Nachrichten vom Höllenhund


Tschukowskaja
17. März 2023, 17:33
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Lydia Tschukowskaja:
Sofja Petrowna

Sie hatte das Verlangen, jeden Augenblick jemandem   zu sagen: »Man hat Kolja entlassen. Wissen Sie? Kolja ist entlassen worden!« Doch sie hatte niemanden, dem sie es sagen konnte.

Das Jahr ist 1937. Sofja Petrownas Mann, der Arzt Fjodor Iwanowitsch, ist gestorben, sie lebt mit ihrem Sohn Kolja in einer kleinen Kommunalka in Leningrad. Sie arbeitet in einem Verlagshaus als Leiterin des Schreibbüros. Sie ist überzeugt, dass die Staatsführung ihre Kraft zum Besten des Volkes einsetzt. Lydia Tschukowskaja hat den Roman im Winter 1939/40 geschrieben. Sie ist also zeitlich nahe am Geschehen und an ihrer Protagonistin, es gibt keine Distanzierung im informierten Rückblick, der Leser ist eingebunden in die erzählte Geschichte.

Es gab jedoch keine Leser, denn der Text konnte während der Herrschaft Stalins selbstverständlich nicht veröffentlicht werden. „Ohne Wissen der Autorin erschien der Roman später in Zürich, Paris, London und New York gleichzeitig, und erst 1988 in der Sowjetunion“ unter Gorbatschow. (Gisela Reller)

Kolja, Stolz und Lebensmotivation von Sofja Petrowna, Mitglied im Komsomol und überzeugter Bolschewik, arbeitet in einer Fabrik in Swerdlowsk und erfindet eine Vorrichtung zur Verbesserung der Produktion. Dann wird ein Arzt verhaftet, der mit ihrem Mann befreundet war, und auch der Direktor ihres Verlags wird festgenommen. Ein Freund ihres Sohnes informiert sie, dass auch ihr geliebter Sohn Kolja seine Freiheit verlor. Sofja hält das alles für ein Missverständnis.

Plötzlich klingelte es und dann noch einmal. Sofja Petrowna ging zur Tür. Zweimal klingeln, das war für sie. Wer konnte so spät noch kommen?
  Im Türrahmen stand Alik Finkelstein. Alik allein, ohne Kolja, das war nicht normal.
  »Wo ist Kolja?« schrie Sofja Petrowna und faßte Alik am heraushängenden Schal. »Hat er etwa Unterleibstyphus?«
  Langsam, ohne sie anzusehen, zog Alik seine Galoschen aus.
  »Pst!«  machte er schließlich. »Wir wollen zu Ihnen gehen.«
  Auf Zehenspitzen überquerte er den Gang, seine kurzen Beine  weit auseinanderspreizend. Sofja Petrowna, ganz außer sich, folgte ihm.
  »Um Gottes willen, Sofja Petrowna, erschrecken Sie nicht«, sagte er, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, »bitte, ganz ruhig, Sofja Petrowna, es liegt wirklich kein Grund  vor, sich zu erschrecken. Es ist nichts Schlimmes. Vor-vor-vorgestern.., oder wann   war das? Nun, vor dem letzten freien Tag… ist Kolja verhaftet worden.«
  Alik setzte sich auf das Sofa, löste mit zwei raschen Bewegungen seinen Schal, warf ihn auf den Boden   und begann zu weinen.

Jetzt beginnt der Hauptteil des Romans: Sofja Petrownas Suche nach dem Verbleib ihres Sohnes. Vor den Behörden, vor den Behörden, in denen sie Auskunft erhofft, stehen lange Menschenschlangen, die Informationen sind kümmerlich oder ablenkend, irgendwann erfährt sie, dass Kolja verurteilt und deportiert wurde. Grund wird keiner genannt, Mutmaßungen laufen ins Leere und wühlen auf, die Hoffnungen schwinden. Sofjas Kollegin und Freundin Natascha wird aus dem Schreibbüro entlassen – weil sie statt Rote Armee Zote Armee getippt hatte – und nimmt sich das Leben, Koljas Freund Alik wird ebenfalls verhaftet.

Man kennt das aus anderen Romanen, aus Dokumentationen und Geschichtsbüchern. Stalins und des NKWDs Schreckensherrschaft, willkürlich erscheinender Terror, Machtlosigkeit und Verzweiflung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Das Buch erschien bei detebe 2003, seine Aktualität hat sich 2022 noch einmal verschärft. Ein eindringliches Stück russischer Geschichte, ein Bild eines Menschen, einer Familie in einem System undurchdringlicher Repression. Ein System, aus dem Russland anscheinend nicht herausfindet.

170 Seiten

Zur Biografie von Lydia Tschukowskaja



Filipenko
6. Februar 2023, 13:34
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Sasha Filipenko: Die Jagd

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren, er schreibt auf Russisch. 2020 musste er mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz. „Die Jagd“ handelt von einem Journalisten, der zum Verlassen seines Landes gedrängt werden soll. Der Roman ist „musikalisch“ komponiert in Sonatenform, mit Hauptsatz, Seitensätzen, Reprisen und Coda sowie Pausen. Das ist ein Kunstgriff, der den Text portioniert, episodenhaft ausbreitet, seine Struktur in der Verschränkung aber nicht einfacher durchschaubar macht. Man braucht beim Lesen oft viele Seiten, um sich das Gefüge der Komposition zu erschließen. Bei diesem Roman ging’s mir überdies so, dass ich erst nach einem Drittel der Seiten erfasste, was hier „gejagt“ wurde. „Aus den Stimmen von Jägern und Gejagtem setzt sich die Geschichte einer   Menschenjagd mit fatalen Folgen zusammen.“ (Klappentext) Die Verfolgung wird in Sonatenart umspielt und aus den „Stimmen“ kristallisiert sich erst auf Seite 149 das Halali der Jagd heraus:   »Wir machen ihm das Leben zur Hölle!«

  »Gibst du ihm einen zweiten russischen Pass, oder was?«  »Nein, im Ernst! Wenn wir wollen, dass er auswandert, dann müssen wir nur dafür sorgen, dass sein Leben hier unerträglich wird.«
  »Willst du dafür sorgen, dass er ständig ins öffentliche Krankenhaus muss?«
  »Ich weiß noch nicht, geben Sie mir ein paar Tage!«

                      PAUSE

Die Jagd auf Anton Quint ist eröffnet. Quint ist Journalist, ist jung, ist ethisch motiviert und er „enthüllt“, was er für verwerflich hält, etwa die skrupellosen Machenschaften des Oligarchen Wolodja Slawin. („Wladimir Slawin scheint das System Putin zu symbolisieren. Das geradezu klischeehafte Dolce Vita der Familie von „Onkel Wolodja“, Kerstin Holm , FAZ) Solche ‚Verräter und Saboteure‘ sind in Russland (und auch in Belarus) nicht gerne gesehen und so beschließen die enthüllten Bonzen und ihre Hinter- und Nebenmänner aus Journaille, Wirtschaft und Politik, Anton Quint fertigzumachen. Das heißt zunächst: ihn außer Landes zu vertreiben. (Was in besagten Ländern eine eher humane Bestrafung ist.) Allerdings sind die eingesetzten Mittel in eigentlicher Banalität brutal, die Hatz ist im Roman zentrales und breit geschildertes Thema.  

Um das Opfer in die gewünschte Richtung – den Wahnsinn – zu treiben -, muss der Druck überrumpelnd, aber moderat beginnen und dann erhöht werden. „Wir steigerten den Druck. Poco a poco. Von piano zu forte, jeden Tag mehr.“ Ich als Leser darf – oder muss – mich auf der Seite der Jäger einfinden. Es ist ja einer der ihren, der erzählt. Auf der einen Seite steht die beschworene Bewunderung über die Raffinesse der Hatz. Dazu gesellt sich das Überlegenheitsgefühl, weil sich die Quäler so abgefeimter – wie abgedroschener – Methoden bedienen. Ich bin ja unmittelbar an der Besprechung der Erfolge, auch der Schwierigkeiten, auch der angedeuteten, aber erfolgreich außer Acht gelassenen Skrupel beteiligt.

Was sagst du da von seiner Frau?«
  »Ich hab daran gedacht, sie zu vergewaltigen.«
»Spinnst du komplett?!«
  »Okay, ich werde sie nicht bumsen. Nur so ein bisschen mit dem Schwanz rummachen, und fertig.«
  »Das machst du nicht!«
  »Dann vielleicht lieber du?«
  »Nein!«

Auf der anderen Seite will ich natürlich auch nicht mit Schuld tragen an der Tortur des Opfers. Sasha Filipenko legt dieses Wechselspiel im Leser nicht ungeschickt an. Dennoch wirkt das Hinschreiben auf die „Kulmination“ absehbar. Es ist klar, wer gewinnt, und es ist klar, dass dem „Sieger“ jede Legitimation fehlt, dass er nur für den eigenen Vorteil und sein eigenes Überleben agiert.

Der dritte große Teil der Sonate. Bleibt nur zu hoffen, dass Sie bereit sind …‘
Wir können nun zur Kulmination übergehen. Kindheit, Schule, Vaters Tod. Umzug in einen neuen Wohnblock, Arbeit, Ehe. Wir sind endlich hier, am Zenit, angekommen.  Der Höhepunkt der Sonate, der Gipfel der Spannung.
  Gerade noch hatten wir naiv angenommen, dass alles gut ausgehen würde.  Oder nein, eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich über die Konsequenzen gar nicht groß nachgedacht. Es kommt, wie es kommen muss, dachte ich.

Der Kern des Romans ist- das verheißt schon der Titel: Trawlja (Die Hetzjagd ist ein grausames Spektakel, bei dem Hunde auf einen angebundenen Bären losgelassen werden und ihn am Ende zerfetzen.) – die Menschenjagd. Filipenko beschreibt vergnüglich-maliziös das Grauen in seinen Eskalationsstufen.  Es beginnt mit der verklebten Wohnungstür, verfällt auf die Angst vor Hunden (!), beschallt mit dröhnender Musik die Wohnung Quints, diskutiert die Vergewaltigung der Frau („Ob es dir gefällt oder nicht, du musst es dulden, meine Schöne“, V. Putin) und streut das Gerücht der Pädophilie des Gejagten. Damit ist nicht das politische System erklärt, aber ein Aspekt des „System Putin, das uns nun auch außenpolitisch als brutalst-möglicher kriegerischer Aggressor vor Augen tritt, mit seiner systematischen Zerstörung allen zivilgesellschaftlichen Lebens, insbesondere der Pressefreiheit. Der Roman kreist um einen Investigativjournalisten (wie in Realität Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem) auf Oligarchenjagd, der schließlich selbst zur Beute wird.“ (Dieter Bach) „Diese ewige Infantilität, auch die der russischen Intelligenzija, fing nicht erst jetzt   an. Es handelt sich um den Unwillen, ein   Problem zu sehen, den Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, dass Leben deshalb  es in Russland  auch  in  den 1990er-Jahren nicht gelungen  ist, etwas zu   verändern,  und auch in den  2000ern  nicht mit den Protesten. Erinnern Sie sich noch, wie es damals die ganze Zeit „nur ohne Gewalt, nur ohne   Blutvergießen“ hieß?  Das   Ergebnis ist totale Gewalt   und schreckliches Blutvergießen.“ (Wladimir Sorokin)

Sasha Filipenko bereitet  die Hetzjagd in vielen Sätzen vor, er skizziert das System, das sich selbst in Aporien versenkt, aus dem es nur gewaltaffine Auswege bieten kann. Im zweiten Teil, der Aufführung der „Jagd“, gewinnen die Ereignisse Rasanz, drängen sich selbst voran, wobei das Interessante nicht die Action ist, sondern Filipenkos Spiel mit trügerischer Sprache und geduldetem Denken, sein Flirren zwischen den Positionen von Opfer und Tätern. „Die Jagd“ ist weniger politischer oder historischer Roman als Drehbuch für einen systemerhellenden, in den vorgestellten Methoden aber doch schon bekannten Film.

2016 – 280 Seiten

Der neue Roman des belarussischen Autors Sasha Filipenko (ARD ttt)

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Poladjan
7. November 2022, 18:43
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Katerina Poladjan: Zukunftsmusik

Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“ – Das Motto für den Roman

Spielen heißt nicht, nicht ernst zu sein.  Spielen heißt, trotz des Ernstes nicht zu verzagen, spielen heißt, Musik zu machen, auch wenn man keine Gitarre hat. „Am Abend würde sie ein Konzert in ihrer Küche geben, ein Kwartirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten. Wenn so viele kämen, würde es eng werden, und noch immer hatte sie kein anständiges Instrument.“ Wenn in der UdSSR der Trauermarsch von Chopin (3. Satz der Klaviersonate Nr. 3 op. 35) im Radio zu hören war, wusste man, dass einer (nie: eine!) von ganz oben gestorben war.

„Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet.
Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist, bemerkte Maria Nikolajewna.
Und wer ist gestorben? Sie spielen Chopin.
Der verehrte Matwej Alexandrowitsch vermutet –
Solange nichts offiziell verlautbart ist, vermute ich gar nichts! rief Matwej Alexandrowitsch mit ungewöhnlicher Heftigkeit.
Wer auch immer gestorben ist, beschwichtigte Maria Nikolajewna*, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.“

Die „Zukunftsmusik“ spielt nur an einem einzelnen Tag: dem 11. März 1985. „Es war ein Morgen, an dem zwar der Trauermarsch aus allen Lautsprechern drang, und doch lag die Hoffnung auf etwas Neues in der Luft.“ Die Bewohner der Kommunalka sprechen es nicht aus, aber an diesemTag, einen Tag nach dem Tod des sowjetischen Staats- und Parteichefs Konstantin U. Tschernenko wird Michail S. Gorbatschow in Moskau zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt. „Sagen Sie, verehrter Matwej Alexandrowitsch, Warwara Michailowna sprach so leise, dass er sich zu ihr beugen musste, ich nehme an, dass Sie in Kenntnis sind, was uns erwartet?

   Uns? Sie meinen die Bürger unseres Landes? 
  Sehr richtig, die Bürger unseres Landes. Oder von mir aus auch nur unsere kleine Schicksalsgemeinschaft hier.
Was erwartet uns?
   Nun, es ehrt mich, und es schmeichelt mir, dass Sie bei mir ein höheres Wissen vermuten. Was wünschen Sie uns denn, Warwara Michailowna?
   Warwara   Michailowna sah Matwej Alexandrowitsch an und lächelte.


Die Kommunalka – „unsere kleine Schicksalsgemeinschaft“ – ist eine Wohnform, in der mehrere Personen/Familien in einer ehemaligen herrschaftlichen Großwohnung zusammen leben. Jede Person hat nur wenige Quadratmeter Wohnraum, Küche, Bad und Toilette werden gemeinsam benutzt. „Privat“ sind nur der Herd und der Esstisch, der allerdings exakt die gleiche Größe haben muss wie die Tische der anderen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, denn die Belegung der Kommunalka wird nicht von den Bewohnern bestimmt, Individualität hat einen schweren Stand, ist aber auch vom System nicht erwünscht.

In der Roman-Kommunalka leben sechs „Parteien“, vom Imgenieur Matwej Alexandrowitsch, der allerlei in kleinen Kästchen für die Zukunft aufbewahrt, von dem er sich noch Nutzen in der Zukunft verspricht: „Fotografien 1935-1975, Knöpfe, Zähne, Bindfaden, Insekten, Schnipsel aus Papier und Stoff, Stifte, Gummibänder,   Weihrauch,  Nägel, Bonbons,  Vitamine, Gewürznelken,   Muschelschalen,  Zeitungsausschnitte, Liebe, Theaterkarten, Troilit, Bahnfahrkarten, Watte, Gedichte, Rinde, Murmeln i. versch. Größen, Kabel.“ In einem Zimmer wohnen vier Generationen einer Familie: Großmutter Warwara Michailowna hilft als pensionierte Hebamme im Krankenhaus aus, Mutter Maria Nikolajewna arbeitet im Museum für Natur- und Völkerkunde. Matwej Alexandrowitsch sucht sie dort auf.

Wir müssen die jungen Leute in ihren musikalischen Ambitionen unterstützen, meinen Sie nicht?
  Ganz   und gar nicht. Es ist keine Musik. Es ist böse.  Maria Nikolajewna lachte hell auf. Sie sind wirklich drollig. Was ist denn daran böse? Erinnern Sie sich an Ihre eigene Jugend!
Lieber nicht.
   Sie haben recht. Wir hatten keine gute Jugend.  Andererseits ist die Jugend immer schön. Wir haben geküsst, und wir haben getanzt, und alles schien möglich. Die Zukunft hatte Zeit.
   Nein, ich erinnere mich nicht.
   Das ist sehr schade. Ich erinnere mich. 

Janka, die Tochter von Maria Nikolajewna, arbeitet nachts in einer Glühbirnenfabrik, sie schreibt Songs und will sie am Abend im „Kwartirnik“ vortragen. IhreTochter Kroschka (dt. Brösel) ist vier, Janka hat an diesem Tag nicht viel Zeit für sie. Man hätte sich viel zu sagen, hat sich das meiste auch schon gesagt, traut sich aber nicht laut zu sein, wer weiß, wer aller mithört. Alltag in der Sowjetgesellschaft.

Ich bewundere Sie, Matwej.
  Wofür   bewundern Sie mich, Verehrteste?
  Ich bewundere Sie dafür, dass Sie das Leben — unser Leben hier — nicht hinterfragen. Aus vollem Herzen singen Sie die Lieder der Partei, aus vollem Herzen halten Sie an der großen Idee fest.
   Tun Sie das denn nicht?
  Soll ich Ihnen diese Frage ehrlich beantworten?
  Wovor   haben Sie Angst?
  Ich fürchte mich vor so vielem, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Die Ängste gehen ineinander über und bilden einen allumfassenden Schrecken.
   Jetzt übertreiben Sie aber, liebe Maria Nikolajewna.
   Vielleicht ein wenig, aber ich bin nicht der Mensch, der sich durchsetzt. Ich mache kleine Schritte. Vielleicht ist das ein Fehler, aber so habe ich es immer gemacht.
   Es ist bestimmt kein Fehler.
   Ich wäge meine Schritte ab. So kann ich meine Ängste in Zaum halten.

Der Roman ist voller Anspielungen auf die Sowjetgesellschaft. Die Zeitenwende versteckt sich in den kleinen Nischen des Alltags. Niemand weiß etwas, der Leser kann auf die Suche gehen, möchte die Personen anstupsen. Der Trauermarsch kündigt sich als Zukunftsmusik an. „Und zwischendurch verbeugt sich die Autorin mit phantastischen und absurden Schlenkern vor Satirikern wie Gogol, wenn etwa Leute das Fenster öffnen und einfach davonfliegen aus der bedrängenden sowjetischen Enge. Am Schluss stürmen alle aus der Wohnung, denn das sowjetische Haus wird abgerissen, oder vielleicht auch nur umgebaut. „So genau weiß das niemand.“ Bis heute wissen wir das ja nicht so genau.“ (Sigrid Löffler, Deutschlandfunk) Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“.

2022 – 190 Seiten

* In Russland haben auch die Frauen „Vatersnamen

2

Gespräch mit Katerina Poladjan in „Druckfrisch“ (9 Minuten)

Kommunalka

Google-Suche: Bilder zu Kommunalka

Kwartirniki: Wie man mit Russen eine Hausparty schmeißt



Sorokin
20. April 2022, 18:55
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Vladimir Sorokin:
Die rote Pyramide
(Erzählungen)

9 Erzählungen aus den Jahren 2017/18, dazu drei aus den 2010er-Jahren, sind hier versammelt. Erzählungen aus Russland, die Zeit der Sowjetunion ist immer noch gegenwärtig und das Er_Leben als solches ändert seine Muster nur schleppend.

Jura ließ den Blick durch die Umgebung schweifen. Und sah auf einmal, neben einem   Flachbau aus Silikatsteinen, ein verblichenes Transparent stehen:  Unser Ziel ist der Kommunismus!
   Unter der Schriftzeile ein Lenin-Kopf im Profil.
   »Jetzt sagen Sie bitte: Wer war Wladimir Iljitsch Lenin?«, fragte Jura laut und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
   »Der Mann, der die Pyramide des roten Rauschens in Gang setzte.«
   Jura blieb der Mund offen stehen.
   »Wie bitte? Die Pyramide des roten was?«
   »Des roten Rauschens.«
   »Von der hab ich noch nie was gehört.«
   »Sie erzeugt das permanente rote Rauschen.«
   »Und wo steht die?«
   »Im Zentrum der Hauptstadt.«
   »Wo genau?«
   »Genau in der Mitte.«
   »Im Kreml?«
   »Nein. Auf dem Roten Platz.«
   »Mitten auf dem Platz?  Eine Pyramide?«
   »Ja.«
   »Und wo steht sie da, ganz konkret?«
   »Ihre Grundfläche nimmt   den gesamten Platz ein.«
   »Den ganzen Platz?! …«
   Jura lachte auf. Der dicke Mann blickte stoisch wie zuvor vor sich hin.
   »Na wissen Sie!«, meinte Jura. »Ich wohne zufällig ganz in der Nähe vom Roten Platz, in der Pjatnizkaja.  Eine rote Pyramide hab ich dort nie stehen sehen.«
   »Sie können sie nicht sehen.«
   »Aber Sie?«
     »Ja.«
     Alles klar, dachte Jura. Der Mann halluziniert.
     »Und was tut die Pyramide noch mal?«
     »Sie strahlt das rote Rauschen aus.«
     »So was wie … ein Lautsprecher?«
     »Etwas in der Art. Aber mit ganz anderen Wellen. Anderen   Schwingungen.«
     »Und wozu … strahlt sie die aus?«
     »Um die Menschen mit dem roten Rauschen zu infizieren.«
     »Wozu soll das gut sein?«
     »Um die innere Ordnung des Menschen   zu stören.«
     »Stören? Wozu?«
     »Damit der Mensch aufhört, Mensch zu sein.«
     Ein Staatsfeind, dachte Jura und schaute sich nach allen Seiten um. Aber der Bahnsteig war menschenleer wie zuvor.

(aus: Die rote Pyramide, 2018)

Solche durchaus direkten Aussagen sind aber selten in den Texten. Sorokin liebt flirrende Andeutungen, bettet sie ein in Grotesken, in karikaturhaft verzerrenden, auch stilistisch experimentierenden Erzählungen, die vom Leser Dekodierungen einfordern, ihn oft auch überfordern.  „Vladimir Sorokin macht in beunruhigenden Dystopien das gegenwärtige Putin-Russland kenntlich.“ Doch so einfach wie es Mirko Martin vorschreibt, ist es nicht. Was man ‚Russland‘ als ‚Seele‘ zuschreibt, ist das Absurde der Über-Lebensanstrengungen in einem Land, das immer noch in der Vor-Moderne festhängt. Da ist die Geschichte vom Besuch bei einem „Starzen“, dem „ehrwürdigen Greis“, der sich in einer Felshöhle zumauert und dort als „Lehrer und Berater fungiert“ (wikipedia). Von Kyrill I. ist nicht die Rede, der Putin als „Wunder Gottes“ bezeichnete.

»Vater Pankrati«, sprach Alex, sein Gesicht nahe an die Luke haltend, »was sollen wir tun?«
   In der Höhle stank es.
   »Schlafen!«, kam die Antwort des Starzen aus der Finsternis.
   »Wie … schlafen?«
   »Tief und fest.«
   »Wozu?«
   »Damit die Träume herauskönnen.«
   Alex atmete tief ein und wieder aus, er kämpfte um Fassung. Wollte den Starzen gerade fragen, was das heißen sollte, da kam der Alte ihm zuvor.
   »Geh jetzt. Schlaf!«
   Aus der Höhle drang ein Scharren, Ächzen, Murmeln.  Dann zog Stille ein. Mit dem Becher in der Hand stand Alex vor dem finsteren Loch und starrte hinein.  Es verging einige Zeit. Plötzlich wurde ein Stein in das Loch geschoben, der es vollständig verschloss. An den Fugen quoll etwas hellbraune Masse hervor. Einen Geruch konnte Alex nicht wahrnehmen.
   So stand er da, sein Blick prallte ab von der geschlossenen Mauer. Der blöde Ventilator summte und blies ihm in den Rücken. Alex klopfte mit dem Becher gegen den Stein.
   »Vater Pankrati.«
   Kein Ton von hinter der Wand.
   »Was soll denn das?«, stieß Alex ohnmächtig hervor und ließ die Hände sinken. Die Mauer mit all ihren Adern, Buckeln, Kanten und Rissen stand vor ihm wie zum Hohn. Er hätte sie bespucken mögen.
   »Rede!«, brüllte Alex wutentbrannt und hämmerte mit dem Becher gegen die Wand.
   Auf einmal war wieder ein Murmeln von drinnen zu vernehmen. Schwach und dumpf, aber nicht zu überhören. Alex presste das Ohr an den Stein. Doch es war nicht zu verstehen.  Etwas zwischen Gemurmel und Gesang. Nach kurzem Besinnen legte er den Becher an den Stein und das Ohr an den Becher – wie er es zuletzt als Jugendlicher getan hatte, als sich seine große Schwester im Zimmer nebenan ihrem Mitschüler hingab, einem dürren, schieläugigen Typen mit Fusselbart, von dem Alex gelernt hatte, Wodka zu trinken, und der Führt mich über den Maidan zur Gitarre sang.
  Der Becher half: Der Starze in seiner zugemauerten Höhle sang tatsächlich ein Lied. Es war eine simple Melodie, die jedes Kind kennt. Alex hielt sich das freie Ohr zu, um nicht das Surren des bescheuerten Ventilators zu hören, und strengte sich an. Jetzt verstand er:
  Dies war des Lebens letzter Akt:
  Wenig gegessen, viel gekackt.

Mehr Text   war nicht. Der Starze wiederholte die immer gleiche kurze Strophe. Und    irgendwann verstummte er ganz.

(aus: Lila Schwäne, 2017)

Nicht alle Geschichten Sorokins lassen sich entschlüsseln, auf politische oder gesellschaftliche Verhältnisse beziehen. Manche Geschichten erscheinen schlicht exzentrisch, krude, in hrer oft auch stilistischen Exaltation effektheischerisch. Es wird vulgär, es geht um Ärsche.

Frau Frajerman lachte herzlich mit allen mit, aber dann legte sie mit versierter Geste die Wange in die auf den Tisch gestützte Hand und sprach in bedeutungsschwangerem   Ton:
   »Das mag alles richtig sein, meine lieben Bobrows. Aber eine Frage hätte ich noch, eine ganz kleine Frage.«
   Sie spitzte die prallen, geschminkten Lippen,verengte die ausdrucksvollen schwarzen   Augen zu  einem Spalt und   sprach leise: »Womit wische ich  mir  den Po?«
   Alles grölte, mit Ausnahme der Bobrows. Als der Lärm verebbt war, kam von ihr die Antwort.
   »Mit gar nichts.«
   »Mit gar nichts geht nicht, meine Liebe.«
   »Dann nehmen   Sie halt den Finger.«
   »Ja, warum nicht den Finger«, sagte Herr Bobrow und bekräftigte es mit einem Nicken seines kurz geschorenen Kopfes.
   Die Gäste blickten einander an und lächelten betreten. Frau Frajerman fixierte die Bobrows mit strengem Blick und schluckte. Dann sprach sie:
   »Meine lieben Bobrows, es kann ja sein, dass Sie das so machen, sich den Po mit dem Finger abwischen. Das ist Ihr volles Recht! Aber ich ziehe es wie alle zivilisierten Menschen vor, Papier zu verwenden. Denn nicht nur die Sauberkeit des Pos, auch die der Finger liegt mir am Herzen.«
   Frau Bobrowa kaute gemächlich an ihrem Salat.

(aus: Der Fingernagel, 2018)

Das Gastmahl entartet, als der Sohn der Bobrows der Frau Frajerman ins Gesicht sagt, sie habe „einen Scheißarsch“. „In ‚Der Fingernagel‘, einer derben, urkomischen Persiflage auf die Erzähltradition des russischen Realismus, endet das Abendessen in einem Desaster aus Gewalt und Fäkalhumor. (…) In allen neun Texten arbeitet Sorokin die große ideologische Leere in seiner Heimat heraus – und die verschiedenen Versuche, diese zu füllen: durch Brutalität, Sexualität, Großmannssucht, pervertierte Religiosität, Nostalgie (die pittoresken Schilderungen der Landarbeit in „Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge“!) – und durch die schillerndsten Träume.“ (Michael Schleicher, Frankfurter Rundschau)

190 Seiten



Platonow
14. Oktober 2017, 16:22
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Andrej Platonow: Die Baugrube

baugrubeAndrej Platonows „Die Baugrube“ ist bis 1930 entstanden. Stalins „Große Säuberung“ stand noch bevor, doch das Regime war dabei, das System zu gestalten, den „Kommunismus“ durchzusetzen. Ihn in die Köpfe der Menschen zu pflanzen, auch wenn sich die Köpfe stur stellten. Alte Verhaltensweisen – das war schon immer so und hat schlecht funktioniert – sollten geschleift werden, und wer nicht mitmachte, wurde mitentsorgt. Das ZK beschloss und beschloss und schickte die Beschlüsse ins Land, die Bürokratie machte sich selbstständig. Es war ein weiter Weg von Moskau aufs Land und in die kleinen Städte.

Die Bauern waren es, die sich absichtlich nicht „entkulakisieren“ lassen wollten. Viele ließen sich einfallen, ihre Tiere der Kollektivierung zu entziehen und sie zu schlachten, was zu einem (vorübergehenden) Überschuss von Fleisch führte und die Preise purzeln ließ. So geht man dazu über, nicht den einzelnen Bauern zu kollektivieren, sondern alle als Klasse. Wer sich sträubt, wird aufs Floß gesetzt und gen Meer getrieben.

Der trübsinnige Protagonist Woschtschew verdingt sich als Arbeiter in der “Baugrube”, in der das Fundament für das “gemeinproletarische Haus“ errichtet werden sollte, ein Symbol für den „Palast der Sowjets“. Später wird der Baugrund als „Schlucht“ beschrieben.

Woschtschew stand auf und ging, noch ohne vollen Glauben an die allgemeine Notwendigkeit der Welt, zum Essen, befangen und voller Schwermut.
Als sie die Nahrung gegessen hatten, gingen die Arbeitsleute nach draußen mit Spaten in den Händen, und Woschtschew lief ihnen hinterher.
Auf der abgemähten Brache roch es nach totem Gras und der Feuchtigkeit von kahlen Stellen, weshalb die allgemeine Traurigkeit des Lebens und die Schwermut der Vergeblichkeit deutlicher spürbar waren. Woschtschew gab man einen Spaten, und mit der Härte der Verzweiflung seines Lebens drückte er ihn in den Händen, als wolle er sich die Wahrheit aus der Mitte des Erdenstaubs beschaffen; in seinem Elend war Woschtschew bereit, eben keinen Sinn der Existenz zu haben, doch wünschte er ihn wenigstens zu beobachten in der Substanz des Körpers eines anderen, nahen Menschen, – und um in der Nähe die­ses Menschen zu sein, konnte er für die Arbeit seinen ganzen schwachen Körper drangeben, der verzehrt war von Nachsin­nen und Sinnlosigkeit.

Der Sozialismus kann das nicht dulden.

Doch der Sozialist Safronow fürchtete, die Pflicht der Freude zu vergessen, und antwortete allen und für alle Mal mit der obersten Stimme der Stärke:
»Wer den Ausweis der Partei in den Hosen trägt, muss sich unablässig sorgen, dass im Körper Enthusiasmus ist. Ich rufe Sie auf, Genosse Woschtschew, zu wetteifern um das höchste Glück der Stimmung! « (…)
»Stellen wir die Frage: Woher kommt denn das russische Volk? Und wir antworten: aus der bourgeoisen Kleinigkeit! Es wäre auch noch anderswoher entstanden, aber mehr Platz war nicht da. Und darum müssen wir jeden in die Salzlake des Sozialismus werfen, damit sich die Haut des Kapitalismus von ihm abschält und das Herz seine Aufmerksamkeit auf die Glut des Lebens um den Scheiterhaufen des Klassenkampfes richtet und Enthusiasmus erwächst!..«
Ohne Ausweg für die Kraft seines Verstandes, steckte Safronow sie in die Worte und sprach diese lange. (…)
Bald war das ganze Artel, versöhnt in allgemeiner Ermattung, so eingeschlafen, wie es lebte: in Taghemden und Überhosen, um sich nicht abzumühen mit dem Lösen der Knöpfe, sondern die Kräfte zu schonen für die Produktion.
Allein Safronow blieb ohne Schlaf. Er schaute die liegenden Menschen an und äußerte sich voller Gram:
»Ach du, Masse, Masse! Es ist schwer, aus dir den Grützbrei des Kommunismus zu organisieren! Und was willst du, so einAas? Die ganze Avantgarde hast du Ekel bis aufs Blut geschun­den.«
Und der armen Rückständigkeit der Massen deutlich gewahr, schmiegte sich Safronow an irgendeinen Müden und vergaß sich im Dickicht des Schlafs. (…)

»Zwei Kulaken haben sich jetzt von uns entfernt.«
»Geh und bring sie um!«, sagte das Mädchen.
»Das ist nicht erlaubt, Töchterchen: zwei Personen sind noch keine Klasse … «
»Das sind einer und noch einer«, zählte das Mädchen. »Aber komplett waren sie zu wenig«, bedauerte Safronow.
»Wir sind ja, gemäß des Plenums, verpflichtet, sie mindestens als Klasse zu liquidieren, dass bloß das ganze Proletariat und der Tagelöhnerstand von Feinden verwaist! «
»Und wer bleibt euch übrig?«
»Die Aufgaben, die harte Linie der weiteren Maßnahmen – verstehst du?«
»Ja«, antwortete das Mädchen. »Das heißt, die schlechten Leute alle umbringen, gute gibt es nämlich sehr wenig.«
»Du bist voll und ganz die Klassengeneration«, freute sich Safronow, »du erkennst exakt alle Verhältnisse, trotzdem du selbst noch minderjährig bist. Vom Monarchismus wurden ja die Leute wahllos gebraucht für den Krieg, aber uns ist nur eine Klasse teuer, und unsere Klasse werden wir bald auch reinigen vom unbewussten Element ! «
»Vom Gesindel«, erriet das Mädchen mühelos. »Dann gibt es nur die aller-, allerobersten Leute! Meine Mama hat sich selber auch Gesindel genannt, dass sie noch lebte, aber jetzt ist sie tot und eine Gute geworden – stimmt doch?«
»Stimmt«, sagte Tschiklin.

Eine ganze Reihe von Figuren treibt entkulakisierend und kollektivierend durch den Roman, jeder ein individualisierter Mitläufer, auch der Aktivist. Sie treffen auf karge Böden, arme Flechtzäune, Subkulaken, vergesellschaftete Pferde, und das Mädchen, Tochter einer gestorbenen burshujka“ (Kleinbürgerin), das sie auf ihrer Tour mitnehmen, bis sie wieder zur Baugrube zurückkehren. “Am nächsten Morgen, noch nicht aufgestanden von seinem Lager, begrüßte er ein kleines, mit Tschiklin gekommenes Mädchen als Element der Zukunft, und dann schlummerte er wieder ein.” Das Haus wird nicht fertig werden, das Mädchen stirbt, ausgerechnet dort. Die Wahrheit ist ein flüchtiges Gut. Sehr viel wird in der “Baugrube” geschlafen. Auch das ist Arbeit.

“Die Baugrube” ist kein realistischer Roman. Dafür sind die Personen zu klischeehafte Typen,dafür sind die Situationen zu sehr ironisierte Klischees. Alles ist Symbol, weist über die Beschreibung hinaus. (Die Übersetzerin Gabriele Leupold legt 35 Seiten Erläuterungen bei.) Angeprangert wird nicht das harte Los des Menschen, entlarvt wird der Zusammensturz des Plans durch seine Realisierung. Der Mensch ist nur noch Objekt des Plans, der Bürokratie, der Staatsmacht. Platonows Methode ist Verdoppelung und übertreibende Zuspitzung. “Die Sprache ist der eigentliche Akteur im Roman – und eine Herausforderung für die Leser. Alle Figuren, der Erzähler eingeschlossen, sprechen sonderbar und falsch. (…) Dabei wurzelt die Sprache der Baugrube tief in der Realität, wie sie sich zwölf Jahre nach der Revolution präsentierte: das »Neusprech« der Sowjetepoche kollidiert mit der alten bäuerlichen Rede und der Sprache der Bibel, Dialektales mit Folkloristischem und Flüchen, Abkürzungen mit Bandwurmausdrücken, Verstandenes mit Unverstandenem: »Ach du, Masse, Masse! Es ist schwer, aus dir den Grützbrei des Kommunismus zu organisieren!« oder »Zieh hin, … du bist jetzt wie ein Vortrupp-Engel des Arbeiterbestands, in Anbetracht seiner Auffahrt in die Diensteinrichtungen … «. (Gabriele Leupold)

„Ein Schlüsselwerk und Hauptwerk der russischen Literatur“, preist der Suhrkamp-Verlag an.

1929/30        175 Seiten + Erläuterungen + Nachwort

Leseprobe und weiteres Material beim Suhrkamp-Verlag

Im Bayern 2-Büchermagazin stellt Christine Hamel die
Neuübersetzung von Andrej Platonows „Die Baugrube“ vor.

Besprechung auf dem schönen Literaturblog „pinkmitglitzer“

Ilma Rakusa über „Andrej Platonow und das Leiden am Sozialismus“ in der ZEIT (1990)

„lesenswert quartett“ über Bücher des Frühjahrs 2018 (ab Minute 32)

Gabriele Leupold (Übersetzerin) über Platonows »Die Baugrube« (Video)

 

 



Barnes
5. April 2017, 18:42
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Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

barneslaermIm Februar 1917, vor hundert Jahren, schaffte man in Russland den Zaren ab und mit ihm seine Hungerherrschaft. Das war gewiss verdienstvoll. Damit man die arrogante Monarchie stürzt, muss man radikal sein, was schon die Jakobiner der französischen Revolution 150 Jahre zuvor exekutierten. Am radikalsten waren in Russland die Bolschewiki, und weil/obwohl sie so radikal waren, setzten sie sich durch und weil sie so radikal dachten/fühlten, machten sie die Augen zu und erträumten sich nicht nur eine neue Gesellschaft, sondern auch einen idealen Menschen. Den Sowjetmenschen.

Wer die Augen zum Träumen verschließt, gebiert leicht Ungeheuer. Der Maler Goya wusste dies, die Bolschewiki blieben verblendet. (Biopolitische Utopien hatten Konjunktur – nicht nur in Russland.) „Glaubensinhalte laufen grundsätzlich Gefahr, zur Waffe geschmiedet zu werden: von Herrschern, Demagogen, Sinnsuchern.“ (Michael Lüders)

sowjetmenschRussland war kein aufgeklärt-industrielles Land, sondern zu 85% von Bauern in Wald-Sümpfen bevölkert, beherrscht von hierarchisch-strukturiertem Staats- und Landadel. Um das Land in die westeuropäisch inspirierte Gegenwart zu wuppen, musste man revolutionären Anlauf nehmen und da springt man gerne am Ziel vorbei. Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war das eigentlich egal, denn er verstand sich nicht als politischer Mensch.

Aber er glaubte nicht an Utopia, an die Vervollkommnung der Menschheit, an die in­genieurtechnische Bearbeitung der menschlichen See­le.
Kunst gehört allen und niemandem. Kunst gehört je­der Zeit und keiner Zeit. Kunst gehört denen, die sie erschaffen, und denen, die sie genießen. Kunst gehört ebenso wenig dem Volk und der Partei, wie sie einst dem Adel und den Mäzenen gehört hatte. Kunst ist das Flüstern der Geschichte, das durch den Lärm der Zeit zu hören ist. Kunst existiert nicht um der Kunst willen: Sie existiert um der Menschen willen. Aber um wel­cher Menschen willen, und wer bestimmt das? Für ihn war seine eigene Kunst immer anti-aristokratisch ge­wesen. Schrieb er, wie seine Verleumder behaupteten, für eine bourgeoise, kosmopolitische Elite? Nein. Schrieb er, wie seine Verleumder es von ihm verlang­ten, für den müde von der Schicht heimkehrenden Bergmann im Donbass, der eine wohltuende Stärkung brauchte? Nein. Er schrieb Musik für alle und nieman­den. Er schrieb Musik für die, die seine Musik am bes­ten zu würdigen verstanden, egal welcher gesellschaftlichen Herkunft sie waren. Er schrieb Musik für die Ohren, die fähig waren zu hören. Und darum wusste er, dass jede wahre Definition der Kunst zirkulär ist und jede unwahre Definition der Kunst ihr eine spezifische Funktion zuschreibt.

Er wollte komponieren, denn davon und nur davon meinte er etwas zu verstehen. Musik ist eine Kunst und die Kunst ist nur aus der Kunst heraus zu erfassen. Damit steht er aber schon zu Lenin im Gegensatz: DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. DIE KUNST GEHÖRT DEM VOLK – W.I.LENIN. Julian Barnes druckt es in gefetteten Majuskeln.

Alle Musik musste für die Massen unmittelbar ver­ständlich und erbaulich sein. (…) Ein Komponist sollte seine Produktionsleistung ebenso steigern wie ein Bergarbei­ter, und seine Musik sollte die Herzen erwärmen, wie die Kohle eines Bergarbeiters die Körper erwärmte. Bürokraten bemaßen die musikalische Produktionsleis­tung wie die Produktionsleistungen in anderen Berei­chen; es gab vorgegebene Normen und Abweichungen von dieser Norm (…) und das geringste Experiment wurde als »For­malismus« verdammt.

Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch leidet am Unverständnis der Macht, an ihrem einfältigen Anspruch an die Kunst, an die Komponisten, an den Vorwürfen, Formalist zu sein. Weil er sich dieser Einfalt nicht fügen kann, wird er verfolgt, verhört, er fürchtet um sein Leben. Und er leidet darunter, dass er um seines Leben Willen sich der Macht unterwirft. Er unterschreibt Briefe gegen andere Künstler, er tritt in die Partei ein, er wirft sich Feigheit vor.

Nun, das Leben ist kein Spaziergang übers Feld, wie man so schön sagt. Eine Seele konnte auf dreierlei Art zerstört werden: durch das, was andere einem Menschen antaten; durch das, was ein Mensch sich selbst antat, weil andere ihn dazu trieben; und durch das, was ein Mensch sich aus freien Stücken selbst antat. Jede einzelne Methode erfüllte ihren Zweck; wenn aber alle drei zusammenkamen, waren die Folgen unausweichlich.
Er wusste nur eins: Dies war die allerschlimmste Zeit.

Die schlimmste Zeit war nicht dasselbe wie die ge­fährlichste Zeit. Weil die gefährlichste Zeit nicht die Zeit war, in der man am meisten in Gefahr war.
Das hatte er bisher nicht verstanden.
Er saß in seinem von einem Chauffeur gesteuerten Wagen, während draußen die Landschaft vorüberhol­perte. Er stellte sich selbst eine Frage. Sie lautete:

Lenin fand Musik deprimierend.
Stalin dachte, er verstünde Musik und
wüsste sie zu schätzen.
Chruschtschow verachtete Musik.
Was ist für einen Komponisten das
Schlimmste?

Das sind die drei Kapitel von Barnes’ Roman. Die Lebensbedrohung durch den Geheimdienst, Schostakowitsch verbringt die Nächte bekleidet “Auf der Treppe” vor seiner Wohnung, damit er seine Familie schützt, wenn ihn Stalins Schergen abholen. “Der Koffer an seinem Bein sollte ihn beruhigen und auch andere beruhigen; eine praktische Maßnahme. So sah es aus, als habe er die Ereignisse unter Kontrolle, statt deren Opfer zu sein. Männer, die mit einem Koffer in der Hand aus dem Haus gingen, kehrten gemeinhin zurück. Männer, die im Nachtge­wand aus dem Bett gezerrt wurden, kamen häufig nicht schostakowitsch2zurück. Ob das stimmte oder nicht, war unwesent­lich. Wichtig war nur: Es sah so aus, als hätte er keine Angst.” Er fliegt “Im Flugzeug” nach Amerika und verliest von der Macht vorgefertigte Erklärungen der “Überlegenheit des sowjetischen Musiksystems über al­le anderen der Welt. So viele Orchester, Militärkapel­len, Volksmusikgruppen, Chöre – Beweis für den akti­ven Einsatz der Musik bei der Weiterentwicklung der Gesellschaft.” Und er erfährt “Im Auto” mit Chauffeur die tiefste Demütigung, den Verrat an den eigenen Prinzipien, verkommen zum Ausstellungsstück der Macht. Die Methode des “Nikita Kukuruz”.

Julian Barnes’ Schostakowitsch ist ein ironischer Grübler, der manchem auf die Spur kommt, ohne viel zu verstehen. „Er hatte sein Leben lang auf die Ironie vertraut. Er ver­mutete, dieser Charakterzug sei an der üblichen Stelle entstanden: in der Kluft zwischen unserer Vorstellung, unserer Annahme oder Hoffnung, wie sich das Leben entwickeln werde, und dem, wie es sich tatsächlich ent­wickelt. So wird die Ironie zu einem Schutzschild für das ich und die Seele; sie lässt dich von einem Tag zum anderen atmen.” Seine Versuche, Ironie als Selbstschutz einzusetzen, können angesichts einer völlig ironiefreien Macht nicht gelingen. Also verlegt er die Ironie in seine Gedanken. Aber

Ironie war, wie er inzwischen erkannt hatte, ebenso anfällig für die Wechselfälle des Lebens und der Zeit wie jede andere Geisteshaltung. Man wachte eines Morgens auf und wusste nicht mehr, ob man es nicht doch ernst meinte; und selbst wenn nicht, ob das noch eine Rolle spielte, ob es überhaupt jemand merkte. Man meinte, einen ultravioletten Lichtstrahl auszusenden – aber wenn das niemand zur Kenntnis nahm, weil der Lichtstrahl außerhalb des allgemein bekannten Spek­trums lag? In sein erstes Cellokonzert hatte er einen Verweis auf »Suliko« eingefügt, Stalins Lieblingslied. Aber Rostropowitsch hatte darüber hinweggespielt, oh­ne es zu merken. Wenn man Slawa eigens auf diese Anspielung hinweisen musste, wer in aller Welt würde sie dann je erkennen?

Die Ironie, die er Schostakowitsch unterschiebt, ist auch Stilmittel von Barnes. Er schreibt sich seinen Komponisten, stellvertretend für die Haltung des Künstlers zur Macht. In der “Anmerkung des Autors” nennt Barnes seine Quellen, betont jedoch seine dichterische Freiheit. “Der Lärm der Zeit” ist keine Biographie, sondern ein Versuch über den Wert der Kunst als humanes “Flüstern” gegen den “Lärm” der politischen Barbarei.

Schostakowitsch’ Musik kann man nicht beschreiben, man muss sie hören. Auch um zu verstehen, welche Welten zwischen seinen modernen Tönen und dem biederen “Geschmack” der Mächtigen liegen. Auf das frohgemute Wanderlied vom “Gegenplan” wollten sie ihn festlegen, die verkümmerte Landlust gegen die städtische Genialität, eine Schmach für den ernsthaften Komponisten. Seine “Jazz-Suite” zeigt den eingehegten Schostakowitsch im populären Walzer- und Polkaschritt. Seine eigenen Ansprüche hört man – z.B. – in den Streichquartetten.

Julian Barnes rahmt seinen vortrefflichen kleinen Roman mit einer Begebenheit.

Es geschah mitten im Krieg auf einem Bahnsteig, so flach und staubig wie die endlose Ebene ringsum. (…) Da war ein langer Bahnsteig, der eben erst von der Sonne beschienen wurde. Da war ein Mann, in Wirklichkeit ein halber Mann, der sich auf einem Roll­brett vorwärtsschob und sich mit einem Seil daran festgebunden hatte, das oben mit seiner Hose ver­schlungen war. Die beiden Reisenden hatten eine Fla­sche Wodka. Sie stiegen aus dem Zug. Der Bettler hielt in seinem zotigen Lied inne. Dmitri Dmitrijewitsch hatte die Flasche in der Hand, er selbst die Gläser. Dmitri Dmitrijewitsch goss Wodka in jedes Glas; wäh­rend er das tat, wurde ein Armband aus Knoblauch sichtbar. Er war kein Barkeeper, und die Menge an Wodka war in jedem Glas unterschiedlich. Der Bettler sah nur, was aus der Flasche kam, er dagegen dachte, dass Mitja immer anderen helfen wollte, dabei war er von Natur aus unfähig, sich selbst zu helfen. Aber Dmitri Dmitrijewitsch lauschte und hörte, wie immer. Und als die drei Gläser mit ihrer unterschiedlich hohen Füllung in gemeinsamem Klirren aneinanderstießen, lächelte er, neigte den Kopf zu Seite, sodass kurz das Sonnenlicht in seiner Brille aufblitzte, und murmelte:

»Ein Dreiklang.«

Und das war es, woran sich der, der sich erinnerte, erinnerte. Krieg, Angst, Armut, Typhus und Schmutz, aber mittendrin, darüber und darunter und durch alles hindurch hatte Dmitri Dmitrijewitsch einen perfekten Dreiklang gehört. Der Krieg würde bestimmt zu Ende gehen – es sei denn, er ginge nie zu Ende. Die Angst würde weitergehen, und der sinnlose Tod und die Ar­mut und der Schmutz ebenso – vielleicht würde das ewig weitergehen, wer wusste das schon. Und doch war ein Dreiklang, den drei nicht sehr saubere Wodkagläser und ihr Inhalt hervorgebracht hatten, ein Geräusch, das vom Lärm der Zeit rein war und alle und alles überdauern würde. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.

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Tschukowskaja
16. Februar 2016, 17:31
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Lydia Tschukowskaja: Untertauchen

untertauchen1949. Nina Sergejewna ist in einem Sanatorium für sowjetische Kulturschaffende. Sie hat in den Stalin-Säuberungen der 1930er-Jahre ihren Mann verloren und versucht über dieses Trauma hinwegzukommen. Sehnsüchtig wartet sie auf Informationen über das Schicksal ihres Mannes. Der Schriftsteller Nikolaj Bilibin, ihr Tischnachbar und bald auch Vertrauter, ist aus einem sowjetischen Straflager zurückgekehrt, einer von sehr wenigen Überlebenden. Er könnte Informationen haben, doch Gespräche sind gefährlich, gerade 1949 wurde die Unterdrückung erneut – antisemitisch -verschärft.

In langen Spaziergängen, allein und mit Bilibin, sucht Nina Sergejewna Trost, doch auch die winterlichen Birkenwälder, das Gluckern der Bäche lassen kein „Untertauchen“ zu, die Qualen wirken weiter, auch das Erzählen hilft nicht über den Verlust hinweg.

Ich wollte so schnell als möglich zu mir, nein, nicht zu mir, sondern ins Zimmer acht. Ihm alles erzählen: von den Zeitungen, von Ljudmila Pawlowna, von der Kiste, von dem Dicken und – wenn meine Kraft reichte – von den Kindern. Aber als ich mit einem von Tränen wie zugeschnürten Hals bei ihm eintrat, saßen dort der Phantastische Abenteurer und Walentina Nikolajewna. Der Phantastische verbreitete sich über die Wurzeln des Zionismus in unserem Land, die unbedingt ausgerissen werden müssten. Bilibin widersprach nicht, sondern erklärte, dass der Mensch der Zukunft sich nicht mehr von Suppe und Klopsen, von Gemüse und Brot ernähren werde, sondern von speziellen nährstoflhaltigen Tabletten. Man würde dann eine Tablette nehmen und für den ganzen Tag satt sein.
»Das ist ja komisch! Tabletten! Ich esse aber viel lieber Kuchen!«
»Sie brauchen es mir nur zu sagen, und der Kuchen wird vor Ihren Füßen liegen«, antwortete Bilibin galant, »vielmehr vor Ihren Lippen.«
Ich blieb nur fünf Minuten und beeilte mich, auf mein Zimmer zu kommen.
Nach dem Abendessen wollte ich noch einmal Luft schöpfen und ging allein über die dunkle Straße zum Bach hinab. Wieder drängte sich der dunkle Wald an die Straße, wieder konnte man unter den Tannenästen das Grab nicht erkennen. Die Schlucht lag im Mondschein. Ich blieb eine Weile auf der Brücke stehen und lauschte dem Tuckern des Generators. Was liefert er eigentlich hier? Bloß den Strom? Oder vielleicht auch die Zeit? Er zählt noch dreizehn Tage ab – Ende. Dann beginnt Moskau.
Ich versuchte, hinter dem Tuckern die Stimme des Baches zu hören. Am ersten Abend hatte Bilibin gesagt: »Mal ja, mal nein.« Da hörte ich das reine kindliche Plappern des Baches. >Der Liebe<, dachte ich und kehrte um. >Gleich werde ich zu Bett gehen. Vielleicht hilft mir der Bach einzuschlafen.<

Sie ist gespannt auf Bilibins Manuskript zu einem Roman über die sowjetischen Lager. Aber in Nina Sergejewnas Augen schreibt er Leid, das das Regime zugefügt hat, in einen „verlogenen Lobgesang auf die Errungenschaften des Sowjetkommunismus“ um.

Bis zu diesem Tag habe ich in meinem Leben manchmal leiden müssen. Aber jetzt, zum ersten Mal, musste ich mich schämen.
Ich schämte mich, und dieses Gefühl war so stark, dass die Zeit stehenblieb. Wie im Glück.
Ich habe die Schritte nicht gehört. Ich hörte Klopfen. Ich wusste, das ist Bilibin. Er klopft immer so leicht, vorsichtig, bloß mit den Nägeln. Wie auf Zehenspitzen.
Ich antwortete nicht sogleich. Ich musste Mut fassen und meine Stimme wieder in die Gewalt bekommen.
»Herein«, sagte ich. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Ich zeigte auf den Stuhl am anderen Tischende. Sonst saß er immer auf dem kleinen Bänkchen neben mir. Er wunderte sich, setzte sich aber.
»Sie sind ein Feigling«, sagte ich. »Nein, schlimmer: Sie sind ein falscher Zeuge.« Er erhob sich ganz langsam. »Sie sind ein Lügner.«

“Untertauchen” ist ein autobiographischer Roman, auch wenn die Erzählerin hier anders heißt. Durch die Anlage als Tagebuch erscheint das Erleben sehr subjektiv, es werden keine Terroraktionen direkt benannt, es ist keine “Lagerliteratur”, nur der jüdische Mitbewohner Weksler erzählt einmal vom gewaltsamen Tod seiner Frau und seiner Kinder. Im Mittelpunkt steht das Leid an der Unterdrückung und Ausschaltung der Künstler und das lebenserhaltende “Untertauchen” in Natur und unpathetischer, leise ironischer Sprache. Das Motto stammt von von Tolstoj: “Die Moralität eines Menschen zeigt sich in seinem Verhältnis zum Wort.”

1975 (EnglischeAusgabe)          250 Seiten

 

Leseprobe und weitere Infos beim Dörlemann-Verlag

Gespräch im Literaturclub des SRF vom März 2015

Rezension von Daniel Henseler bei „literaturkritik.de“

Besprechung in Constanze Matthes’ Literaturblog ZEICHEN UND ZEITEN



Lermontov
13. August 2014, 18:54
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Michail Jurjewitsch Lermontow:
Ein Held unserer Zeit

lermontovheld

Lermontows « Ein Held unserer Zeit » erschien 1840. Russland, hier der nördliche Kaukasus, lag wie heute weit weg von den europäischen Zentren, war aber angebunden an die mentalen und literarischen Traditionen. Die Romantik ist durchschaut; ihre Träume und Versprechungen haben sich nicht eingelöst, es ist Zeit, damit abzurechnen. Man leidet, nicht an der Realität, sondern an seinen existenzialistischen Flausen. Darauf fokussiert der junge Offizier Petschorin sein Leben. Er soll als russischer Soldat helfen, die Bergvölker im Kaukasus zu befrieden, doch zeigen sich die Tscherkessen selten. Er hat Muße, ihm ist langweilig, ihn quält der Ennui. Doch das Leben und speziell die Liebe erscheinen bloß als billiger Abklatsch der „italienischen Oper“, als Spiel mit den Gefühlen, als “Romanhelden nach neuestem Geschmack”. Die Frauen sind die Spielfiguren, “ Prinzeß Mary mit geschmeidigen Hüften, nach dem Spiel werden sie abgeräumt. “»Mon cher«, erwiderte ich und versuchte dabei möglichst seinen Ton nachzuahmen, »je méprise les femmes pour ne pas les aimer, car autrement la vie serait un mélodrame trop ridicule.«“ Wortgewandte Sentimentalität, hohle Melancholie, selbstverliebte Wehmut: „Im Grunde sind wir, um die Wahrheit zu sagen, gegen alles recht gleichgültig, außer gegen uns selbst.” Lermontow wollte ein »Portrait schreiben, das sich aus den vollausgereiften Lastern unserer gesamten Generation zusammensetzt«.

Den größten Teil des Romans nimmt das Tagebuch Petschorins ein. Das erlaubt dem Autor, einen Blick in den Kopf des Helden zu werfen, wir erleben die Welt in seiner Wahrnehmung und sollen auf die Verdoppelung des Erlebens hereinfallen. Lermontows Petschrorin spielt nicht nur mit sich, sondern auch mit den Vorstellungen des Lesers. Das ist romantisch, doch hat es nicht die sarkastische Heiterkeit des etwas älteren Heinrich Heine.

Wir kennen voneinander fast alle noch so geheimen Gedanken, ein einziges Wort ist für uns eine ganze Geschichte, und wir sehen den Keim eines jeden unserer Gefühle durch eine dreifache Hülle hindurch. Das Traurige mutet uns lächerlich, das Lächerliche traurig an, und im Grunde sind wir, um die Wahrheit zu sagen, gegen alles recht gleichgültig, außer gegen uns selbst. Ein Austausch von Gefühlen und Gedanken kann zwischen uns also nicht zustande kommen, wir wissen voneinander alles, was wir wissen wollen, und mehr wollen wir nicht wissen. Es bleibt nur ein Mittel: Neuigkeiten mitteilen. – Erzählen Sie mir, was gibt es Neues?« Erschöpft von meiner langen Rede, schloß ich die Augen und gähnte.

Petschorin kennt nicht nur keine echten Gefühle mehr, er ist der Liebe überdrüssig, ihn ödet sogar das sSpiel mit den Emotionen an. “Sie ist mit sich unzufrieden – sie macht sich Vorwürfe, sie sei zu kalt! Oh, das ist der erste, der wichtigste Triumph. Morgen wird sie mich entschädigen wollen. Ich kenne das alles schon, es ist so langweilig!” “Endlich trennten wir uns; ich sah ihr lange nach, bis ihr kleiner Hut hinter Büschen und Felsen verschwand. Mein Herz krampfte sich schmerzlich zusammen wie nach dem ersten Abschied. Oh, wie frohlockte ich über dieses Gefühl!” “Leidenschaften sind nichts anderes als Ideen in ihrem ersten Entwicklungsstadium; sie sind nur dem Jünglingsherzen eigen, und ein Narr ist, der denkt, sie werden ihn sein Lebtag leiten. Viele ruhige Ströme beginnen als tosende Wasserfälle, doch keiner springt und schäumt bis ans Meer hinan. Diese Ruhe ist jedoch häufig das Zeichen einer großen, wenngleich verborgenen Kraft; Reichtum und Tiefe der Gefühle und Gedanken dulden keine rasenden Ausbrüche; während die Seele leidet und genießt.”

Wenn die Seele zu fiebern droht, reitet man in die Natur, um sie abzukühlen. Man wird wieder nüchtern, wenn man in der Schlucht schluchzt. Die Love-Story endet mit dem Duell, aber auch das kann Petschorin nur als Spiel sehen und genießen: “Absichten erraten, Verschwörungen ausheben, so tun, als sei man überlistet, und plötzlich mit einem einzigen Stoß das ganze riesige und mühsam errichtete Gebäude aus Listen und Intrigen einreißen – das ist es, was ich Leben nenne!

pjatigorskLermontov, der 1841 bei einem Duell in Pjatigorsk starb, “verlegt das Geschehen in den Kaukasus, in die Zeit des russischen Eroberungsfeldzugs zur »Befriedung« der Bergvölker. Der Roman enthält nicht nur wunderbare Landschaftsbeschreibungen, sondern benennt die bis heute fortwirkenden großrussischen Vorurteile gegen die angeblich feigen, hinterhältigen und räuberischen Bergvölker, die Asiaten” (wikipedia). Pjatigorsk ist auch heute noch Heilbad. Unnötig zu sagen: Während des Zweiten Weltkriegs war Pjatigorsk zeitweise von der Wehrmacht besetzt. Das Einsatzkommando 12 der Einsatzgruppe D hatte 1942 in der Stadt seinen Sitz. Zahlreiche jüdische Einwohner der Stadt wurden ermordet. (wikipedia)

1840       210 Seiten (TaBu)

Lermontov übersetzte auch Goethe:

Горные вершины
Спят во тьме ночной.
Тихие долины
Полны свежей мглой.
Не пылит дорога,
Не дрожат листы.
Подожди немного,
Отдохнёшь и ты.



Sorokin
18. April 2013, 18:54
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Vladimir Sorokin: Der Schneesturm

sorokinschneeDa passen Titel und Roman zusammen. Fast die ganze Zeit kämpfen sich Doktor Platon Iljitsch Garin und der Kutscher Kosma, genannt Krächz, durch den Schneesturm und die russische Taiga. Der Landarzt soll in Dolgoje Leute impfen, die sich mit einer „bolivianischen Pest“ angesteckt haben, welche sie zu Monstern mit Maulwurfsklauen mutieren lässt. Im Schlitten, genannt „Mobil“, kommen sie nur langsam voran, versinken in Schneewehen, finden die Straße nicht mehr, sind immer nahe am Erfrieren. An ein Ankommen ist nur zu denken.

Das Schneetreiben hielt unvermindert an.
Nach einer Wegbiegung hatten sie den Schnee von vorn. Das Mobil verlor an Tempo.
Der Krächz lenkte, die Pferde zogen, man hörte sie in der Kaube trappeln. Der Doktor blickte gedankenverloren voraus.
Kurze Zeit später war es stockfinster. Kein Mond. Doch weder der Doktor noch der Krächz ließen sich davon beeindrucken; seelenruhig setzten sie ihre Fahrt fort. Dem Doktor kam es so vor, als wiese der Schneesturm ihnen den Weg, indem er den Krächz nötigte, genau gegen den Wind zu lenken. Das Dunkel spuckte Schneeflocken, die gegen die Fahrenden prallten, und man hatte nichts weiter zu tun, als darauf zuzufahren.
Gegen den Wind zu Felde ziehen! Alle Fährnisse überwinden, allen Wahnwitz und Widersinn. Nichts und niemanden fürchten, unbeirrt seinen Weg gehen, wie das Schicksal es will. Eisern, standhaft, geradeaus. Darin liegt der Sinn unseres Lebens! … So dachte der Doktor.
Das Mobil neigte sich jäh nach links, bohrte sich mit dem Bug in den Schnee und blieb stecken. Erschrockenes Schnauben und Wiehern.
»Mal wieder weggeschmiert.« Der Krächz saß ab, stiefelte durch den Schnee, brach gleich ein bis zur Hüfte. »Puh! Hier gehts ab … «
Der Doktor stieg auch aus, klopfte sich den Schnee ab.
»Das nenn ich ne Kuhle!«, rief der Krächz ihm von unten zu. »Bloß gut, dass wir da nick reingerauscht sind! Wenn Ihr mal eben behilflich sein könntet, der Herr …«
Der Doktor ging hin, brach dabei selbst ein Stück ein. Mit viel Aufhebens, unter Ächzen und Fluchen halfen sie sich gegenseitig hinauf.

Sorokin beschreibt das sehr anschaulich, trotz der Eintönigkeit der Fahrt kommt kaum Langeweile beim Lesen auf. Alle dreißig Seiten fügt Sorokin ein kleines Highlight ein, ein Abweichen vom Weg, eine phantastische Begegnung, erwärmende Halluzinationen, Phantasmagorien. Da ist der Abstecher zum zwergenhaften Müller und seiner voluptuös üppigen Frau, da sind die „Dopaminierer“, die mit einer neuen Droge die Phantasien des Doktors im wörtlichen Sinn „anheizen“ – er erlebt sich in einem Kessel siedenden Öls, da ist das Spiel mit Aufblähungen – einem erfrorenen Riesen fahren sie mit ihrem Mobil in die Nase – und Verkleinerungen: das Mobil wird von 50 „Pferdis“ gezogen, jedes so groß wie ein Rebhuhn, drei davon können in der Mütze des Krächz schlafen. Der Schneesturm, die russischen Weiten, traditionelle Motive. Ulrich M. Schmid von der NZZ sieht eine tolle „Sause durch die gesamte russische Literaturgeschichte, stilistisch, handlungsmäßig. Dass Vladimir Sorokins neuer Roman mehr ist, als ein raffiniertes Spiel mit Zitaten (Puschkin, Tschechow, Gogol usw.),“ kann ich nicht erkennen und beurteilen. Ich lese in Sorokins „Schneesturm“ auch keinen „Kommentar auf Russlands gegenwärtige Schwächung“ (Hans-Peter Kunisch, SZ), sondern ein versiertes, aber eigentlich sinnfreies Spiel mit Themen und Klischees. „Der russische Autor Vladimir Sorokin wird immer besser. Und zwar nicht, weil er immer greller würde, sondern weil er seine Verrücktheiten besser versteckt“, meint Hans-Peter Kunisch. – Von Alexander Sergejewitsch Puschkin gibt es die gleichbetitelte Novelle (метель).

2010          205 Seiten

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Serge
5. Februar 2013, 19:02
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Victor Serge:
Die große Ernüchterung. Der Fall Tulajew

Die Oktoberrevolution war wohl ein umwälzendes Ereignis, umso mehr, als sie die Phase des Kapitalismus überspringen musste und deshalb wollte. Für einen Erfolg fehlten die Voraussetzungen und Mittel. Das Land war groß und kalt, es mangelte an Infrastruktur und Bildung, neben einer eher kleinen Intelligenzelite gab es bäuerliche Strukturen bis hin zur Leibeigenschaft. Die Sowjetmacht hatte keinen Unterbau.

Revolutionen brauchen Zeit und müssen doch schnell gehen, weil sie abgesichert werden müssen. Gegner gibt es mehr als genug und auf allen Seiten. Wenn nichts funktioniert, wie geplant und erhofft und beschworen, werden Fehler gesucht. Wenn die Verhältnisse nicht so sind, macht man die Menschen für die Pannen und Versäumnisse und Fehler verantwortlich.

Victor Serge zeigt an mehreren Beispielen, wie diese Fehlersuche in den “Großen Terror” der späten Dreißiger-Jahre des letzten Jahrhunderts ausartet. Die Probleme werden den Menschen angelastet, nur sie können für die mangelhafte Logistik, die mangelhafte Bildung, die mangelhafte Organisation verantwortlich sein. Der Plan, die Partei, der Chef dürfen nicht infrage gestellt werden, sollte das Große und Ganze überhaupt weitergedacht werden können. Jeder konnte zum “Verschwörer” werden, ohne Vorwarnung, ohne Einsicht in die Vorwürfe und die Gründe des Versagens. Gerade der Partei treu Ergebene wurden des Verrats, der Sabotage, des Scheiterns verdächtigt. Serge zeigt die Menschen, die den umfassenden Unzulänglichkeiten zum Opfer fielen. Er zeigt ihre Angst, das Verschwinden zwischenmenschlichen Vertrauens, das Zerreißen von Familien. Wem darf man etwas erzählen, wen darf man etwas fragen, wem darf man heute, morgen noch trauen, kann er doch gestern schon verstoßen, deportiert, ermordet worden sein. Soll man ein “Verbrechen” gestehen, auch wenn man es nicht begangen hat, ja nicht einmal die Vorwürfe kennt? Wie kann man sich und die Angehörigen retten – ohne die Partei und mit ihr auch seinen Lebensentwurf und –inhalt zu de­s­a­vou­ie­ren?

Serge stellt die Willkür bloß, die Dummheit der Parteikader, die Hilflosigkeit der Einschätzung der Realität. Der “Fall Tulajew” ist exemplarisch, denn Tulajew wird eher versehentlich  ermordet. “Der junge Kostja aus Moskau gelangt in den Besitz eines Colts. Zufällig sieht er nachts Oberst Tulajew vom Zentralkomitee, mitverantwortlich für Massendeportationen und politische Säuberungen. Getrieben von dem Wunsch nach Gerechtigkeit fällt ein Schuss, Tulajew stirbt noch an Ort und Stelle. Kostja läuft durch den Schnee davon und entkommt, erleichtert und mit gutem Gewissen. Mit dieser Tat wird nun in dem repressionsgebeutelten Staat eine Lawine von Ereignissen ungeahnten Ausmaßes losgetreten.” (Klappentext)

»… du begreifst, daß man nirgends mehr die Alten lassen kann … wir haben nicht darüber zu entscheiden, ob das Politbüro sich irrt oder nicht …«
»Es irrt sich entsetzlich«, sagte Erschow.
»Dazu sag kein Wort! Kein Parteimitglied hat das Recht, so zu reden. Wenn man dich an der Spitze einer Division gegen japanische Tanks schicken würde – du würdest kein Wort sagen, du würdest marschieren, auch wenn du genau weißt, daß kein Mensch zurückkommen wird. Tulajew ist nichts als ein Zwischenfall oder ein Vorwand. Ich bin sogar überzeugt, daß nichts hinter dieser Geschichte steckt, daß er rein zufällig umgebracht worden ist. Du mußt aber dennoch zugeben, daß die Partei sich nicht vor einem Revolverschuß ohnmächtig erklären kann, der irgendwo hergekommen ist, vielleicht aus dem Grunde der Volksseele. Der Chef ist seit langem in einer Sackgasse. Vielleicht verliert er den Verstand. Vielleicht sieht er weiter und besser als wir alle. Ich halte ihn nicht für genial, ich halte ihn eher für borniert, aber wir haben keinen anderen, und er hat nichts als sich selbst. Wir haben alle anderen umgebracht, haben sie umbringen lassen, er ist der einzige, der bleibt, der einzig wirklich vorhandene. Wenn man auf Tulajew schießt, weiß er, daß der Schuß notwendig ihm gegolten hat, denn es kann gar nicht anders sein, es gibt nur ihn, den man hassen kann und muß … «
»Du glaubst?«
Ricciotti scherzte:
»Nur das Vernünftige ist wirklich, sagt Hegel.«
»Ich kann nicht«, sagte Erschow mühsam, »es geht über mei­ne Kraft … «
»Leere Worte. Wir haben keine Kraft mehr, weder du noch ich. Und was weiter?«
Die Hälfte der Büros in dem Gebäude, das sie durch das Fen­ster sahen, hatte sich geleert und war geschlossen. Rechts flamm­te Licht in den Stockwerken auf, wo man die Nacht durcharbeite­te … Das grüne Licht der Lampenschirme milderte die Dämme­rung. Erschow und Ricciotti erfreuten sich einer erstaunlichen Freiheit: Sie gingen in den Erfrischungsraum und wuschen sich das Gesicht, man brachte ihnen ein recht gutes Abendessen und eine Unmenge Zigaretten. Die Gesichter, die sie flüchtig sahen, waren beinahe freundschaftlich … Erschow legte sich auf das Sofa, Ricciotti ging im Zimmer auf und ab, setzte sich schließlich rittlings auf einen Stuhl.

Victor Serge – eigentlich Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch – ist nah bei seinen Personen und ihren Ängsten. Er begleitet sie auf Kutschfahrten in die sibirische Taiga, er besucht sie in ihren engen Wohnungen und Dienststuben, er spürt sie im spanischen Bürgerkrieg und im libertären Paris auf. Er fügt sie ein in die russische Landschaft, die dabei zum Handlungsträger wird. Auf 500 Seiten beleuchtet er viele Aspekte des Terrors, die 500 Seiten werden aber auch recht lang. Serge erklärt die “Säuberungen” nicht, auch wenn sich in den Personenreden Ansätze dazu finden. Die Personen aber sind befangen. Der Roman erschien 1948, als noch lange nicht alle Diskussionen um den Sinn und die Berechtigung der Morde entschieden waren.

Rublew goß sich ein ansehnliches Glas Wodka ein, das er auf einen Zug trank.
»Und du, Dora, du lebst doch jetzt seit sechzehn Jahren mit mir; glaubst du, daß ich zur Opposition gehöre? Ja oder nein?« Dora zog es vor, keine Antwort zu geben. Er sprach manchmal so zu sich selber und stellte ihr dabei mit einer gewissen Gier solche Fragen.
»Dora, ich möchte mich morgen betrinken; mir scheint, daß ich nachher klar sehen werde. Unsere Partei kann keine Opposi­tion haben: Sie ist ein Ganzes, weil wir Gedanken und Handlung zu einer höheren Wirksamkeit vereinen. Wir täuschen uns lieber gemeinsam, als daß wir gegeneinander recht haben, weil wir auf diese Art, im Interesse des Proletariats, mächtiger sind. Und es war ein alter Irrtum des bourgeoisen Individualismus, die Wahr­heit für ein bestimmtes Gewissen zu suchen, für mein Gewissen, für MICH. Wir pfeifen auf das ICH, ich pfeife auf mich selber, ich pfeife auf die Wahrheit, wenn nur die Partei stark ist!
»Welche Partei?«
Die beiden Worte, die Dora mit leiser, kalter Stimme aus­sprach, drangen just in dem Augenblick in sein Ohr, als der in­nere Pendel begann, nach der anderen Seite auszuschlagen.
»Gewiß, wenn die Partei sich verraten hat, wenn sie nicht mehr die Partei der Revolution ist, so ist das, was wir da tun, lächerlich und irrsinnig. Es ist genau das Entgegengesetzte von dem, was getan werden müßte: Und dann müßte jedes Gewissen sich ermannen … Wir bedürfen einer Einheit ohne den gering­sten Riß, um dem Ansturm der feindlichen Kräfte standzuhal­ten … wenn es aber gerade diese Einheit ist, mit deren Hilfe die feindlichen Kräfte wirksam sind …? Was hast du gesagt?«
Die Unrast trieb ihn quer durch das große Zimmer, seine knochige Gestalt war dauernd in Bewegung. Er erinnerte an ei­nen mächtigen, abgemagerten Raubvogel, der in einem recht ge­räumigen und dennoch zu kleinen Käfig eingesperrt ist. Dieses Bild gewann in Doras Augen Form, als sie jetzt antwortete:
»Ich weiß nicht.«
»Man müßte natürlich die Urteile revidieren, die zwischen 1923 und 1930, vor sieben bis zehn Jahren über die Opposition gefällt wurden. Wir haben uns also geirrt, und die Opposition hatte vielleicht recht; vielleicht, denn kein Mensch weiß, ob der Ablauf der Geschichte anders sein könnte, als er ist … Urteile über tote Jahre, beendete Kämpfe, überholte Formeln, auf die verschiedenste Art hingeopferte Menschen revidieren?«

Leseprobe beim Perlentaucher

Beschreibung, Leseprobe und Pressestimmen bei der Büchergilde

 Artikel über Victor Serge in der taz



Gasdanow
12. Januar 2013, 12:13
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Gaito Gasdanow:
Das Phantom des Alexander Wolf

gasdanowDer Erzähler trifft in den Wirren der Zeit nach dem ersten Weltkrieg im südlichen Russland auf einen Trupp Reiter, die sein Pferd erschießen. Er tötet einen Reiter durch einen gezielten Schuss und flieht mit dessen weißem Pferd. Er überlebt den Bürgerkrieg und emigriert nach Paris. Jahrzehnte später liest er ein Buch des Schriftstellers Alexander Wolf und findet darin diese Geschichte, geschildert aus der Sicht des Opfers. Es lässt ihm keine Ruhe, dass es einen überlebenden Zeugen dieser Episode gibt und er macht sich auf die Suche nach dem Schriftsteller. Zunächst wird er von dessen Verleger abgewiesen, macht aber über einen Freund schließlich die Bekanntschaft mit Alexander Wolf, dem „Phantom“. Sascha Wolf hat den Schuss überlebt, er hält auch das für Schicksal, für vorgegeben, er hat das in seiner Erzählung verarbeitet, das Thema lässt ihn aber nicht los.

»Zum Schah kam einmal sein Gärtner, in höchster Auf­regung, und sagte zu ihm: Gib mir dein schnellstes Pferd, ich möchte so weit wie möglich fortreiten, nach Isfahan. Gerade als ich im Garten arbeitete, habe ich meinen Tod gesehen. Der Schah gab ihm das Pferd, und der Gärtner sprengte nach Isfahan. Der Schah ging in den Garten; dort stand der Tod. Er sagte zum Tod: Weshalb hast du meinen Gärtner so erschreckt, weshalb bist du ihm er­schienen? Der Tod erwiderte dem Schah: Ich habe das nicht gewollt. Ich war erstaunt, deinen Gärtner hier zu sehen. In meinem Buch steht geschrieben, ich würde ihm heute Nacht weit von hier begegnen, in Isfahan.«
Nach einer Weile fuhr er fort:
»Ich kenne viele Fälle, in denen der Sinn einer solchen Bewegung sich besonders klar darstellt. Ich habe Ihnen von dem Schneider erzählt. Hier ein anderes Beispiel: ein russischer Offizier, erst war er im Weltkrieg, dann im rus­sischen Bürgerkrieg. Sechs Jahre verbrachte er auf vor­geschobenem Posten. Fast alle seiner Kameraden kamen um. Er wurde mehrfach verwundet, einmal kroch er, zwei Kugeln im Leib, unter Beschuss vier Kilometer weit. Viele Male entging er wie durch ein Wunder dem Tod. Doch er blieb am Leben. Dann war der Krieg zu Ende, er kam in das friedliche Griechenland, wo ihm, sollte man mei­nen, nichts gefährlich werden konnte. Zwei Tage nach sei­ner Ankunft ging er nachts durch den Vorort eines klei­nen asiatischen Städtchens, fiel in einen Brunnen und ertrank. Überlegen Sie doch – lohnte es sich denn, solch eine schreckliche Anstrengung, unter Beschuss wegzu­kriechen, dabei vor Schwäche ständig das Bewusstsein zu verlieren, lohnte es sich denn, so viel unbeirrbare Tap­ferkeit und so viel Heldenmut aufzubringen, um eines Nachts in einem Brunnen zu ertrinken, nachdem alle Ge­fahren überwunden waren?«
»Und Sie glauben, der Sinn all dessen, was existiert, sei letztlich dieser tödliche Fatalismus?«
»Das ist kein Fatalismus, das ist die Richtung des Le­bens, das ist der Sinn jeglicher Bewegung. Vielmehr, nicht der Sinn, sondern die Bedeutung.«

Wichtig für das Leben des Erzählers wird eine Frau, die seltsam schöne, rätselhafte Jelena Nikolajewna, Lenotschka. Sie bewundern sich gegenseitig, Jelena hält ihn aber merkwürdig auf Distanz, verweigert ihm vor allem Details aus ihrem bisherigen Leben, sie “hatte jahrelang ein interessantes Leben geführt, erfüllt mit überraschenden Ereignissen, Reisen, Begeg­nungen und einigen, wie sie sagte, »unvermeidlichen« Liebesaffären”. Jelena aber bleibt verschlossen.

Woher rührte ihre seelische Kälte? Ich wusste zwar aufgrund wiederholter Erfahrung, dass Charme oder Anziehungs­kraft einer Frau nur so lange auf mich wirkten, als in ihr etwas Unbekanntes blieb, ein unerforschter Raum, der mir die Möglichkeit – oder die Illusion – bot, stets von neuem ihr Bild zu erschaffen und sie mir vorzustellen, wie ich sie gerne gesehen hätte, und wahrscheinlich nicht, wie sie in Wirklichkeit war. Es ging nicht so weit, dass ich Lü­gen oder Hirngespinste einer offensichtlichen Wahrheit vorgezogen hätte, aber besonders tief gehendes Wissen barg zweifellos eine Gefahr in sich, dazu mochte man ge­nauso wenig zurückkehren wie zu einem gelesenen und verstandenen Buch. Zugleich war der Wunsch nach Wis­sen vom Gefühl stets untrennbar, keine Argumente konn­ten das ändern. Ohne diese innere und so deutliche Ge­fahr wäre mir das Leben womöglich zu flau vorgekommen. Ich war mir sicher, dass über einem bestimmten Zeitab­schnitt von Jelena Nikolajewnas Dasein ein Schatten lag, und ich wollte erfahren, wessen Augen ihren unbeweg­lichen Widerschein in Jelena Nikolajewnas Augen gefun­den hatten, wessen Kälte so tief in ihren Körper gedrun­gen war – und vor allem, wie und weshalb das geschehen war.

Schließlich drängt es Jelena zu erzählen, von einem “Mann”, dem sie auf besondere Weise verbunden war und der etwas mit diesem “Schatten” tun zu haben schien. Gasdanow deutet vieles an, sucht oder beschwört schicksalhafte Zusammenhänge, beschwert das Leben mit Sinn und Bedeutungen, die sich natürlich nicht sofort und nicht jedem erschließen. »In Europa gibt es nur ein Land, wo man tatsächlich verstehen kann, was Weite bedeutet, und das ist Russland.« Diese Weite kondensiert in den Seelen der Menschen, sie können ihr nicht entkommen, sie bleiben an ihr Schicksal gebunden, können es aber nur erahnen. Die Vergangenheit trägt die Gegenwart in sich, die Personen verfangen sich in Schlingen, die nur wie zufällig aussehen. Das trägt viel “Seele” und “Tiefe” in sich, dennoch bleiben die Protagonisten einfache Menschen: Reporter, Säufer, Spieler, Selbstzertörer. Gasdanow nennt das “Dasein”. Iris Radisch (ZEIT) nennt es “einen Stil, dessen Makellosigkeit entwaffnend ist“. Rosemarie Tietze hat das stilsicher übertragen. Die existenzialistische Tiefe der russischen Weite assimiliert die westliche Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit. Geschichte und Politik finden woanders statt.

Alles, was ich so gut und so lange kannte, alles hatte jetzt einen neuen, bisher nicht existenten Sinn bekommen, gerade als wäre es die Dekoration für das einzige und natürlich unübertreffliche Theaterstück, das menschliche Einbil­dungskraft hervorzubringen vermag. Es konnte so etwas wie eine Dekoration sein. Es konnte außerdem so etwas wie eine Art visueller Ouvertüre zu der anhebenden – und ebenfalls natürlich unübertrefflichen – Melodie sein, die von Millionen Menschen ich allein hörte und die sogleich erklingen würde, wenn die Tür im ersten Stock vor mir aufginge, eine Tür wie tausend andere und dennoch die einzige in der Welt. Mir schien damals – und alle meine Erfahrung, alles, was ich wusste, sah und verstand, alle Ge­schichten von Treubrüchen, Unglücken, Dramen sowie die tragische Unbeständigkeit alles Seienden waren zu schwach, dem etwas anzuhaben – mir schien damals, als sei geschehen, worauf ich mein Leben lang so vergeb­lich gewartet hatte und was kein Mensch außer mir selbst begreifen konnte, denn niemand hatte so gelebt wie ich und niemand kannte die Dinge in ebender Zusammen­setzung, die für meine Existenz charakteristisch war. Mir schien, als könnten mein Glücksempfinden und meine Auffassung von Glück nicht so umfassend sein, wenn in meiner Lebensgeschichte nur ein winziges Detail fehlte. Mir schien alles so vollkommen unbezweifelbar wie glei­chermaßen unwahrscheinlich zu sein.

1948      177 Seiten

 Wikipedia-Artikel über Gaito Gasdanow

 Leseprobe und weitere Infos beim Hanser-Verlag

 traui hat die Handlungslinien kurz zusammengefasst

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Pelewin
21. November 2009, 21:04
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Viktor Pelewin:
Das fünfte Imperium: Ein Vampirroman

Kein Buch für mich. Pelewin, heißt’s, ist ein Kultautor, einer der erfolgreichsten russischen. In den Beschreibungen und im Klappentext steht, es sei oberflächlich ein Vampirroman, die zwei wesentlichen Künste, die ein Vampir in Vollendung beherrschen sollte, seien „Glamour und Diskurs“. „Und was sich daraus ableitet, ist Macht.“ – Das hört sich modern an. Eine Abhandlung über das neue, mit glamourösem Lack überzogene, innerlich in seinen Machtstrukturen gleich gebliebene Russland, versetzt mit einem Schuss Diskurs – das hätte mich schon interessiert. Gelesen aber habe ich eine verschnörkelte, endlos zerdehnte Geschichte über die Ausbildung eines jungen Mannes zum Vampir, wobei mir junger Mann und Vampir gleichgültig geblieben sind. Anspielungen gibt’s zuhauf, worauf sie anspielen, weiß ich nicht, vielleicht auf russische Zustände, vielleicht auf die Modernität der Welt, vielleicht auf nichts. Literatur als Selbstzweck, möglicherweise selbstreferenziell, vielleicht auch hohl. Jedenfalls kommt mir das so vor. Es kann ja auch sein, dass mir die nötige Bildung fehlt, kann sein, auch die Jugend. Da sich nichts getan hat, hab ich auf Seite 200 (immerhin!) aufgehört zu lesen. Von Glamour oder gar Diskurs war immer weniger zu finden.

 Ich hatte zu dem Zeitpunkt schon Termini und Konzepte in ausreichender Zahl geschluckt, um das Gespräch auf passablem Niveau fortführen zu können.
» Wie ließe sich dann das zentrale Ideologem des Glamours formulieren?«, fragte ich.
»Ganz einfach«, sagte Jehova. »Verkleidung! Verkleidung?
»Jawohl. Wenn man den Begriff etwas weiter fasst. Verkleidung meint auch den Umzug von der Kaschirka auf die Rubljowka und von da nach London, die Verpflanzung der Haut vom Gesäß ins Gesicht, den Geschlechtswandel und alles so etwas. Auch der ganze zeitgenössische Diskurs lässt sich als Verkleidung sehen – beziehungsweise als permanente Neuverpackung der paar Themen, die für die öffentliche Diskussion zugelassen sind. Darum sprechen wir davon, dass der Diskurs eine Spielart des Glamours ist, und ebenso umgekehrt. Kapiert?
»Klingt nicht gerade romantisch« , sagte ich. »Was dachtest denn du?«
»Ich dachte, Glamour verheißt Wunder. Sie sprachen selbst von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Zauberei. Ist es nicht das, was man sich davon verspricht?
»Glamour verheißt Wunder, so ist es«, sagte Jehova. »Und diese Verheißung maskiert den Umstand, dass das Leben ganz ohne Wunder vonstatten geht. Verkleidung und Maskerade sind mehr als nur Technologie, sie sind der einzige reale Inhalt – von Glamour ebenso wie von Diskurs.
»Glamour kann die Verheißung des Wunders also unter keinen Umständen einlösen?
Jehova dachte einen Moment nach.
»Doch, unter Umständen schon.«
»Welchen?«
»Na, zum Beispiel in der Literatur. «
Das erstaunte mich. Literatur hätte ich für die unglamouröseste Veranstaltung gehalten, die man sich vorstellen konn­te. Und Wunder hatten dort, soviel ich wusste, schon seit Jahren nicht mehr stattgefunden.
»Der Schriftsteller von heute«, erklärte Jehova, »wenn er einen neuen Roman abschließt, verbringt ein paar Tage über einem Packen Hochglanzjournale und platziert in seinem Text eine Anzahl teurer Auto- und Krawattenmarken sowie Restaurants, was dem Buch einen gewissen High-Budget­Abglanz verleiht. «
Ich erzählte Baldur davon und sagte: »Jehova sieht darin ein Beispiel für ein Glamourwunder. Was ist daran wunder­bar? Das ist doch eine triviale Maskerade.«
»Du hast noch nicht verstanden«, sagte Baldur. » Das Wun­der vollzieht sich nicht am Text, sondern am Autor. Anstelle des Ingenieurs der menschlichen Seelen haben wir nun einen zum Nulltarif arbeitenden Werbeagenten. «

Die Popromane verraten sich schon auf den Büchertischen. Mit grobem Pinsel aufgeschriebener Titel, diesmal auf blutrotem Cover. Vorsicht. Stellenweise geschwätzig.

2006         400 Seiten

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Ulinich
27. September 2009, 12:14
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Anya Ulinich: Petropolis

Sascha starrte auf den Boden. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Laut Ljubow Goldberg waren Berufsschulen im Allge­meinen etwas für den Pöbel und Model-Schulen das Aller­schlimmste, denn da geht der Pöbel hin, der auf den Strich will. Kinder der Intelligenzija gehen überhaupt nicht nach der ach­ten Klasse von der Schule ab. Selbstverständlich hatte Sascha weitere zwei Jahre Nr. 13 auszuhalten und dann aufs Gymnasium zu gehen. Vorzugsweise in Moskau, Sankt Petersburg oder we­nigstens Krasnojarsk. Ljubow Goldberg bestand darauf, dass Sascha eine Zukunft hatte, und Sascha war jetzt schon sicher, in ein paar Jahren an den Granitfassaden irgendeiner Großstadt entlangzuschleichen, auf Erfolg getrimmt kraft der Entschlos­senheit ihrer Mutter. Dass jemand in ihrem Alter sich seine Zu­kunft selbst erschaffen musste, der Gedanke war Sascha Gold­berg nie gekommen.

»Und was ist mit NACH DEM ESSEN -?«, fragte sie leise. »Gehst du da weg?«
Die Tonnentür ging auf, und ein Mann sackte zu Boden.
“Oj!”,schrie Sascha auf und sprang zur Seite.
Der Mann hievte sich auf die Knie und sackte wieder hin, dies­mal mit dem Gesicht in den Matsch. Wie das wohl klingt, wenn die Wange aufklatscht, dachte sie, und Bruchteile von Sekunden später hörte sie es.
»Siehst du? Ich halt das nicht mehr aus.« Katja stieg über die Beine des Mannes und drückte die Tür auf. Die Feier drinnen lag in den letzten Zügen, das Gelächter ging über in Gejammer und gezischtes Gefluche.
»Mama!<-, schrie Katja. »Da draußen liegt Onkel Vadim. Sag Aljoscha, er soll ihn reinholen, bevor ihr ins Bett geht! Ich bring Sascha zum Bus!«
Keine Antwort. Katja begleitete Sascha zurück zu dem Weg.
Im Dunkeln sah der Schrottplatz aus wie die Titanic auf dem Meeresgrund.
»Wie spät ist es eigentlich?« Sascha fing an, sich Sorgen zu machen.
»Viertel nach zehn ungefähr.« Katja sah hoch.
»Woher weißt du denn das?«
»Von den Sternen«, sagte Katja. »Hat mir Alexei letztes Jahr beigebracht. Geht leicht hier, die Strommasten sind wie Uhrzei­ger, die zeigen zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Sterne. Wenn man Stromleitungen lange genug anstarrt, kann man ’ne Menge lernen.«
Sie liefen zusammen den Hügel hinunter zur Bushaltestelle. Sascha Goldberg hatte noch nie etwas lange genug angestarrt und eine Menge dabei gelernt. Aber jetzt, beim Duft von fri­schem Gras und Nachtluft, spürte sie eine Verbindung zu einer Welt, die komplett außerhalb lag.

 Sascha Goldberg lebt mit ihrer Mutter Ljubow in Asbest 2. Es ist kalt oder heiß und überall schlammig. Sie will raus, aber in Asbest 2 gibt es keine Perspektive und die Kunstschule ist schlecht und die Uni weit weg. So lässt sie sich von einem Amerikaner per mail-order heiraten und schon ist sie in ihrer Traumwelt, in die auch ihr Vater geflohen ist. Saschas Vater ist Afrikaner, sie hat von ihm ihre Hautfarbe und ihre krausen Haare, und Jüdin ist sie auch. Und etwas fester.

Anya Ulinich erzählt abwechselnd von Asbest 2 und von Saschas Erlebnissen in den USA, wobei auch das Glitzerland nicht besser abschneidet. Ist das Gelände am Polarkreis bodenlos, so zeigt sich Amerika als oberflächlich glatt, eine Welt, nur durch Kaufen auszuhalten. Sascha holt ihre Tochter Nadja, die jetzt sieben ist und die sie als Siebzenjährige bekam und in Asbest 2 bei ihrer Mutter zurückließ, schließlich nach Amerika nach. Nadja kapiert schnell: „Ich wihl Rucksack, was ihst glänzend!

Das Buch ist witzig, lakonisch, oft skurril. Man erkennt reale Klischees aus dem heutigen Russland und erfährt in Saschas subjektiver Sicht auch einiges über das Leben von Immigranten und sonstigen Überlebenswilligen in den ebenso gottverlassenen USA. Natürlich ist es ein Adoleszenzroman. 

2-

2

2007     420 Seiten

http://www.perlentaucher.de/buch/30762.html



Sloterdijk
13. September 2009, 16:32
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Iwan Gontscharow: Oblomow

&

Peter Sloterdijk: Du musst Dein Leben ändern

Der wichtigste Satz steht fast am Ende:

Die Vernunft der Nationen erschöpft sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Titanic zu erhalten.“

Als Resultat der 700 Seiten bleibt ein großer Kultur-, Menschheits- und Weltpessimismus. Der Zusammenhang mit den zuvor detailliert vorgestellten „Anthropotechniken“ ist da, scheint mir aber doch nicht stringent genug.

Lange lange erzählt Sloterdijk über Anspruch und Erfüllung der „Vertikalspannung“  – von Rilke (Titel) über Nietzsche und andere amputierte Virtuosen über Heidegger zur Russischen Revolution mit vielen Ein- und Ausblicken zu östlichen Erhebungstechniken. Das betrifft meist sezessionistische Übungen der Einzelnen, die sich übend aus ihren Basislagern erheben, schließt aber auch biopolitische Wahnideen der russischen Oktoberrevolution mit ein.

Eingebettet in die zentrale Erzählung vom Besser-Werden der Menschen als Einzelner oder als Kollektiv gibt Sloterdijk im letzten Kapitel einen betont defaitistischen zornigen Ausblick. (Der durchaus in Schulbüchern stehen sollte.) Gerade auch der Schule attestiert Sloterdijk eine gewaltige Implosion/Erosion. Dazu demnächst Anmerkungen in der Kategorie SCHULE.

Leider finde ich zu wenig über die gegenwärtigen Bedingungen und Methoden des life-designs. Aber das war wohl nicht Thema der Ethikgeschichte.

Beim Lesen werde ich schnell müde, weil Thema und Stil doch hohe Anforderungen stellen. So weiß ich auch nicht, ob ich wirklich etwas richtig verstanden habe. Sloterdijk machts eigentlich modern: Er spricht von Trainern, Mikroklima, Achsenzeiteffekten oder Athletismus. Aufgeschäumte Gedanken machen auch ein dickes Buch.

Ein Textbeispiel:

Diese Figur einer von Eigentätigkeit unterspannten Passivität wäre als die für die Moderne konstitutive Ausprägung von »Gelassenheit« zu kennzeichnen, falls es gelänge, die pietistischen Konnotationen des Ausdrucks fernzuhalten. Gelassenheit meint Passivitätskompetenz – sie ist die kleine Münze des Könnens, das größere Passionen trägt. Sie kommt in Situationen zum Zuge, in denen das Subjekt bereit und willens ist, die Position eines Klienten einzunehmen, um vom savoir faire des operanten Partners zu profitieren. Sie ist daher eher ein Modus von Klugheit als das moderne Substitut für Weisheit, das Heidegger in ihr sehen wollte. Wir erinnern uns: Der Philosoph hatte »Gelassenheit« empfohlen, damit der vom eigenen Tunkönnen benommene Mensch der Moderne sich erneut der Behandlung durch das Sein selbst aussetze. In Wahrheit gehört das passivitätskompetente Verhalten zur Spielintelligenz von Menschen in einer entfalteten Netzwelt, in der man keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht zugleich mit sich spielen läßt. Gelassenheit in diesem Sinn ist untrennbar vom Selbstverständnis erfahrener Akteure, für die die philosophische Schimäre des Subjekts, das in der Mitte seiner Handlungskreise residiert, verblaßt ist, besser: ihren Gebrauchswert als diensthabende Selbstbeschreibung verloren hat.“

Das liest sich schön bzw. man freut sich, dass man selbst etwas versteht, es lässt sich natürlich auch fragen, ob der Schreiber seine Thesen und Erzählungen auch mit etwas weniger Selbstverliebtheit im Stil hätte gestalten können. Knapper wäre es sicher gegangen.

Raine Maria Rilke:     Archaischer Torso Apollos

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,

darin die Augenäpfel reiften. Aber

sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Sturz

und flimmerte nicht wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.

(aus: Neue Gedichte, 1907)

Oblomow verlässt den Horizont seines Sofas nicht. Er kennt und duldet keine Vertikalspannungen. Sein Basislager ist ihm genug; sein Name ist Synonym für die Abstinenz von irgendwelchen Bestrebungen. Leider kommt Oblomow bei Sloterdijk nicht vor. Er könnte auf jeder Seite als Musterbeispiel dessen gelten, der sein Leben NICHT ändern will.

Der Roman von Iwan Gontscharow stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Oblomow lebt in den alten Zeiten; er ist Besitzer eines kleinen Dorfes mit einigen Bauern, die seinen Lebensunterhalt so einigermaßen sichern. Im zweiten Teil des Romans wird dann doch Vertikalspannung an ihn angelegt. Sein deutscher Freund Štol’c zerrt und drängt ihm Veränderungen auf: Reisen, Fortschritt, Eigentätigkeit. Oblomow bleibt liegen. Stolz setzt Olga auf ihn an. Sie soll ziehen. In Anflügen von Liebe verlässt er das Basislager für kleine Spaziergänge, doch will er sich nicht vordrängen. Er ist ein guter Mensch. Sein Sofa ist sein Paradies. Es gibt keinen Grund, das Paradies zu verlassen. Und so fällt er wieder zurück in das, was Štol’c resiginerend „Oblomowerei“ nennt. (обломовщина – oblomowschtschina).

700 Seiten, gut zu lesen, interessant weniger wegen der feingeistigen, aber letztlich doch nervenden Figur Oblomow als wegen der Beschreibung des Wandels der russischen Gesellschaft von einem den Fortschritt hemmenden, verkümmerten Adelsparasitentum zu zumindest einer Idee von selbstaktiver Lebensänderung.

Den Roman gibt es hier auch im Internet: Gontscharow: Oblomow