam heimbringen?«, fragte er, als Maria sich beruhigt hatte.
»I mag net hoam. I bin’s leid. De nutzn mi immer aus. De­nen is des Wurscht, ob i glückli bin. De wissen oafach, dass ma mit mir ollas machn kann, dass i zu ollem Ja und Amen sog, nur um meinen Leut a Freud zum Machen.«Peppi setzte sich aufrecht hin:
»Maria, du hast halt a guates Herzal.«
Maria seufzte.
»Jo, owa des is mei Leben. Und Peppi, i woaß ja net amoi, ob da Günther da Vater is.«
Peppi erstarrte und rückte von ihr weg.
»Maria, du musst mi net anlügen. I hab di gern, a wenn des de Kinder vo an anderm sand.«

Mit ihrer Berufung aufs Klassische, auf die “Wissenschaft”, entlastet sich Vea Kaiser vom Vorwurf, bloß Plagiatorin zu sein. Wesentliches Konstruktionselement des Romans ist die Historiografie des Dorftreibens und deshalb muss dieses auch archaisch, hinterweltlich und damit exotisch bleiben. (Lediglich Handys dürfen im neuen Jahrtausend einziehen. Selbstverständlich weiß man sie nicht zu bedienen.) Vea Kaiser hat ihre Vorstudien zwar auf ein Achtel eingedampft, doch auch in dieser Kurzfassung gibt es zu viel Redundanz. Getretener Abklatsch wird Gatsch. Am Ende bekränzen sich alle mit Eppich und feiern ein donysisches Fest und wenn sie nicht.

Der Roman ist am besten zu ertragen mit einem Stamperl Adlitzbeerenschnaps und einer anschließenden Partie Pfitschigoggerln.

2012          480 Seiten

P.S. Vea Kaisers neuer Roman heißt “Rückwärtswalzer“. Wenn das mal nicht im Dampfnudelblues endet.

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Seethaler
21. August 2016, 17:55
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Robert Seethaler:
Die weiteren Aussichten

seethaleraussichtenSo erzählt man gern in Österreich. Man lässt sich Zeit, lenkt den Blick auch auf die kleinen Dinge und die kleinen Leute, weil die ja auch ihre Wichtigkeit haben. Das Fahrrad, das Deckerl, die Frisur, die Mama, den Goldfisch, auch die Traurigkeit und das Glück. Nicht alles ist nur gut, es gibt auch Raufereien und Eifersucht und Amtsschimmel und Verletzungen und den Tod. Robert Seethaler lässt auch seinen Personen Zeit, denn die brauchen sie. Er nimmt sie ernst, auch wenn sie nicht perfekt sind. Und er macht sie zu Trotteln.

Hinter dem Erzählen steht die Präpotenz des Autors. Er sieht nicht nur alles (er hat es ja erfunden), er weiß auch alles. Und er erklärt alles, wie es so ist, warum es so ist, was die Personen davon halten, wenn sie es mitbekommen. Und wenn die nichts sagen und bloß die Hände in die Taschen stecken, schreibt der Autor halt seine Meinung hin. Zu Dorffesten etwa und zur volkstümlichen Musik, zur aktuellen Kunst und zum TV-Programm, zum Leben überhaupt und zum Tod und zur „Infrastrukturoptimierung“. Man liest das gern, weil man ja eine ähnliche Meinung hat, der Schriftsteller kann das aber so originell sagen und so nett. Seethaler legt seinen Figuren einen wummernden Populismus in den Kopf und versieht ihn mit dem Autorenstempel. Und das nervt. Doch!

Karl Sprnadl hasst das Fernsehen. Das Fernsehen ist nach Karl Sprnadls Meinung der größte Dreck auf Gottes Erden. Noch nie ist irgendetwas Brauchbares oder Gescheites im Fernsehen gewesen. Und wahrscheinlich wird auch nie irgendetwas Brauchbares oder Gescheites kommen. Weil die Fernsehmacher allesamt verbrunzte Vollidioten sind. Die denken sich nämlich Sendungen aus, die nicht einmal einem hirngeschädigten Halbaffen einfallen würden. (…) Gerade und vor allem die Volksmusiksendungen! Da stellen sich fast jeden Abend ein paar bunt geschminkte Deppen in eine Reihe und versuchen mit einem einzementierten Grinsen im Gesicht dem Playback des immer gleichen Liedes hinterherzusingen. (…)Insgesamt sitzen nach Karl Sprnadls Meinung in den diversen Fernsehredaktionen sicher weit mehr Idioten als in allen Psychiatrien und geschlossenen Anstalten dieser Welt zusammen. Und da könnte er recht haben.

Herbert ist lang und beinig, er lebt mit seiner Mutter in einer eher wenig frequentierten Dorftankstelle. „Mütterlichkeit“ ist wichtig bei Seethaler, er ist beseelt von ihr. Herbert ist nicht der Schnelst, nicht der Hellste, „dieser blöde Bub“, und Herbert ist Epileptiker. Hilde ist Putzfrau im Hallenbad und „prall“ und „rund“ wie die Böhmin Anezka in „Der Trafikant“ und auch so weich und eines Tages radelt Hilde auf ihrem blauenFahrrad an der Tankstelle vorbei. In Herbert erwacht etwas, was, weiß er nicht so genau. Der Fisch im Aquarium heißt Georg.

Von da an läuft das Leben an und gleich auch aus dem Ruder. Herbert und Hilde legen eine Ausbruchsstory hin, klauen die Mutter aus dem Krankenhaus und den Krankenwagen gleich dazu, die planlos wilde Jagd geht weiter über die Felder und durch den Wald und den Hügel hinab, mit dem Boot über den Fluss ins Nirgendwo, man kommt nicht voran.Skurril, sich überschlagend, dann wieder im gedankenlosen Stillstand. Georg im Glas muss auch mit. Seethaler bebildert das minutiös und dadurch auch eintönig, dass man hofft, der die Flucht und mit ihr der Roman möge zu einem Ende kommen. Immer wieder steckt Herbert die Hände in die Taschen, immer wieder denkt er an sich als „der kleine Herbert“, immer wieder hört er zu denken auf, immer wieder schreibt Seethaler das gleiche.

Der Schmerz, denkt sich Herbert, ist die Luft. … So schnell kann das also gehen, denkt sich Herbert noch, und dann ist er weg. … Und dagegen muss etwas unternommen werden. Und zwar jetzt sofort und ohne großartig nachzudenken … Deswegen hat Herbert also aufgehört mit dem Denken. …An all das denkt Herbert jetzt nicht, während er mit weit ausholenden Armbewegungen das Wasser durchackert. … Herbert denkt an gar nichts. Oft ist nämlich das Denken dem Fühlen nur im Weg. … Und so hört er auf mit dem Denken.

Komisch muss das ausgesehen haben von weitem, wie da zwei Menschen, ein ziemlich runder und ein ziemlich langer, auf einem winzigen blauen Fahrrad den Horizont entlangwackeln, den abglühenden Sonnenrücken im Hintergrund. Aber das Leben ist eben manchmal komisch. Und das Glück sowieso. … Vom Ufer aus muss das seltsam aussehen, das schmale Holzboot mitsamt den drei Menschen und der Krankenliege inmitten des Flusses. Da könnte sich schon jemand so seine Gedanken machen.

Auch in seinen späteren Erfolgsromanen ”Der Trafikant” (2012) und “Ein ganzes Leben” (2014) erzählt Seethaler ähnlich. Aber er er lässt seine Protagonisten auf eine echte Welt stoßen. Andreas Egger ist ein Außenseiter, der seine kleine Bergwaldarbeitswelt vergeblich gegen die Gegenwart, den Tourismus, die Natur, den Krieg verteidigt. Seethaler konzentriert ein ganzes Leben auf 160 Seiten, dem Buch tut das gut. Der Der 17-jährige Franz Huchel wird 1938 aus seinem Heimatdorf nach Wien geschickt, um dort Trafikant zu werden, er trifft auf Sigmund Freud und muss sich mit den rabiaten Hitleristen auseinandersetzen. Gerade diese Verflechtungen des persönlichen Schicksals mit den historischen Wirren macht die Attraktivität des Romans aus. In „Die weiteren Aussichten“ fehlen solche Bezüge, fehlt auch die erzählerische Reduktion. Das Erzählen ist pure Empathie, der Zweck ist damit beschrieben.

Diese Hasen, hat sich Herbert gedacht, die schauen aus ihren braunen Augen in die Welt hinaus und wissen eigentlich recht wenig. Zum Beispiel wissen sie nichts über die eigene Schlachtung, die haben nicht einmal eine Ahnung davon, die kennen auch keine Spieße, und schon gar nicht kennen sie Nagelscheren, aber irgendetwas hinter diesen mit Samt ausgelegten großen, runden, dunklen Augen, irgendetwas da tief drinnen in so einem Hasen, kennt den Tod, hat Herbert sich weiter gedacht, und da war er sich ganz sicher. Den Tod kann man nämlich kennen, ohne viel zu wissen. Und wer den Tod kennt, der kennt auch das Leben, und wer das Leben kennt, der hat auch eine Seele, so ist das nämlich und nicht anders.

Gottlob nennt Seethaler Herbert nicht “der Herbert” und gleitet so nicht ganz ins kindgrecht Christinenöstlingerische, “die Mama” muss natürlich so heißen.

2008 315 Seiten



Knapp
29. Februar 2016, 18:15
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Radek Knapp: Der Gipfeldieb

knappgipfeldiebLudwik Wiewurka lebt schon lange in Wien, nachdem ihn seine Mutter als Zwölfjähriger von Polen und seinen Großeltern weg nach Österreich „entführt“ hat. Zu seiner Mutter spricht er in der 3. Person und lässt sich von ihr mit Unmengen von Palatschinken verwöhnen. Jetzt ist er 35, – äußerlich – erwachsen und nach verschiedenen Tätigkeiten als Heizungsableser beschäftigt. Ein Job, der ihm zusagt, denn er kommt in Gemeindewohnungen und trifft dort auf seltsame Wiener samt ihren Tieren und erlesenen Liebhabereien. Besonders ins Herz schließt er den „Gipfeldieb“, der ihm einen Gipfel von der hohen Tatra schenkt.

»Ich bin so gut wie fertig«, sagte ich meinen Spruch auf und machte mich an die Arbeit. Schon nach einigen Augenblicken wurde klar, dass es weniger eine Wohnung war als eine umgebaute Skihütte. Praktisch alles außer meinen Heizkörpern gehörte ins Reich der Berge, denn wenn man in meiner neuen Heimat von etwas wirklich was versteht, dann davon, Tausende mysteriöse Gegenstände zu produzieren, die das Fortkommen in den Alpen erleichtern. (…)
Es gab keine Möbel oder sonst irgendwelche Spuren dessen, was man Wohnlichkeit nennt. Stattdessen stand es voller Glasvitrinen, zwischen denen man auf schmalen Wegen hindurchgehen konnte. Etwas Ähnliches hatte ich mal im Naturhistorischen Museum in der Käfersammlung gesehen. Nur lagen in diesen Vitrinen hier keine Käfer, sondern kleine Felsbrocken. (…)»Schauen Sie doch bitte genau hin«, sagte er sanft und zeigte auf die Vitrine vor meiner Nase. »Was sehen Sie da?«
Ich ging so nah an das Glas wie nur möglich. Aber es waren immer noch gewöhnliche Felsstücke, egal, aus welcher Entfernung man sie betrachtete.
»Ich muss passen«, sagte ich. »Worauf muss ich achten? Übersehe ich etwas Wichtiges?«
»Alles haben Sie übersehen! Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sie sehen mit den Augen eines Laien. Nehmen wir den da zum Beispiel«, er zeigte auf ein Felsstück, das wie ein halbiertes Brot aussah. Auf der Schachtel stand: »Eiger, Mönch und Jungfrau«. »Das habe ich als Letztes heruntergeholt.« Er berührte zärtlich das Glas: »Das sind alles Gipfel.«
»Gipfel? Was für Gipfel?« Ich stand auf der Leitung. Aber ich war kein Bergmensch.
»Berggipfel natürlich. Alle eigenhändig abgeschlagen. Mit der Spitzhacke da drüben.« Er zeigte auf die Spitzhacken, die sich in einer Ecke türmten. »Und jetzt sind sie alle hier bei mir.«
»Ja, aber darf man das denn?«, fragte ich verwundert. Eine berechtigte Frage, wie ich fand. Wenn mehr Leute auf die Idee kämen, würden die Österreicher bald statt Skiabfahrten nur noch einen großen flachen Eislaufplatz haben.
»Sicher darf man das. Die Berge gehören uns allen.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Das ist wirklich originell. « »Das ist nicht originell«, er ärgerte sich wieder, »das ist notwendig und nützlich.«
Ich zweifelte daran, ob der Alpenverein das auch so sehen würde, aber ich nickte eifrig, weil mir nichts Intelligentes als Antwort einfiel.
»Ich bin kein primitiver Gipfeldieb, mein Junge«, belehrte er mich dann. »Wenn ich ein Problem habe, gehe ich auf einen Berg und schlage einen Gipfel ab. Letztes Jahr starb meine Mutter, da habe ich den Großglockner genommen. Ich habe sieben Tage gebraucht, um hinaufzukommen, weil das Wetter so schlecht war. In diesen sieben Tagen habe ich alles vergessen, sogar dass ich eine Mutter hatte, die einfach so tot umgefallen ist. « Er nahm vorsichtig einen anderen Gipfel heraus. »Und den habe ich vom Montblanc geholt, als meine Angetraute mir sagte, sie würde lieber mit der Luft zusammenleben als mit mir. Da habe ich endgültig verstanden, was das Wichtigste ist im Leben. Weder Geld noch Gesundheit, ja nicht mal die Liebe, sondern die Vogelperspektive. Hinter der sind alle her. Verstehen Sie langsam?«
»Ich glaube, ich fange an, ja.«

Radek Knapp erzählt amüsant verschiedene Episoden aus seinem Leben – stets verwundert über die Rituale und deren skurrile Eigenheiten. Im Rathaus wird ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen, gerade noch rechtzeitig vor seinem 35. Geburtstag, damit er zum Wehrdienst eingezogen werden kann. „Von nun an wird sich der österreichische Staat um Sie kümmern.“ Mit etwas List und Glück kann er den Dienst aber als Helfer im Altersheim „Weiße Tulpe“ leisten. Auch dort findet er sich schnell ein und freundet sich mit dem Leiter und mit Schwester Sylvia an.

Ein Schelmenroman, heiter und melancholisch erzählt, mit dem Zynismus des Menschenfreundes. „Die Behörden in ganz Westeuropa bemühten sich recht ordentlich, die Fremden zu integrieren. (…) Der Westen hatte gute Absichten, er übersah nur einen Punkt. Dass es keinen Emigranten auf der Welt gibt, der sich selbst als Emigranten sieht.“
„Die Leichtigkeit und subtile Hintergründigkeit, mit der Knapp das Leben dieses Konsum- und Karriereverweigerers skizziert, macht ihm so schnell keiner nach.“ (Linda Stift, Die Presse) Im Polnischen heißt „wiewiórka“ Eichhörnchen.

2015        2015 Seiten

Audio-Besprechung des SWR (4:30)

Leselounge: „Man darf nicht alles so ernst nehmen!“
Radek Knapp im Gespräch mit Günter Kaindlstorfer (Video 14:30)

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Taschler
27. Februar 2016, 15:02
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Judith W. Taschler: Die Deutschlehrerin

taschlerlehrerinSie heißen Mathilda und Xaver. Obwohl sie aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, finden sie sich in Wien beim Studium, verstehen sich und bleiben 16 Jahre zusammen. Sie will Kind und Familie, er fühlt sich dafür noch nicht „reif“ genug. So weit, so üblich.

Xaver ist nach anfänglichen Misserfolgen bekannter und vielgelesener Schriftsteller geworden, nachdem eine zusammen mit Mathilde erarbeitete Jugendbuchtrilogie unter seinem Namen auf den Markt kam. Mathilda ist pädagogisch und methodisch ambitionierte und bei ihren Schülerinnen sehr beliebte Deutschlehrerin. Irgendwann ist Xaver weg, wie sich herausstellt, hat er Denise aus prominenter Familie geheiratet und hat zudem ein Kind von Denise, Jacob. Nichts Ungewöhnliches – für einen Roman.

Nach 16 Jahren führt das Schicksal – mit einiger Nachhilfe – Mathilda und Xaver wieder zusammen. Einige Schriftsteller erklären sich bereit, in Schulen Schreibwerkstätten zu betreuen und Xaver wird Mathildas Innsbrucker Gymnasium „zugelost“. Vor dem Treffen sind sie natürlich aufgeregt, doch es ergibt sich, dass sie sich immer noch verstehen, ja, lieben, auch wenn sie die Verarbeitung ihrer Trennung ordentlich durchgeschüttelt hat. Zeit für das Happy-End. Fast.

Judith W. Taschler erzählt diese so oft erzählte Geschichte ein wenig anders und darin liegt der Reiz des Romans. Sie dekonstruiert zunächst einmal die Komposition, um die Bausteine dann recht raffiniert neu zu konfigurieren. Mit Andeutungen erzielt sie Spannung, um den Leser (die Leserin) dann mit ausführlichen Rückblenden auf beider Familienstammbäume in die Warteschleife zu schicken. Die Zeiten verzopfen sich. Vor dem erneuten Treffen schreiben sich Mathilda und Xaver lange e-Mails, Taschler zitiert Vernehmungsprotokolle, lässt Mathilda und Xaver Spiegelgeschichten erzählen, in denen sie über ihre jeweilige Deutung des Geschehens spekulieren können. Die kurzen Kapitel wechseln sich schnell ab. Das ist auf der Höhe der Zeit.

Gesendet: 27. Jänner 2012 Von: M. K
An: Xaver Sand

Mir ist es aber wichtig. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es mich quälte. Ein paar Wochen nach deinem Weggehen erfuhr ich, dass du sofort bei ihr eingezogen bist. Ich würde gerne wissen, wann und wo du sie kennengelernt hast und wann ihr ein Paar wurdet. Es war ja dein Vorschlag, über Vergangenes zu erzählen und zu reflektieren und ich finde, das zu erzählen, bist du mir schuldig.
Mathilda

Vier Minuten später Von: Xaver Sand An: M. K.

Gut, ich werde es Dir genau erzählen, doch jetzt muss ich leider dringend weg. Ich wünsche Dir eine gute Nacht! Xaver

Was auffällt – oder abfällt -, ist die betont einfache Sprache, die oft in ihrer nüchternen Unbeholfenheit an Erzählversuche in Schreibwerkstätten erinnert. Das lässt sich natürlich durch den Inhalt legitimieren und Taschler spielt ja auch mit dem Motiv. Der Roman ist insofern Attitüde. Etwas bizarr wirkt es, wenn in den e-Mails durchgehend das Präteritum verwendet wird: „du aßest“ oder „fühltest du dich so sicher“ oder „du schildertest mir“. Das dürfte sich auch in Österreich – oder gerade dort – ungewohnt anhören. Die e-Mail-Texte sind im Ausdruck viele elaborierter als der sonstige Romanstil.

Nach seinem Verlagspraktikum in München hielt Xaver einen Anstandsbesuch bei seiner Mutter für nötig, da er seit fast einem halben Jahr nicht mehr zu Hause gewesen war; und weil er nicht alleine fahren wollte, fragte er Mathilda, ob sie ihn nicht begleiten wolle.
Es war ein strahlend schöner Septembertag und beide waren gut gelaunt. Die Zugfahrt dauerte zweieinhalb Stunden, am Bahnhof wurden sie von einem Nachbarn abgeholt, der sie die letzte halbe Stunde in seinem uralten Mercedes Benz bis direkt vor das Haus schaukelte. Mathilda saß hinten auf dem Rücksitz und träumte vor sich hin; der alte Mann gab sich ihr gegenüber betont jovial und sie amüsierte sich mit ihm. Überglücklich war sie, dass Xaver von ihr erzählt hatte und daraufhin seine Mutter sie kennenlernen wollte, es bedeutete ihr sehr viel und sie war ein bisschen aufgeregt.

Judith W. Taschler schreibt die triviale Liebesgeschichte in trivialem Stil, wertet sie aber durch die Haken der Komposition und durch psychologisierende “Lebensmotive“ und kriminialistische Einlagerungen auf. Als Krimi habe ich das Buch nicht gelesen, auch wenn es 2014 den Friedrich-Glauser-Preis für Kriminalliteratur erhielt.

Das Titelbild scheint in die Irre zu führen, trifft aber wohl doch den Kern des Romans.

2013         225 Seiten (TaBu)

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Straub
16. Juni 2015, 18:02
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Isabella Straub: Das Fest des Windrads

straubOed ist das Zentrum am Rande der Welt in Isabella Straubs Roman „Das Fest des Windrads“. Damit hat jeder kleiner Ort – nicht nur in Österreichs Osten – seinen Namen. Immerhin hat Oed einen Bahnhof und ein Taxi und deren Insassen lönnen sich somit hier über den Weg laufen und eine Handlung in Gang bringen. Ein Zug bleibt – aus technischen Gründen ? – unerwartet stehen und da sie es eilig hat, zu einem Kongress der Firma MEDICALUX, dem Marktführer für Endoskope, nach San Marino zu gelangen, steigt Greta Kaminsky aus dem Zugfenster. Das Taxi gehört Jurek, dem einstigen Philosophiestudenten, und obwohl sie in einem wenig passenden Moment auftritt, bringt er Greta in den Ort. Oed (TG), am tiefen Graben.

Oed ist die Endstation für Gretas Karriere, Oed saugt sie ein, sie bleibt – zumindest – bis zum Fest des Windrads, wo die Gemeinde ihr einziges „Wahrzeichen“, eine amerikanische Western-Mill aus der Nachkriegsbesatzungszeit, abfackeln will. Oed bricht auf, in welche Zukunft auch immer. Isabella Straub bevölkert ihr Kaff mit dem erwarteten Personal, alle stecken irgendwie in Oed fest, fahren allenfalls einmal nach Mundschuh, den Nachbarort, alle haben ihr Häuschen, von Folterkellern ist nichts bekannt, alle haben ihre Macken, sind aber irgendwie sympathisch in ihren kleinen Nöten. Man bräuchte den anderen, versteht ihn aber nicht recht und zieht sich deshalb lieber zurück ins Nest, aber auch das klappt nicht. Während manche drauflos plappern hält Jurek meistens ein Wort oder einen Satz zurück, um sich nicht festgelegt zu haben. Von Liebe ist da gar nicht zu reden, drandenken tun doch alle ständig. „Die Männer, die ich kennenlerne, werden nie erwachsen. Damit ist mein Kinderwunsch erfüllt und abgehakt.“ Die Frau von Joe, dem dicken Diabetiker, hat ihm zum Abschied nur einen Zettel auf den Tisch gelegt: „“’Das war’s, du Arsch’, und als hätte das noch nicht gelangt, auch noch: ‚Alle Orgasmen waren vorgetäuscht, alle.’ Vierzehn Jahre lang, ein herber Schlag.“ Was zur Hilfe angeboten ist, nennt sich „Burnout-Oase“.

Ob das alles ist, was übrig bleibt. Ein kaltes Zimmer und ein unfertiges Haus. Ein unfertiges Leben, denkt Jurek. Mehr kann er nicht vorweisen. Keinen Putz, keine Farbe. Keine Blumen an den Fenstern. Nur zwei Tiefkühltruhen, randvoll mit antikem Fleisch. Tiefgefrorene Sorgen – das ist es, was übrig bleibt. Er verlässt das Zimmer erst, als es still geworden ist im Haus. Unten wirft er einen Blick auf sein Handy. Eine neue Nachricht. Ein Foto, das Mathilda mit rosafarbenen Turnschuhen zeigt. Lillifee-Schuhe. Stolz hält sie ihre Errungenschaft in die Kamera. Da wird Jurek ganz warm. Seine Hand, die das Handy hält, zittert.

Nicht nur Greta bringt Jureks eingerichtetes Leben aus den Gleisen, sondern auch seine etwas mollig gewordene Tochter Lynn und deren spillerigen Bräutigam , die sich in Jureks Haus niederlassen wollen.

Er wird einen Schwiegersohn bekommen, der Alfred heißt. Vielleicht mausert er sich noch zu einem ansehnlichen Kerl, denkt Jurek. Vielleicht strömt ja das Gewicht, das Lynn in Zukunft noch verlieren wird, direkt in Alfreds Körper, und am Ende sehen beide akzeptabel aus. Vielleicht ist es das Höchste, was man mit Liebe erreichen kann: einen relativen Ausgleich. (…) »Was arbeitest du, Alfred?«, will Jurek wissen. Jetzt und hier im Auto müssen die Fragen beantwortet werden. »Versicherungsmakler«, sagt Lynn. »Welche Art Versicherungen?« Endlich macht Alfred den Mund auf. »Alles«, sagt er. Jurek seufzt. Auch das noch. »Er ist unabhängig«, sagt Lynn. »Unabhängiger Berater. Sucht dir immer die günstigste Versicherung heraus. Für Wohnung, Auto, Betriebsausfall und so.« »Mit Königsprodukt«, sagt Alfred. »Etwas Einzigartiges«, sagt Lynn. »Du wirst Augen machen.«

Isabella Straub holt den Oeder Alltag aus dem Grau und (er)findet viel Kurioses, das sie aufeinander prallen lässt. Ihre Phantasie schlägt Kapriolen, ermattet aber dann doch und wird abgelöst von etwas erzwungenen Konstellationen. Die dem Roman zugeschriebenen Attribute “Gegenwartsanalyse” (ORF), Ort der “Begegnung mit sich selbst” (Klappentext) greifen zu hoch. Amüsant sind die pointierten Beobachtungen aus den Grabenbereichen der sich verlierenden Illusionen.

2015       350 Seiten

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Isabella Straub liest aus dem Roman auf zehnseiten.de

Homepage von Isabella Straub



Seethaler
4. Dezember 2014, 13:40
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Robert Seethaler: Ein ganzes Leben

seethalerlebenDie dicke Frau lächelte. »Ich glaube, es ist alles ganz geblieben«, sagte sie. »Nur der Schenkel tut ein bisschen weh. Jetzt können wir beide nebeneinander ins Tal hinunterhinken. «
»Nein«, sagte Egger und stand auf. »Ein jeder hinkt für sich allein!«

Muss man noch einmal vom archaischen Leben in den Bergen erzählen? Von einem, der sich nur in der Welt der Berge bei sich fühlt. Dem die Berge weder Wander- noch Wellnessresort sind, sondern eine Welt, die ihn vor den Menschen schützt, denen man sich nicht erklären kann. Sollen wir diese Exotik kennenlernen oder wollen wir uns dafür begeistern? Back to the roots, das einfache Leben, ausgestellt im Gehege des Romans.

Robert Seethaler ist zu Hanser nach Berlin gezogen und er hat seine Berg- und Talgeschichten mitgenommen. Andreas Egger, die Hauptperson, ist ins Tal gekommen und Seethaler erzählt sein Leben, „ein ganzes Leben“. Aber Egger ist nicht im Tal angekommen. Jedes Gefühl treibt ihn wieder in die Höhe, die Strahlen der Sonne wärmen ihn. Meistens jedoch friert er, denn er ist arm, lebt auch im Dorf eher in Hütten und Koben als in wohnlichen Behausungen. Egger mystifiziert die Natur nicht, er ist ja Teil davon. Die Natur ist auch nicht nur erhebend, sie ist – sogar ihm – zu karg, zu bedrohlich.

Einmal, während einer kurzen Rast am Zwanzigerkogel, packte ihn ein vor Ergriffenheit bebender junger Mann an den Schultern und schrie ihn an: »Sehen Sie denn nicht, wie wunderschön das alles hier ist!« Egger blickte in das von Glückseligkeit verzerrte Gesicht und sagte: »Schon, aber gleich wird es regnen, und wenn die Erde zu rutschen anfängt, ist es vorbei mit der ganzen Schönheit.«

Egger hat viel zu ertragen. Als Kind wird er von seinem Ziehvater zum hinkenden Krüppel geschlagen.Das Schlimmste, was Egger im Leben passiert, ist eine Lawine, die seine Frau verschüttet. Die Liebe ist kurz in den Bergen, Geborgenheit lässt sich nur träumen. Andreas Egger ist ein Einfältiger, der nicht zum Denken gemacht oder erzogen ist, sondern zum Arbeiten. Das kann er, wenig mehr. Kein Held – auch nicht für einen Roman von 2014.

Die Zeitgeschichte bleibt im Hintergrund, nicht nur für Egger, der für die Politik zu klein ist, sondern auch für Seethaler. Egger muss in den Krieg, aber der erweist sich für ihn als Fortsetzung der Arbeit auf anderen Gipfeln. Er wird auch im Kaukasus vergessen – und überlebt vielleicht gerade deshalb. In der Zeit nach 1945 erkennt Egger keine neue Zeit: „Der Bürgermeister war nun kein Nazi mehr, statt Hakenkreuzfähnchen hingen wieder Geranien vor den Fenstern und auch sonst hatte sich viel verändert im Dorf.” Zu selten erhebt sich Seethaler so lakonisch.

Egger nahm alle diese Veränderungen mit stiller Verwunderung hin. Nachts hörte er in der Ferne das metallische Knarren der Metallstreben entlang der Hänge, die jetzt Pisten hießen, und morgens wurde er oft vom Lärmen der Schulkinder hinter der Wand am Kopfende seines Bettes geweckt, das schlagartig abriss, sobald der Lehrer das Klassenzimmer betrat. Er erinnerte sich an seine eigene Kindheit, an die wenigen Schuljahre, die sich damals so unendlich lang vor ihm ausgebreitet hatten und die ihm jetzt kurz und flüchtig vorkamen wie Wimpernschläge. Überhaupt verwirrte ihn die Zeit. Die Vergangenheit schien sich in alle Richtungen zu krümmen und in der Erinnerung gerieten die Abläufe durcheinander beziehungsweise formten und gewichteten sich auf eigentümliche Weise immer wieder neu. Er hatte viel mehr Zeit in Russland verbracht als gemeinsam mit Marie, und doch schienen die Jahre im Kaukasus und in Woroschilowgrad kaum länger gewesen zu sein als die letzten Tage mit ihr. Die Zeit beim Seilbahnbau schrumpfte im Rückblick auf die Länge einer einzigen Saison zusammen, während es ihm vorkam, als hätte er sein halbes Leben über einer Ochsenstange hängend verbracht, mit Blick auf die Erde, den kleinen weißen Hintern gegen den Abendhimmel gereckt.

Egger erlebt noch das Fernsehen und den beginnenden Alpentourismus. Beides bleibt ihm fremd. Er rebelliert nicht, es ist keine Einsicht, es bleibt Einfalt. Ein „Ausflug“ mit dem Bus führt Egger zu weit weg von seinem Lebensfleck. »Wo wollen Sie denn eigentlich genau hin?«, fragte der Mann. Der alte Egger stand nur da und suchte verzweifelt die Antwort. »Ich weiß es nicht«, sagte er und schüttelte langsam und immer wieder den Kopf. »Ich weiß es einfach nicht.« Das könnte Weisheit sein, es ist aber die Banalität.

Ich kann so einen wie Andreas Egger bewundern und Seethaler macht es mir leicht. Er findet den leichten Ton für das harte Schicksal. Er macht keine überflüssigen Worte, wo sie nicht hinpassen. Er nimmt seinen Andreas Egger ernst. Auf den Bergen ist es kalt.

»In welcher Erde willst du begraben sein?«
»Weiß ich nicht«, sagte Egger. Über diese Frage hatte er noch nie nachgedacht, und eigentlich lohnte es sich seiner Meinung nach auch nicht, auf derartige Dinge Zeit und Gedanken zu verschwenden. »Die Erde ist die Erde, und wo man liegt, bleibt sich gleich.«
»Vielleicht bleibt es sich gleich, so wie sich am Ende alles gleich bleibt«, hörte er den Hörnerhannes flüstern. »Aber es wird eine Kälte sein. Eine Kälte, die einem die Knochen zerfrisst. Und die Seele.«
»Auch die Seele?«, fragte Egger, dem plötzlich ein Schauder über das Rückgrat fuhr.
»Vor allem die Seele! «, antwortete der Hörnerhannes. Er hatte jetzt seinen Kopf, so weit es ging, über den Kraxenrand hinausgereckt und starrte gegen die Wand aus Nebel und fallendem Schnee. »Die Seele und die Knochen und den Geist und alles, woran man sein Leben lang gehangen und geglaubt hat. Alles zerfrisst einem die ewige Kälte. So steht es geschrieben, denn so habe ich es gehört. Der Tod gebiert neues Leben, sagen die Leute.
Aber die Leute sind blöder als die blödeste Geiß. Ich sage: Der Tod gebiert gar nichts! Der Tod ist die Kalte Frau.«
»Die … was?«
»Die Kalte Frau«, wiederholte der Hörnerhannes. »Sie geht über den Berg und schleicht durchs Tal. Sie kommt, wann sie will, und holt sich, was sie braucht. Sie hat kein Gesicht und keine Stimme. Die Kalte Frau kommt und nimmt und geht. Das ist alles. Im Vorbeigehen packt sie dich und nimmt dich mit und steckt dich in irgendein Loch. Und im letzten Stück Himmel, das du siehst, bevor sie dich endgültig zuschaufeln, taucht sie noch einmal auf und haucht dich an. Und alles, was dir dann noch bleibt, ist die Dunkelheit. Und die Kälte.«
Egger sah in den Schneehimmel hinauf und hatte für einen Moment Angst, etwas könnte darin auftauchen und ihm ins Gesicht hauchen. »Jesus«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Das ist schlimm.«

2014         155 Seiten

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Seethaler
18. Mai 2014, 19:09
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Robert Seethaler: Der Trafikant

trafikant

Der Franzl aus dem Salzkammergut geht in die große Stadt, nach Wien. Er hat eine Stelle gefunden bei einem „befreundeten“ Trafikanten, Otto Trsnjek. Viel ist nicht zu tun, Franzl soll ein bisschen im Laden helfen und vor allem Zeitungen lesen. Man schreibt das Jahr 1937 und es kommt, wie’s muss: Franzl verliebt sich in das erste Mädelchen, das ihm unter die Augen kommt. Eine „Runde“ aus Böhmen, mehr weiß er nicht von ihr. Bald ist sie wieder weg, Franzls Weg zum Franz endet in der erwarteten Enttäuschung. Franz ist verwirrt. Die Mama, mit der sich Franz(l) Postkarten und dann Briefe schreibt, heißt jetzt Mutter. Die Trafik liegt im Alsergrund, in der Währinger Straße und da ist nicht weit entfernt die Berggasse und da wohnt, wie man weiß, im 37-er Jahr noch der Professor Sigmund Freud, der sich mit Frauen auskennen soll und mit der Liebe. Der kommt ab und zu in die Trafik, um sich seine Zeitungen und seine Zigarren zu holen, und er kommt wie gerufen, denn er könnte ja dem Franzl in Liebesdingen professorale Hilfe leisten. Freud und Franzl freunden sich an, hilfreiche Ratschläge hat aber auch der väterliche Freund nicht zu bieten.

Franz sah ihn mit großen Augen an. Ein Zittern lief ihm durch den ganzen Körper. Ja, dachte er, ja, ja, ja! Und im nächsten Moment brach es aus ihm heraus: »Ein Mädchen!«, rief er derart gellend, dass die drei alten Damen, die sich auf der anderen Straßenseite eben erst zu einer kurzen Gassentratscherei zusammengerottet hatten, verschreckt ihre kunstvoll ondulierten Köpfe nach ihnen umdrehten. »Ja, wenn das so einfach wäre … ! Endlich hatte er das ausgesprochen, was ihm schon seit langer Zeit, im Grunde genommen schon seit dem Tag, an dem seine ersten Schamhaare zaghaft zu sprießen begonnen hatten, sowohl das Hirn als auch das Herz umrührte. »Bislang haben das noch die allermeisten geschafft«, meinte Freud und bugsierte mit seinem Gehstock zielsicher einen Kiesel vom Trottoir. »Das heißt aber noch lange nicht, dass ich es schaffen werde! »Und warum ausgerechnet du nicht?« »Da, wo ich herkomme, verstehen die Leute vielleicht was von der Holzwirtschaft und davon, wie man den Sommerfrischlern ihr Geld aus den Taschen zieht. Von der Liebe verstehen sie rein gar nichts!« »Das ist nichts Außergewöhnliches. Von der Liebe versteht nämlich niemand irgendetwas.« »Nicht einmal Sie?« »Gerade ich nicht!« »Aber warum verlieben sich dann alle Leute ständig und überall?« »Junger Mann«, sagte Freud und hielt an. »Man muss das Wasser nicht verstehen, um kopfvoran hineinzuspringen!« »Ach!«, sagte Franz in Ermangelung passenderer Worte, die die unermessliche Tiefe seines Unglücks zum Ausdruck bringen könnten. Und gleich noch einmal hinterher: »Ach!« »Wie dem auch sei«, sagte Freud. »Wir sind angekommen. Darf ich um meine Zigarren und meine Zeitung bitten?« »Aber natürlich, Herr Professor!«, sagte Franz mit hängendem Kopf und reichte ihm das Paket. BERGGASSE NR. r9 stand auf dem Schildchen über dem Hauseingang. Freud nestelte einen Schlüsselbund hervor, sperrte auf und lehnte seinen schmächtigen Körper gegen das schwere Holztor. »Darf ich Ihnen …« »Nein, du darfst nicht«, knurrte der Professor, während er sich schnell durch den Türspalt ins Innere drängte. »Und denk daran«, schob er hinterher und reckte seinen Kopf noch einmal ins Freie. »Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss. Ich wünsche einen angenehmen Tag!« Damit verschwand er im Dunkel des Hausflurs. Mit einem leisen Knarren schloss sich das Tor, und Franz stand alleine im Wind.

Inzwischen ist es 1938 geworden, in Wien wehen immer mehr rote Fahnen mit Hakenkreuzen, die Nazis werden rotzfrech, nisten sich ein, die Wiener machen sich klein, die Trafik verliert Kunden. Steine fliegen, Franz muss das Geschäft für Herrn Trsnjek führen, die Böhmin Anezka schließt sich einem Nazi an, Professor Freud hat sich mit der “Reichsfluchtsteuer” seine Ausreiseerlaubnis erkauft. Es dauert lange, bis der brave Franz die Geduld verliert und seine politische Unschuld. Der Ton der Erzählung wird bitterer. Robert Seethaler hat einen sympathischen Roman mit einem liebenswerten “Helden” in diese Stadt in Aufruhr geschrieben. Er nimmt sich Zeit für die bescheidenen Höhepunkte und die Katastrophen des Lebens. Zeit auch für die kleinen Dinge, das Essen und die Gerüche und die unscheinbaren Ecken des Bezirks. “Der Trafikant” ist ein leises politisches Buch, wie der Franz ein leiser Mensch ist. “Wer nichts weiß, hat keine Sorgen, dachte Franz, aber wenn es schon schwer genug ist, sich das Wissen mühsam anzulernen, so ist es doch noch viel schwerer, wenn nicht sogar praktisch unmöglich, das einmal Gewusste zu vergessen.“ Doch auch für die Ruhigen werden die Abgründe immer tiefer. “Der Trafikant” ist ein österreichischer Roman, Gerhard Polt sieht ihn “in der Tradition von Alfred Polgar und Joseph Roth”. Das Grauen schleicht sich durch die Lakonie des Erzählens, die feine Beiläufigkeit. Ohne Schmäh, dafür ist die Lage zu ernst. Freud und Franz trennt nicht nur das Alter, aber sie verstehen sich. Franz hat sich sogar angewöhnt, seine Träume aufzuschreiben; er pickt die Traumhappen als “aufgeklebte Absonderlichkeiten” an die Scheibe seiner Trafik und die Passanten beglotzen sie, ohne “auch nur das Geringste zu verstehen”.

„Freuds Gesicht hellte sich auf. Eigentlich hatte er sich in Gegenwart sogenannter ,einfacher Leute‘ immer ein wenig unbeholfen und deplatziert gefühlt. Mit diesem Franz aber verhielt es sich anders. Der Bursche blühte. Und zwar nicht wie die über Jahrzehnte ausgebleichten und durchgesessenen Strickblüten auf einer der vielen Decken, die seine Frau immer so sorgfältig über die Couch drapierte und in deren dicken Wollfasern sich auf magische Weise der Staub der ganzen Wohnung zu sammeln schien. Nein, in diesem jungen Mann pulsierte das frische, kraftvolle und obendrein noch ziemlich unbedarfte Leben.“

„‚Hm‘, meinte Franz und legte eine Hand an seine Stirn, um das wilde Durcheinander seiner Gedanken dahinter ein wenig einzudämmen. ‚Könnte es vielleicht sein, dass Ihre Couchmethode nichts anderes macht, als die Leute von ihren ausgelatschten, aber gemütlichen Wegen abzudrängeln, um sie auf einen völlig unbekannten Steinacker zu schicken, wo sie sich mühselig ihren Weg suchen müssen, von dem sie nicht die geringste Ahnung haben, wie er aussieht, wie weit er geht und ob er überhaupt zu irgendeinem Ziel führt?‘ Freud hob die Augenbrauen und öffnete langsam den Mund. ‚Könnte das sein? Habe ich etwas unglaublich Blödsinniges gesagt?‘ wiederholte Franz. Freud schluckte. ‚Nein, das hast du nicht. Das hast du ganz und gar nicht.'“

  2013      250 Seiten (TaBu)

Homepage von Robert Seethaler mit Video-Lesung und Leseproben

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Stangl
13. April 2014, 18:44
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Thomas Stangl: Regeln des Tanzes

stangltanzThomas Stangl steigert die Merkmale des modernen Ichs ins Extrem. Von den „Segnungen“ der Moderne ist nichts geblieben, geblieben ist das vereinzelte, vereinsamte, ungebundene  Individuum. Alles, alles hat sich aufgelöst, die Zeit, der Raum, die Form, der Sinn. Vergangenheit und Gegenwart schieben sich ineinander, Zukunft ist allenfalls als zeitlos ahnbar. Vielleicht implodiert die Zeit aber auch. Innenräume gehen in Außenräume über – und umgekehrt, wo hier ist, ist vielleicht auch woanders, vielleicht nirgends. Die Personen sind zum Verwechseln und verwechseln sich selbst. (164) Wo kein  Ziel ist, kann es keine Leidenschaft geben, keinen Willen, das Ich ist völlig zurückgeworfen auf sich selbst. Nicht einmal der Tod ist eine Perspektive, am ehesten noch das Zerfließen.

Du läufst hier herum und tust dabei nur noch so, als würdest du herumlaufen. Jeder Atem­zug sagt dir, dass nicht selbstverständlich ist, dass du atmest; etwas Unerträgliches kann in der Wohnung sein, irgendwo in der Wohnung, eine Leiche; jemand Fremdes kann jederzeit in die Wohnung eindringen; jemand Fremdes beobachtet sie, bei allem, was sie tut; jemand Fremdes, eine Anwesenheit, eine Leiche, eine Leiche, die lebt. Sie trinkt ihren Kaffee und hofft, er könnte wenigstens die Watteschicht von ihrem Kopf ab­lösen, sie würde gern mit jemandem reden, jemanden anrufen, aber es ist Sonntagvormittag, und außerdem weiß sie nicht, was sie überhaupt erzählen kann; ob das, was sie erlebt, eine Geschichte ist, die sich erzählen lässt, ob irgendjemand etwas davon verstehen könnte. Und bist du nicht schon so weit, dass du mit niemandem mehr sprichst, weil du die Behauptun­gen der anderen nicht mehr erträgst; noch viel weniger deine eigenen Behauptungen, so künstlich bist du dir geworden. Du erträgst nur noch stumme Zeichen.

Stangl ist konsequent.  Er beschreibt die Auflösungen nicht nur, er macht sie zum Stilprinzip seines Erzählens. Wenn die Personen unfähig sind zu handeln, kann es keine Handlung mehr geben. Nur mit ihren Tentakeln tasten die Ichs nach anderen, sie kommen sich selbst und allen anderen abhanden. Walters Partnerin Pre ist nicht mehr da, das einzige, was Walter vermag, ist vage zu ahnen, dass er allein ist. Auch Mona ist nicht mehr da, ihre Schwester stellt das fest, spürt Relikte, Düfte, Wäsche, Angewohnheiten, an die sie sich zunehmend unbestimmt erinnert. Mona treibt durch die „Stadt“ und den „Wald“, dann unmotiviert wieder zurück, wo sie ist, ist egal, wer sie ist, auch. Stangl schreibt über seine Personenfragmente in der 3. Person, wechselt aber ständig ins Du: Wer ist gemeint? Du könnte persönlich sein, du ist jede(r).

Beschreibend ist das nicht möglich, das Verfahren Stangls ist nachvollziehend. Stangl ist es so gut gelungen, wie ich es selten gelesen habe. Das ist aber auch das Problem des „Romans“. Es wird zur Zumutung, von der Langeweile nicht nur zu sprechen, sondern sie erzählend zu doppeln. Es wird zur Qual, psychische Deformationen als solche lesend verspüren zu müssen. Wie soll man darstellen, dass eine Person keine Antriebe mehr hat, keine Kontakte mehr aushält? Wie soll absolute Individualität kommuniziert werden? „Stangls Blick arbeitet nicht am Panorama, sondern verharrt konsequent in der Innenperspektive seiner Figuren. Welterkenntnis und mögliche Weltveränderung können auf diese Weise, wenn überhaupt, nur Resultate von Selbsterfahrung sein, die aber wiederum permanentem Zweifel unterzogen ist.“ (Christoph Schröder, ZEIT)

Jede Geschichte spielt in der Zeit, also bedarf es zumindest einer Andeutung von Geschehen. Stangl ringt es sich murrend ab.

Also gut, es geht nicht anders, beginnen wir mit den Bildern. Was sind schon Bilder: Formen auf Papier oder Bildschirmen, Licht, versteckte Magie.
Es konnte kein Zufall sein, dass er die Filmdosen fand. Nicht, dass er einen offenkundigen Sinn darin sah oder etwas Ähn­liches erwartet hatte, aber er nahm sie bedenkenlos an sich, ruhig, ohne Hast und Aufregung, erst im Nachhinein erfasste ihn eine Art von Erregung, eine Art von Glück: als hätte er schon gesehen, was die Fotos für ihn (für irgendeinen, aber jetzt nur mehr für ihn) bereithielten, einen ganzen Film, in den er umsteigen könnte wie in eine parallele, auf Zelluloid­streifen festgehaltene Existenz.
Zu dieser Zeit hatte Doktor Steiner (wie er zuweilen auch für sich selbst hieß) gerade erst wieder begonnen, ziellos durch die Stadt zu laufen; wie vor Jahrzehnten, als er noch Geheimnisse und kleine Wunder hinter jeder Ecke, in jedem Schaufen­ster, in jedem Lokal, jedem Lächeln einer Frau, jeder Betrun­kenheit, jedem betrunkenen Monolog eines Unbekannten, jeder Ausstellung und jedem Buch erwartet hatte.

Der Leser muss Geduld haben, die minimalistische Handlung ist schwer aufzuspüren, ständig wird sie von Lebensüberdruss der Personen überwuchert. Fast am Ende trifft Steiner eine der Frauen, die auf den Bildern zu sehen waren, bei einer seltsam wattierten Tanzperformance, die auch den Titel rechtfertigen könnte: “Man muss vollkommen vergessen, wie man gehen kann, liest er. So ungeschickt sein, dass man im Stehen stolpert, dann beginnt das Tanzen.” Die Aufführung, in die Steiner hineingezogen wird, ist so esoterisch, dass Stangl sie in einer “Zeitungsnotiz” verreißen lässt: Die Machinationen der Künstlerin, steht am übernächsten Tag in der Zeitung, hinterlassen einen ratlos. Was es mit dem armen Walter Steiner auf sich hat, begreift niemand. Ebensowenig wie die Reminiszenzen an eine längst verstaubte Aktionskunst der Sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts und die anscheinend schlecht verdauten ostasiatischen Mystizismen, die den Abend tra­gen sollen. Da und dort zu vermutende autobiographische Spuren bleiben im Vagen. Man wartet vergeblich auf ein schlüssiges Konzept, das die gewiss drängenden Komplexe von Erinnerung, Abwesenheit und Identität, wie im Programmheft versprochen, in eine tänzerische Sprache fasst. Alles in allem –

… trifft diese Kritik den ganzen Roman. Der aber durch die Selbsterkenntnis nicht besser wird.  Es findet sich noch ein zweites “Handlungs”-Motiv: Die beiden Frauen werden nicht nur durch ihr Leben getrieben, sondern auch durch Demonstrationen, die es in Wien Anfang der 2000er-Jahre gegen das “Mascherl” (Kanzler Schüssel) und seine Koalitionsregierung mit der rechten FPÖ gab. So lokal begrenzt die Relevanz dieser Demonstrationen war, so nimmt ihr Stangl auch noch den letzten Ernst, indem er sie zum Teil der wabernden Existenz seines Personals macht. Ein verquaster Text, der es seltsamerweise 2013 auf die Longlist des deutschen Buchpreises schaffte. Peter Pisa vom Wiener „Kurier“ erkennt „eine neue, vielleicht „wirklichere“ Wirklichkeit“ . „Neben all den Romanen, die heutige Wirklichkeit in kleiner Münze als rein soziale verhandeln, ist Stangls Roman ein Ereignis.“ Schreibt Sibylle Kramer in der SZ. „Wer sich (…) auf die ästhetische Kompromisslosigkeit dieses Texts einlässt, auf die hohe Musikalität der Stanglschen Sprache und das bizarre Setting, das der Autor da auf 280 Seiten entwickelt, für den hält die Lektüre von „Regeln des Tanzes“ den einen oder anderen Glücksmoment bereit.“ (Günter Kaindlstorfer, Deutschlandfunk)

Fast immer ist ihr bewusst, dass es die parallele Wirklichkeit gibt, die sie genau so sehr betrifft und in der sie genau so wenig eine Rolle spielt: zu jedem Moment gibt es einen gleichzeiti­gen Moment, den ihre Schwester erlebt, irgendwo in dieser Stadt oder schon wer weiß wo sonst in der Welt: sie wünscht sich einen Mechanismus, mit dem sie zwischen diesen Wirk­lichkeiten hin- und herwechseln könnte; dem Öffentlichen und dem Privaten, der für sie allein seltsam leeren anwesenden Wirklichkeit und der fast alles versprechenden abwesenden Wirklichkeit; fast alles, das heißt jetzt für sie, das größte Glück ebenso wie das größte Entsetzen. Immer ist ihr vorgekommen, ihre Schwester sei wirklicher als sie: sie sähe deutlicher, spürte intensiver, bewohnte ganz anders als sie mit ihrem Körper die Welt. Noch ihr Fortsein ist wirklicher als das Herumleben der anderen Idioten. (…)

Deine Bewegungen sind nur kleine zufällige Züge, du kannst keinen Punkt auf dem Stadtplan, der Weltkarte besetzen, hast keine Schwere. Es gibt eine spezielle Art von Schwere, die nichts als Grazie ist; es gibt eine Grazie, die Schwere in Leichtigkeit verwandelt (und natürlich denkst du an Mona: als wäre diese Frau, die deine Schwester ist, die einzige, die letzte, die überhaupt die Füße auf dem Boden halten, in Verbindung mit dem Boden bringen kann, oder eher noch die einzige und letzte, die den Boden unter ihren Füßen, unter ihrem Körper halten kann: so als wäre ihr Körper, dieser eine Körper, wo auch immer er sein mag, daheim: an einem Punkt auf der Er­de, an einem Punkt in der Zeit).

2013              280 Seiten

Homepage von Thomas Stangl

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Glattauer
3. Mai 2012, 19:31
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Daniel Glattauer: Ewig Dein

Als er in ihr Leben trat, verspürte Judith einen stechenden Schmerz, der gleich wieder nachließ.

Judith hat einen kleinen Lampenladen im fünfzehnten Bezirk, sie ist Mitte dreißig und Single. Was sie nicht braucht, was ihr aber doch fehlt, ist ein Mann. Den trifft sie gleich zu Beginn des Romans, besser: er trifft sie, und zwar mit dem Einkaufswagen, in dem ihr eine Staude Bananen auffällt, am Knöchel. Sie hätte die schmerzhafte Episode bald wieder vergessen, hätten sich nicht die Zufälle gehäuft, dass er, Hannes, sie traf. Er schleicht sich in ihr Leben ein und erweist sich dabei als der “Traum aller Schwiegermütter”.

Der Dienstag nach Ostern verging für sie bei außergewöhn­lich ruhigem Geschäftsgang hauptsächlich im Hinterzimmer unter dem matten Licht der Bürolampe und war reine Pflicht­übung, die ihr die Buchhaltung vorschrieb. Von Bianca hörte man zwischen acht und sechzehn Uhr nichts, wahrscheinlich schminkte sie sich gerade. Um zu beweisen, dass sie an diesem Tag jedenfalls anwesend war, schrie sie knapp vor der Sperr­stunde plötzlich: »Frau Cheeeefin!« Judith: »Bitte! Nicht so laut! Kommen Sie her, wenn Sie mir was sagen wollen.« Bianca, jetzt neben ihr: »Da ist ein Mann für Sie.« Judith: »Für mich? Was will er?« Bianca: »Guten Tag sagen.« Judith: »Ah.«
Es war der Bananenmann. Judith erkannte ihn erst am In­halt seiner Worte. Er: »Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Ich bin der, der Ihnen vor Ostern im >Merkur< auf die Ferse gestiegen ist. Ich hab Sie in der Früh hier hineingehen gese­hen.« Judith: »Und da haben Sie bis jetzt darauf gewartet, dass ich wieder herauskomme?« Sie kicherte unabsichtlich. Sie hatte das Gefühl, gerade ziemlich witzig gewesen zu sein. Auch der Bananenmann lachte, sehr schön sogar, mit zwei funkelnden, von hundert kleinen Fältchen umsäumten Augen und ungefähr sechzig strahlend weißen Zähnen. Er: »Ich hab hier nur ein paar Ecken weiter mein Büro. Da dachte ich …« Sie: »Sie sagen gu­ten Tag. Das ist nett. Mich wundert, dass Sie mich erkannt ha­ben.« Das hatte sie überhaupt nicht kokett, sondern völlig ernst gemeint. Er: »Das braucht Sie wirklich nicht zu wundern.« Jetzt sah er sie seltsam an, seltsam verklärt für einen Familienvater mit acht Bananen. Nein, das waren nicht die Momente, mit de­nen Judith etwas anzufangen wusste. Unter den Wangen wurde ihr heiß. Sie musste noch dringend einen Anruf erledigen, er­kannte sie an den Zeigern ihrer Armbanduhr. Er: »Na dann.« Sie: »Ja.« Er: »Hat mich sehr gefreut.« Sie: »Ja.« Er: »Vielleicht sieht man sich wieder.« Sie: »Wenn Sie einmal eine Lampe brau­chen.« Sie lachte, um die Situationstragik ihrer Bemerkung zu überlagern. Bianca kam dazu, diesmal zum günstigsten aller Zeitpunkte. »Darf ich, Frau Chefin?« Sie meinte, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Auch für den Bananenmann war das das Signal zum Aufbruch. Bei der Tür drehte er sich noch ein­mal um und winkte wie am Bahnhof, aber nicht wie zum Ab­schied, sondern wie einer, der jemanden abholte.

Er war ein anderer Typ als alle bisher, nicht ihrer und auch keiner, den sie von irgendeiner Frau her kannte. Er war schüch­tern und wagemutig zugleich, verschämt und unverschämt, be­herrscht und getrieben, auf tolpatschige Weise zielstrebig. Und er wusste, was er wollte: ihr nahe sein. Das war ein durchaus ehrenwertes Verlangen, dachte Judith. Sie nahm sich vor, be­hutsam damit umzugehen und nichts zu überstürzen.

Hannes beginnt sie zu umsorgen und er lässt sich nicht beiseitestellen, als ihr seine selbstlose Fürsorge etwas zu viel wird. Als sie mit ihm Schluss macht, entwickelt er sich zum Stalker. „Die Ewigkeit schweißt uns zusammen. Du bist mein Licht und ich dein Schatten.“ Das „Ewig Dein“ wird zur Bedrohung, der Roman kippt in die Psychose. Judith verliert sich und braucht lange und vor allem ihren Lehrling, bis sie sich wiederfindet.

Daniel Glattauer teilt den Roman in 15 “Phasen” ein, der Hinweis, dass er etwas Exemplarisches erzählen will, und das Zeichen, dass die Liebe auch eine Krankheit ist bzw. dass sie zur Krankheit werden kann. Gegen Ende wird’s denn auch kriminalistisch und spannend und auch die Bananen spielen noch eine Rolle.

Zum Personal gehören einige Bekannte, “ihr Lehrmädchen Bianca, die nur einen Spiegel brauchte, um vollbeschäftigt zu sein”, die sich aber später als „volle“ vif und hilfreich erweist, und “die Mama”. Glattauer plant den Plot geschickt, er erzählt leicht ironisch distanziert, auch wenn das Thema zwischenzeitlich sehr ernst wird. Die Geschichte spielt in Wien.

2012       206 Seiten

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Leseprobe beim Zsolnay-Verlag