Ulf Erdmann Ziegler:
Eine andere Epoche

»Glaubst du, Bibi, dass wir in einer Zeit des Endes oder einer des Anfangs leben?«
»Da es Weihnachten wird und du mich nach dem Glauben fragst: Ich glaube, dass eine Epoche zu Ende geht. Ohne Vorwarnung beginnt eine neue. Du musst dich rüsten, Wegman, deinen Blick schärfen für die Zeichen der Zeit.«
»Die Zeichen der Zeit?«
Bibi sah ihm ruhig in die Augen. Der Anflug eines Lächelns, aber sie sagte nichts.
Wo – bitte – soll da eine „andere Epoche“ sein, gewesen sein? 2011/14 in Deutschland? Politische Schütteleien gab es immer, im Roman-Zeitraum auch, doch nichts, das Deutschland erschüttert hätte. Die „Zeichen der Zeit“ als Glaubensinhalt? Da erklärt auch Weihnachten wenig: Der Titel scheint vermessen, Käufer scheffelnd, egal, ob ihn Autor oder Verlag ersonnen haben. Anmaßend ist zudem die Kopplung von politischem Personal und zeitgeschichtlicher Relevanz. Im „Literatur im Römer“-Gespräch versucht Ziegler die Epoche(n) zu begründen und geht dabei über das hinaus, was ich im Roman gelesen habe. (ab 1:09)
2011/14 musste Bundespräsident Wulff wegen Gründen, die vergleichsweise gaga waren, zurücktreten. Sein Nachfolger war der Gaga-Pastor Gauck. Das weiß man oder kann man nachlesen. 2011/14 wurde Peer Steinbrück nicht Bundeskanzler, Philipp Rösler war Vizekanzler. Keine Zeitenwende. 2011/14 wurde endlich ruchbar, was Nazis unter dem Namen NSU unter den Augen des Verfassungsschutzes treiben konnten. Das weiß man heute oder kann es, wenn man will, nachlesen. Ulf Erdmann Ziegler liefern diese „Affären“ den Hintergrund seines Romans. Bisher unterdrückte Aufklärung ist nicht zu erwarten, muss auch nicht sein, denn Ziegler schreibt kein Sachbuch. Er braucht handelnde Akteure.
Der SPD-Abgeordnete Andi Nair leitet den NSU-Untersuchungsausschuss, Florian Janssen ist FDP-Abgeordneter und Vizekanzler geworden, Wulff bleibt Wulff. Erfunden hat Ziegler Wegmann Frost, Jugendfreund von Janssen und Büroleiter von Nair. Frost hat eine eigene Biografie: Er stammt aus einer Reservation in Idaho, wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Jetzt ist er Sozialdemokrat, in dritter Reihe, ein bisschen wichtig, ein bisschen Mitläufer, ein bisschen „Zaungast“. Er darf Reden schreiben, protokolliert Nairs Arbeit im Ausschuss. Wegman hat den Vorteil, Protagonist geworden zu sein, sein Leben und sein Sein stehen so im Mittelpunkt.
Okay, fand Wegman, der sich die Haare mit Papierservietten hatte trocknen wollen und vom Pizzachef wortlos Küchenkrepp gereicht bekam und nun auch schon fast satt und ein bisschen stolz war, dass er nicht nachgegeben hatte, kein Alkohol, mit der Wirkung, dass er sich nicht mehr vorkam wie ein treibendes Partikel in der urbanen Maschine. Es war einfach Wegman in einer Stehpizzeria am Fuße des Bergs, ohne Mütze, aber nicht ohne Kopf, und nun fiel ihm ein, was er wiederlesen sollte, nämlich Hannah Arendt. Wie würde man ihren Zugang zur Welt nennen: warmherzige Erbarmungslosigkeit? Er wollte nicht kalt werden, kalkulierend und zynisch, wissend, dass ihm das noch schlechter stehen würde als zugänglich und im äußersten Fall sogar naiv. Es musste doch irgendjemanden geben, der an das Gute glaubte, oder nicht wirklich das Gute, aber jedenfalls daran, dass das Böse nicht einsickern durfte ins Gemeinwesen, ein schleichendes Gift in der politischen Disziplin.
Wegman lebt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marion, einer erfolgreichen Immobilienmanagerin, und deren 11-jähriger Ziehtochter Ellie, beide unsichere, weil pragmatische und weltverlorene Partner. Der Roman verlagert sich vom politischen Berlin immer mehr zu den privaten Problemen Wegmans. Wegman hadert mit den beschränkten Möglichkeiten der Politik, seiner ermüdenden Suche nach einem Sinn des Lebens, er kann – sich – erst entspannen, als sein Mentor Nair nach einer Affäre aus dem Bundestag ausscheidet. Auch die Sprache des Romans kann der Autor erst aus der politbürokratischen Verkrampfung lösen, als Wegman zu sich findet.
Ausgerechnet gegenüber einem Abgeordneten, der im Bauausschuss saß, hatte er geäußert, es könne nicht weiter schwer sein, Wohnungen für Genossen zu finden — »Es gibt ja auch Wohnungsbaugenossenschaften«, hatte er gescherzt —, und so war die Aufgabe irgendwie an ihm hängengeblieben. Rasch zeigte sich, dass die Gilde der Makler den Markt tatsächlich nicht im Griff hatte. Es gab die Wohnungsbaugesellschaft Gewobag und private Bauinitiativen, Investoren, Architekten, Spekulanten, und während er die Stimmen am Telefon hörte, klickte er sich durch die Bildschirmseiten; jemand musste doch — wie sagt man — den Schlüssel dazu haben? Die Makler waren auf die Sozialdemokratie am schlechtesten zu sprechen. Natürlich versuchte Wegman es neutral, »Ich suche Wohnungen für Abgeordnete des Bundestags«, aber spätestens beim Buchstabieren der E-Mail-Adresse merkten sie, dass sie bei der SPD waren. Dann die Debatten, ob es stimme, dass die SPD vorhabe, den Maklern den Garaus zu machen — »Nein, wir wollen nur das Prozedere ändern, indem der Auftraggeber die Provisionen entrichten muss« —, aber das war es eben, was sie fürchteten. Die Stimmung war schlecht und Hilfe nicht zu erwarten.
Ein „sozialdemokratischer Roman“, Grundlegende Ideale, pragmatische Verschlingungen, Absturz durch Überforderung oder persönliches Versagen. Ulf Erdmann Ziegler positioniert sich auf der Seite der (halb)linken Ideale, macht die Verschlingungen zum Roman und gönnt dem Personal den „Erfolg“ im Kleinen, der im beruflichen Fiasko endet. Das Leben Wegman Frosts darf weitergehen – den Frauen sei Dank. „Wirklich interessant wird die Sache nicht als Schlüsselroman, sondern erst wenn man die Frage umdreht: Also nicht herauszufinden versucht, wer im Roman wer aus der Wirklichkeit ist, sondern ganz grundsätzlich überlegt, was das eigentlich soll oder bringt, die Wirklichkeit nun noch einmal in der Fiktion nachzuerzählen und um rein der Fantasie Entsprungenes – Figuren, Plot, Liebesgeschichte – zu ergänzen.“ (Ekkehard Knörer, taz) Für mich geht das nicht so leicht zusammen, wenngleich man auch subtil Ironisches im Wegman/Ziegler-Denken herausfinden kann. „Eine Relektüre des kaum Vergangenen in einem etwas anderen Licht.“, nennt es Knörer. Ohne eindeutige und erhellende Antworten, aber zum Rumdröseln gibt es ja den Leser.
Es war ein Mittwoch, als er ein wenig verschlief und in der Lounge Marion und Ellie in bester Laune fand, ein Lied für ihn schmetternd, zweistimmig. In einen hellgrün glänzenden Kuchen waren zweiundvierzig winzige, lavendelfarbige Kerzen gepflanzt. Sie brannten.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Eine Befragung mit Missverständnissen: Literatur im Römer | Lesungen und Gespräche zur Buchmesse (1:05 – 1:26)
Jörg-Uwe Albig: Zornfried
Die Idee ist gut. Jörg-Uwe Albig schickt den Reporter Jan Brock in die Höhle des Braun-Bären auf die Burg Zornfried, wo der Verleger und Rechts-Impresario Freiherr von Schierling (!) mit seiner Entourage haust und wo auch Storm Linné völkisch dichten soll. Die natonale Trutzburg im Spessart. (Es könnte auch Schnellroda sein.) Brock ist auf die Werke von Linné gestoßen und hat eine entlarvende Kritik publiziert. Jetzt hofft er, auf den Dichter selbst zu treffen, mietet sich im Ortsgasthof ein und sucht die Burg auf in der Hoffnung, an Ort und Stelle Abgründiges über Zornfried zu erfahren. Dass er dort wohlgelitten ist, erwartet er nicht. Beides wird unterlaufen, der Empfang ist offen.
Wo rausches flamme wissen sehn und nährt
Wo schwarzes Blut aus hehren höllen fließt
Wo fleisches dickicht eitlen flug beschwert
Und purpur-wurz aus tiefsten tiefen sprießt –
Dort stößt der drud auf seinen eignen grund
Den fremder rassen schleichen nie betrat
Mit Faustens willen und Mephistos mund
Die Seele lodernd und den arm bereit zur tat.
Storm Linné, Höllenheil
Jedem kurzen Kapitel stellt Albig ein von ihm selbst verfasstes Gedicht Linnés voran: Wald- und Boden-, Blut- und Wiesen-Lyrik, übelstes Nazi-Geschwülst in zunehmend abstoßender Gleichheit und rechter Einfalt. Abgeschmackte Gravität, weihevolles Geseier in Schleife. Stilvorlage: stefan george. Brock „wusste plötzlich, dass ich diese Gedichte nur noch jetzt lesen konnte, hier in diesem Wald, dass sie mir in der Zivilisation vollends unerträglich wären.“
Die oberste Tür musste in die Werkstube führen, und tatsächlich glaubte ich, hinter ihr Geräusche zu hören, ein Husten, das Knarren eines Stehpults, womöglich das Kratzen einer Feder. Ich klopfte. Dann atmete ich durch und hörte nur noch Stille.
Aber es war eine Stille, die zu wachsen schien. Sie fühlte sich prall an, ein Luftkissen, das sich ausdehnte, den Turm ausfüllte und sich anschickte, mich an die Wand zu pressen. Ich drückte die Klinke, aber die Tür war verschlossen. Und ich fühlte mich wie nach drei Minuten unter Wasser, als ich meinen Posten aufgab und endlich die Wendeltreppe wieder hinunterstieg.
An einem Fenster mit Bleiglasscheiben blieb ich stehen. Ich war mir sicher, unten im Burggarten einen Mann zu sehen. Ich sah es genau: die gebeugte Gestalt, den Oberkörper, der sich bei jedem Schritt neigte und wieder erhob, das heilige Wanken von Betern in Klöstern oder Moscheen. Ich sah den hohen schwarzen Kragen, der starr aus dem schwarzen Radmantel stieg, und die linke Hand, die sich hinter dem Rücken öffnete und schloss. Und in der Rechten hielt er tatsächlich ein Buch, einen schmalen Band mit floral dekoriertem Umschlag.
Jan Brock erlebt auf Zornfried ein Spektakel, das so viele Facetten braunen Treibens aufweist, dass ihm selbst recht schwummerig wird. Rituelle Versamlungen, Horden reduzierter T-Shirt-„Bubis“, die im Burghof Kampftänze trainieren, nationale Waldwiedergänge nach Vorlage von Ernst Jünger, FriggaGudrunEdeltraud, die diensteifrigen Töchter des Burgherrn magische Pilze, geheimnisvolle Phantasmagorien des Dichters. „Eine Säulenhalle, sagte Schierling ergriffen. Ein gotischer Dom, asketisch, vergeistigt, himmelstrebend. Nicht das Geduckte der romanischen Kirchen. Die romanische Seele hat keinen Sinn für den Wald.“ Je länger ich lese, desto mehr wiederholt sich auch das Blendwerk und desto mehr ermattet es – auch den Leser. Auch die vielen Gedichte, eine Fleißarbeit Albigs, die ihm viel investierten Ekel abverlangt haben, töten Nerven und werden in ihren multiplen Variationen und Stabreimen wohl gerne überlesen.
Lächelnd schlug die Grüne die Augen nieder. Dann hob sie den Blick und schaute in die Runde. Im März, sagte sie. Und in gedämpftem, fast verlegenem Ton präzisierte sie: Im lenz-mond wenn die ernste ernte keimt.
Was erwarten Sie von diesem Abend, fragte ich.
Haben Sie den Meister schon einmal gehört, gab die Schwarzgoldene zurück. Ihr schmaler Blick schweifte zum Thronsessel, als säße der Dichter schon darauf. Wer nur das Buch aufschlägt, sagte sie, so kostbar es gebunden ist, erfährt nichts. Er sieht Buchstaben, Buchstaben in genialen Kombinationen sicherlich, aber immer noch Buchstaben. Er liest heilige Wörter, die aber Wörter bleiben. Er liest erlesene Sätze, die doch am Ende des Tages nichts weiter sein können als Sätze. Man muss den Meister erleben, sagte sie mit stufenlos steigender Stimme, man muss ihn erfahren. Dann erfährt man das Leben.
Auch die Konkurrenz-Journalistin Jenny Zerwien ist keine Hilfe bzw. Erlösung, sie lässt sich so zu sehr auf das böse Spiel ein, dass sie sich auf Zornfried einquartieren lässt.
Jörg-Uwe Albig führt die Satire nicht zur erlösenden Enlarvung, sie versickert in den kuriosen Klischees. Die Realität ist raffinierter. Die Rechtsmystiker des 21. Jahrhunderts kennen die Kodes und kleiden sie neu ein. Albig dekodiert die oldschool-Mythen, die als Atavismen natürlich auch in die internetbasierten Stätten überlebt haben. Blondie erscheint auf dem Cover gedoppelt: einmal ist die Stickerei im Rahmen als domestizierte Ikone.
Aber es geht gar nicht um eine Satire auf braune Mystik, vorgeführt werden sollen die Medien. „Jörg-Uwe Albig hat ein Buch geschrieben gegen die Obsession einzelner Journalisten mit rechtem Denken. Und er triggerte damit eine Obsession einzelner Journalisten mit rechtem Dichten. Vielleicht hat er mehr mit seinem Protagonisten gemein, als ihm lieb sein kann.“ (Oskar Piegsa) Dass der Reporter mit seiner „Homestory“ „dem Dichter weit über dessen eingeschworene Fanbasis hinaus Prominenz verschafft und auch unfreiwillig neue Anhänger zutreibt, darf den Reporter nicht irritieren. Er tut, wie man in Deutschland so sagt, nur seine Pflicht“, schreibt Albig in einem Gastbeitrag im Spiegel. Für Aufmerksamkeit sorgen auch die Protestanten, die vor Zornfried auflaufen. Hier geht es dann auch um das Thema, ob man „Mit Rechten reden“ soll. So die Überschrift von Albigs Text – und der referentielle Buchtitel von Steinbeis, Leo und Zorn.
Wie nicht zu vermeiden, ist der Grusel faszinierender als seine Dekodierung. Jörg-Uwe Albigs „Zornfried“ muss genauso ins Leere bzw. in die Irre laufen wie all die Einladungen rechter Geister in Talkshows.
Barbaren sind wir roh von fleisch und seele
Zersotten nicht in süßem sud noch seim
Versklavt nicht von der heuchler feiger zunge
Gelähmt nicht von des mitleids zähem leim
Wir greifen an. Und wenn die welt in flammen
Und morsche mauern rauchen schwarz im land
Dann lassen wir die fachel nicht verglimmen
Und setzen singend eignen leib in brand.
2019 160 Seiten
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Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: Politik, Satire, Wirtschaft, Zeitgeist
Alexander Schimmelbusch: Hochdeutschland
Es ist nirgends exakt definiert, was ein Roman zu sein hat. Wenn dazu eine Handlung, die Entwicklung und Konflikte von Personen gehören sollten, dann streift Alexander Schimmelbusch das Genre nur am Rande. Der „Held“ Victor (sic) ist zu Beginn Banker und am Ende tot, doch so sehr er die meiste Zeit über nur die von „Statusmarkern“ zusammengehaltene Maske ist, so wenig ist das Ende anders begründet als durch die dem Text vorgegebene Seitenzahl. Bindungen kann der Zwangs-Individualist schon deshalb nicht eingehen, weil das die neoliberalisierte Laufbahn nicht vorsieht – und selbst seiner Tochter Victoria (!) wagt er sich nur geschützt durch Markenmasken unter die Augen. Wo aber verpflichtende Beziehungen ohne die Knute der Life-Bestylung nicht denkbar sind, ist ein Konflikt des Protagonisten mit der Umwelt von Mensch & Gesellschaft obsolet.
Schimmelbusch und sein Victor wären besser als im Roman auf der Bühne aufgehoben: als Unterhaltungskünstler im Pointenfeuerwerk. Allerdings fänden da wohl viele der Überspitzungen keine Abnehmer, da alles viel zu schnell geht. Beim Lesen möchte man sich mehr Zeit nehmen und die hochelaborierte Prosa mit beträchtlicher Bewunderung und hohem Vergnügen genießen.
Der Text zerfällt in 3, vielleicht auch bloß 2 ½ Teile. Zunächst entlarvt sich Victor selbst durch Berichte von seinen Lifestyle-Orgien. Das Leben, das ist der Job, das sind Kontakte im und für den Job und das ist der Markenozean. Der Job:
Bei der Birken Bank, “die auf M&A spezialisiert war, Mergers & Acquisitions, also Fusionen und Übernahmen (…) war Victor für coverage zuständig, (…) Victor war zuletzt Head of German Investment Banking bei der UBS gewesen, mit einem Angebot zum Wechsel zu Morgan Stanley und dem geheimen Vorhaben, sich mit 40 Jahren zur Ruhe zu setzen. Er hatte 102 Wohnungen in Berlin erworben, in Gründerzeithäusern am Luisenstädtischen Friedhof, mit einem Blick über Mausoleen auf die Hangarbauten des Flughafens Tempelhof in naher Ferne.
Die Frauen, die Ehe, die Familie und weiteres Chichi:
Antonia und er waren vor allem deshalb ein Paar geworden, da Victor sie zum richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Er war in einem Zustand gewesen, in dem er eine Freundin gebraucht hatte, im Sinne einer mit ihm befreundeten Person, einfach irgendeine Form der Nähe, um sich gegen die Depression zur Wehr setzen zu können, die das Resultat seiner damaligen Phase destruktiver Arbeitsbelastung gewesen war – einer finsteren Wolkendecke der Grenzerfahrung, durch die er sich hatte kämpfen müssen, um in das strahlende Licht des Reichtums emporzuschweben. (…)Ihre Beziehung hatte acht Jahre lang gehalten, obwohl sie aus Victors Perspektive nicht auf Dauer angelegt gewesen war, was weniger mit Antonia und mehr damit zu tun gehabt hatte, dass eine Konstante in seinem Leben schon immer das Gefühl gewesen war, sich gerade in einer Übergangsphase zu befinden.
Und so entstanden Fliehkräfte in diesen Ehen, die als Allianzen autonomer Einheiten angelegt waren, da die Abwesenheit aller Erwerbszwänge die Ehefrauen mit der Versuchung konfrontierte, ihre Männerberufe aufzugeben, um fortan ihren Interessen nachzugehen. Um sich zu emanzipieren vom gesellschaftlichen Zwang, eine Führungsfunktion im Risikomanagement oder im Devisencontrolling auszuüben.
Um endlich etwas Kreatives zu machen – ein Bedürfnis, das Victors Einschätzung zufolge im Hochtaunuskreis in den kommenden Jahren zu einem Boom im Bau und der Vermarktung hochwertiger, aber kompakter Bungalows führen würde, klassischer Erstfrauen-Bungalows in bewaldeten B-Lagen, deren Bewohnerinnen im Heilklima gegen das seelenlose Surren ihrer Töpferscheiben würden antrinken können.
Seine Affäre Maia Maia hatte er zum ersten Mal in Moskau gesehen, auf seinem iPhone, während einer Besprechung. Sie war durch die Lücke in der Hecke in seinen Garten gekommen, wo sie die Bewegungsmelder und somit die AlertFunktion seiner Cribz-App aktiviert hatte. Auf seinem Touchscreen hatte er sie dabei beobachten können, wie sie durch seine gläsernen Außenwände sein Interieur begutachtet hatte.
Sie hatte nur ein langes T-Shirt getragen, und Victor hatte sich gefragt, was sie wohl darunter angehabt hatte – nichts? Einen String von La Perla? Einen weißen Baumwollslip wie seine Freundinnen in der Schule damals? Bevor er sich im Detail Maias Irokesen hatte ausmalen können, hatte er mehrfach seine große Lampe an- und ausgeschaltet, woraufhin sie panisch geflohen war und Victor manisch aufgelacht hatte – dies war in einem Meeting mit dem Strategiechef der Gazprom gewesen.
Zu seinem Haus am Taunusrand fährt er in seinem Porsche ‚Shere Khan’ „mit 24 Lautsprechern und einem Armaturensektor, dessen Lederverkleidung allein so viel wie ein VW Polo gekostet hat“.
Nach gut 100 Seiten wird nicht nur Victor, sondern auch der Leser des hohlen Esprits überdrüssig. Der Leser könnte zuklappen, Victor beginnt ein Manifest zu schreiben. Er entwirft auf etwa 30 (Buch)-Seiten eine Art Regierungsprogramm zwischen dem “auch nach drei Litern Lemberger meist noch luziden Gründervater” Ludwig Erhard und einer streng neoliberalisierten Grün-SPD, “unsere Bewegung heißt Deutschland AG” und bezweckt “die Reifung des deutschen Staates zum Unternehmer“ und sie “verfolgen die Zielsetzung, Wohlstand für alle zu schaffen”. Das Programm ist streng national(istisch): “Nur mit einer effizienten Allokation nationaler Ressourcen wird die Politik ihre zentrale Aufgabe erfüllen können, nämlich die Verbesserung der Lebensumstände aller deutschen Bürger zu gewährleisten.”
„Er wischte über das Touchpad, um sein Laptop zu wecken, und ein leeres Dokument erschien. Im Kern würde er wie immer einen Pitch des Genres »Strategische Optionen« schreiben, mit dem er sich diesmal aber nicht an einen Funktionsträger, sondern direkt an den Souverän richten würde. Victor hatte sich mittlerweile in eine tiefe Konzentration manövriert, und wenn man in seine grauen Augen geschaut hätte, wären die grünen Kontrollleuchten seiner organischen Mainframe-Architektur zu sehen gewesen.”
Nach diesem Kokolores folgt der Endteil, der wieder wie die Eingangsseiten konzipiert ist, nur dass Victor inzwischen die Bank verlassen hat und sich ganz seiner Tochter widmet. Die Arme! Wieder viel verbales Lifestyle-Geplänkel, ohne dass irgendwer ein anderer geworden wäre. Alles hohl wie eh, gründlich gut recherchierte Psalmodien, Insidergebabbel. Ja, nicht zu vergessen, ein Coup: Bundeskanzler ist seit 2017 “Ali Osman, der ‘Kreuzberger Kennedy’, wie ihn Caren Miosga getauft hatte”.
Victor starb dann erst 15 Jahre später
Volker Weidermann zählt „Hochdeutschland“ zu den drei besten deutschen Büchern dieses Frühjahrs: „Schimmelbusch hat einen wahnsinnig lustigen, bösen, politisch klugen Untergangs- und Aufbruchsroman geschrieben.“ Im besten Sinn ist der Roman eine deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, schreibt Jens-Christian Rabe in der SZ. „’Hochdeutschland’ müsste man den politischen Roman zur Zeit nennen, wenn das nicht so abgenutzt klingen würde.“ „Was der Roman bietet, ist Material für lesenswerte Essays und Glossen, die vielleicht eine geeignetere Textform gewesen wären für Schimmelbuschs durchaus interessante Theorien und Einblicke. So bleibt dem Leser die Welt der Banken und Manager so lebensfern, wie sie es immer war.“ (Hendrik Lullies, NDRkultur)
Lustig ist der Text wohl, aber ich lese zu viel vom Gleichen. Das Böse und Politische beschreibt und beklagt den öden Schein, nicht viel mehr. Ein „Roman zur Zeit“ ist „Hochdeutschland“ insofern, als der Plot „an der zweifelhaften Oberfläche des schnellen, reichen Lebens [seines] Protagonisten“ (Norbert Frei) hängen bleibt und diese von innen heraus zelebrierend zersetzt. Das „Manifest“ ist nicht eingebunden und in seiner liberalpopulistischen Tendenz doch sehr wurschtig. Eine „deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs ‚Unterwerfung’“ liefert Schimmelbusch nicht. Bei aller Ignoranz von Houellebecqs Protagonist François ist der doch ein ernsthaft Suchender, kein Knallhallodri wie Victor; dass ein Muslim Regierungschef ist, ist eine Parallele, bei Schimmelbusch ist das Thema aber nicht ausgeführt. Mit „Hochdeutschland“ kann man keine Politik machen und auch keine Zeiterscheinungen eingehend kritisieren. Zeitgeist.
2018 215 Seiten
Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta
Infos zum Buch der Woche beim „freitag“
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Robert Menasse: Die Hauptstadt
60000 Menschen arbeiten in Brüssel für die EU. Viele, wenn auch im Vergleich mit einzelnen Ländern gar nicht so viele. Robert Menasse hat sich die Brüsseler Mannschaften und Machenschaften aus der Nähe angeschaut und dazu einen Roman mit dem Titel „Die Hauptstadt“ geschrieben. Doch ist dieser Zusammenhang vordergründig und zudem von der Rezeption in den Vordergrund geschrieben worden. Das führte – nicht zuletzt – zum Deutschen Buchpreis 2017.
Natürlich geht es auch um die Europäische Union, die sich in Brüsssel versammelt und aufstellt. „Hier in Brüssel? Da saßen ständig Menschen zusammen, mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen kulturellen Prägungen, vor allem aus den Staaten im Osten kamen viele auch aus Arbeiter- oder Handwerkerfamilien, sie hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen, und alles, was Grace Atkinson in zwanzig Minuten zu klären gewohnt war, dauerte hier Stunden, Tage, Wochen.” Die Entscheidungsprozesse sind bürokratisch verklausuliert, die Interessen prallen national und lobbymäßig gefiltert aufeinander. Die jeweiligen Vertreter sind zudem durch Privatismen (ab)gelenkt. Viel Stoff. Wie soll ihn der Autor bändigen?
Zuerst durch das Symbol, dann durch den roten Faden. Die EU als Koben, Brüssel der Trog, das Schwein irrt durch die Haupstadt, wird da und dort gesehen (oft gleichzeitig), lässt sich weder orten noch einfangen. Schließlich startet man einen Wettbewerb, um dem Schwein mit einem Namen habhaft zu werden und es medien-kommerziell einzuhegen. Das Schwein stellt Menasse in das Zentrum seiner Erklärung Brüsseler Marktmechanismen. Die Pläne für den Export von Schweinen (bevorzugt nach China, dort gelten selbst die Ohren als Schmankerl) werden von nationalen Interessen hintertrieben.
Der Streitpunkt, der zur Eskalation geführt hatte, waren ausgerechnet die Schweine. Das war es, was Frigge »die Schweinerei« nannte, andere in der Kommission sprachen in Hinblick auf den Konflikt zwischen TRADE und AGRI gar vom »Krieg der Schweine«. AGRI wollte durch Kürzung von Subventionen einen Rückgang der Schweineproduktion erreichen, um den Preisverfall von Schweinefleisch auf dem europäischen Markt zu stoppen, TRADE aber wollte die Schweineproduktion verstärkt fördern, weil sie im Außenhandel, vor allem mit China, große Wachstumschancen sah. Deshalb wollte TRADE ein Mandat, um den Export von Schweinefleischprodukten in Drittländer für ganz Europa zu verhandeln, und durchsetzen, die Schweineproduktion in Europa entsprechend der Nachfrage auf den Weltmärkten auszurichten, AGRI aber wollte bloß den Binnenmarkt regulieren, gemeinsame Standards durchsetzen, wobei die Veterinär-Standards wiederum in die Verantwortung der DG SANCO fielen. Und beide wollten sie die Außenhandelsverträge in der Souveränität der einzelnen Staaten belassen. (…)
Der Kompetenzstreit beruhte darauf, dass das Schwein eine Querschnittmaterie war: das lebende Schwein im Stall »gehörte« der DG AGRI, nach der Schlachtung, als Schinken, Eisbein, Schnitzel, Wurst oder was auch immer, jedenfalls als »processed agricultural good« war die DG GROW zuständig, und erst wenn es Europa verließ, sozusagen als Schwein im Frachtschiff oder im LKW, gehörte es der DG TRADE. Das Problem war, dass man über das Schwein im Container nicht verhandeln konnte, wenn man über das Schwein im Heimatstall nicht bestimmen durfte. Die GROW war in dieser Frage inoffensiv. Dort beschäftigte man sich mit Regeln für die Auflistung von Inhaltsstoffen, Definitionen von Höchstgrenzen beim Einsatz von Pharmazeutika und Chemikalien, Qualitätskriterien. Ihnen war das Schwein buchstäblich Wurst, es sollte nur richtig etikettiert sein. Das Match musste zwischen AGRI und TRADE entschieden werden.
Der Faden, den Menasse durch den Roman legt, ist die Vorbereitung der Feier zum 50. Jubiläum der Europäischen Kommission, dem Jubilee-Project. Angesiedelt ist es im Alibi-Ressort Kultur, denn alle gehen davon aus, dass das Projekt an den nationalen Zwistigkeiten scheitern wird. „Nach außen war das Projekt völlig mit dieser Xenopoulou verbunden, die sich da enorm wichtiggemacht hatte. Xeno wiederum war sich nicht so sicher, sie fand, wenn es noch Diskussionsbedarf gab, dann sollte sich Martin darum kümmern. Das Projekt war doch Martin Susmans Idee gewesen.” Menasse legt die Vorbereitung in die Hände von Randfiguren. Er nimmt die Überlegungen damit heraus aus den harten Entscheidungszirkeln, er kann eingehend von den privaten Interessen, Problemen und Umgebungen der damit betrauten Personen erzählen und er kann persönliche Illusionen spinnen. Der Autor versetzt sie in die Romanfigur Professor Erhart. Erhart definiert die politisch-wirtschaftlichen Motive der Gründung der Gemeinschaft um in moralisch-humane. Erharts Vision:
Obwohl ich ja Brüssel als EU-Hauptstadt zunächst für sinnig hielt: die Hauptstadt eines gescheiterten Nationalstaats, die Hauptstadt eines Landes mit drei Amtssprachen. Aber nein, ich meinte: Europa muss eine neue Hauptstadt bauen. Eine neue Stadt, deren Errichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nations-Hauptstadt, in der die Union nur Untermieterin ist.
Und wo wollen Sie diese Stadt bauen? In welchem Niemandsland? In der geographischen Mitte des Kontinents? (…)
Deshalb muss die europäische Hauptstadt natürlich an einem Ort gebaut werden, dessen Geschichte maßgeblich für die Einigungsidee Europas war, eine Geschichte, die unser Europa überwinden will, zugleich aber niemals vergessen werden darf. Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt, auch wenn der letzte gestorben ist, der sie erlebt oder überlebt hat. Ein Ort als ewiges Fanal für die künftige Politik in Europa. (…)
Er sagte: Und deshalb muss die Union ihre Hauptstadt in Auschwitz bauen. In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zukunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. »Nie wieder Auschwitz« ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde. Zugleich ist es ein versprechen für alle Zukunft. Diese Zukunft müssen wir errichten, als erlebbares und funktionierendes Zentrum. Haben Sie den Mut, über diese Idee nachzudenken? Das wäre doch ein Ergebnis unserer Reflection Group: eine Empfehlung an den Präsidenten der Kommission, einen Architekturwettbewer auszuschreiben, für die Planung und Errichtung einer europäischen Hauptstadt in Auschwitz.
Der Titel des Romans leitet sich primär von dieser Vision ab. Menasse setzt viele Teile zu einem plastischen Panorama zusammen. Es gibt eine Menge Handlungsträger, die man leicht vergessen und verwechseln kann, wenn man beim Lesen nicht aufpasst oder längere Pausen macht. Alle sind ihrer Heimat und Herkunft verbunden, vor allem Österreicher genießen dieses Privileg. Andere, wie der Engländer Morland eignen sich besser zu leisem Spott.
Es ist verrückt, völlig irrational, aber diese Schweinegeschichte war ein wesentlicher Grund dafür, dass George Morland nun zur radikalen Obstruktion überging. Wenn England schon den Schaden hatte, dann sollte es wenigstens die Schädiger verspotten können. Und alles, was der Kommission nun misslang, stärkte die britische Position bei den kommenden Verhandlungen. Und wenn die Kommission, angeblich unter Schirmherrschaft des Präsidenten, eine Image-Kampagne vorbereitete, dann soll sie scheitern. Ein schlechtes Image der Kommission war gut. Für England.
Sehr oft geht das Personal durch die Straßen und kehrt in diversen Lieblingskneipen ein. Menasse kennt alle Wege und Speisekarten. Auch bei den Strukturen des “Hauptstadt”-Betriebs zeigt sich Menasse als Insider:
Das Kabinett zieht die Fäden. Jedes Wort, das der Präsident sagt, sagen seine Bauchredner. Alles, was er entscheidet, ist längst entschieden, und wenn er etwas unterschreibt, wird seine Hand geführt. Hast du im Fernsehen gesehen, wie der Präsident bei einem Treffen mit Staatschefs den einen plötzlich an der Krawatte zieht und dem anderen einen kleinen Schubs gibt? Das ist das einzig Unvorbereitete und Eigenständige, was er sich erlauben kann, sozusagen seine persönliche Note in dieser Mechanik der Macht, das ist sein ironisches Spiel: Er, der an so vielen Fäden hängt, macht sich pantomimisch darüber lustig, indem er zieht und schubst, als wäre er selbst der Strippenzieher.
Es geschieht auch ein Mord, dessen Funktion ich aber schon wieder vergessen habe. DerRoman ist eine intrikate Melange, gut abgerundet, wohlwollend ironisch, immer wieder amüsierend. Klug und gelehrt, philosophisch und anthropologisch, sprachmächtig. Menschlich. Wer harte Fakten über die EU und Metropole und Moloch Brüssel lesen will, sollte zum Sachbuch greifen.
Die Wahrheit ist, dass es bis in die Köpfe hinein so unglaublich still ist unter dem gottlosen Firmament. Unser Geschwätz ist nur das Echo dieser Stille. Kalt zog sich sein Herz zusammen, dehnte sich aus. Zog sich zusammen, dehnte sich aus. Er atmete ein, er atmete aus.
2017 460 Seiten
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Michael Lüders: Dunkelmacht
Michael Lüders rührt ein Mashup deutscher Verschwörungen der letzten Jahre an. Er reklamiert für „alle Hauptfiguren (…) Fiktion, bittere Wirklichkeit sind die geschilderten NSU-Fahndungspannen, sowie die beschriebenen rechten Traditionslinien im Bundeskriminalamt.“ „NSU-Aufklärung“ und involvierter Verfassungsschutz, Flüchtlingsströme und –heime, mediale Quoten-Verflechtungen, reaktionäre Dunkelmänner, gewürzt mit ein bisschen Liebe, ein bisschen Exotik, ein bisschen Prügelei und Sprengstoff und Action.
Matthias „Mitch“ Berger arbeitet für Star-TV, eine Produktionsklitsche für TV-Dokus. Sein aktuelles Projekt ist ein Feature über eine syrische Flüchtlingsfamilie, ausgewählt sind die Marwans, nett, ängstlich und zahm, die nach der „Erstaufnahme“ in Bayern ins thüringsche Friedenau transportiert wird. Hier schließen sich kurz Kontakte zu Fred Wagner, einem lokalen Neonazi, der als V-Mann des Verfassungsschutzes auch in den Akten zur „NSU“ stand. Mitch Berger erhält eine DVD, die beweisen, dass die NSU-Mordbuben von rechten V-Männern erschossen werden. Fred Wagner war dabei, eine Telefonnummer führt zunächst ins Nichts, stellt sich aber als gesicherte Geheimnummer des hohenVerfassungsschützers Werner Dickmann heraus. Dickmann erweist sich als Spinne und Drahtzieher eines verschworenen Geheimbunds reaktionärer Nationalisten, der ein Attentat auf eine Flüchtlingsunterkunft plant, eine ehemalige US-Kaserne, in die auch die Marwans verlegt werden .
Taylor kratzt sich am Kinn, man sieht, der Mann fühlt sich unwohl, fühlt sich überrumpelt. Generalmajor Neubert mischt sich ein, legt dem Amerikaner vorsichtig eine Hand auf den Unterarm und deutet mit der anderen Hand auf Dickmann: »Marc, das ist nicht seine verrückte Privatidee, dahinter steht eine große Gruppe hoher deutscher Offiziere und Geheimdienstler. Wir haben lange über diese Aktion debattiert und sie einstimmig gebilligt. Dickmann hat recht, wir sind in einer Notwehrsituation. Wenn wir Angela Merkel gewähren lassen, dann wird in zehn Jahren in dem Odenwalddorf deiner Großmutter ein Taliban zum Bürgermeister gewählt. Dies ist kein Terror, das ist Abschreckung. Das ist ein Kollateralschaden, so heißt das doch bei euch in Afghanistan.«
Weshalb schreibt Harald Lüders kein Sachbuch? Weil da nicht mehr drinstehen könnte als man eh schon weiß oder vermutet? Was ist der Mehrwert eines „Thrillers“ – über die Spannung hinaus? Lässt die fiktionale Verdichtung mehr Betroffenheit entstehen? Und, wenn ja, was ist damit gewonnen? Agitation oder eher Wutabfuhr? Vielleicht sind all diese Fragen obsolet.
Indem er die Ungeheuerlichkeiten geschickt verschlingt, gelingt Lüders ein Krimi zur aktuellen politisch-sozialen Lage. Mit Mitch Berger hat der Leser eine Identifikationsfigur, man hofft gebannt mit dem Außenseiter, dass der perfide Anschlag misslingt. Es ist nicht zu viel verraten, dass die meisten der Guten überleben. Man sollte aber in der Fiktion bleiben und sich von Verbrecherliteratur keine segensreichen Wirkungen auf die Realität erwarten.
2016 350 Seiten
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit
Im Februar 1917, vor hundert Jahren, schaffte man in Russland den Zaren ab und mit ihm seine Hungerherrschaft. Das war gewiss verdienstvoll. Damit man die arrogante Monarchie stürzt, muss man radikal sein, was schon die Jakobiner der französischen Revolution 150 Jahre zuvor exekutierten. Am radikalsten waren in Russland die Bolschewiki, und weil/obwohl sie so radikal waren, setzten sie sich durch und weil sie so radikal dachten/fühlten, machten sie die Augen zu und erträumten sich nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen idealen Menschen. Den Sowjetmenschen.
Wer die Augen zum Träumen verschließt, gebiert leicht Ungeheuer. Der Maler Goya wusste dies, die Bolschewiki blieben verblendet. (Biopolitische Utopien hatten Konjunktur – nicht nur in Russland.) „Glaubensinhalte laufen grundsätzlich Gefahr, zur Waffe geschmiedet zu werden: von Herrschern, Demagogen, Sinnsuchern.“ (Michael Lüders)
Russland war kein aufgeklärt-industrielles Land, sondern zu 85% von Bauern in Wald-Sümpfen bevölkert, beherrscht von hierarchisch-strukturiertem Staats- und Landadel. Um das Land in die westeuropäisch inspirierte Gegenwart zu wuppen, musste man revolutionären Anlauf nehmen und da springt man gerne am Ziel vorbei. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war das eigentlich egal, denn er verstand sich nicht als politischer Mensch.
Aber er glaubte nicht an Utopia, an die Vervollkommnung der Menschheit, an die ingenieurtechnische Bearbeitung der menschlichen Seele.
Kunst gehört allen und niemandem. Kunst gehört jeder Zeit und keiner Zeit. Kunst gehört denen, die sie erschaffen, und denen, die sie genießen. Kunst gehört ebenso wenig dem Volk und der Partei, wie sie einst dem Adel und den Mäzenen gehört hatte. Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist. Kunst existiert nicht um der Kunst willen: Sie existiert um der Menschen willen. Aber um welcher Menschen willen, und wer bestimmt das? Für ihn war seine eigene Kunst immer anti-aristokratisch gewesen. Schrieb er, wie seine Verleumder behaupteten, für eine bourgeoise, kosmopolitische Elite? Nein. Schrieb er, wie seine Verleumder es von ihm verlangten, für den müde von der Schicht heimkehrenden Bergmann im Donbass, der eine wohltuende Stärkung brauchte? Nein. Er schrieb Musik für alle und niemanden. Er schrieb Musik für die, die seine Musik am besten zu würdigen verstanden, egal welcher gesellschaftlichen Herkunft sie waren. Er schrieb Musik für die Ohren, die fähig waren zu hören. Und darum wusste er, dass jede wahre Definition der Kunst zirkulär ist und jede unwahre Definition der Kunst ihr eine spezifische Funktion zuschreibt.
Er wollte komponieren, denn davon und nur davon meinte er etwas zu verstehen. Musik ist eine Kunst und die Kunst ist nur aus der Kunst heraus zu erfassen. Damit steht er aber schon zu Lenin im Gegensatz: DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. Julian Barnes druckt es in gefetteten Majuskeln.
Alle Musik musste für die Massen unmittelbar verständlich und erbaulich sein. (…) Ein Komponist sollte seine Produktionsleistung ebenso steigern wie ein Bergarbeiter, und seine Musik sollte die Herzen erwärmen, wie die Kohle eines Bergarbeiters die Körper erwärmte. Bürokraten bemaßen die musikalische Produktionsleistung wie die Produktionsleistungen in anderen Bereichen; es gab vorgegebene Normen und Abweichungen von dieser Norm (…) und das geringste Experiment wurde als »Formalismus« verdammt.
Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch leidet am Unverständnis der Macht, an ihrem einfältigen Anspruch an die Kunst, an die Komponisten, an den Vorwürfen, Formalist zu sein. Weil er sich dieser Einfalt nicht fügen kann, wird er verfolgt, verhört, er fürchtet um sein Leben. Und er leidet darunter, dass er um seines Leben Willen sich der Macht unterwirft. Er unterschreibt Briefe gegen andere Künstler, er tritt in die Partei ein, er wirft sich Feigheit vor.
Nun, das Leben ist kein Spaziergang übers Feld, wie man so schön sagt. Eine Seele konnte auf dreierlei Art zerstört werden: durch das, was andere einem Menschen antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücken selbst antat. Jede einzelne Methode erfüllte ihren Zweck; wenn aber alle drei zusammenkamen, waren die Folgen unausweichlich.
Er wusste nur eins: Dies war die allerschlimmste Zeit.
Die schlimmste Zeit war nicht dasselbe wie die gefährlichste Zeit. Weil die gefährlichste Zeit nicht die Zeit war, in der man am meisten in Gefahr war.
Das hatte er bisher nicht verstanden.
Er saß in seinem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen, während draußen die Landschaft vorüberholperte. Er stellte sich selbst eine Frage. Sie lautete:
Lenin fand Musik deprimierend.
Stalin dachte, er verstünde Musik und
wüsste sie zu schätzen.
Chruschtschow verachtete Musik.
Was ist für einen Komponisten das
Schlimmste?
Das sind die drei Kapitel von Barnes’ Roman. Die Lebensbedrohung durch den Geheimdienst, Schostakowitsch verbringt die Nächte bekleidet “Auf der Treppe” vor seiner Wohnung, damit er seine Familie schützt, wenn ihn Stalins Schergen abholen. “Der Koffer an seinem Bein sollte ihn beruhigen und auch andere beruhigen; eine praktische Maßnahme. So sah es aus, als habe er die Ereignisse unter Kontrolle, statt deren Opfer zu sein. Männer, die mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus gingen, kehrten gemeinhin zurück. Männer, die im Nachtgewand aus dem Bett gezerrt wurden, kamen häufig nicht zurück. Ob das stimmte oder nicht, war unwesentlich. Wichtig war nur: Es sah so aus, als hätte er keine Angst.” Er fliegt “Im Flugzeug” nach Amerika und verliest von der Macht vorgefertigte Erklärungen der “Überlegenheit des sowjetischen Musiksystems über alle anderen der Welt. So viele Orchester, Militärkapellen, Volksmusikgruppen, Chöre – Beweis für den aktiven Einsatz der Musik bei der Weiterentwicklung der Gesellschaft.” Und er erfährt “Im Auto” mit Chauffeur die tiefste Demütigung, den Verrat an den eigenen Prinzipien, verkommen zum Ausstellungsstück der Macht. Die Methode des “Nikita Kukuruz”.
Julian Barnes’ Schostakowitsch ist ein ironischer Grübler, der manchem auf die Spur kommt, ohne viel zu verstehen. „Er hatte sein Leben lang auf die Ironie vertraut. Er vermutete, dieser Charakterzug sei an der üblichen Stelle entstanden: in der Kluft zwischen unserer Vorstellung, unserer Annahme oder Hoffnung, wie sich das Leben entwickeln werde, und dem, wie es sich tatsächlich entwickelt. So wird die Ironie zu einem Schutzschild für das ich und die Seele; sie lässt dich von einem Tag zum anderen atmen.” Seine Versuche, Ironie als Selbstschutz einzusetzen, können angesichts einer völlig ironiefreien Macht nicht gelingen. Also verlegt er die Ironie in seine Gedanken. Aber
Ironie war, wie er inzwischen erkannt hatte, ebenso anfällig für die Wechselfälle des Lebens und der Zeit wie jede andere Geisteshaltung. Man wachte eines Morgens auf und wusste nicht mehr, ob man es nicht doch ernst meinte; und selbst wenn nicht, ob das noch eine Rolle spielte, ob es überhaupt jemand merkte. Man meinte, einen ultravioletten Lichtstrahl auszusenden – aber wenn das niemand zur Kenntnis nahm, weil der Lichtstrahl außerhalb des allgemein bekannten Spektrums lag? In sein erstes Cellokonzert hatte er einen Verweis auf »Suliko« eingefügt, Stalins Lieblingslied. Aber Rostropowitsch hatte darüber hinweggespielt, ohne es zu merken. Wenn man Slawa eigens auf diese Anspielung hinweisen musste, wer in aller Welt würde sie dann je erkennen?
Die Ironie, die er Schostakowitsch unterschiebt, ist auch Stilmittel von Barnes. Er schreibt sich seinen Komponisten, stellvertretend für die Haltung des Künstlers zur Macht. In der “Anmerkung des Autors” nennt Barnes seine Quellen, betont jedoch seine dichterische Freiheit. “Der Lärm der Zeit” ist keine Biographie, sondern ein Versuch über den Wert der Kunst als humanes “Flüstern” gegen den “Lärm” der politischen Barbarei.
Schostakowitsch’ Musik kann man nicht beschreiben, man muss sie hören. Auch um zu verstehen, welche Welten zwischen seinen modernen Tönen und dem biederen “Geschmack” der Mächtigen liegen. Auf das frohgemute Wanderlied vom “Gegenplan” wollten sie ihn festlegen, die verkümmerte Landlust gegen die städtische Genialität, eine Schmach für den ernsthaften Komponisten. Seine “Jazz-Suite” zeigt den eingehegten Schostakowitsch im populären Walzer- und Polkaschritt. Seine eigenen Ansprüche hört man – z.B. – in den Streichquartetten.
Julian Barnes rahmt seinen vortrefflichen kleinen Roman mit einer Begebenheit.
Es geschah mitten im Krieg auf einem Bahnsteig, so flach und staubig wie die endlose Ebene ringsum. (…) Da war ein langer Bahnsteig, der eben erst von der Sonne beschienen wurde. Da war ein Mann, in Wirklichkeit ein halber Mann, der sich auf einem Rollbrett vorwärtsschob und sich mit einem Seil daran festgebunden hatte, das oben mit seiner Hose verschlungen war. Die beiden Reisenden hatten eine Flasche Wodka. Sie stiegen aus dem Zug. Der Bettler hielt in seinem zotigen Lied inne. Dmitri Dmitrijewitsch hatte die Flasche in der Hand, er selbst die Gläser. Dmitri Dmitrijewitsch goss Wodka in jedes Glas; während er das tat, wurde ein Armband aus Knoblauch sichtbar. Er war kein Barkeeper, und die Menge an Wodka war in jedem Glas unterschiedlich. Der Bettler sah nur, was aus der Flasche kam, er dagegen dachte, dass Mitja immer anderen helfen wollte, dabei war er von Natur aus unfähig, sich selbst zu helfen. Aber Dmitri Dmitrijewitsch lauschte und hörte, wie immer. Und als die drei Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen, lächelte er, neigte den Kopf zu Seite, sodass kurz das Sonnenlicht in seiner Brille aufblitzte, und murmelte:
»Ein Dreiklang.«
Und das war es, woran sich der, der sich erinnerte, erinnerte. Krieg, Angst, Armut, Typhus und Schmutz, aber mittendrin, darüber und darunter und durch alles hindurch hatte Dmitri Dmitrijewitsch einen perfekten Dreiklang gehört. Der Krieg würde bestimmt zu Ende gehen – es sei denn, er ginge nie zu Ende. Die Angst würde weitergehen, und der sinnlose Tod und die Armut und der Schmutz ebenso – vielleicht würde das ewig weitergehen, wer wusste das schon. Und doch war ein Dreiklang, den drei nicht sehr saubere Wodkagläser und ihr Inhalt hervorgebracht hatten, ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.
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Juli Zeh: Unterleuten
Erich Kästner sitzt im sommerlichen Eiscafé mit dem Schüler, der im Roman in der warmherzig sentimentalen Weihnachtsgeschichte „Das fliegende Klassenzimmer“ spielt. Juli Zeh alias Lucy Finkbeiner spaziert neben dem Bürgermeister durch das Dorf, das sie im Roman „Unterleuten“ nennt. Finten, die die Fiktion authentifizieren. Er kennt seine Internatsschüler, sie kennt ihre Einwohner. Alles ist echt: die Soziographie der Heimschule, die „Soziologie des Ruralen“. Nur: Juli Zeh ist nicht Erich Kästner.
Wenn man die Menschen, die man kennt, nicht mag oder nicht mit ihnen kann, sucht man sich neue. Das geht in der Stadt, wo genug andere leben und auf einen warten. Das geht nicht auf dem Dorf, wo es an Alternativen mangelt. In letzter Not kann man abwandern, verliert dann aber auch den Kontakt zu den wenigen Lieben. Wenn man ins Dorf zuwandert, wird man den Kontakt zu den Eingesessenen suchen, ihn aber nicht finden. Man will wieder weg. Das Dorf ist ein „Spinnennetz“, ein „Organismus“, eine „Maschine“, wo die Rädchen ineindergreifen müssen, damit es funktioniert, ein Kosmos, für die Bewohner der Kosmos. Von der Außenwelt droht Gefahr, zu viel Unbekanntes und deshalb Bedrohliches. Im Dorf kennt man sich und die Regeln, das gibt Sicherheiten, die nicht auszuhalten sind.Ein „Kampfplatz“ mit eingeübten Ritualen, mit vererbten Hierarchien, mit Randexistenzen und Platzhirschen. Juli Zeh liebt die Tierymbolik und setzt sie penetrant oft ein. “Das Tier von nebenan“, „Nachts sind das Tiere“, „Fallwild“ heißen die Kapitel. Der „Kampfläufer“ ist der Leitvogel.
Ständig glaubten alle, alles zu wissen, während in Wahrheit niemand im Bilde war.
Statt miteinander zu reden, erfanden die Leute Geschichten, die sich weitererzählen ließen.“ Kron kannte „das Gesamtwesen. Hätte man die Beziehungsfäden sichtbar machen können, welche zwischen den Anwesenden hin und her liefen, wäre für den Uneingeweihten ein undurchschaubares Knäuel zum Vorschein gekommen. Ein Experte wie Kron hingegen sah ein logisches System, klar strukturiert wie ein Spinnennetz. Verwandtschaft, Bekanntschaft, Nachbarschaft, Freundschaft, Feindschaft. Liebe, Hass, Schuld, Neid, Abhängigkeit.
Kathrins Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte. In den Jahrzehnten der sozialistischen Diktatur hatten die Menschen erfahren, dass Macht im Abstrakten und Irrealen waltete. Deshalb hielten sie sich lieber an das Reale und Konkrete. Der globalen Einschüchterung, die den ganzen Planeten im Griff hielt, boten sie keine Angriffsfläche. Wer nichts las, schaute, klickte oder hörte, wurde auch nicht regiert, weder von Politikern noch von Informationen und Ängsten, und schon gar nicht von einer Kombination aus alledem. Unter der ruppigen Oberfläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft.
Das Dorf gibt es überall, Juli Zeh hat ihre Kampfzone in das märkische Brandenburg platziert, in eine „Landschaft, die sich selbst abschafft“, als Prototyp mit einigen regionalen und historischen Spezifika. Der Untergang der DDR hat die Verhältnisse durchgeschüttelt, aber nicht verworfen. Nur die dörflichen Vertrautheiten und die Arbeitsplätze haben die Leute gehalten, jetzt gibt es keine Perspektiven mehr, die Arbeitsplätze sind prekär, nur die Zwänge haben überlebt.
Das Dorf heißt „Unterleuten“, ein schöner, ein mehrdeutiger Name. Den Plan findet man auf der Webseite „http://unterleuten.de/unterleuten.html“, auch die Bewohner sind mit ihren „hervorstechenden Eigenschaften“ aufgelistet Im Roman lernt man sie ausführlich kennen, obwohl man sie eigentlich alle schon kennt, denn sie sind Typen. Je mehr man von ihnen erfährt, desto vertrauter werden sie einem und desto weniger mag man sie.
Um die „Kampfläufer“ gegeneinander in Stellung zu bringen, lässt Juli Zeh den Stein des Anstoßes ins Dorf fallen: Eine Windkraftanlage soll gebaut werden. Es werfen ihren Hut in die Arena der Interessen: der Umwelt- und Vogelschützer (Kampfläufer), der an sich uninteressierte Investor, der im Dorf und im Roman selten auftaucht, der Altkommunist (Typ: Krüppel ohne Perspektive), der wendige Organisator (Typ: Koloss mit Kampfhund), der harmoniserende Bürgermeister als Anwalt der rarer werdenden Arbeitsplätze, die Alt- und die Neubürger, jede(r) mit eigenem Charakter versehen, jede(r) reibt sich am anderen wie an sich selbst.
Zeh verzögert dieses „unerhörte Ereignis“ 150 Seiten lang, wo sich bessere Bücher schon Gedanken über die Lösung des Konflikts machen. Und die Windräder geraten zunehmend zum Hintergrundrauschen am Horizont, dräuen als Profithoffnung und Ausverkauf, sind äußerlicher Katalysator, das Motiv wird aber klar überlagert von der „ruralen Soziologie“.
Zehs Verlegenheit ist es, dass sie nicht nur erzählen will, sondern vorführen. Sie ist es, die die Regeln des Kampfes versteht und erklärt. Sie ist die, die ihre Personen besser kennt, als diese sich selbst. „In Wahrheit verspürte sie Lust, alle Rollenspiele auf den Müll zu werfen und sich zu einer einfachen Formel zu bekennen.” , „Unterleuten“ ist „lehr- und kenntnisreich zum Platzen … Die Wahrheit dieses, in vieler Hinsicht bewundernswerten, Werks ist seiner Schönheit immer voraus. Bei großer Literatur verteilen sich die Gewichte umgekehrt.“ (Ursula März, ZEIT) Der Roman liefert stets den Kommentar zur Erzählung. Das ist hilfreich, aber das tut man nicht, das ist Bevormundung des Lesers, das ist betreutes Lesen. Juli Zeh handelt die Themen der Zeit ab, in denen sich jeder Leser/jede Leserin wiederfinden kann:
“Jule hatte geschworen, niemals eine dieser hysterischen Mütter zu werden, die ihren Kindern auf Berliner Spielplätzen mit Feuchttüchern und Vollkornkeksen hinterherrannten. Gerhard wollte ein moderner Vater sein, der sich im Restaurant lautstark darüber beschwerte, dass der Wickeltisch auf der Frauentoilette stand. Arbeitsteilung und Kommunikation sollten über allem stehen. ‘Erst Paar, dann Eltern’ lautete ihr gemeinsames Motto. Schließlich gab es nichts Schlimmeres als überbesorgte Eltern, die nicht begriffen, dass Fortpflanzung seit Tausenden von Jahren ohne Ratgeberliteratur, Holzspielzeug und lactosefreie Milch stattfand.” (Eltern) – “Ständig kämpften die jungen Frauen von heute darum, niemanden zu brauchen.” (Überforderte junge Frauen von heute) – “Den meisten Menschen fiel es schwer zu akzeptieren, dass das Leben eine Mischung aus alltäglicher Langeweile und sinnlosen Tragödien war.” (Das Leben als solches) – . “Seit die Wirtschaft gelernt hatte, die Sprache der Moral zu sprechen, lag das politische Engagement im Koma.” (WirtschaftPolitikMoral) – “Kron wusste durchaus, was Freiheit war. Ein Kampfbegriff. Freiheit war der Name eines Systems, in dem sich der Mensch als Manager der eigenen Biographie gerierte und das Leben als Trainingscamp für den persönlichen Erfolg begriff. Der Kapitalismus hatte Gemeinsinn in Egoismus und Eigensinn in Anpasssungsfähigkeit verwandelt.” (Freiheit) – Einsichten, in den Mund gelegt.
Juli Zeh bevölkert ihr sozialpolitisches Seminar mit den alten und jungen Bürgern von Unterleuten. (Zu) viel wird hier angehäuft, (zu) viel wiederholt, zu wenig als bereits behandelt erkannt und weggelassen. Und so wächst sich der Roman zu epischer Breite an. Noch eine Situation und noch eine, vieles ist oder wird zum Klischee. Handlung steht nicht im Zentrum, auch die Bewegung der Personen ist der Idee untergeordnet. „Doch so effektiv es für die kompositorische Anlage auf den ersten Blick ist, den ländlichen Mikrokosmos als Spiegelfläche für zeitdiagnostische Thesen zu wählen, verweht der Plot bald wie märkischer Sand.“ (Sandra Kegel, FAZ) Die Spannung bleibt moderat, erhebt sich zum Schluss in den finalen Showdown der Platzhirsche Kron und Gombrowski, in pathetisch inszenierte Ersatzmythen incl .Gewitter. „Ihr Duell ist der Glutkern des Romans.“ (Ursula März, ZEIT) Ein „Thriller“ ist der Roman nicht, auch wenn das in manchen Rezensionen steht. Die vermeintlichen „Kindesentführungen“ lese ich als aufgesetztes Larifari. Natürlich ist Juli Zeh zu schlau, das ohne mitgelieferte Ironie stehen zu lassen. Deshalb kann man es auch mit gutem Gewissen lesen. Auch deshalb liest es sich leicht, weil Juli Zeh nicht auf die Seminarsprache setzt, ihre Sätze sind betont menschlich und im Reden und Denken einfach und lebendig. Leider ist „Unterleuten“ auch ein vorpolitisches Buch. „Jetzt wünscht man sich einen Band zwei herbei: Vielleicht mit einem Unterleuten, das ein Flüchtlingsheim bekommt.“ (Verena Lugert ) Ich denke an die TV-Serie.
Eigenen Reiz gewinnt „Unterleuten“ auch durch das Spiel, das Autorin und Verlag veranstalten. Da findet man Maximen des Managermotivators Manfred Gortz (der bei youtube darauf insistiert, dass es ihn wirklich gibt) als komische Leitmotive („Der eigene Schatten verschließt das Tor zum richtigen Weg.“) oder auch die Homepage von „Unterleuten“ mit – z.B. – der Speisekarte des „Märkischen Landmann“.
2016 635 Seiten
Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Essays und Artikel von Juli Zeh auf ihrer Homepage
Sieglinde Geisel, NZZ – Juli Zeh über ihren Roman
Juli Zeh über ihren Roman „Unterleuten“ (NZZ Standpunkte 2016) – Video
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Michael Lüders: Never Say Anything
Sophie Schelling ist Reisereporterin einer angesehenen deutschen Wochenzeitung. Sie will in Marokko die „Himmelstreppe“ von Said Attar sehen und besucht dazu mit ihrem einheimischen Begleiter Hassan den Ort Gourrama im Süden des Landes nahe der algerischen Grenze. Wie es der Zufall will, erleben sie einen Drohnenangriff in unmittelbarer Nähe, bei dem ein Hirte zerfetzt wird. Auf einem Raketenteil entdecken sie ein Schild, das auf den US-Usprung hinweist. In der nächsten Nacht wird das Dorf von Helikoptern angegriffen, alle Bewohner werden getötet, auch hier liegt der Verdacht bei privaten US-Söldnern, die den Erschossenen die Kugeln aus den Körpern schneiden, um das Massaker zu anonymisieren. „Find, fix & finish“ – Finden, festnageln und fertigmachen lautet das Motto von JSOC, des Joint Special Operations Command.
Als Erstes sah Sophie den Arganbaum, dann, beim Aussteigen, das, was in ihm hing. Ihr Körper reagierte so unvermittelt, wie sie es noch nie erlebt hatte: Sie erbrach sich augenblicklich, ein Schüttelfrost überkam sie, am Ende spuckte sie gelbgrüne Gallenflüssigkeit. In ihrem Kopf hörte es nicht auf zu hämmern: Ein Bild wie von Dali, surreal, verzerrt, entrückt. Der Oberkörper des Hirten, etwa bis zur Höhe des Gürtels, hing wie hingeworfen rücklings über den Ästen. Seine Arme waren ausgebreitet in Form eines Vs, sein unversehrtes Gesicht wirkte so friedlich, als schliefe er. Die Augen waren geschlossen. Sein Unterkörper lag über mehrere Meter verteilt, unzählige Male zerrissen und zerfetzt. Allein sein rechter Unterschenkel einschließlich des Fußes war erhalten geblieben. Die Gedärme schlangen sich teils im den Baum.
Sophie Schelling ist, wieder ein Zufall, die einzige, die überlebt. Sie schlägt sich nach Berlin durch und hofft, ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in ihrer Zeitung unterbringen zu können. Hier beginnt Michael Lüders’ Lehrstück. Sophie, die Frau, also ideologisch unverdächtig, wird zur Protagonistin und erfährt, stellvertretend für den lesenden Stubenhocker, wozu die „Weltpolitik“ des frühen 21. Jahhunderts fähig ist. Zum Aus-der-Haut-Fahren.
Die Zeitung ziert sich, die Fakten seien nicht überprüft, nicht überprüfbar, der transatlantische Chefredakteur empfiehlt Zurückhaltung. Sophie schreibt einen neutralen Artikel, erhält darauf Informationen von amerikanischen Investigativ-Journalisten und stellt diese auf ihrem Privat-Account ins Netz. Lüders beschreibt die Konsequenzen als Thriller.
Sophie Schellings Wohnung wird durchsucht, auf ihrem Konto geschehen rätselhafte Überweisunugen, worauf es gesperrt wird, ihr Facebook-Account wird gehackt, das Auto, das sie fährt wird Ziel einer Cyber-Attacke, man lässt sie überleben, weil man weitere Informationen bei ihr vermutet. Klischees, aber vorstellbar, die Wirklichkeit ist meist brutaler.
Michael Lüders „war lange Jahre Nahost-Korrespondent der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT“, er analysiert die globale Einbettung der Konflikte und Zustände in der arabischen Welt des Nahen Ostens, sein zentrales und mit Verve vertretenes Anliegen ist zu zeigen, was „westliche Politik im Orient anrichtet„:Wer den Wind sät“ von 2015)
Im Thriller schickt er Sophie Schelling in den Kampf mit den USA. Sie hat keine Chance, aber sie schlägt sich gut, gibt nicht auf, ihre Beharrlichkeit soll dem Leser die Augen öffnen über die Machenschaften von Militär und NSA („Never Say Anything“), über die Einbettung von Medien, über die totale Unterordnung von Menschlichkeit unter die Machtinteressen, über Drohnenkrieg und Enthüllungsplattformen.
Die Warnung ging Sophie nicht aus dem Kopf. Sie konnte schweigen oder sterben. Zu ihrem eigenen Erstaunen verspürte sie keine Panik, nicht einmal übersteigerte Angst. Weil sie mittlerweile gelernt hatte, mit Gefahren umzugehen? Die beinahe zu ihrem Alltag gehörten? Sie dachte in jede Richtung, erwog alle Optionen. Einfach alles hinzuwerfen, wäre gleichbedeutend mit Selbstaufgabe. Allein die Vorstellung bereitete ihr körperliches Unbehagen. Es gab nur einen Weg, sagte ihre innere Stimme: Dir selbst treu zu bleiben. Auch wenn Sophie sich keineswegs als Heldin sah.
Lüders müsste nüchterner Realist sein, der Roman darf aber – zumindest – hoffen lassen. Es gibt die kleinen Nischen, es gibt Länder, die sich ein Eckchen Souveränität bewahrt haben, es gibt den Leser, der Menschen wie Sophie Schelling braucht. Was der Leser nicht braucht, ist die Episode im “Berghain”-Club in Berlin, auch wenn auch hier “Schlachten” geschlagen werden.
Er suchte ihren Blick. «Eigentlich sollten Zeitungen Hintergründe liefern. Das tun sie aber nicht. Überall steht derselbe Quatsch, den ich längst im Internet gelesen habe. Durch deine Erfahrungen ist mir das zum ersten Mal so richtig bewusst geworden.»
«Weil Qualität Kosten verursacht, Günther. Ein Meinungsartikel ist schnell geschrieben. Recherche braucht Zeit und kostet Geld.»
«Du würdest mir also zustimmen, wenn ich sage: Da besteht eine Marktlücke?»
«Ja, natürlich. Das ist allgemein bekannt. Nur mag sie niemand füllen, weil völlig offen ist, ob sich das am Ende auch rechnet.»
«Sophie, da muss ich dir widersprechen. Dieser Niemand steht vor dir.»
Er führte aus, wie er sich das vorstellte: eine Enthüllungsplattform, die Nachrichten und Analysen veröffentlicht, die in den weich gespülten Medien untergehen. Geschichten wie die aus Gourrama. Geschichten wie die von Marc Lindsey. Geschichten wie jene, die Hassan Maliki in seiner Zeitschrift veröffentlichte. Wie hieße die noch gleich?
«Outland», warf Sophie ein.
Ja, was für ein schönes Wort. Es mache neugierig, wecke Lust auf Neues, verheiße einen Blick hinter die Kulissen.
Trotz der Vorhersehbarkeiten ist der Roman spannend, er ist auf der Höhe der Zeit, er leistet sich und den Helden ein bisschen Sentimentalität, die Idylle ist immer gebrochen. Der Stil hat sich dem Anliegen unterzuordnen, Lüders schreibt aber gut lesbar.
Der wolkenlose Sternenhimmel spiegelte sich im ruhig daliegenden See, als suche er sein Ebenbild. Sophie saß neben Helga auf der Bank eines Stegs, der wie ein Dolch in die Vollmondnacht hineinstach. Schlafende Enten trieben an ihnen vorbei, vom Wind bewegt, die Köpfe im Gefieder verborgen. Frösche quakten, in der Ferne bellte ein Hund. Spätabendliche Ruhe lag über dem idyllischen Ort, doch Sophie kämpfte gegen die jähe Einsamkeit, die sie befallen hatte. Mit großer Heftigkeit wurde sie von ihren Erinnerungen heimgesucht – wie sie mit Hassan Maliki unter dem Sternenzelt gesessen hatte, in seinem Heimatort, dessen Besuch sie beinahe mit dem Leben bezahlt hätte. Was würde sie geben, wäre er jetzt mit Helga an ihrer Seite. Er fehlte ihr, er fehlte ihr sehr. Fast sehnte sie Sturm und Regen herbei, um ihre Gedanken zu vertreiben. Warum starben immer die Guten viel zu früh, während die Verderber der Welt sich eines langen Lebens erfreuten?
«Woran denkst du?», fragte Helga.
«An die vielen guten Gelegenheiten, die ich nicht genutzt habe.»
Sophie sah das Lächeln auf Helgas Gesicht.
«Geht dir auch so, ja?»
2016 365 Seiten
Michael Lüders liest aus “Never Say Anything” (hier auch weitere Video-Links)
Kritik von Knut Cordsen in der kulturWelt von BR2
Peter Probst: Blinde Flecken
Peter Probsts Krimi spielt in München und die „Blinden Flecken“ finden sich in den Augen von Polizei, Justiz und Politik, wenn es um die Aufklärung von rechtsextremistischen Gewalttaten geht. Insofern ist der Roman, der von 2010 stammt, hochaktuell; Probst spricht die immer noch tabuisierten Themen klar an.
Der Ermittler Anton Schwarz, aus dem Polizeidienst entlassen, wird von Anwalt Loewi gebeten und beauftragt, sich nochmals einem Fall zu widmen, der von den Behörden als ziellose Amokfahrt oder als versuchter Suizid eingeordnet und damit abgeschlossen wurde. Tim Burger hatte sein Auto in eine Gruppe von Jugendlichen gelenkt und dabei einen getötet und eine schwer verletzt. Zufällig oder nicht, das soll Schwarz herausfinden, waren die Jugendlichen Mitglieder eines jüdischen Sportvereins. Schwarz recherchiert mit viel Empathie und er hat dabei nicht viel Zeit, denn Tim Burger steht vor der Haftenlassung.
Er findet sich bald einem braunen Netz gegenüber, dessen Drahtzieher Jörg von Medingen ist, früherer CSU-Politiker, jetzt Gefängnispsychologe und so Mitentscheider über Burgers vorzeitige Entlassung und Gründer „Der Rechten“. Brauner Sumpf, in dem auch Burschenschaften und braune Bräute nicht fehlen.
Probst erzählt das alles präzise und plausibel, aber in seiner Form recht konventionell. Er folgt in seiner Handlung chronologisch dem Ermittler Anton Schwarz, stattet ihn mit den üblichen Eigenheiten aus und führt ihn zu einem moralisch angemessenen Schluss. Probst, heißt es, engagiert sich auch privat gegen Ausländerfeindlichkeit. Er schreibt auch Drehbücher fürs Fernsehen. Der Roman eignet sich als Lektüre für eine achte oder neunte Klasse.
Informationen des dtv-Verlags zu Roman und Autor
(mit link zu Probsts Homepage)
Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit
Ich erzähle eine Geschichte, die Geschichte einer Beziehung, einer Liebe vielleicht, ich bin Schriftsteller, Regisseur, Komponist. So kann man es kaum jemandem erklären, man würde Gelächter ernten, aber ich kann es fühlen, denken. Ich schreibe eine Geschichte, ich inszeniere eine Geschichte, ich komponiere eine Geschichte. Je eleganter, desto besser.
Man muss nur wissen, was man will. Was ist das Ziel? Erhaltung? Zerstörung? Erhaltung, unbedingt. Nicht weil Anna dann frei ist. Ich habe geträumt. Auch der Detektiv hat seine Träume. Aber er ist Realist, er kennt die Liebe und deren Möglichkeiten. Er weiß, wer sich zum Paar findet und wer nicht. Kaum einer weiß das besser.
Der Detektiv Arthur Koenen konstruiert die Geschichte, indem er mitfühlend die Lügen und Illusionen, was das selbe ist, entlarvt. Dazu schnüffelt er sich in die Mails der beiden Protagonisten ein, des Parteivorsitzenden Leo Schilf und der jungen gleichparteilichen Abgeordneten Anna Tauert. Er gewieft, vorbelastet, moralisch noch nicht ganz abgeschrieben, aber doch der „Raison“ der Partei verpflichtet und natürlich auch seinem Kanzlerfreund, dem „Fred“, dem schnellen Schlucker und eifrigen Skater, zugetan. Sie unerfahren, naiv, noch ehrlich und moraltreu, deshalb „Parteirebellin“, und natürlich auch Schilf, ihrem „Mentor“, verfallen. Ihre Wege kreuzen sich für 58 Sekunden in der Verborgenheit des Aufzugs der Parteizentrale, ihre Worte und Gedanken in den Mails, die sie im Interesse des Romans für mitleseresistent halten müssen, ihre Ansichten in kontroversen Haltungen zum Gesetz über den Zahnersatz. Solange Anna gegen diese „Abwrackung des Sozialstaats“ ist, darf sie sich über ein bisschen Zuwendung freuen, sogar vom Rotwein des Kanzlers nippen. Das eine Gesetz steht dabei pars pro toto für die Ausrichtung des Sozialstaats. Damit werden die Positionen exemplarisch, aber das ist nicht das zentrale Thema.
Man erfährt nichts Neues über Parteienhackordnungen, Loyalitäten, Politikbetrieb in Berlin, was man nicht schon aus anderen Medien wüsste, findet es aber bestätigt und freut sich darüber, auch, weil man heimlicher Mitleser bei den geklauten Mails sein darf.
Im Rahmen seiner Ermittlungen begleitet man Koenen ins Parteihauptquartier, zu Besprechungen und auf Wahlkampfveranstaltungen. Da er als Detektiv am Rande steht, beobachtet er genau und kann Distanz wahren. Und er plaudert auch über seine Berufserfahrungen, man könnte was über Menschenkenntnis lernen.
Jeder neue Auftrag beginnt mit einer Paranoia. Ich sehe überall Frauen, die mit dem Mann, den ich beobachten soll, ins Bett gehen könnten. Ich sehe eine Welt voll Ehebrechern, sobald ich einen Vertrag abgeschlossen habe. Das heißt nicht, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe, welcher Typ von Frau in Frage kommt. Ich nenne das mein profiling, ich schaue mir die Kerle an und überlege, welche Vorlieben sie haben könnten. Ich habe zwei Anhaltspunkte, den Mann und die Frau, meine Auftraggeberin. Ich habe zwei Theorien dazu, die Schönheitsklassentheorie und die Gegensatztheorie. Mit der ersten liege ich meistens richtig. Ein gutaussehender Mann geht zwar zur Not mal mit einer hässlichen Frau ins Bett, aber er nimmt sie nicht als Geliebte. Als Geliebte nimmt er eine Frau, die mindestens der gleichen Schönheitsklasse angehört wie er selbst und wie seine Frau. Ich sage mindestens, weil der gleiche Satz für Frauen nicht gilt, jedenfalls nicht so kategorisch. Sie gucken auch nach anderen Dingen, Macht, Geld, man weiß das ja. Aber wenn ich die Geliebte eines Mannes suche, schaue ich mir nur die Schönheitsklassen aufwärts an. Obwohl man auch Überraschungen erleben kann, weshalb man dann doch niemanden außer Acht lassen darf. Trotzdem ist die Schönheitsklassentheorie hilfreich, denn es geht in meinem Beruf auch um Wahrscheinlichkeiten.
Das Wesentliche aber steht in den Mails, vor allem in denen Annas. Sie vertraut den Start „der Anna“ in die Welt der großen Politik ihrem großen Versteher Schilf an, den sie sich als „Geliebten“ zurechtträumt.
Sie antwortet rasch: «Soll ich dir das sagen, wenn wir fünfundzwanzig Sekunden Zeit haben und der letzte Kuss eine Ewigkeit zurückliegt? Es ging um unsere Liebe und nicht um Politik, und sei nicht so gemein zu mir, es ist mir nicht leichtgefallen, diese Entscheidung zu treffen, aber ich musste sie treffen, weil es Spiegel gibt in meiner Wohnung, und da steht immer eine Frau, jeden Morgen und jeden Abend, und die guckt mich an, die Frau, und sie hat schon ein paar kleine Falten rechts und links der Augen, ist dir das schon mal aufgefallen?, und die Frau guckt immer so kritisch, so prüfend, und wenn ihr etwas nicht gefällt, dann starrt sie ganz seltsam, und diesem Blick muss ich standhalten, j eden Morgen und j eden Abend, und das ist nicht leicht, und deshalb habe ich mich so entschieden, wie ich mich entschieden habe, aber nicht gegen dich, überhaupt nicht gegen dich, unsere Liebe ist größer als die Politik, denk daran, Leo, denk immer daran, und deshalb darfst du nicht sagen, dass ich dir gestohlen bleiben kann, denn das stimmt nicht, weder ich dir noch du mir. Wir beide, du und ich, wir, werden nicht an diesem Kanzler scheitern, das werden wir einfach nicht. Versprich mir das, ja?»
Er antwortet nicht. Sie schreibt fünfmal hintereinander. Nach drei Minuten: «Antworte mir.» Nach vierzehn Minuten: «Leo?» Nach sechsundzwanzig Minuten: «Bitte.» Nach einunddreißig Minuten: «Bittebitte.» Nach zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten: «Fuckyou.»
Am nächsten Tag meldet sich Leo abends: «Obwohl du weißt, dass wir damit keine Mehrheit haben?» «Ja.»
Es ist später Abend. Eine Stunde schweigen beide. Dann meldet sie sich: «Du hast etwas vergessen.» Er sofort: «Was?»
«Mir eine gute Nacht zu wünschen, mir zu sagen, dass du mich liebst.»
Er reagiert nicht. Elf Tage schreibt niemand eine Mail.
Der Detektiv Koenen wieder:
Ich bin dankbar, dass ich Annas Mails lesen kann. Ich lerne mehr über das Leid der Geliebten. Ich weiß nicht, ob es mir hilft, ein besserer Detektiv zu werden. Ich glaube nicht, dass ich meine Aufklärungsquote damit verbessern kann. Aber vielleicht kann ich die Liebe besser verteidigen, wenn ich meinen Kundinnen klarmachen kann, dass nicht Unglück gegen Glück steht. Wenn es der Geliebten um Liebe geht, ist auch sie die Unglückliche.
„Auch der Detektiv, kühler Beobachter der größten Leidenschaften aus Profession, erleidet schwerste Mitgefühlsattacken.“ (Volker Weidermann in der FAZ). Sogar mit Leo Schilf, der sich nur heimlich in den Mails über seine „Liebesüberschwemmungen“ ergießen darf und am Ende erpresst wird. Böse Politik! Guter Detektiv!
Kurbjuweit ist Journalist und leitet das Hauptstadtbüro des SPIEGEL.
2008 220 Seiten (Tabu)
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Dirk Kurbjuweit: Zweier ohne (Novelle)