Nachrichten vom Höllenhund


Nickel
15. August 2022, 15:07
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Eckhart Nickel: Spitzweg

Vielleicht ist es ja das, was Tieck meinte, als er schrieb, dass der Künstler in seinem schönen Wahn die ganze Welt und jede Empfindung seines Herzens in seine Kunst ‚verflicht< und sein Leben nur für die Kunst führt.«

Im Juli/August 2022 steht Eckhart Nickels „Spitzweg“ auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, einer Chart-List, an der alle wichtigen deutschsprachigen Literaturkritiker:innen mitjurieren. Die Begründung: Ein Kunstdiebstahl der besonderen Art. Und der Auftakt für einen Roman, in dem der trickreich verborgene Plot zunächst in den Hintergrund tritt und die Ausstellung von Artifizialität alles ist.

Jetzt hab ich nachgeguckt, was „Artifizialität“ bedeutet, weiß aber doch nicht, ob das was Gutes oder was Schlechtes ist. Meint es eher „künstlerisch“ oder ehr „gekünstelt“? Oder wird das jeweils eine durch das jeweils andere unterwandert, außer Kraft gesetzt? Auf jeden Fall soll diese A. ausgestellt worden sein. Mein lieber Nickel!

So malt Nickel seine Heldin Kirsten: „Kirsten trug wieder ihren Dufflecoat, diesmal mit ausgestellten Twill-Hosen und Collegeschuhen dazu, eine Variante ihrer selbst gewählten Schuluniform, die ich noch nicht kannte. Ich hatte den Eindruck, dass sie uneingedenk der Befürchtungen, was an diesem Tag alles schieflaufen könnte, in einer heiteren Grundverfassung war, als sei sie durch das, was wir vorhatten, aus einer lange andauernden Lethargie gerissen worden und atme nun den Geist einer von unsichtbaren Fesseln befreiten Gefangenen. »Für mich kann die Welt allein zwischen Tag und Nacht enden, so wie jeder Tag.«
  Kirsten lachte auf. »Du machst es dir viel zu einfach, mein Lieber
.“

Das „Du“ ist der Erzähler, und was er sagt, klingt ganz einfach für einen, der in die 11. Klasse geht. Der eher Kunstaffine ist auch sein Mitschüler Carl und sein Faible ist es, Kunstwerke zu explizieren, speziell solche von Spitzweg, der sich wie er mit C schreibt. Der „Hagestolz“:

Der Hagestolz, wie Spitzweg ihn malt, ist ja nur eine tragische Existenz, wenn man ihn vom     Stammbuch aus denkt. Er ist ein wenig wie der kleine Hanno Buddenbrook, als er einen Strich unter seinen Namen in der Familienchronik setzt, weil er dachte, es käme nichts mehr. Oder Morrissey, wenn er singt, er sei the end of the family line: with no complications/fifteen generations (of mine)/all honoring nature/until I arrive (with incredible style). Damit ist eigentlich alles gesagt, denn die Unabhängigkeit des Hagestolzes zeigt sich in seiner umso stärkeren Haltung, angedeutet durch das »Stolz« im Wort, das nicht vom überkandidelten Gefühl herrührt, sondern vom altdeutschen Verb stellen, der Vergangenheitsform stake. Also geht es eher darum, wie sich jemand auf einer Stelle platziert, dasteht, sich entwickelt oder verhält, was für eine Einstellung der Hagestolz hat, von welcher Gestalt oder Beschaffenheit er ist. Und schau nur, wie er zwar auf den ersten Blick bemitleidenswert allein in der Mitte des Gemäldes steht, doch im selben Moment das Zentrum des Orbits darstellt, um den all die vermeintlich glücklichen Pärchen kreisen, weil er natürlich in sich all die Gedanken und   Sehnsüchte vereint, die unausgesprochen in den Köpfen der ja vielleicht insgeheim in hoffnungslosem Liebeskummer versinkenden Gestalten im Bild umhergeistern.«

  Ich sah ihn erstaunt an. »Du meinst also, sie würden sich stillschweigend nach der überblickenden Souveränität seines Ungebunden-Seins sehnen, weil sie unglücklich sind und ahnen, dass sich das nicht ändern wird, weil sie gefangen bleiben werden im Teufelskreis ihres irdischen Gefühlsreigens, gegen den er durch seine unabhängige Einsamkeit gefeit ist? Das Bild ist also eine versteckte Feier seiner Stellung in der Welt?«
  Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ganz genau so, praktisch philosophisch sozusagen: mein Schüler, mein Geschöpf!«

Artifizielle Schüler. „With incredible style.“ „An diesem Tag trug [Carl] ein mattgrasgrünes Hemd mit passender Krawatte, darüber einen Fair-Isle-Pullunder mit Rauten in Sand und Moos zu einer beigen Chino-Hose und Chelsea-Boots aus dunkelbraunem Wildleder.“ – Die Freunde der verbalen Artifizialität könnten sich an solchen poetischen Schwallen erfreuen. Freundinnen wird das eher kalt lassen – etwa Insa Wilke im „Lesenswert-Quartett“. Für solch gefinkelte Kunstkritik brauchts aber keinen Roman, der Roman braucht Handlung, und die wird von Nickel an den Rand gedrängt. Dabei beginnt’s originell.

Frau Hügel, die Kunstlehrerin lässt ihre Schüler ein Selbstporträt malen. Alle stümpern vor sich hin, nur Kirsten hat Talent. Frau Hügel beugt sich über die Schulter und wertet: „‘Ausgesprochen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichkeit!‘  Kirsten schluckte in die unmittelbar eingetretene Stille hinein. Nach einer ins Unerträgliche gedehnten Pause, in der alle wie gelähmt auf sie starrten, stand sie auf und rannte mit vor die Augen geschlagenen   Händen nach hinten aus dem Kunstraum in das steinerne Treppenhaus.“ – Das steht auf der zweiten Seite des Romans. Kirsten ist weg, Carl nimmt Kirstens Bild an sich, sinnt für Kirsten auf Rache an Frau Hügel, Kirsten soll sich in  Millais‘ Ophelia einmalen, um die Lehrer an einen Suizid des Mädchens denken zu lassen. Kirsten wird in Carls Kabäuschen versteckt. Es gibt einen möglichen Kunstraub, der Erzähler besucht seinen Lehrer, einen dollen Showdown. Vieleviele Gelegenheiten für Carl/Eckhart zu Artifizialitäten, „exzentrischen Manierismen“ (Ijoma Mangold), selbstverliebten Präpotenzen, spitzwegschen Abgründen, Versatzstücken aus allen möglichen Kulturen und mehr Mitteln der Pop-Literatur. Ich hab den Überblick und angesichts der angetäuschten tiefen Oberflächlichkeit auch das Interesse verloren. Der Autor genügt sich eigentlich selbst.

Das Verschwinden im Roman ist allgegenwärtig, überhaupt ist der Roman eine Geschichte über das „Zeigen und Verbergen“ (Paul Jandl, NZZ) „Ein Hauch Romanze, ein bisschen Abenteuer um einen vermeintlichen Kunstraub, viel Gelehrten-Expertise über die Kunst, ein Tulpenroman quasi, ein für sich selbst plädierendes Kunststück.“ (Wolfgang Schütz, Augsburger Allgemeine)

2021 – 255 Seiten – dickes Papier

Leseprobe

Gespräch im Lesenswert-Quartett (ab 0:35)

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