Nachrichten vom Höllenhund


Salzmann
27. März 2022, 16:38
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Sasha Marianna Salzmann:
Im Menschen muss alles herrlich sein

»Die Leute schlossen die Augen,
um sich in eine Vergangenheit zurück-
zudenken und darüber so lange
Unwahrheiten zu erzählen, bis sie
stimmten. Immer und immer wieder.
Alle hatten sich auf eine Welt geeinigt,
die draußen nicht mehr stattfand,
und hoben darauf die Gläser.«

Ein schönes Zitat. Im Roman von Sasha Marianna Salzmann findet man es abgedruckt auf der Rückseite des Umschlags. Es ist aber eine Beobachtung, die immer passt, nicht nur in „Umbruchzeiten“, nicht nur, „wenn politische Systeme zerfallen“. In die „Vergangenheit“ geht es immer nur zurück und wenn man sie so sehen will, wie man meint, dass sie war, schließt man die Augen, denn das Denken ist nie „wahr“, die Vergangenheit gibt es nicht, es ist immer eine. Oft in eine Zeit, als man jung war und die Wege offen schienen.
Das Zitat grenzt sich ab, will die Kontrolle und Unabhängigkeit bewahren gegenüber den ‚Autofiktionen‘. „Die Leute“, das sind die anderen, und zwar „alle“. Im Roman ist es Edita, die nichts mit solchen „Unwahrheiten“ zu tun haben will, nichts mit einer Heimat oder Herkunft, die man sich schön säuft, nichts mit diesen Vorfahren. Edita nennt sich „Edi“, sie sucht ihre Identität in der Distanz, in bunten Haaren, im Joint. Edi-ta ist die Tochter von Lena.
Von dieser Lena erzählt Sasha Marianna Salzmann zunächst „detailsatt“ (Wolfgang Schneider, Tagesspiegel). Das Leben in den Siebzigern, den Achtzigern und den Neunziger Jahren, letztere als Zeitalter des „Fleischwolfs“ betitelt. Sie durchläuft die üblichen Stationen für ein Kind in der Sowjetunion, deren Teil damals die Ukraine noch war.

„Auf allen Fotos der Einschulungszeremonie   schaute Lena grimmig. Hunderte von Schülerinnen standen auf der Treppe der Schule in Reihen und hielten sich aneinander fest, sie lächelten ihren Eltern zu, ohne die Hand des Nachbarkindes loszulassen und zu winken. (…) Lena fühlte sich taub vor Scham und beschloss, in den kommenden zehn Jahren, die sie auf diese Schule gehen würde, nie wieder den Mund aufzumachen. Nie wieder. (…)
Obwohl Lena in der Schule oft genug »Wir sind aktive Dinger / Denn wir sind Oktoberkinder / Oktoberkind, vergiss nicht — / Bald bist du Pionier!« mit den anderen aus der Klasse anstimmen musste, war für sie Pionier eigentlich nur der Name   des Fotoapparats, den ihre Eltern zu Hause oben auf dem Schrank aufbewahrten und den sie bis jetzt nur zu ihrer Einschulung herausgeholt hatten. Sie verstand die Tragweite des Übergangs vom   Oktoberkind   zum Pionier erst, als ihre Mutter zu Beginn der dritten Klasse verkündete, dass sie ab dem nächsten Sommer   in ein Lager fahren werde, wo sie in der Natur herumtoben könne und gleichzeitig lernen werde, Teil einer Gemeinschaft zu sein, eines Kollektivs.“

Der Pfad zum Eingang des Pionierlagers ist die „Allee der Helden“. Die Prüfungen besteht Lena schließlich auf die obligatorische Art. „Ein Mädchen aus Sotschi fährt nach Moskau, in die Hauptstadt, und will eine große Wissenschaftlerin werden, wichtige medizinische Entdeckungen machen. Das wollte ich tatsächlich, glaube ich. Die Professoren müssen sich totgelacht haben über mich, als ich komplett ohne Bares zur Prüfung angetreten bin, einfach so.“ Sie wird nicht für ihr bevorzugtes Fach Neurologie zugelassen, landet in der Dermatologie, wo aber eh mehr Geld zu verdienen ist – dank älterer Männer mit verschwiegenen Leiden. Auch die Familienplanung ist von Formalien bestimmt, welche aber maßgeblich von der Familie auferlegt werden. Ein Tschetschene erweist sich als patent, ist aber nicht für die Heirat zu haben, es springt Daniel ein, aus jüdischer Familie, er drängt zur Ausreise. In Deutschland ist die Ärztin Lena Krankenschwester. Die Vergangenheit ist eingelegt, die Zukunft? Ungewiss.

Sasha Marianna Salzmann wendet den Blick auf Edi.

Ich war damals jung, kräftig, dünn und ohne bestimmtes Geschlecht — lauter Vorteile beim Pilgern. So zog ich los … Das waren nicht ihre Gedanken. Aber wessen dann?  Der Name der Autorin war ihr im Halbschlaf weggerutscht. Und wohin würde sie pilgern, wenn sie könnte? Allein würde sie das ohnehin nicht wollen, selbst die Frau aus dem Buch, deren Zeilen sie beim Aufwachen wie einen Ohrwurm im Kopf hatte, war mit einem Typen losgezogen, auch wenn sie ihn kaum kannte und ihm erst mal einen neuen Namen gab. Edi schaute aufs Handy, das neben ihr auf dem Kissen lag, sprang auf und lief zum Schrank.   »Du hast doch ein Date.« Leeza schnipste den Stummel weg und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, als wäre sie jetzt zu irgendetwas Waghalsigem bereit.
  »Merkt man mir das an?« Edi überkam die Angst, dass ihre Stirn glühte, das tat sie meistens, wenn sie aufgeregt war, sie zog das Xanax-Cap tiefer ins Gesicht.
   »Immer wenn du so aussiehst, als wüsstest du nicht, wie man   Kleidungsstücke kombiniert, weiß ich, da drin wartet jemand auf dich.« Der weiche Flaum auf Leezas Oberlippe kitzelte Edis Wange, als sie ihr einen Kuss gab, dieses Mal näher am Mundwinkel.  »Viel Vergnügen!«

Edi hat keine Vergangenheit. Sie weiß nicht mal sicher, wer ihr Vater ist. Edis Zukunft ist die Gegenwart, die Suche nach einem Ich, die Selbst-Findung. Sie hat nicht die Welt der Vorfahren, eine Welt [], „die draußen nicht mehr stattfand“. Es gibt nicht den Zusammenhalt der Familie, keine Großmutter, in die man sich wickeln könnte, im Angebot sind vereinzelnde Drogen, bunte Haare als Alleinstellungsmerkmal, das alle haben, die „Xarax-Cap“, die ungezwungene Partnersuche, wenn man die Augen nicht schließen will, sieht man zu viel. Was davon ist die Wahrheit? Immer wieder aufspringen und weglaufen.

Die für sie zuständige Kollegin hatte es noch drastischer formuliert, als sie ihr den Text zurückgegeben hatte. Edi solle sich nicht einbilden, dass die Welt um sie herum verschwinde, wenn sie die Augen schließe — sie wäre dann noch da. Sie drehe sich wunderbar auch ohne Edi und all die anderen, die glaubten, ihre Recherchefaulheit damit kaschieren zu können, dass sie behaupteten, Konstruktivisten zu sein, weil sie den Begriff schon mal gegoogelt hatten. Das hier sei schließlich kein Lifestyle-Magazin und auch kein Blog, für den sie ab und zu was tippe. »Im Politikressort gibt es kein Ich! Hier passieren wirkliche Dinge, und wir berichten darüber. Man bildet euch aus, gibt euch eine Chance, und dann hört man am Ende trotzdem nur ich, ich, ich, ich, ich! Ich kann es nicht mehr hören, diese Ich-Sucht!« Da war Edi schon auf den Gang hinausgestolpert.

Sasha Marianna Salzmann führt eine weitere Person ein: Tatjana, eine Freundin von Lena, und mit ihr geht der Weg nach 250 Seiten wieder zurück in die Ukraine. Erneut schlingert eine Frau in der Ukraine um die Steine, die im Weg liegen. Im Restaurant, wo Tatjana bedient, bricht eine Schlägerei aus, Tatjana flieht nach Kriwoi Rog und arbeitet in einem Spirituosen-Kiosk, bis dort Michael auftaucht, der sie mit nach Deutschland nimmt, dann aber verschwindet. Edi trifft Tatjana wieder auf der Fahrt nach Jena zu Lenas fünfzigstem Geburtstag. Gelegenheit, sich über ihr Leben und ihre Abgründe zu erzählen. Für die älteren Frauen liegen diese Abstürze im Ver- und Zerfall der Sowjetunion, von dem sie sich auch in Deutschland nicht erholen können.Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch.“ Edi und Tatjanas Tochter Nina haben wenig gemein außer ihrer Herkunft, beide aber stemmen sich gegen eine „unwahre“ Vergangenheit. Nina „hat mir ausrichten lassen, dass sie von uns allen nichts wissen will.“

Vier Frauen, die unterschiedlichen Anteil am Erleben, am Geschehen, an den Lebensräumen, am Roman haben. Lena ist die Zentralperson des ersten Teils, Tatjanas Beziehung zu Lena wird nicht erzählerisch motiviert. Edi ist in ihrer Rolle als Tochter beschrieben, aus der sie fliehen will, sie kriegt – ebenso wie Nina – eine „Ich“-Stimme, während sonst die Handlung in der dritten Person erzählt wird. Nina und Edi sollten ein Gegengewicht zur überlebten Vergangenheit und zu deren abgestorbenem Staat sein, eine teils aggressive, teils fast autistische Kontroll- und Kommentarinstanz. Die Aussagen sind scharf: „Das Land, in das sie hineingeboren wurden, ist schon amputiert, aber es schmerzt trotzdem noch. Sonst kann man wenig mit Sicherheit sagen. Ich habe mir Filme, selbstgedrehte Videos, alles, was ich kriegen konnte, angeschaut, um zu begreifen, was ihnen alles passiert sein könnte und in welches Paralleluniversum die Zentrifugalkraft der Geschichte sie hinausgeschleudert hat.“ Die Romananteile der Jungen sind aber zu gering. Sasha Marianna Salzmann plant, alle vier Frauen zu Lenas 50. Geburtstag in Jena zu versammeln, doch das Treffen misslingt. Auch das eine Botschaft des Romans, vielleicht die Botschaft. Die „Herrlichkeit“ als Utopie zerstiebt angesichts des Elends – nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der prekären Gegenwart in Deutschland. „Berlin war ein Schild“, so heißt es einmal, „das besagte: ‚Alle Richtungen‘. Es ging überallhin. Eine Startlandebahn für alle, die noch tanken mussten.“

„Im Menschen muss alles herrlich sein“ hat in seiner Komposition einige Tücken. Interessant ist die Erzählung von Lenas Hineinwachsen in die sowjetische Gesellschaft und raffiniert sind die vielen Detailbeobachtungen und Sprachbilder aus dem anstrengenden und noch ausweglosen Denken der jungen Frauen. Darin steckt wohl eine gehörige Portion von Sasha Marianna Salzmann.

2021 – 380 Seiten

2

Ausführliche Inhaltsangabe von Dieter Wunderlich (die aber bei diesem Roman wenig wegweisend ist)

Gespräch im Literaturclub des SRF – 0:15

Sasha Marianna Salzmann: Darkroom des Erzählens – Literaturforum im Brecht-Haus – 1:05

Homepage von Sasha Marinna Salzmann




Kapitelman
9. August 2021, 14:47
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Dmitrij Kapitelman:
Eine Formalie in Kiew

Dima braucht die Apostille. Er will endlich Deutscher werden. 1998 kam er mit seinen Eltern als „Kontingentflüchtling“ aus Kiew nach Leipzig, für die Einbürgerung benötigt er eine in der Ukraine ausgestellte Geburtsbescheinigung. Also fliegt er nach Kiew. Deutsche Bürokratie, ukrainische „Entdankung“.

»Vergiss nicht, dich bei Tante Jana zu bedanken, Dim. Die Gehälter hier sind lächerlich. Gib ihr fünfhundert Griwna oder so. Otblagodari.«   
Außer uns gesprochen:
Otblagodari ist der gängige Euphemismus für Bestechung.  Man entdankt sich, dankt sich quitt, dankt sich frei.

Für Dmitrij Kapitelman ist das die Möglichkeit, sich ein Bild von den Zuständen zu machen im Land, von dem er selbst nicht viel weiß, dessen Sprache er schlechter spricht als Sächsisch. Das Schlimmste, vor dem ihn seine Mutter streng warnte, scheinen die Gullydeckel zu sein.

Viel zu früh am Abfluggate in Leipzig und allein zwischen den leeren Sitzreihen, kommt mir ein Rat meiner Mutter in den Sinn. Ein ukrainischer Rat, eigentlich eher ein Verbot. Ich musste es seit Ewigkeiten nicht mehr bedenken, es war nicht nötig hierzulande.    In meinem ersten Leben aber, meinem ersten Land, schlenderten wir durch die Straßen Kiews, als mich Mama ruckartig anhielt. Ich war bedenkenlos auf einen Gullydeckel getreten. Damals-Mama   beugte sich herunter, sah mir ernst in die Augen und sprach: »Zaja«, mein   Häschen, »in diesem Land darfst du niemals auf Gullydeckel treten, hörst du? Du weißt nie, ob sie festgeschraubt sind, und dann fällst du rein und kommst nie wieder zu uns hoch! Versprich mir, dir das zu merken.«

Nachdem er das benötigte Dokument wider Erwarten rasch erhält, hat das Buch noch viele leere Seiten. Um sie zu füllen, lässt Kapitelman seinen Vater in Kiew einfliegen. Dessen Gesundheit ist ramponiert. Er braucht ein Gebiss und er hat mentale Ausfälle, die von einem verschleppten Schlaganfall herrühren. Zeit, die Stadt und ihre Ärzte und Krankenhäuser näher kennenzulernen, aber auch langsam durch die Plätze und ihre Vergangenheit zu schlendern. Trotz der lakonischen Denk- und Sprechweise des Erzählers stellt sich so etwas wie Rührung ein, das gespannte Verhältnis zu den Eltern zeigt Anzeichen von Verfugung. Ist Mutters „Katzistan“ gar zu tolerieren?

Der Streifzug durch Kiew und Umgebung zeigt nichts wesentlich Neues über die Zustände dort. Marode Häuser, lose Gullydeckel, Korruption auf allen Ebenen. Interessant sind Kapitelmans spezieller Blick und seine lakonisch amüsanten Beschreibungen, gewürzt mit Running-Gags (Deckel, Salo, der Würzspeck, Vaters Schrullen), und durch seine ironische Infragestellung der eigenen Überheblichkeit. Aus dem Kapitel „Zeitreise durch den Stillstand“:

War hier in der Nähe nicht ein Basar? Da habe ich Damals-Mama verboten, das Fleisch der Schlachtfrauen anzufassen, weil es so dreckig aussah. Nicht dass sie mir noch krank wird. Heute sitzen in der gelb gekachelten Schlachthalle drei gelangweilte Fleischerfrauen und essen einsam Eis. Vor sich tot riechende Tierteile, faden Würzspeck, Tüten mit   Gedärmen, mal auf einer Tischdecke, mal in einer Plastikschüssel oder einfach nackt auf dem Stein abgelegt. »Das Fleisch ist da, aber die Leute haben kein Geld«, klagen sie angeödet. Während die Eiscreme an ihren goldenen Plomben schimmert. Ich verstehe ihr Ukrainisch nur teilweise, tue aber, als würde ich alles begreifen. Was erstaunlicherweise dazu führt, dass ich das Gefühl habe, fast alles zu verstehen. Unter uns Landsleuten aller Herren Länder gesprochen: Vielleicht sind wir allesamt viel zu vokabelfixiert im Verstehen und läuten die Alarmglocke der Fremdheit beim ersten unbekannten Wort, anstatt kommunizierend die nachfolgenden abzuwarten.

Da und dort wird Kapitelman direkt politisch und zitiert Stimmen von Kiewern:

»Klauen tun alle. Am schlimmsten war es unter Poroschenko (der Pralinenpräsident). Janukowitsch (der zweifach Verurteilte im Hubschrauber) hat zwar auch gestohlen und gestohlen, aber zumindest hat der auch viel gemacht. Und die Preise gingen nicht so in die Höhe.«   »Andererseits  war  unter Janukowitsch  auch noch   kein Krieg, der die Preise steigen ließ, Oksana.«   »Ja, das stimmt wohl. Viele Reiche, die sich die Flucht aus dem Donbass leisten konnten, leben jetzt in Kiew. Da sind die Wohnungen noch mal teurer geworden.« (…)

Im unbeachteten Fernseher läuft eine Sendung des Komikerpräsidenten, »Die Liga der Lustigen«. Aus der Zeit, als er noch nicht Präsident war. Meist einen Kopf kürzer, interviewt er schalknackig andere Komiker (die nicht Präsidenten wurden). Nahbar, etwas heiser und verschwitzt. Ein kleiner energetischer Flummi,  der mich fast ein wenig  an Damals-Papa erinnert.

Und manchmal wird er wütend:

Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Trotz seiner Verfassung bittet mich Für-immer-Papa, neue Heldengeschichten davon zu erzählen, wie ich in Deutschland prosperiere — meinem Deutschland.  Die hört er am liebsten. Für-immer-Papa sagt, dass er mich liebt und stolz auf mich ist. Fast hinterherrufen muss er es mir, als ich zur schweren Holztür am Eingang des Grundstücks meiner Eltern haste. Absolut nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. (…) Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute?

»Schlüss jetz! Keeine Wiedarwörte! Das is für EU!  Abmoarsch nach hint’n, hab isch gesacht! Odar ich schick euch klej wieder dahin, wo ihr alle hergekomm’nn seid.«

Und da geht mich die „Formalie in Kiew“ doch was an.

2021 – 175 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag

taz-talk: Gespräch von Doris Akrap mit Dimitrij Kapitelman über „Eine Formalie in Kiew“ (1:05)

 



Stanišić
27. Oktober 2019, 16:25
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Saša Stanišić: Herkunft

stanisicherkunftAlso doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt!

Autofiktion. So heißt das jetzt und ist der Hype der Stunde. Das Fernsehn hat’s mit der Dokufiktion vorgemacht. Die dokumentarischen Szenen – gerne in schwarzweiß – fließen in die Spielfiguren hinein, der Protagonist ist zertifiziert, auch wenn er das Produkt des Autors ist, die Realität gewinnt Farbe und Gefühl.

Saša Stanišić’ Saša Stanišić gibt’s wirklich. Er ist 1992 mit seinen Eltern von Višegrad/Bosnien nach Heidelberg/Deutschland geflohen, hat 26000 Tweets abgesetzt und soeben den Buchpreis 2019 des Börsenvereins des Deustchen Buchhandels gewonnen.

Das ausgezeichnete Buch „Herkunft“ ist damit noch „verkäuflicher“ geworden, obwohl es sich nicht Roman nennt. Saša Stanišić gibt es wirklich, er hat es in Deutschland bis zur Schilddrüsenentzündung gebracht. Disease-Authentifikation. Das Buch ist eins von Herkunft und Ankunft, die dazwischenliegende Flucht ist der Weg von gewachsenem und verfügtem Familienleben zur Ungewissheit darüber, was kommt. Stanišić sagt, er habe Glück ghabt, dem Krieg zu entkommen und er hat sich sein weiteres Glück erarbeitet, seinen deutschsprachigen Literaturvordergrund“ (Mely Kiyak, ZEIT)

Im Krieg ist nicht nur Jugoslawien zerplatzt, sondern auch, wie vieles andere, die Stanišić-Familie. „Mutter muss mit fünfunddreißig ihr Leben in Višegrad aufgeben.“ Die Eltern erhielten in Deutschland keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, sie gingen zuerst wieder zurück und 1998 in die USA, andere Verwandte können da und dort in Europa besucht werden, Großmutter Kristina blieb in Bosnien und vergaß. Saša machte in Heidelberg Abitur, studierte und durfte deshalb bleiben und ist heute – assimiliert? Heimisch?

Saša Stanišić mixt in kurzen Kapiteln Geschichten, Anekdoten und Reflexionen der Ankunft mit solchen der Herkunft, wobei die Herkunft zeitlich und politisch-geografisch gesplittet ist in die Erinnerung an Kindheit, Jugend und Familie im damaligen Jugoslawien und Nach-Forschungen im Nachkriegs-Bosnien, das „Heimat“ nur noch in vermitteltem (?) Sinn ist. Das alte Jugoslawien, das war die Zugehörigkeit, das waren die Partisanenlieder, das war die Mutter als Marxismus-Dozentin, das war Tito. Sein Bild in der Stube. Das war die Zeit, als der serbische Vater die bosnische Mutter heiraten konnte, die Zeit vor den verwilderten Nationalismen. Das waren dann aber auch die Schüsse und die Angst der Mutter wegen ihres „muslimischen“ Vornamens, die Gräuel, die Peter Handke* in Višegrad nicht finden wollte.

Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial der Nationalismen nicht länger stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. Sie wurden von Intellektuellen unterstützt, medial verbreitet und so oft wiederholt, bis man ihnen, Mitte der Achtziger, nirgends mehr entkam. Von ihnen hatte Vater gelesen, bevor er mit Mutter und mit der Schlange tanzte.

Als Überlebende ist noch die Großmutter da, die auch für den erwachsenen Saša noch ein – entschlüpfender – Haltepunkt ist. „Die Großmutter und der Reigen“, Großmutter isst einen Pfirsich und gibt dem Totengräber nichts ab“, „Großmutter und die Zahnbürste“, undund. Über Demente zu erzählen, ist immer lustig, auch wenn es so mitfühlend geschieht. Saša ist 14, als er nach Heidelberg „geflohen kam“ (Mely Kiyak), erst in Deutschland erreichte er das Alter, selbstständig zu handeln und sich darüber klar zu werden. Die Kapitel der Ankunft sind für mich die interessanteren. Nicht so sehr die Jugendstreiche, die gehören dazu, sondern die disparaten Gruppen und Milieus, in die man sich hineinfinden und in denen man sich zurechtfinden muss. Das ist für Leute, die neu im Land angekommen sind, mühsamer, als es für „Einheimische“ schon ist. Die multiethnische Clique an der ARAL bietet Unterschlupf, weil niemand dabei ist, der einen dissen könnte, die „Internationale Gesamtschule“ ist auf Flüchtlinge eingestellt, man kann sich emporarbeiten, wenn man so neugierig und beflissen ist, wie Saša. (Er darf sich hier sogar als Dichter erproben. “Mein Pseudonym war: Stan Bosni.” – Gespräch mit dem Deutschlehrer von Saša Stanišić, Werner Nikisch) „Ich las. Lernte. Spielte Bach auf der Gitarre und übte Headbangen, und manchmal schloss ich ein­fach lange die Augen, um mich zu erfinden.” Die Eltern können einem kaum Hilfe sein, im Gegenteil, eher muss hier der Schüler zum Vermittler der Kulturen werden. Das ist immer bei Geflohenen oder Zugewanderten der Fall, Saša Stanišić kann das reflektieren.

1998 mussten meine Eltern das Land verlassen. Heidelberg ist bis heute eine ihrer Lieblingsstädte in der Vorstellung dessen, was sie für sie hätte sein können, wenn ihnen ein normales Leben möglich gewesen wäre. Die Welt ist voller Jugoslawen­Fragmente wie sie oder ich es sind. Die Kinder der Geflüchte­ten haben längst eigene Kinder, die Schweden sind oder Neu­seeländer oder Türken. Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt.

Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschüt­terung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. Ich muss nachdenken, um mich zu erinnern, wie die Kinder meiner Cousinen heißen. An den Gräbern meiner. Großeltern müt­terlicherseits habe ich noch kein einziges Mal eine Kerze an­gezündet.

Ich schiebe nicht dem Krieg und der Entfernung die Schuld zu für meine Entfremdung von meiner Familie. Ich schiebe Ge­schichten als Übersprungshandlungen zwischen uns.

Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abge­schottet, sondern zugehört haben.

Ein guter Gastgeber ist auch ein guter Gast, besagt ein bosnisches Sprichwort. Die Eltern von Rahim waren gute Gastgeber, und ich machte mir eine Million Gedanken, ob es gutgehen könnte, sie als Gäste bei uns zu haben. Wie sich meine Eltern und Großeltern fühlen würden und wie ich. Ich wollte, dass uns als Familie etwas gelingt, wenn auch nur etwas so Einfaches wie ein Abendessen mit neuen Bekann­ten.

Ich wünschte es mir speziell für meine Mutter, die in Jugoslawien so gern Gastgeberin gewesen war.

Das nächste Mal, als ich wieder bei ihnen aß – es gab etwas, das aus nur drei Zutaten bestand, die ich alle nicht kannte, dabei war es ein fränkisches und kein arabisches Gericht -, sprach ich die Einladung aus: Kommen Sie auch einmal zu uns? (…) Ich habe meinen Eltern nicht von der Einladung erzählt. Ich traute mich auch nicht, sie noch einmal gegenüber Rahims Eltern auszusprechen. Sie haben mich natürlich nicht daran erinnert.

Saša Stanišić’ Methode des Infragestellens ist ambivalent. In seinem oben angehefteten Tweet zu Fertigstellung des Buchs schreibt er: „Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre. Das Buch heißt HERKUNFT. Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen. Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.“ Öffentlich gemachte Selbstbescheidung ist immer auch fishing for compliments. Der Dichter will wahrhaftig sein, weiß aber zu wenig, um dafür herkunftsdragogarantieren zu können. Der Autor darf suchend irren. Autofiktion. Der Leser ist zur Mitsuche eingeladen, er darf mitirren. So soll es sein, es ist aber eben auch Methode. „Wer klug ist, weiß ohnehin, dass Identität kein Kleidungsstück ist, in das man einmal hinein- und nie wieder hinausschlüpft. Sondern vielmehr eine komplexe Mixtur aus Herkunftsmythen, Erzählungen, Erfindungen, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Widersprüchen.“ (Ulrich Rüdenauer, SWR2)

Nach dem „Epilog“ folgt noch ein Text-Adventure, das diese Methode augreift. „Der Drachenhort“, in den Hauptrollen Großmutter, der auf dem Cover abgebildete Drache und ich, der Leser. Schön, ein weiteres Spiel mit der Fiktion und der Fantasie, lesenswert eher für Fans von Rollenspielen. »Nationalismus und Separatismus erschüttern Europa. Was tun? Vielleicht erst mal neue Heimatschriftsteller wie Saša Stanišić lesen.« Ein Leseappell von Karin Janker (SZ) auf dem Schutzumschlag.

2019           370 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Saša Stanišić spricht über sein Buch „Herkunft“

Saša Stanišić liest aus „Herkunft“

Sašas Tweets

Thread zu Herkunft

+2

*  Die Süddeutsche Zeitung hat Peter Handkes Reisebericht
„Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, der 1996 in der SZ erschienen ist, online gestellt.

Teil 1                       Teil 2



Dinić
15. Juni 2019, 17:38
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Marko Dinić : Die guten Tage

dinictageWir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder
und zerfallen selbst.

Dieses Zitat aus Rilkes Duineser Elegien liest „Švabo“ auf einer Ansichtskarte, die im Sitznetz eines Buses steckt, mit dem er von Wien nach Belgrad fährt. „Švabo“ ist der Neckname für einen, der ins deutschsprachige Ausland entkommen wollte, um dort das Glück zu suchen, das er zuhause nicht finden konnte. Aber wo ist schon zuhause?

Für uns alle war Serbien zu so etwas wie einer Sackgasse geworden, einem Niemandsland, in dem keiner von uns bleiben wollte, und trotzdem waren wir unweigerlich und für immer mit ihm verbunden. Es gab kein Entrinnen, nur die Flucht in die Gleichgültigkeit. Und diese Gleichgültigkeit sprach letzten Endes das aus, wogegen mein Gewissen sich stemmte: Ich konnte mir mein Mitleid in den Arsch stecken, denn es war scheißegal geworden. Das Land, die Eltern, ihr Präsident, ganze Familien, irgendwelche Elektriker und Hobbyautoren, die Men­schen hier drinnen, die Menschen da draußen. Sie alle waren von der Dunkelheit geschluckt worden. Sie existierten nicht!

Jetzt ist seine Großmutter gestorben, die Nana, die einzige Person, zu der er Zuneigung empfand. Er muss der Toten noch einen Ring zurückgeben. Im Bus ist es stickig, die Mitreisenden sind versoffen laut und zotig derb. Serben, ein „Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien“.

Im Erzähler hat sich eine manische Wut angestaut, eine Wut auf sich selbst, dass er es nicht schafft, seinem „Erbe“ davonzulaufen. „Es ist doch scheißegal, wo auf dieser Welt wir gerade sind, Serbien können wir eh nicht entkommen. (…) Die Schuld war das einzige Erbe meines Vaters, das ich nicht so leicht loswerden konnte. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, deshalb entschied ich mich damals für die Diaspora. Wenn ich schon nicht vor dieser Schuld flüchten konnte, so wollte ich für sie eine angemessene Form in einem angemessenen Leben fin­den, und das hatte im von Nationalismus und Korruption zer­fressenen Serbien keinen Platz.Die Wut ist grenzenlos, sie richtet sich auf die Serben, die Politiker, auf Belgrad, auf seine Kindheit, auf den Krieg, auf die Kriegsverbrecherhelden. auf seinen Vater. Auf den zuvörderst und stellvertretend. „Mein Vater, die Mistsau, (…) mein Vater, der Dreck­sack, (…) mein Vater, dieser Bastard”, der “in irgendwelchen Archiven dem institutionalisierten Ganoventum diente”.

Irgendwann dazwischen musste die Veränderung eingetreten sein: der Krieg, die Kindheit, das Bombardement, der Wald, die Schule, die Flucht, das fremde Land, der Tod meiner Großmut­ter, der Bus, die Rückkehr, der Ring – mein Vater war immer aus­gelaugt und angeschlagen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, als hätte die Stadt ihn und sein Wesen langsam aufgesogen. In Wien sahen die Leute nie so fertig aus. Ich wusste jedoch, dass es nicht Belgrad gewesen war, das ihn so roh gemacht hatte – es waren die Verhältnisse gewesen, die Umstände. Genau wie ich war auch er verwahrlost, seine Generation wie ein in die Ecke gedrängtes, zum Kehlenschnitt freigegebenes Lamm, zu Stimm­vieh modelliert für das schöne neue gerechte Land. Geiseln wa­ren wir in den eigenen vier Wänden, mehr nicht.

Und beide hatten wir dieselben Augen, Großmutters Augen, ich und mein ganz persönliches Monster, von Generation zu Ge­neration weitergegeben, diese verhängnisvollen Augen, die mich immer und überall an ihn erinnerten – ein widerwärtig maro­dierender Zustand der Welt. Vielleicht aber war es auch anders, und ich war das Monster, dem ich heimlich huldigte. Und über­haupt: Was gingen mich seine guten Tage an?

Ach wenn es mehr Waren gibt: Alles ist zutieftst verkommen. Alles ist ständig überhitzt. „Die Sonne hing nun schwer über der Stadt. Nur wenige Passa­giere saßen im Bus, ihre triefenden Körper an die Sitze geklebt. Draußen war kein Mensch zu sehen. Ab und an erhaschte ich un­deutliche Schemen, wie sie vor der alles unter sich zermalmen­den Hitze zu flüchten versuchten, oder ihrem Arbeitsplatz ausge­lieferte Trafikanten, von denen nur schweißgebadete Arme und Oberkörper hinter den Schlitzen hervorlugten. (…) Unaufhörlicher Lärm, Knistern und Rauschen, das Brum­men der Busmotoren, aufheulende Hupen, unentwirrbares Ge­wirr – die Stadt war allgegenwärtig, die Stadt fraß die Herzen, die Stadt trank das Blut.Dinić schildert das mit einer Drastik, die sich auf seine Wahrnehmung überträgt. „Eine Wehmut erfasste mich, von der ich wusste, dass ich sie nur schwer wieder loswerden würde. (…) Ein Bus fuhr vor. Das Zischen, das seine Türen beim Öffnen verursachten, ging wie ein Schnitt durch mich hindurch.”

Mein Magen verkrampfte sich, und erst jetzt fiel mir ein, dass ich seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Aber schon von der Vorstellung, jetzt etwas zu mir zu nehmen, wurde mir noch übler.
Müde und vollkommen taub erreichte ich eine zurechtge­trimmte, verdorrte Wiese, die sich hinter dem Schiffsrumpf be­fand. Wie ein schwerer Sack Kartoffeln fiel ich auf den strohgel­ben Grund. Links vor mir erstreckte sich ein unansehnlicher Wohnkomplex. Die stark mitgenommene, marode Fassade brö­ckelte überall – lebendig waren einzig die wenigen Gestalten, die mit nacktem Oberkörper oder im Unterhemd an den Fenstern vorbeihuschten.
Ich kniff die Augen zusammen und blickte mürbe umher: Auf einer Metallstange wölbten sich Bettüberzüge und buntgeblümte Sommerkleider im Abendwind, in einiger Entfernung spielten Kinder auf improvisierte Tore Fußball, daneben zwei Greise, die, über einen Tisch gebeugt, lebhaft diskutierten und wohl Karten spielten.

Erzählt wird abwechselnd von der Busfahrt, von den Erinnerungen an die Schulzeit („Lehrern kann man nicht trauen. Sie sind unterbezahlt, zynisch und vom Krieg verstört.“ Am vertrauenswürdigsten ist noch der Geschichtslehrer Marko: „Der ist ein Arschloch und steht dazu.“), von den Streifzügen durch Belgrad. Hinter allem steht der Krieg, den man nicht zu fassen kriegt, der an einem klebt, der Auslöser und Zeichen der Verrohung ist. Die Hoffnung ist mit ihm gestorben. Lediglich die Großmutter stammt aus der Vorkriegszeit und ist Mensch geblieben. Hier entzerrt sich auch der Blick des Erzählers.

Jetzt sitzt sie in der abflauenden Sonne eines heißen Tages, ein breiter Schatten fällt auf ihr Gesicht – nur an der leichten Bewegung ihres Brustkorbs erkenne ich, dass etwas Unfassliches in ihr steckt, eine Kraft, die sich aus einem anderen Leben zu nähren scheint. Trete ich einen Schritt zurück und betrachte das ganze Bild, so hat die Szene etwas von einem Gemälde, einem Stillleben, in dem Großmutter wie eine erloschene Kerze in der Mitte steht.

“Die guten Tage” ist ein Roman. Fiktion. Man glaubt dem Erzähler, man stimmt ihm zu, man möchte sein Schicksal nicht teilen. Man wird aber auch der Endlosschleife des Zorns, des verbalen Auskotzens, des rastlosen Überdrusses müde und möchte dem Erzähler zurufen: Stopp! Du tappst in die Falle, Du wirst genauso wie die, die Du angiftest. Marko Dinić hat sich“von einem Gefühl bzw. einer Dringlichkeit leiten lassen“. Er hält den Nationalismus für den Auslöser von “Opportunismus, Untätigkeit und Kadavergehorsam“. “Man kann „Die guten Tage“ als Parabel auf Nationalismus und Chauvinismus im Allgemeinen lesen. Vor allem aber gräbt Dinić im kollektiven serbischen Urschlamm. Man versteht nach der Lektüre besser, wie es zu den Balkankriegen der neunziger Jahre kommen konnte.“ (Christoph Schröder, tagesspiegel): „Ein Heimatroman, ein dunkler.“

2019           240 Seiten

Leseprobe und weitere Materialien beim Hanser Verlag

Marko Dinić liest aus „Die guten Tage“ bei zehnseiten.de (12 Minuten)

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Darvasi
29. November 2017, 15:58
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László Darvasi: Wintermorgen
Novellen

darvasi„László Darvasi, der Erkunder des Unbegreiflichen, hat früh die Novelle als form entdeckt, in der seine Kunst der Verrätselung und Verdichtung ihren stärksten Ausdruck findet.“ (Klappentext) – Es sind nicht die Novellen, die ich kenne, in denen ein nicht erwarteter Einbruch das Schicksal anstößt, zur Wende führt, das Leben aus seiner Bahn wirft. Darvasis „Novellen“ erzählen von Menschen, in deren eherner Tradition es keine Sicherheiten gibt. Es braucht nur den minimalen Anstoß, um die Bahn zu kippen, um das Leben aus der Routine zu werfen. Insofern ist weder der Erzähler noch sind seine Figuren verwundert über die Schieflagen, das nicht aufzuhaltende Scheitern, die Brüche. Sie halten die Devianz für das Gängige.

Darvasi teilt seine 35 Texte in drei Gruppen: Gott, Heimat, Familie. Natürlich bilden alle drei keinen Halt, spenden keinen Trost, setzen bloß einen vagen Rahmen, der die Bewegungen zusätzlich einengt. Der Unterschied ist, dass man sich in der Familie persönlich kennt – ohne sich leiden zu können.

Zum Beispiel: „Der Tod meines Nachbarn“ aus der Gruppe „Heimat“. Es beginnt, wie viele der Texte, mit der absurden Logik, die, einmal gesetzt, nicht mehr aufzuhalten ist und in die Katastrophe führt. Wobei die Katastrophe auch eine der Logik sein kann.

Jeder weiß, dass ein anständiger Nachbar so einen Filzhut besitzt, wie Jan Gielespiele in Harter Einsatz einen getragen hat. Deshalb fragte ich meinen neuen Nachbarn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit, ob er so einen Hut besitze, worauf der Typ leichthin mit der Schulter zuckte, auch er sehe keinen solchen Hut auf meinem Kopf, worauf ich zurückgab, bis dato hätte ich keinen Nachbarn gehabt, weshalb verständlich sei, dass ich einen Hut wie Jan Gielespiele in Harter Einsatz einen getragen habe, bisher nicht benötigt hätte.
Sie jedoch, ich sah ihm in die Augen, haben genau gewusst, dass Sie einen Nachbarn haben würden, als Sie dieses Grundstück und das Haus darauf kauften. (…)

Das Wetter war trüb, Amseln scharrten unter den Buchsbäumen, ich finde, der Tod ist auch von der Art, er scharrt, stöbert ständig herum, und schließlich rauscht er, den sich ringelnden Wurm im Schnabel, mit langsamen, doch kraftvollen Flügelschlägen über den Garten hinweg. Natürlich kaufte ich den Hut noch am selben Tag, genau so einen, wie ihn Jan Gielespiele in Harter Einsatz getragen hat. Dann spazierte ich demonstrativ ein paarmal vor dem Haus meines Nachbarn auf und ab. (…)

Weil ein Nachbar beobachtet, mein Liebling. Einer, der nicht beobachtet, ist gar nicht dein Nachbar, das ist existentiell, genau dieses Wort gebrauchte ich, es wäre absurd. Sieh dir nur an, ich hob den Finger, was sich am Balkan abspielt, wie die Völker sich dort belauern, auch die Araber und Juden belauern sich in einem fort, von den Amerikanern gar nicht zu reden, die haben die meisten Nachbarn, denn offensichtlich betrachten sie den ganzen Erdkreis als Nachbarn!

Wenn also dieser Mann, der neben uns eingezogen ist, sinnierte meine Frau, denn sie machte die Dinge gerne kompliziert, dich nicht beobachtet, mich und dich, warf ich ein, also uns nicht beobachtet, fuhr sie fort, dann ist er nicht unser Nachbar? (…)

Am nächsten Tag regnete es erneut, mir fiel auf, dass das Wetter, seit mein Nachbar mein Nachbar war, launi­scher geworden war. Feindselige, hinterlistige Pfützen warfen hinter mir Blasen, als ich zu ihm hinüberging. Ich musste nicht lange klopfen. Mein Nachbar öffnete über­rascht die Tür, was kann ich für Sie tun, fragte er, ich kam sogleich zur Sache, Sie beobachten uns, sagte ich, jedes Wort ein wenig betonend, Herr Nachbar, setzte ich noch mit Schärfe hinzu, worauf er ein überraschtes Gesicht machte, was wollen Sie damit sagen, fragte er.
Ich will damit sagen, dass Sie kein Auge von uns lassen, und das wird früher oder später zu Komplikationen füh­ren, antwortete ich trocken.
Was für Komplikationen?
Das weiß ich noch nicht, aber mit Sicherheit keine an­genehmen, sagte ich.

Andere Fundstücke, aus anderen Geschichten: z.B. aus „Wintermorgen“ (Heimat):

Ich sah, dass er einen neuen Gartenzwerg hatte. Die Schaukel war gestrichen, er hatte Schotter und Kalk kommen las­sen. Neben der Einzäunung für die Hühner lag ein Kör­per. Der Körper eines Menschen. Zuerst glaubte ich, er schlafe. Doch er schlief nicht. Er war tot. Daneben lag der Spaten. Ein neuer Spaten, registrierte ich. Die Hüh­ner legten die Köpfe schief und betrachteten den Körper neugierig. Eines steckte den Kopf durch das Drahtge­flecht und pickte neben den Fingern herum.
»Das hast du gefunden?«
»Genau.«
»Wie kann man so etwas finden?«
Als wir ins Haus traten, stieg uns der Duft der frisch zubereiteten Suppe in die Nase.

Oder aus “Tips für Hundehalter” (Gott):

Da fiel ihm ein, dass er ja keine Wohnung mehr hatte. Er stand unschlüssig da, dann zog er sich den braunen Ar­beitsmantel über, nahm Mull aus der Erste-Hilfe-Box und verband den Hund. Das genügte fürs Erste. Er setzte sich neben den Tisch, starrte die zahnlückigen Bücherregale an, er erinnerte sich gar nicht mehr, wann er sie das letzte Mal geordnet hatte. Er hatte sich hier einquartiert, da kostete es mehr Mühe, die Ordnung in der Bücherei auf­rechtzuerhalten. Er besaß keine Wohnung mehr, seit eini­ger Zeit lebte er hier.
Das war jetzt sein Zuhause.

oder aus “Mein kleiner Bruder und ich” (Familie):

»Sie vögeln«, flüstere ich hinunter, und mein Bruder schweigt, er grübelt darüber nach, dann stellt er eine neue Frage.
»Was bedeutet das.«
»Das bedeutet nichts, das macht man.« »Und warum machen sie das.«
»Mutter singt gerne. Und Vater repariert gerne.« »Muss ich auch einmal reparieren?«
»Ich weiß nicht, Kleiner, ich weiß wirklich nicht.« »Ich hab solche Angst«, schluckste mein Bruder. »Ich will nicht reparieren. Ich will nicht.«

Geschrieben ist das Absonderliche in der Sprache des Alltäglichen. Eine Methode, die zuweilen ein wenig an Kafka denken lässt, die sich aber abnützt, weil sie nicht prägnant ist, weil das Erzählte zu wenig über sich hinaus weist. So kanns kommen, so ist es eben. Auch wenn am Schluss einer tot sein sollte. Darvasi scheut nicht das Derbe, das Dörfliche, das Versoffene, den sich einstellenden Sex.

Lang hab’ ich so wenig mit einem Buch anfangen können wie mit „Wintermorgen“. Wie hängen die „Novellen“ zusammen? Gibt es einen Bezugspunkt? Sich ähnelnde Lebenskatastrophen? Die Nation, speziell die gegenwärtige, als Folie von Erleben oder Kritk? Ich hab nichts gefunden, keinen Hintergrund, keinerlei Anklage. Verrätselungen ja, aber sollten die sich nicht zumindest partiell auflösen lassen? Verdichtungen schon, aber was wird aus komprimierter Gleichartigkeit. Vielleicht Absurdität, ein wenig Kafka. Vielleicht liegt das am Zustand des Landes, das sich weigert, in der Gegenwart anzukommen?

Auf dem Cover brennt der Stuhl. „A Ja, László Darvasis imaginationsstarke, grausam-absurde Erzählwelt erzeugt Gänsehaut. Aber sie erschüttert auch, weil in ihrem Kern ein Funke Liebe glüht oder verhohlene Sehnsucht nach Schönheit und Transzendenz. (…) Ganz grosse Literatur.“ (Ilma Rakusa, NZZ) Albträume in Serie verflachen die Erschütterung. Vielleicht hab ich das Buch auch nicht unvoreingenommen genug gelesen, hab zu sehr nach Motiven gesucht. Für mich brennen die „Novellen“ wie Strohfeuer, auf den Geschichten liegt eher die Asche.

2016          350 Seiten

Seite beim Suhrkamp-Verlag mit Leseprobe

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Veremej
19. August 2017, 19:41
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Nellja Veremej: Nach dem Sturm

veremejGradow heißt die Stadt und auch die Festung, die Gefahren abwehrt und gerade deshalb im Zentrum der Gefahr steht. Gradow liegt auf dem Balkan, Südostmitteleuropa. In der Stadt treffen sich die Völker und Kulturen der Region, von außen droht das Fremde: die Osmanen, später die westliche Gier. „Griechen und Skythen, Städter und Nomaden, Römer und Bar­baren, Ostkirche und Westkirche, Wien und Istan­bul, Westblock versus Ostblock – die Namen ändern sich, die Machtzentren verschieben sich, aber die beiden Pole bleiben, und unsere Festung liegt mit­ten im Spannungsfeld.” Der “Zusammenstoß mit den Osmanen im Frühjahr 1715 (…) ist das Herzstück der Überlieferung, ihr Kern, um den die Geschichte der Stadt wächst. Auf die Schlacht folg­te eine lange Belagerung und darauf eine wundersame Rettung.”

Nellja Veremej will von allem erzählen, alles in ihrer Stadt versammeln. Die Familie von Ivo und Milly, die Kinder Ana und Boris, Freunde, Sonderlinge. Viele Personen repräsentieren Geschichte, haben ihren Auftrag im Roman. Ivo stammt aus einer bildungsbürgerlichen jüdischen Familie, seine Mutter war Deutschlehrerin aus Prag, seine Großeltern waren, wie es sich gehörte, Kommunisten, Ivo lebt in einer Zeit, in der beides nicht mehr angesehen ist. Seine Frau Milly war Sängerin, bis sie in einer Erkältung ihre Stimme verlor, jetzt haben sie sich auseinandergelebt.

Sohn Boris und Tochter Ana gingen nach 1989 in den Westen, kehrten aber nach Gradow zurück. Ana als Lehrerin, unzufrieden, seit sie ihren Freund Adnan bei einem Badeunfall verlor, Boris lebt und lobt als Generalbevollmächtigter Südosteuropa der AKRO die Segnungen des Neoliberalismus.

Boris hatte für einen Augenblick eine flüchti­ge Ähnlichkeit mit seinem Großvater Dragasch: sein Ordnungssinn, die Vorliebe für weiße Hemden, die mit seinem tadellos frisierten Haupthaar kontrastier­ten, für Halbtöne hatte auch Dragasch keinen Sinn ge­habt. Sein missionarischer Glaube war felsenfest, seine Visionen waren weltumspannend. Der eine glaubte an den Sieg der proletarischen Internationale, der ande­re an die Globalisierung und den weltweiten Triumph von AKRO.
»Alles spielt eine Rolle, wenn du etwas verkaufen musst! Selbst die Länge der Bartstoppeln in dem Ge­sicht des Mannes, der für Reisekoffer wirbt. Im Nor­den gilt ein Dreitagebart als attraktiv, hier bei uns we­cken glattrasierte Gesichter mehr Vertrauen. Bart hin oder her, die Zähne müssen immer tadellos sein; bei Zähnen gibt es in der Werbung keine Kompromisse.«
Vorsichtig tastete Ivo mit der Zunge nach der Lü­cke links oben und dem schiefen Zahn unten – er hat­te versprochen, auf Empfehlung seines Sohnes einen Kieferorthopäden aufzusuchen. Daher vermied er es, in seiner Anwesenheit laut zu lachen. Boris dagegen zeigte gern seine Zähne. Sein sanftes Lächeln war of­fen, als er den Zeigefinger auf seinen Vater richtete, um ihn an sein Versprechen zu erinnern.

Zu Mira hat er eine abgekühlte Beziehung, Vater Ivo aber ist ihr verfallen, ohne seine Glut ausleben zu können. “Ivo bleibt ste­hen, stemmt sich gegen die Stuhllehne, und plötzlich ist er Mira sehr nah, zu nah – sein Gesicht schwebt über dem Abgrund.” Ivo betreibt das Museumscafé, Mira “möchte die Ausstellung im Museum anders gestalten, so, dass sich die Geschichte wie ein Roman lesen lässt. Ein Roman voll Schmerz, Hoffnung und Liebe. (…) Mira hält triumphierend ein dicht bedrucktes Blatt in die Höhe: »Das ist genau das, was wir brauchen: politische Umwälzungen plus große Leidenschaften. Eitelkeit, Liebe, Eifersucht, Tod – alles da!«

Mira erzählt die Geschichte der Belagerung und Befreiung der Stadt Gradow in der Schlacht von 1715. Sie erzählt sie ausführlich.Wir sind Europas Nabel, sein Sonnengeflecht, das Reich der Mitte. Nur wenn wir uns so verkaufen, kommen die Touristen in Strömen, da bin ich sicher!« Ivo hört gebannt zu, ich bringe weniger Interesse dafür auf. Nellja Veremej packt zu vieles in ihren Roman. Entwicklungen über die Jahrhunderte werden parallelgesetzt, der Kommunismus als besiegter Besatzer, der Neoliberalismus als verstörender Sieger, auch die Flüchtlingszüge von 2015 tauchen auf, sogar Dean Reed, der „Rote Elvis“ kriegt sein Plätzchen. Die Familiengeschichte ist zugeschüttet.

Nellja Veremej wurde 1963 in der Sowjetunion geboren und kam 1994 nach Berlin. Sie schreibt auf Deutsch und stand 2013 mit ihrem ersten Roman „Berlin liegt im Osten“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. „Gradow verdankt sich den Ideen des russischen Schriftstellers Andrej Platonow: 1926 erschien seine Novelle „Die Stadt Gradow“. Platonows Erzählungen schwappen in den Roman herüber, wie die Atmosphären aus Gemälden von Hieronymus Bosch oder Albrecht Dürer. Die vielleicht schönste Anverwandlung ist aber eine Überschreibung der Texte von Bruno Schulz. Wenn Veremej Mira durch das Labyrinth verlassener Werkstätten von Schneidern, Schustern und Uhrmachern streifen lässt, erwachen in Zitaten die „Zimtläden“ des großen polnischen Autors für Momente zum Leben: „Du konntest dort bengalisches Feuer finden, Zauberkistchen, Briefmarken, chinesische Abziehbilder, Indigo, Kolophonium aus Malabar, Eier exotischer Insekten, Papageien, Tukane oder lebende Salamander und Basilisken“. (Nico Bleutge, SZ)
2016         240 Seiten

Leseprobe beim Verlag Jung und Jung

Nellja Veremej liest aus dem Roman bei zehnseiten.de (11 Minuten)

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Kuczok
12. Mai 2011, 09:43
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Wojciech Kuczok : Dreckskerl

Ein Portrait des Schriftstellers als junger Dreckskerl.

Die Familie lebt im oberschlesischen Kohlengebiet, die Bedingungen sind nach dem Krieg und im polnischen Sozialismus prekär, das Häuschen deplorabel und nicht mehr zu bezahlen. Trotzdem gilt es, den Schein zu wahren. Probat verklemmte Mittel hierzu sind die Übertreibung, die Selbstverkennung und die Verleugnung der Realitäten.

Irgendwann verlor der Vater den Überblick über das Alter seiner Lieben, zu viel Sammlung kostete ihn das Addieren der abgearbeiteten Stunden und ihr Umrechnen in Geld, das gewöhnlich doch nicht reichte; und so stellte er, nach nur flüchtigem Abschätzen ihrer weiblichen Attribute, der Töch­ter Heiratsalter fest. Die Mutter des alten K. umschnürte sich deshalb die nach Leben und Liebkosung drängenden Brüste und ging immer im selben, ungeschickten Kleid, um bloß den Tag des jüngsten Gerichts hinauszuschieben, als aber sie an die Reihe kam, raffte sich der Vater, vom langen Reifungsprozeß seiner Tochter beunruhigt und nachdem er Gott vorsorglich um Vergebung gebeten hatte, zu einer kleinen Untersuchung auf, durchs Badezimmerschlüsselloch gewahrte er die vergeudeten, eifrig verborgenen Formen und erklärte:
»Sonntog kommta Sohn vom Helmut zum Essen, moi­nem Kollega von da Orbait.«
Und noch:
»Tochta, moch a guta Rindssupp.« 

Man ist aufeinander angewiesen, traut sich aber Liebes nicht zu sagen und zu zeigen und so leimt sich die Familie durch derbe Worte und durch Prügel zusammen.

»Na siehst du, sie wird provozieren mich ärgern wenn ich klebe, die Hand wird mir zittern, dann wird es gar nicht ordentlich, geh mir weg, geh am besten in die Küche, wo dein Platz ist!«
»Du, paß auf, gleich geh ich dir in die Küche, hin- und herkommandieren kanns du deine eigenen Leute unten, dei­ne Sippe, und nicht mich, du wirs mich hier herumschieben, verdammt nochmal, wenn ich für das Kind nähe! Rüpel.«
»Was has du gesagt? Rüpel, zum Vater, vor dem Kind?! Du alte Sau, mich wirs du beleidigen? Und du, mein Sohn, wirs die Mutter nicht zurechtweisen? Dann klebt euch doch allein, bitte schön, ich werde mich bei der Gosse nicht an­biedern, basta!«
»Du verdammtes Rindvieh, scher dich mir fort, mein Le­ben lang helfe ich dem Kind allein, dann werd ich es jetz auch schaffen! Und du heul nicht! Was heulst du? Das Kind weint wegen dir, du Dreckskerl, du alter elender Rüpel!!«
»Brüll mir nicht auf dem Korridor, du Kuh, scher dich auf die Weide! Die Nachbarn müssen nicht wissen, daß ich eine Kuh in der Wohnung halte!!«

Der „alte K.“ – Namen gibt es nicht – will, dass sein Sohn, der Erzähler, ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft wird und bleut ihm dies bei allen Gelegenheiten ein. Und Gelegenheiten finden sich viele.

Der alte K. war darauf bedacht, immer einen Hieb zu viel zu verteilen, einen Streich auf Vorrat, da­mit ich es mir besser merkte (er konnte nicht wissen, daß man sich das gar nicht besser hätte merken können), damit ich es nicht vergaß – ich konnte ihm nicht begreiflich ma­chen, daß man das nicht vergißt. Selbst wenn ich imstande gewesen wäre, ihm das zu sagen, hätte er es nicht geglaubt, denn ihn hatte niemand je mit dieser Peitsche geschlagen;
selbst wenn ich imstande gewesen wäre … Aber ich konn­te gar nichts, außer zu schreien »Papa, nicht hauen!«; ob­wohl später, nach dem zweiten oder dritten Streich, nach der zweiten oder dritten pädagogischen Seance nur noch »nicht hauen!«; und später, nach dem zwanzigsten oder dreißigsten Streich, nur noch »nein!«. »Nein!« war wohl die verständlich­ste Antwort auf alle nur möglichen Unklarheiten, auf alle mutmaßlichen Fragen, und auch auf die, die der alte K. mir stellte, während er mich mit dieser Peitsche schlug. Die der alte K. mir reihenweise stellte, wie er mir reihenweise Hiebe mit d i e s e r Peitsche verpaßte. Er fragte:
»Wirst du noch?« – (Hieb) – »Wirst du noch?« – (Hieb) – »Wirst du?« – (Hieb) – »Wirst du?« – (Hieb) – »Wirst du noch?« – (Hieb).
Und obwohl ich nicht ganz genau wußte, worum es ihm ging, ob darum, ob ich noch einmal, wie das Eltern zu ihren Kindern sagen, »ungezogen« sein werde (was in seinem Fall bedeuten würde, nicht vollkommen absolut und zu wenig bedingungslos unterwürfig), oder ob vielleicht auch darum, ob ich überhaupt noch dasein werde – und dann, wenn die­ser Schmerz sich in mir einrichtete, wenn er sich vermehr­te und häuslich niederließ, war ich unverändert überzeugt, daß ich nicht dasein würde; daß ich schon überhaupt nicht mehr: essen, trinken, atmen, existieren würde, damit er nur aufhörte zu schlagen.

Es gibt die üblichen Instanzen, die den “Dreckskerl” umzingeln, ihn gefügig machen wollen, seine (Homo-)Sexualität unterjochen: die Nachbarn und Verwandten, die Kirche natürlich, die Schule natürlich. Der “Dreckskerl” möchte, kann sich aber nicht entziehen – durch Krankheit etwa, indem er abhaut. Er nimmt sein Schicksal an, indem er es minutiös beschreibt, seine Gedanken einflicht, sein Unverständnis offenbart, aber auch seine Rachegedanken, seine Tyrannenmordfantasie. Das ist stilistisch eigen und gekonnt, oft auch lustig, der Humor ist schwarz, das Ende gar apokalyptisch. Die Zeit ist nach dem Kriegsende, sie reicht durch dieses Haus in die dreißiger Jahre zurück, auch in die Zeit der deutschen Besatzung, es ist aber für mich kein Roman der “polnischen Geschichte im 20. Jahrhundert” (Klappentext)

Nach dieser Intervention spürte Gucio, daß er hier schon die höchste Stufe des Komforts im Leben erreicht hatte, da er in seiner Frau einen treuen und energischen Verbündeten gefunden hatte; er begriff, daß er mit ihr nicht untergehen würde, daß er jetzt schon nichts mehr schwernehmen müsse, jetzt konnte er nur aus dem Sessel zuschauen, wie das Töch­terchen laufen lernte, wie seine Frau im Haus wirtschaftete, wie sie flink mit dem Blick durch die Zimmer wischte und selbst die winzigsten Falten im Teppich, die kleinsten Flek­ken auf den Tischtüchern, Unregelmäßigkeiten der Gardi­nenfalten bemerkte, er schaute aus dem Sessel und fühlte, daß das Glück gerade darin bestand, sich im Leben ein für allemal geborgen zu fühlen, sich an einem Punkt zu befin­den, an dem er schon kein Risiko mehr einzugehen brauch­te, um Schutz vor der Welt zu finden und namentlich vor sich selbst – und man muß zugeben, daß seine Frau Gustave außerordentlich erfolgreich vor Gucio schützte.
Na, und gerade dann dieser Krieg:
»Das geht uns nichts an, geht an uns vorüber«
diese Wehrmacht:
»Ich weiß ja, daß sie Schlesier ziehen, aber doch die Rotz­bengel«
diese Anwerbung:
»Das ist Mißverständnis, ich habe Kind, ich habe gute Ausbildung! Versteht er mich denn nicht?«
diese Kaserne:
»Ich schreibe Dir, Liebling, in der Hoffnung, daf.f es Dir bald gelingt, dieses Mißverständnis aufzuklären, zur Zeit lie­gen wir …«
diese Alpträume:
»Olsa, Jungs, wenn ich brüllä nochts, schubst mia bloß, oba arstickt mich nit, verdammta Kerla, mütm Kissan!«
dieser Abmarsch:
»Diese Hurensöhne nehmen uns ja als Kanonenfutter, die eigenen Leute würden sie nicht hinschicken …«
dieser Schützengraben:
»Nimm uns unter deine Obhut, Heilige Mutter Gottes …« dieser Sturm:
(Ich wollte malen Laufschritt Laufschritt wollte Ruhe haben Sprung Sprung hatte ein geordnetes Leben Ducken Ducken Gott vergib mir diesmal noch vergib mir oj jetzt schießen sie richtig schießen auf uns bloß bis zum Trichter bloß in den Trichter es trifft nie zweimal dieselbe Stelle …)
und endlich dieser Trichter:
(… abwarten abwarten abwarten das ist nur wie ein Ge­witter wenn man sich gut versteckt trifft der Blitz einen nicht oj sie schießen Mama bete für mich Mama Papa betet jetzt für mich o Jesus Maria ich höre nichts ich war ja krank ich war ja in Behandlung solche wie ich gewinnen ihnen den Krieg ja nicht ich kann nichts hören o Jesus das Blut läuft mir aus dem Ohr normal läuft ja nichts aus dem Ohr mir ist was passiert ich spüre nichts höre nichts ich will nicht in dieser Uniform will nicht sterben in einer deutschen Uni­form raus raus raus … ich spüre nichts … mein Blut … so dunkel … Mama … bete … jetzt )

Wenn Andreas Breitenstein in der NZZ schreibt, dass „dieses „Desillusionierungsdrama“ mitten ins Herz des polnischen Nationalismus und Katholizismus trifft“, sagt das weniger über die Entdeckungen des Romans als über den polnischen Nationalismus und Katholizismus.

2003                  175 Seiten

 Rezensionsüberblick beim Perlentaucher

   SPIEGEL-Infos von Wolfgang Hübel zu Buch und Autor

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