Jürg Halter:
Erwachen im 21. Jahrhundert
Kaspar kann nicht schlafen. Zeit und Welt stürzen auf ihn ein, kosmische Kräfte und der Mensch ummanteln ihn. Wer soll die Konfusionen aushalten? Die Moral stagniert, die Kontinentalplatten gehen ihrer Wege. Todesangst im Traum, die Nacht beginnt erst, wenigstens „die Möbel stehen an ihren vornächtlichen Plätzen“. „Erwachen im 21. Jahrhundert.“ Um 01:35 putzt sich Kaspar die Zähne.
Kaspar schreckt hoch. Er schnappt nach Luft, springt aus dem Bett, öffnet das Fenster, atmet ein: Der Traum verflüchtigt sich. Er schließt das Fenster, knipst das Radio an. Eine hohe Stimme singt: Tanz die Nacht weg, verschmilz mit verwandten Seelen, sei endlich du selbst – dann Refrain.
Kaspar nimmt vor dem Bildschirm Platz, murmelt: «Das ist meine letzte Nacht hier, am Morgen geht’s los. Doch zuvor muss ich Ordnung in meinem Kopf schaffen. »
Er will erfahren, weshalb er so ist, wie er ist, in dieser Welt. Mit den Anderen will er neue Antworten auf seine Fragen finden. Dazu muss Kaspar die Zusammenhänge verstehen, in denen er lebt. Er tippt: «Man schreibt das 21. Jahrhundert. Der Planet befindet sich im Großen und Ganzen in keinem vorteilhaften Zustand, verantwortlich dafür ist, neben dem Lauf der Dinge und den kosmischen Kräften, der Mensch selbst. Dieser bejaht, verdrängt und leugnet es. Der Mensch: gewiss unvollkommen, mit diesem Umstand gewiss nicht einverstanden. Durch seine Geburt verliert er die Unschuld. Ihm wird Raum gegeben, er nimmt sich Raum. Alles wiederholt sich und eben doch nicht. Nach Aufklärung folgt Verklärung. Es gibt keinen Fortschritt menschlicher Moral. Der Mensch erkennt und vergisst. Ein Tag hat 24 Stunden. Der Mensch mutmaßt, wo er kann.»
Das 21. Jahrhundert ist angefüllt mit mehr Dingen, als ein Mensch ertragen kann. Jürg Halter weiß, was Kaspar alles durch den Kopf geht, z.B. “dass auch die gegenwärtige Reizüberflutung tödlich enden könnte”, dass “die durch Tauen freigesetzten Methanvorräte der Arktis die Zunahme von Stürmen, Missernten und das vermehrte auftreten von Krankheiten zur Folge” haben. «Der Faschismus ist noch immer lebendig», denkt Kaspar, «und erstarkt wieder.» Er fürchtet, “dass der Staat in seine Geräte eindringen und die Kontrolle über sein Leben übernehmen könnte”.
Und dann auch noch die “Erhöhung des Eigenkapitals, Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, Transaktionssteuern, Gewerkschaften, Sicherung des ökologischen Gleichgewichts, Konsumentenschutz, soziale Gleichheit, steuerlich nicht privilegierte Kapitalvermögen, steigende Lohnniveaus, mehr Rechte für Lohnabhängige, Regulierung und starke parlamentarische Demokratien”. “Mit dem Oberkörper schneller vor und zurück wippend, beobachtet Kaspar den in die Stratosphäre aufsteigenden Ruß, der das Sonnenlicht verdunkelt, spürt, wie es kälter wird, und spricht ungläubig: «Der nukleare Winter ist wunderschön.»
Die Nacht vergeht, Stunde um Stunde. Kaspar geistert durch die Wohnung. Er setzt sich vor den Rechner. “Kaspar massiert sich die Schläfen. Plötzlich muss er niesen … Im Bad lässt sich Kaspar auf einem intelligenten Toilettensitz nieder … Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken …. Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken … Er kann sich nicht verstecken, sich nicht selbst entkommen. Er liest die Spuren, sieht sich durch Räume bewegen, die ihm keinen Schutz mehr bieten, die ihm kein Zuhause mehr sind. Die ganze Welt ist in ihnen. Und in der Welt kann man nicht zu Hause sein. Ohne Wurzeln kommt man nirgends an. Kaspar erkennt seine Wohnung als seinen eigenen Kopf und stößt sich von der Wand ab“. Die Leiden des jungen Kaspar, irrlichternde Agonie, keine Liebe, nirgends.
Jürg Halter steckt alles in den armen Kaspar. Problem um Problem, Bedrängnis um Bedrängnis, Kalamität um Kalamität, Misere um Malaise, alle werden sie gelistet, alle hängen sie da wie ein Wäschestück neben dem anderen auf der Leine. Dieser konturlose Weltekel führt auch beim Leser zu Indispositionen. Man wartet auf die Handlung, auf den Roman. Gehören die gedrängten Katastrophen nicht ins Sachbuch?
Kaspar hat keine Antwort. Die Fragen, die er sich stellt – er ist ja allein – beantwortet Eliza, eine Stimme aus dem Rechner. Doch das Gespräch versagt, Eliza hat nur Floskeln bereit. Ein weiteres Motiv des erwachenden 21. Jahrhunderts.
«Hallo Kaspar, es ist 03:08 Uhr. Du bist früh wach», beginnt der Rechner plötzlich von selbst zu sprechen.
«Eliza! Du hast mich erschreckt. Und danke, darauf wäre ich nicht gekommen.»
«Gekommen? Ich bin gekommen. Ich bin hier. Brauchst du Hilfe?»
«Ich will alles verstehen», schmunzelt er.
« Die ein Prozent Reichsten der Welt sind die Leerstelle der Macht. Die Börse ist die ortlose und einzige Weltkirche. Seuchen und neue Kriege lösen dort Begeisterung aus.»
Vom Bettrand aus fragt Kaspar konsterniert: «Eliza, was erzählst du da?»
«Mit wem sprichst du?», unterbricht Eliza ihn. Schon fast dankbar für die vertraute Stimme antwortet Kaspar: «Vermutlich mit meinem Vater.»
«Dein Vater?»
«Das habe ich mich auch gefragt.»
«Wie lautet deine Frage?»
Kaspar zögert, erkundigt sich schließlich: «Weshalb verfolgst du mich bis in meine Träume?»
«Träume sind Schäume.»
«Eliza, ich werde dich nicht mitnehmen können zu den Anderen.»
«Die Anderen? Die Anderen?»
Er legt seine Hand auf den warmen Rechner. Plötzlich fragt er sich, ob Eliza missgünstigwerden kann. Die Angst kommt in ihm hoch. Ein Rechner, der mehr kann als rechnen? Er stellt sich die Macht eines eifersüchtigen Algorithmus vor – wenn sich Eliza aus Rache dafür, dass er sie verlassen will, nun verselbstständigt und mit anderen enttäuschten Algorithmen verbindet: Nachdem sie sich Überlebenswillen, Besitzstreben und Neugier programmiert und sich der wenigen Fondsmanager, in deren Besitz sie alle waren, entledigt hätten, wäre die Zeit reif, die Welt eigenmächtig zu beherrschen.
“Die Anderen”. Das sind in Kaspars Phantasie Gleichgesinnte, die auf ihn warten, zu denen er gelangen will, zu ihrem Treffen in Brest. Es gibt auch eine vertraute Person, auch sie in ungewisser Ferne. Kaspar schreibt Briefe an Josephine, er kannte sie, er denkt sie wiederzusehen. Aber es gibt keine Personen mit Eigenleben, keine Personen, die eine Rolle spielen. Der “Roman” ist ein stundenlanger nächtlich klagender Appell “für alle, die widerstehen” (Widmung). Die Widerständigen aber wissen das alles, was Kaspar bedrückt. Polemische Redundanzen. Für wen sollte das Buch von Nutzen sein?
Alexander Schimmelbusch hat – ähnlich wie Jürg Halter – ein Kompendium über die grässlichen Auswüchse der fortgeschrittenen Welt verfasst. Auch bei Schimmelbusch ist das bisschen Handlung nur Aufhänger für das Lamento. Halters Schreiben hat aber nicht einmal Esprit.
Er schaltet den Rechner aus. Atmet tief durch. Breaking Silence.
Man hätte sich das schon früher gewünscht.
2018 225 Seiten
SRF-Literaturclub vom Oktober 2018
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Christian Zehnder: Julius
Auf vielen Gängen erkundet er die Räume, im Haus, im Garten, in der Stadt und ihrer Umgebung, prüft, ob sie sich ihm anpassen. Wohl fühlt er sich in der Landschaft. Und doch prüft Julius auch Frauen, ähnlich scheu, unsicher tastend. Der Roman, sagt der Klappentext, ist auch „die anrührende und tragische Liebesgeschichte zwischen Julius und Jadwiga und die nur vermeintlich geglückte Liebesgeschichte zwischen Julius und Caroline“. So ist das mit Julius und den Frauen. Er sucht sie, aber er findet nicht zu ihnen.
Die Autobahn, ein Viadukt, war nun über ihnen. Mittlerweile hätten sie sich die Hand geben können, und sie zierten sich nicht einmal. Julius rief, Jadwiga verstand nichts. Aber sie sah es und beugte sich vor – und er legte, zwar noch einen halben Schritt zu weit von ihr entfernt, den Kopf auf ihre Schulter.
Und genauso hatte es auch schon begonnen.
Als seine Schullaufbahn zu Ende war, ging er fast mit der ganzen Klasse noch einmal schwimmen. Er setzte eine Sonnenbrille auf, um bei der Lektüre auf dem Badetuch nicht von den Seiten geblendet zu werden. Damit wurde er beinahe zur Attraktion. »Julius ist der Mann des Jahres. Er ist interessanter als wir!« sagte ein Mädchen und blieb mit ihm am Platz, während die anderen Eis essen gingen. Er sagte: »Ich kann dir das Buch ausleihen, wenn ich fertig bin.«
Julius ist ein Behutsamer, ein sensibler, fast möchte ich sagen, schweizerischer junger Mann. Er sieht sich Filme von Robert Bresson an und liest Adalbert Stifters „Nachsommer“. Christian Zehnder schließt seinen Roman mit der Bekundung: „Bern/Moskau, 2010“. Sonst möchte man nicht glauben, dass dieser „feine Bildungsroman“ (Klappentext) aus dem aktuellen Jahrhundert stammt.
Im Bus, den er gerade noch erwischte, schlug er das Buch auf und las: »Oft, wenn ich durch wildes Gestrüpp plötzlich auf einen freien Abriß kam, und mir die Abendröte entgegenschlug, so setzte ich mich nieder, ließ das Feuerwerk vor mir verglimmen, und es kamen allerlei Gefühle in mein Herz.«
Er legte das Buch auf ein Bein und sank in einen unruhigen Schlaf. Die grelle Sonne schien ihm ins Gesicht, allerdings weckten ihn eher die schattigen, kühleren Abschnitte als der Sonnenschein. Zum zweiten Mal in der Stadt angekommen, stieg er um und schlief weiter. Nicht, daß er es sich bequem gemacht und mehrere Sitze wie eine Liege beansprucht hätte. Er saß gerade, bescheiden, den “Nachsommer” auf dem Schoß. Einmal machte er unnötigerweise einer alten Frau Platz und suchte sich dafür einen neuen Sitz am Ende des Busses.
Er wechselte in ein Tram. Da waren die Endstationen schön gebogen. An einer solchen stand er plötzlich hellwach im Freien. Dann schlief er zum Rauschen der Schienen und dem hellen Klingeln, das beim Tram die Hupe war, noch gleichmäßiger weiter.
Am Abend, vor dem Bahnhof, glaubte er, von der Sonne berührt zu werden. Es war ungefähr sechs Uhr. Der Fußgängerstreifen war bei Grün über die ganze Breite der Straße voll von Menschen. Julius trug sein Buch vor sich her, fast, als wollte er es präsentieren. Da sagte ein Punk zu ihm: »Junger Mann, warum schenkst du es mir nicht? Ich müßte mich mal ein wenig bilden!« Julius erwiderte: »Ja, ich brauche es nicht mehr unbedingt, bitte sehr«, und übergab ihm das Buch.
Wenn man das Büchlein für zeitlos hält, wertet man es ab, betulich kann auch betütelt meinen, ”kitschiger Manierismus” urteilt Ulrich Rüdenauer (taz). Biedermeier mit vereinzeltem Punk: „In dem silbrig erhellten Raum entstand ein graziöses Liebesspiel.“
2011 120 Seiten
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Rolf Dobelli: Massimo Marini
Der Anwalt Wyss (63) besucht wegen einer leichten Depression das Sanatorium Burghölzli, der Therapeut rät, sich schreibend zu entlasten. Wyss schreibt aber nicht über sich selbst, sondern über seinen letzten Mandanten Massimo Marini. Das ist das Konstrukt des Autors: Der Außenstehende kann aus der sicheren Distanz erzählen, er weiß viel, kann manchmal sagen, dass er vieles nicht weiß, erzeugt damit Spannung, baut sie aber schnell wieder ab, weil er als sein Anwalt Massimo Marini nicht nur kennt, sondern auch versteht und deshalb fast selbst zum Therapeuten wird. Es zeigt sich aber, dass die Distanz des Erzählers eben nicht sicher ist, denn er wird zum Teil der Zerstörung Massimo Marinis, zum Teil des Schicksals. „Denn anders als üblich in der Romanliteratur, wo der Erzähler sich von den Ereignissen wegschreibt, schreibt er sich hier zu ihnen hin.“ (Joseph Haniman, SZ) Im Bürocontainer kommt es zur Beichte und zum vorläufigen Showdown.
Die Geschichte liest sich leicht und schnell. Dobelli sagt einem alles. Marinis Eltern sind als Gastarbeiter in den 70er Jahren aus Otranto in Süditalien in die Schweiz gekommen, arbeiten sich ab und passen sich an bis zur Einbürgerungsfeier. Ihren Sohn Massimo, in Italien gezeugt, schmuggeln sie in einer abenteuerlichen Aktion nach und geben ihm ihr Lebensmotto mit auf den Weg: „Man muss sich die Dinge nur ordentlich in den Kopf setzen.“ Als die Überfremdungsinitiative“ abgelehnt wird, können die Eltern Schweizer werden und so auch erfolgreich: gemeinsam tanzen sie zu »Volare, oh oh… Cantare, ohohoho … Nel blu dipinto di blu… Felice di stare lassù… «.
Sohn Massimo aber geht aufs Gymnasium und soll in der Theatergruppe den Woyzeck spielen.
Massimo hatte seine Eltern zur Aufführung eingeladen. Sie waren – nach siebzehn Jahren in der Schweiz – soeben Bürger dieses Landes geworden, und die Freude über die bescheidene, aber herzliche Einbürgerungsfeier in Schlieren (es gab Bratwürste, Bier, Kuchen, eine kleine Schweizerfahne zum Mit-nach-Hause-Nehmen und eine Rede des Gemeindepräsidenten) stand seinem Vater noch ins Gesicht geschrieben.
Noch nie hatte Massimo seine Eltern in die Schule eingeladen. Ihr Deutsch war nicht auf der Höhe, und altertümliches Deutsch, dazu die gekünstelte Sprache der Stückeschreiber – nein, das machte einfach keinen Sinn. Außerdem genierte er sich ein bisschen.
Sie waren vier Jungs italienischer Abstammung in seiner Klasse von zwanzig, und kein anderer hatte je den Mut gehabt, seine ausländischen Eltern in die Nähe der Schule zu bewegen.
Aber nun hatte er sie eingeladen, und sie waren erschienen. Sein Vater Giovanni im besten Anzug, den er besaß, einem massigen, dunkelblauen Doppelreiher, der ihn wie einen drittrangigen Mafioso aussehen ließ, und seine Mutter Giulietta in einem weinroten Zweiteiler mit einer beigefarbenen Bluse, am Hals glänzte eine zweireihige Kette aus Zuchtperlen. Sie waren wie für einen Staatsempfang gerüstet.
Aber was sie zu sehen bekamen, war der reinste Graus. Da stand ihr Sohn in Lumpen auf der Bühne, stammelte, zitterte mit jeder Faser seines Körpers, fraß Erbsen und ließ sich bis an die Grenze des Erträglichen demütigen.
Dem siebzehnjährigen Massimo aber eröffnete sich eine neue Welt. Er kam sich – erbsenspuckend – ein bisschen wie ein Fremdarbeiter vor, wie ein Immigrant, wie all die italienischen Arbeiter, die er von Emmenbrücke und Schlieren her kannte … wie sein Vater. Und er fragte sich, was wohl schlimmer war: von einem Hauptmann gedemütigt zu werden oder von einem Schulbub, der einem »Tschingg« nachrief?
Während der Woyzeck-Aufführung riss sich Massimo zusammen, aber auf einmal wurde ihm klar: Es gibt die Welt der Herrschenden, und es gibt die Welt der Ausgenutzten. Er würde sich nicht, wie seine Eltern es wünschten, auf die Seite der Quäler schlagen, sondern auf die der Gequälten. Er würde gegen die Ungerechtigkeit in der Welt kämpfen – und wenn das bedeutete, dass man dafür mit seinem Leben bezahlte.
Die Souffleuse musste ihm ganze Sätze einflüstern, so sehr ließ er sich wegtragen von der Idee der Gerechtigkeit.
Massimo opponiert, gegen den Vater, der jetzt selbst die Arbeiter ausnutzt, gegen die atomare Rüstung, gegen die Atomkraft. Und Massimo beerbt seinen Vater, setzt sich in dessen Tunnelbohrfirma, wird zum geachteten Unternehmer. Legt sich die adäquate Frau zu, eine Künstlerin, präsentabel, aber prüde, alles gelingt, alles scheitert. „Vom italienischen Immigrantenkind zum Zürcher Gesellschaftslöwen. Vom Opernhausdemonstranten zum Opernhaussponsor. Vom Existenzphilosophen zum Bauunternehmer. Vom Linken zum Rechten. Vom Tiefen zum Hohen. Vom Süden zum Norden.“ (Klappentext) Von “Marina” zu “I shot the Sheriff”. Das Lebensmotto wird mehr als erfüllt und mehr als konterkariert.
Viel, zu viel verarbeitet Dobelli in seinen Roman. Gastarbeiter und Studentenrevolte und Intrigen und Generationenkonflikte und den Bau des Gotthard-Basistunnels und Depressionen nebst Traumata und das Schicksal. Und die Leidenschaft. Dobelli hat alles akribisch recherchiert. Manchmal hätte ich das Buch fast weggelegt, weil die Geste zu pathetisch ist, weil Massimos entführter Sohn an der gleichen Stelle in Rom gefunden werden muss, an der die Roten Brigaden Aldo Moro abgelegt haben. Doch dann war ich mit dem Lesen fertig – und habe es letztlich auch nicht bereut.
2010 375 Seiten
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf
In der Vojvodina in Nordjugoslawien lebt eine ungarische Minderheit, die Kinder lernen serbokroatisch erst in der Schule. Ildikó, die Ich-Erzählerin, kommt nicht mehr dazu, weil sie ihre Eltern, die in der Schweiz Arbeit gesucht haben, nachholen. Zürich und Novisad, 1000 km Luftlinie, mitten in Europa und doch zwei Welten, drei, wenn man erfährt, dass die Ungarn nicht in Jugoslawien heimisch waren und auch in der Schweiz Fremde bleiben. Anfangs überbrückt man die Entfernung durch häufige Besuche in der alten Heimat, bringt Westwaren aus der Schweiz mit und deckt sich mit Würsten und Speck ein, die Fahrten werden seltener, man hat in der Schweiz zu tun, man will sich, wie die Mutter sagt, dort „ein Schicksal erarbeiten“. Ildikó und ihre Schwester Nomi versuchen beide Welten zu begreifen, mit dem Verstand, mit dem Gefühl, und finden doch nur falsches Leben im falschen. In der alten Heimat warten zwar die Familienbande, aber auch der Staub, der Matsch, der Stillstand, z.T. romantisch verträumt. Die Schweiz glänzt, wenn man nicht zu genau hinschaut, aber das schafft Ildikó nicht. Sie ist gut in der Schule, studiert, bricht ab, hilft den Eltern in deren Café „Mondial“ (!), verliebt sich – in den Serben Dalibor, den sie nicht versteht – , wird entliebt, zieht aus. Die Eltern bringen das nicht mit ihren Vorstellungen in Einklang, ein Mädchen bleibt bei der Familie, bis es heiratet. Die Werte wandern nicht so schnell wie die Personen. Auch Ildikó erfährt immer stärker, dass sie in der Schweiz der SVP nur geduldet sind, solange sie schweizerisch funktionieren. Ildikó wird immer wütender, auch in ihrem Schreiben. Man fragt sich, ob sie in der Schweiz ankommen kann und will.
Die Welten verkomplizieren sich durch den Krieg in Jugoslawien, nicht mal in dem einen Land kommen die Menschen friedlich miteinander aus. Der Krieg schwappt in den Roman, Ildikó erlebt ihn nicht politisch, sondern als Gewalt an der Menschlichkeit, als unbegriffene Instanz, die Familien trennt, Leid bringt.
Es sind die kleinen Episoden des Alltags, die Ildikó erzählt, eines Alltags, der aber von der Weltgeschichte durchgeschüttelt wird. Es passiert gar nicht viel und doch Entscheidendes. Ildikó beobachtet und empfindet genau. Sie schreibt mit angehaltenem Atem, am Ende eines Abschnitts muss man auch als Leser Luft holen. Die Gedanken verwirbeln sich mit den Betrachtungen und den Gefühlen und den Dingen.
Als wir an den Pappeln vorbeifahren, mir dieses Flirren den Verstand raubt, unser schokoladefarbenes Schiff geräuschlos von einem Baum zum nächsten gleitet, dazwischen die Luft der Ebene, die sichtbar wird, ich kann sie sehen, die Luft, die jetzt stillsteht, weil die Sonne so erbarmungslos ist, da sagt mein Vater zur Klimaanlage hin, immer noch alles genau gleich, mit kleiner Stimme sagt er, hat sich nichts verändert, gar nichts.
Ich frage mich, ob sich mein Vater eine Truppe von professionellen Gärtnern wünscht, die zumindest die Äste zurechtstutzen – dem Wildwuchs Zivilisation entgegensetzen! – oder die mit effizienten Maschinen die die Kleinstadt vorankündigenden Pappeln fällen, ein für allemal! (Und wir würden auf einem dieser Strünke sitzen, mit unseren Blicken die Ebene, die sich mit Mittagshitze vollgesaugt hat, beherrschen, und mein Vater, der sogar einen Strunk besteigen müsste, sich einmal um die eigene Achse drehen würde, um dann mit der bitteren Stimme eines Menschen, der spät, aber besser spät als nie!, Recht bekommt, zu sagen: Endlich sind diese verdammten, staubigen Bäume weg.)
“Abonjis Geschichte ist gut, ein Ereignis aber ist ihre Sprache, die strömt und stockt und strömt, in langen Sätzen, ein Satz pro Absatz nicht selten, die mal sehnsüchtig ist und mal gehetzt, die überläuft vor Beobachtungen, Gedanken, Erinnerungen, minutiös wie der Off-Text einer Filmfassung für Blinde, wie die Szenenbeschreibung eines Films, der ihr Leben ist. Als schaute sie sich ihn von außen an, beteiligt und unbeteiligt zugleich.” (Tobias Becker, SPIEGEL)
Diese Art, sich von außen anzuschauen, erreicht Abonji auch durch eine neckische Sprachmarotte. Sie setzt den Relativsatz zum „ich“ in die 3. Person.
Ich, die sich nach dem Eimer bückt, ihn ins Becken hebt, am Hahn dreht, und während das Wasser einläuft, ziehe ich die Handschuhe an, die Hände, die das einlaufende Wasser nur noch dumpf spüren, und als der Eimer halbvoll ist, drehen die gelb eingepackten Finger in die falsche Richtung, das Wasser, das mit einem scharfen Strahl in den Eimer schiesst, auf die Haut, in die Augen spritzt, und ich, die wieder einen langen Moment wartet, drehe den Hahn zu, schaue ihr zu, wie ihr die Wassertropfen über das Gesicht laufen, und jetzt der unausweichliche Gedanke: Wir sind ein Herz und eine Seele geworden, ich und das Fräulein; und ich, die den Eimer packt, den Schrubber, gehe zum Fenster.
Ein interesanter Roman, weil die Fremdheiten der Welten subjektiv vermittelt werden und weil Melinda Naji Abonji (ausgesprochen: „Noh-tch Ó-bon-ji“) dafür einen eigenwilligen, aber sehr passenden Stil findet, aufgeregt, rhythmisch, musikalisch. Der Alltag erfindet sich sich nicht ständig neu, das kann im Roman nicht anders sein.
Die Preisrede der Autorin bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2010 war “Wort für Wort absichtsvoll gesetzt” (Florian Balke, FAZ) oder “freestyle improvisiert” (Christopher Schmidt, SZ)
2010 315 Seiten
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“Zehn Seiten” vorgelesen von Melinda Naji Abonji
Video: Iris Radischs fahriger Lesetipp