Nachrichten vom Höllenhund


Schulman
1. November 2022, 16:32
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Alex Schulman:
Die Überlebenden

Der Vollmond schien zwischen den Stämmen, und ein Wind kam auf, das Laub raschelte. Benjamin trat einen Schritt zurück, und als die Blätter sich entzündeten, musste er die Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Der Funkenregen fiel über die dunkle Landzunge, wie ein Lauffeuer breitete sich der Silberbrand in den Bäumen aus.

Benjamin und seine Brüder. Nils, der ältere, Pierre jünger, Benjamin ist der Chronist, die Figur. Die beobachtet wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die Familie lebt in der Stadtwohnung, wichtiger aber ist das Sommerhaus, an Wald und See. „Sie sind auf der anderen Seite des Landes, fahren tiefer und tiefer in die Wälder hinein, und sie reden weniger und weniger, und als sie schließlich von der Landstraße abfahren, verstummen sie ganz. Jetzt geht es wieder durch das Wurmloch.“ Die Brüder streiten, raufen, fühlen sich als Einheit.

Sie konnten einander nicht helfen, und so ist es schon immer gewesen, seit sie erwachsen sind. Keiner von ihnen weiß, wie man sich in die Augen sieht, ihre Gespräche finden mit gesenktem Blick statt. Schnelle, stoßweise Kommunikation.  Manchmal denkt er an alles, was sie durchgemacht haben, wie sie sich in der Kindheit aneinandergeschmiegt haben, und wie seltsam jetzt alles ist; sie benehmen sich ja wie Fremde. Er ist überzeugt, dass es nicht nur an ihm liegt, es liegt an ihnen allen.

Die Söhne müssen ihre Zusammengehörigkeit und ihre Selbstbestätigung nicht zuletzt gegen die Eltern und dabei vor allem gegen die Mutter behaupten. Die Mutter stellt sich als eher abweisende Person dar, sie kann ihre Liebe nicht in Zuwendung zeigen, bestraft unüberlegt, zieht sich zum Rauchen und Trinken zurück. Erst nach ihrem Tod dürfen die Brüder ihren Brief lesen, in dem sie ihr Verhalten begründet.

Benjamin. Die schwerste Last hattest Du zu tragen. Vor allem um Dich tut es mir leid. Ich habe Dir nie Vorwürfe gemacht, niemals. Doch genau das konnte ich Dir nie sagen. Wenn ich Dir aus meinem Schweigen in all den Jahren nur eins vermitteln könnte, so wäre es dies: Es war nicht Deine Schuld.

Wenn wir uns treffen, schaue ich Dich manchmal an. Du stehst immer ein wenig abseits, gern in einer Ecke, und beobachtest die anderen. Du bist immer derjenige gewesen, der beobachtet, und du versuchst noch immer, Verantwortung für alle anderen zu übernehmen. Manchmal frage ich mich, was wohl aus Dir geworden wäre, wenn das alles nicht passiert wäre.

Die brüchigen Beziehungen der Personen werden nicht ausgesprochen, sie schweigen wie die Natur, die Fichten, der See, evozieren den Wunsch zusammenzugehören trotz der Geheimnisse.

Er wusste, dass Nils‘ Abreise bedeutete, dass etwas endgültig zu Bruch gehen würde.  Denn wie sollte es ihm gelingen, die Familie zu reparieren, wenn einer von ihnen verschwand? Er wusste auch, dass Nils‘ Abreise eine Gefahr für ihn selbst darstellte. Wenn Nils verschwand, verschwand jemand aus der Wirklichkeit, eine Hand auf seiner Schulter, die ihn am Platz hielt. Dann war da einer weniger, der Benjamin versichern konnte, dass es diese Familie gab, und dass es ihn gab. Jemand, mit dem er über den Abendbrottisch einen Blick wechseln konnte, der ihm stumm bestätigte: Du existierst. Und das hier ist passiert.Stumm.

Alex Schulman macht das geschickt. Baut Atmosphäre auf, drohend, aufdringlich, die Abgründe der nordischen Natur, die auch die Menschen hineinziehen. „Schulman legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen.“ (Werner Bartens, SZ) Aber es wirkt immer stärker wie eine artifizielle Anordnung. „Genial gestrickt“, 3SAT Buchzeit), doch es geht nicht auf. Schulman hat sich so sehr in die Geheimnisse und Effekte verloren, dass er triviale Tricks braucht, um sich – und den Leser – wieder herauszuziehen. Benjamin muss ganz am Ende zur Therapeutin, die den Knoten in wenigen Sitzungen löst, die andeutet, was Benjamin verdrängt und was ich als Leser kaum mitbekomme. Dass Benjamin mehrere maskierte Suizidversuche unternahm, dass da im Trafohäuschen etwas anderes geschah, als die Erinnerung festhalten wollte. Erst jetzt kann die Mutter erlöst sterben.

Aber ich habe einen letzten Wunsch: Bringt mich zum Sommerhaus zurück. Verstreut meine Asche unten am See. Ich möchte nicht, dass Ihr es für mich tut — ich weiß, dass ich jedes Recht verwirkt habe, Euch um irgendetwas zu bitten. Ich möchte, dass Ihr es um Euretwillen tut. Setzt Euch ins Auto, nehmt die längere Strecke. So möchte ich Euch sehen:  zusammen. In den vielen Stunden im Auto, in der Einsamkeit unten am See, abends in der Sauna, wenn es nur Euch gibt und niemand anderes zuhört. Ich möchte, dass Ihr tut, was wir nie getan haben: dass Ihr miteinander redet.

Alex Schulman erzählt abwechselnd in der Chronologie der Vergangenheit und im Präsens des Rückblicks. Die Jetztzeit dauert einen Tag, der im 2-Stunden-Takt rückwärts verläuft. Das letzte Kapitel heißt „0 Uhr“.

Benjamin nimmt einen Zug und gibt sie dann weiter an Nils. Pierre lacht auf. Nils‘ sanftes Lächeln im spärlichen Licht. Sie lassen die Zigarette reihumgehen und   sehen einander an, und sie brauchen jetzt nicht zu sprechen, ein kurzes Nicken genügt, oder auch nur die Andeutung eines Nickens. Sie wissen es, sie tragen sie in sich, als hätten sie sie bereits unternommen: Die Reise, die sie zum Einschlagpunkt zurückbringen wird, rückwärts in ihrer Geschichte, Schritt für Schritt, um ein letztes Mal zu überleben.

2020 – 300 Seiten

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Leseprobe bei dtv



Vesaas
3. September 2021, 18:35
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Tarjei Vesaas: Die Vögel

Am Abend saß er mit bangem Herz – und bangen Fingern auf der Eingangstreppe. Hege war das Risiko eingegangen und lag schon im Bett. 
Die Zeit kam, die des Vogels. 
Da, sein Ruf, und da, die Flügel, irgendwie unbeholfen flatternd, rasch und ruckartig. 
Die Flügel waren oben in der milden Nachtluft, aber sie drangen auch tief in Mattis‘ Herz. Der weiche, dunkle Hieb von etwas Unbegreiflichem füllte Mattis aus. Ich und die Schnepfe, dachte er verschwommen
In seiner Freude versprach er: Morgen geh ich los, wie die Hege will. Wenn kein Gewitter kommt. Blitz ist Blitz, dann gehe ich nicht — und das weiß sie. 
Er wartete die Schnepfe noch zwei Mal ab, dann ging er in das dämmerhelle, laue Sommerhaus schlafen. Doch falls er gehofft hatte, der Traum würde sich wiederholen, dann zeigte der ihm eine lange Nase. Keine Spur von irgendeinem Mädchenwald.

Mattis und Hege leben zusammen in einem Häuschen am Wald nahe dem See, auch das Dorf liegt abseits, wenige Einwohner, man kennt sich. Mattis und Hege sind Geschwister, beide um die 40, das Leben war bisher nicht sehr erfolgreich und auch die Zukunft verspricht wenig Änderung. Hege strickt und verkauft Pullover und sorgt so für den bescheidenen Lebensunterhalt, Mattis – ja, Mattis hat nichts zu bieten. Im Dorf nennen ihn alle nur „Dussel“.

Zu reden gibt es zwischen Mattis und Hege nicht viel und Mattis tut sich auch mit dem Wenigen schwer. Ihm fallen die Worte nicht ein, er kann seine Gedanken nicht in den Griff kriegen, er taugt zu keiner Arbeit. Er weiß, dass er ohne Hege hilflos ist. Seine Welt ist beschränkt. Sein Kopf ist voller Dinge, für die andere keinen Sinn haben.

Da fliegt eine Schnepfe direkt übers Haus, das kam noch nie vor, das hat was zu bdeuten. Der „Schnepfenstrich“ als Vorzeichen. Für was? Mattis ist beunruhigt, niemand versteht seine Sorge, auch, weil er sie nicht in Worte fassen kann. Weil er die fragile Balance des Lebens nicht beeinflussen und erhalten kann. Wenn er Angst hat, füllt diese seinen Kopf ganz aus und blockiert weiteres Denken. „Wenn er ängstlich ist, dann ist er Angst.“ (Gabriele von Arnim, Der Tagesspiegel)

Aber später am Abend sagte Hege, sie wollte seine Schnepfe da sehen — und das begriff er als Belohnung, Belohnung dafür, dass er gearbeitet und die Mühen auf sich genommen hatte. Allmählich kam ihm der Schnepfenstrich vor wie sein eigenes Werk. Jetzt folgte ihm Hege mit hinaus. 
»Gut, du hast Verstand angenommen«, sagte er. 
Mattis freute sich und drehte den Kopf in alle Richtungen, lauschend, wartend. 
Dann kam der Vogel und auch all das Unsagbare, das mit ihm einherging. Hege durfte es miterleben. Ein Aufblitzen, ein rascher Flügelschlag, im Inneren zu spüren, wieder davon
Hege sagte nichts, sie schien freundlich gesinnt. 
Mattis sagte ergriffen: 
»Ja, und so geht das noch mal und noch mal.« 
Hege sagte, jetzt sollten sie sich schlafen legen. Aber sie war sicher ergriffen, glaubte er. 
Darum berührte er kurz ihren Arm. Wollte ihr gern erzählen, dass das Haus jetzt verändert war, es hatte einen Vorzug gegenüber anderen Häusern, war irgendwie hervorgehoben.  Das alles ließ sich nicht so leicht erklären, aber wenigstens konnte er ihren Arm berühren. 
»Jetzt hast du’s gesehen«, sagte er nur, ungewollt voller Besitzerstolz. Hege vergaß sich und sagte: 
»Das hast ja aber nicht du ganz allein zustande gebracht, oder? Klingt ganz so.« 
Mitten ins Gesicht. Er starrte sie erschrocken an. Das sagte sie in so einem Moment? Wut schoss in ihm auf. 
»Was bist du für eine! Musst immer alles kaputtmachen!« 

»Psst.«

Die Schnepfe wird erschossen, Mattis begräbt sie unter einem Stein im Garten, der Blitz schlägt in ein Baumpaar vor dem Haus, das sie „Mattis und Hege“ genannt haben. Alles ist gefährlich, jeder Gedanke ist Gefahr. Mattis sitzt am liebsten auf einem runden Stein, findet aber auch da keine Seelenruhe. Er weiß um seine Unbrauchbarkeit, seine Gefühle geraten ins Trudeln. Hege rät ihm, eine Stelle als Fährmann im nahegelegenen See anzutreten. Die Stelle gibt es eben so wenig wie Leute, die sich rudern lassen wollen. Wohin auch. Allein zwei Mädchen, Anna und Inger, die sich in den Ferien im See vergnügen, schauen nicht auf ihn herab, sie sind nicht von hier, Mattis verspürt leise Euphorie, ein Gefühl, das sich nicht halten lässt, das aber auch noch in der Erinnerung freundlich ist. Eine Hoch-Stimmung, die unachtsam macht. Das wird sich rächen, der nächste, eigentlich der erste und einzige Fahrgast kommt wie gerufen. Jørgen, ein Holzfäller, Mattis nimmt ihn mit ins Haus.

Tarjei Vesaas wurde1897 geboren, ein Norweger, „Die Vögel“ (Fuglane) erschien 1957. In Deutschland sind Roman und Autor wenig bekannt, erst 2020 erschien eine Neuübersetzung (von Hinrich Schmidt-Henkel). „Die Vögel“ hat wenig äußere Handlung, Mattis lebt dafür zu langsam. Man sollte sich nicht abhalten lassen. Vesaas spürt tief in Mattis‘ Kopf hinein. Ein Buch, das immer intensiver wird, traurig, aber faszinierend, ein Seelendrama in einer sensibel einfachen Sprache – und damit umso einfühlsamer.

Draußen hatte Wind eingesetzt. 
Plötzlicher Herbstwind. 
Wispern und andere leise Geräusche, als der Wind in die Ritzen des alten Hauses fuhr. Ein langgezogenes Sausen in den Bäumen draußen. Und   jetzt auch Wellen auf dem See. 
Wie herrlich: 
Er entspannte sich und verspürte Frieden. 
Denn dann ist morgen sicher auch Wind.  Und dann kann ich morgen nichts tun. Ich brauche ruhiges Wetter zum Ausfahren. Jetzt kann ich schlafen.  Er schlief sofort ein. Das war ein mühevoller, anstrengender Tag gewesen.

1957 – 270 Seiten

Leseprobe beim Guggolz-Verlag

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Wagner
1. August 2014, 12:26
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Jan Costin Wagner:
Tage des letzten Schnees

wagnerschneeEs geht Jan Costin Wagner „nicht um den Tod, sondern um die Leere, die er bei den Lebenden hinterlässt“, schrieb Sandra Kegel in der FAZ zum Romanvorgänger. Auch in den „Tagen des letzten Schnees“ sinnieren die Personen über das, was sie verloren haben, hindern sie ihre Gedanken am Handeln. Auch hier läuft die Aufklärung gebremst. Kommissar Joentaa begleitet die Erkundungen mehr als dass er selbst tätig wird. Denn auch er hat seine Leerstellen, seine Verluste. Seine Frau Sanna ist tot, seine Gefährtin „Larissa“ entzieht sich und lässt Joentaa allein. Sein Vorteil ist, dass er sich in die Opfer und Täter einfühlen kann und gleichzeitig Distanz wahrt. Das Wetter bestärkt die Kälte nordischer Einsamkeit.

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Ende Juli fuhr Kimmo Joentaa wieder zu einer Beerdigung. Bevor er ging, schaltete er das Licht an und sah unter dem Apfelbaum nach. Der Schlüssel lag noch dort, nicht mehr unter Schnee, sondern in der trockenen Erde. Larissa würde ihn an sich nehmen und ins Haus gehen können, falls sie zurückkehrte.
Es war ein warmer Tag, und während er fuhr, dachte er an Sundström und Grönholm, die sich ein Lachen nicht hatten verkneifen können, als er sofort die Hand gehoben und gesagt hatte, er werde nach Helsinki fahren, er werde das übernehmen.
»Sei nicht böse, Kimmo, aber sind Beerdigungen inzwischen ein Hobby von dir?«, hatte Sundström gefragt.
Grönholm hatte leise gekichert, und Joentaa hatte nicht geantwortet, war aber auch nicht böse gewesen. Es war wieder ein warmer, klarer Tag, und Joentaa dachte über die Ermittlung nach, die im Sand verlaufen oder sich irgendwo in Kompetenz- und Zuständigkeitsfragen, im luftleeren Raum zwischen Finnland, Rumänien und Ungarn verloren hatte.
Auf der Prioritätenliste waren die beiden unbekannten Toten, die vermutlich gerade aus den Kühlräumen der Gerichtsmedizin abgeholt und zur Beisetzung transportiert wurden, längst in die zweite Reihe gewandert, aber immerhin war der Tag der Bestattung ein geeigneter Anlass, um nach Helsinki zu fahren und noch einmal über diese Ermittlung nachzudenken, und sei es nur, um einzugestehen, dass man gescheitert war.
Als er ankam, hatte, aus heiterem Himmel, leichter Nieselregen eingesetzt, aber es schien noch wärmer zu werden. Westerberg und Seppo standen am Eingang zum Friedhof, auf der Schwelle, als seien sie noch unschlüssig, ob sie hineingehen oder doch umkehren sollten. Westerberg winkte ihm zu, Seppo drehte sich um und hob ebenfalls den Arm, und Joentaa freute sich, die beiden, nach diversen Skype-Telefonkonferenzen, tatsächlich mal wiederzusehen.
»Kimmo«, rief Westerberg. »Pünktlich wie immer. Hast du einen Regenschirm dabei?«
»Hei, Kimmo«, sagte Seppo.

Bei einem Verkehrsunfall ist die elfjährige Anna als Beifahrerin ihres Vaters ums Leben gekommen. Ein Banker verschaut sich in die junge Ungarin Réka, für die er aber nur ein “Liebeskaspar” ist, von dem die Prostituierte Geld nimmt. “Larissa”, die vielleicht nicht so heißt, arbeitet ebenfalls für Männer und kann Joentaa so entscheidende Hinweise geben. Viele Personen verschwinden, werden ermordet, sind nicht die, als die sie sich ausgeben. Der Leser braucht Geduld, bis er erfahren darf, dass die einzelnen Handlungsstränge zusammenführen, Wagner steigert routiniert die Spannung, auch durch seine bewusst verzögerte Preisgabe von Informationen. Routinierte Leser kennen das, erkennen auch die Klischees wieder, wissen, dass manches nicht gesagt wird. Wagner hat den Stil für den deutschen Finnland-Krimi gefunden. Unter der kontrollierten Oberfläche brechen die Emotionen auf.

Was stört: Unter den Kapitelnamen “IN EINER ANDEREN ZEIT, AN EINEM ANDEREN ORT” flicht Wagner ein geplantes Killer-Attentat auf Jugendliche „nach Art“ des Norwegers Anders Breivik ein. Die Stränge überschlagen sich, treffen auch auf Joentaa. Für mich ist das zu konstruiert.

WDR Podcast: Rezension

Jan Costin Wagner liest  – schlecht – aus dem Roman (youtube – 4 Minuten)



Skomsvold
4. Februar 2012, 16:13
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Kjersti A. Skomsvold:
Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich

Kjersti A. Skomsvold ist ein nettes kleines Buch über die Endzeit des Lebens gelungen. Nett, weil die Hauptperson, die jetzt alte Mathea Martinsen sich selbst fast so wenig wichtig nimmt wie sie von der Umwelt beachtet wurde und wird. Immer wurde sie übersehen, nicht bedient, sie war keine bedeutende, keine wichtige Person. Nur einmal stand sie im Zentrum ,und von diesem Ereignis könnte sie zehren – wenn es wen gäbe, den das interessierte. Sie ist zweimal an der selben Stelle vom Blitz getroffen worden. „Aber der Blitz traf mich, nicht ich ihn.“ Und so hat sie sich an Epsilon gehängt, zu zweit geht es leichter, man hat eine Stütze, auch wenn sie und Epsilon sich vielleicht nie verstanden haben. Aber sie haben sich gemocht und gebraucht. Bis zuletzt, denn jetzt ist Epsilon tot und Mathea ist übriggeblieben. Und da die anderen Bewohner von Haus und Umgebung kaum mit ihr reden, redet sie weiter mit Epsilon, der im Statistischen Amt arbeitete und dessen Hobby die Wahrscheinlichkeitstheorien waren. „Ein Tag mit Epsilon ist beispielsweise nicht dasselbe wie ein Tag ohne ihn.”

Jetzt liege ich hier im Bett, bin das Gegenteil von ungeduldig und wünschte, ich könnte den kleinen Rest, der mir noch vom Leben bleibt, aufsparen, bis ich weiß, was ich damit anfangen soll. Aber das geht nicht, dafür müsste ich mich schon einfrieren, und wir haben nur eines dieser kleinen Gefrierfächer über dem Kühlschrank. Von draußen höre ich Menschen von der Arbeit kommen, sie überlegen, was sie zum Abendbrot essen sollen, und ich liege hier, das Ganze erinnert mich an ein Buch, das ich mal gelesen habe.
Vielleicht sollte ich das Licht ausschalten. Aber es macht wohl kaum einen Unterschied, der Sensenmann kann in der Dunkelheit sehen und wird mich so oder so finden. Ich prüfe es nach. In den Beinen. In den Armen. Ich überlege, was mich dahinraffen wird. Ich wackle mit den Zehen, spreize die Finger. Meine linke Körperhälfte ist ganz zweifelsohne taub. Die rechte auch. Aber wahrscheinlich wird es das Herz sein. Vor Epsilon war mein Herz eine Weintraube, jetzt ist es eine Rosine. Vielleicht raffen mich aber auch die Mandeln dahin, auf die ist sowieso kein Verlass.
Es kann lange dauern, bis jemand merkt, dass ich das Zeitliche gesegnet habe. Ich habe von einem Chinesen ge­lesen, der zwanzig Jahre lang tot in seiner Wohnung lag, das ließ sich anhand der Zeitung auf seinem Küchentisch fest­stellen, und als man ihn fand, war er ein Skelett im Schlaf­anzug. So wird es mir wohl auch ergehen. Vielleicht fange ich aber auch an zu riechen, und die Nachbarn denken erst, es wären die Pakistani aus dem ersten Stock, aber wenn auch die anfangen, sich zu beschweren, wird irgendwann jemand darauf kommen, dass es die alte Dame aus dem zweiten sein muss. »Wurde die nicht im Krieg erschossen?«, werden sie fragen. »Nein«, wird mein direkter Nachbar June antworten. »Letztes Weihnachten habe ich sie noch gesehen. Am bes­ten, wir rufen den Notarzt.«
Als ich klein war, träumte ich immer davon, dass mich ein Krankenwagen abholen würde, und sobald einer in der Nähe war, drückte ich mir die Daumen und flüsterte: »Lass es mich sein, lass es mich sein«, aber ich war es nie, die Krankenwagen fuhren immer von mir weg, ich konnte es am Klang ihrer Sirenen hören. Jetzt tönt in der Ferne wieder ein Martinshorn, und der Krankenwagen sollte eigentlich zu mir kommen, denn ich trage eine frische Unterhose und werde bald sterben. Doch stattdessen liegt irgendjemand anders darin, der nicht mehr für sich selbst verantwortlich zu sein braucht.
Draußen wird es dunkel, und ich versuche, mich auf et­was Sinnvolles zu konzentrieren. Und das Einzige, was mir in diesem Moment etwas bedeutet, ist die Frage nach mei­nen letzten Worten.
»Die Wahrscheinlichkeit, dass wir sterben werden, muss geringer sein als e, weil e eine mikroskopisch kleine Menge ist«, meinte ich zu Epsilon. Es sah mir nicht ähnlich, so et­was zu äußern, und ich wünschte, ich hätte etwas anderes gesagt.
Ich möchte etwas Bedeutungsvolles sagen und liege die ganze Nacht wach, um auf etwas zu kommen, was sich reimt. Eigentlich bin ich mir sicher, dass ich hier liegen blei­ben werde. Doch dann kommt der nächste Morgen, und ich merke, wie hungrig ich bin.
Epsilon sagt, dass es statistisch gesehen am wahrschein­lichsten ist, im Bett zu sterben.
Vielleicht sollte ich aufstehen.

Und sie steht wirklich noch einmal auf, liest, was am Schwarzen Brett ihres Miethauses steht, lässt sich auf das Abenteuer “Nachbarschaftsinitiative” ein. Endlich passiert noch etwas, sogar eine Tombola gibt es. Sie kocht Marmelade, sie strickt Ohrenwärmer, sie ist aufgeregt.

»Jetzt ist nur noch ein Gewinn übrig«, sagt die Dame, und meine Wangen fangen an zu glühen, weil ich denke, sie meint mich. Doch dann schnappt sie sich meine Jacke und hält sie hoch. »Diese Jacke ist etwas speziell«, sagt sie, nachdem sie sie ein­gehender betrachtet hat. »Es sieht aus, als ob sie aus Ohren­wärmern zusammengesetzt wurde.«
Ich sinke tiefer und tiefer, alles um mich herum ist unklar und beengt, und als ich endlich wieder an die Oberfläche komme und Luft holen will, um etwas zu sagen, ist es zu spät. Der Gewinner wurde bereits gezogen. Gleichzeitig sagt ein Mann, dass die Toilettentür nun schon seit einer halben Stunde verschlossen sei und niemand antworte, wenn er anklopfe. »Vielleicht ein Schlaganfall?«, meint die Dame mit dem Gewinnerlos, während sie meine Jacke in eine Plastiktüte stopft, und alle sind Feuer und Flamme.

Es ist schön, wie sich Kjersti Skomsvold dieser alten, reichlich naiven Mathea annimmt. Sie nicht bloßstellt, obwohl es so viele Situationen gibt, die Mathea nicht meistert und worüber man lachen könnte. Das heißt, lachen darf man, denn gerade in ihrer lebensfremden Hilflosigkeit ist Mathea überaus sympathisch. Ihr Tick, gereimte Sätze für schön und deshalb wichtig zu halten, ist in Deutschland allerdings von Pumuckl besetzt.

Ich habe einmal von reichen Amerikanern gehört, die Te­lefon und Kabel mit ins Grab nahmen, nachdem sie Edgar Allan Poes Novelle über die lebendig Begrabene gelesen hatten, doch ich hätte ihnen erzählen können, wie überflüs­sig das ist, da einen sowieso niemand anruft.

Kjersti A. Skomsvold hat ein weises und gewitztes, schräges und rührendes Buch aus dem Hut gezaubert, das in seinem schmalen Format mehr Substanz birgt als so mancher epische Wälzer. (Kristina Maidt-Zinke, SZ)

2009        142 Seiten

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Wagner
9. September 2011, 19:48
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Jan Costin Wagner:
Das Licht in einem dunklen Haus

Es bleibt nicht bei einem Mord. Nach und nach stellt sich aber ein Muster heraus: Der Täter bringt seine Opfer in der Öffentlichkeit um, er kippt sie aus dem Fenster, ersticht oder vergiftet sie, verschwindet aber, ohne Spuren zu hinterlassen. Ermittler Kimmo Joentaa und seine Kollegen legen bedächtig und geduldig Puzzlesteine zusammen, spüren Zusammenhänge auf, die Ergebnisse sind dürftig. Schließlich wird eine Frau ermordet, die ohnehin todkrank war und die nicht in das Raster des Serienmörders passt. Allerdings führen die Spuren auch hier nach Karjassari, einem Dorf in der finnischen Provinz, und sie führen 25 Jahre zurück ins Jahr 1985.

Jan Costin Wagner lässt die Steine lange isoliert, gibt dem Ermittlerteam und dem Leser viel Zeit, bis sich die ersten Verbindungen erkennen lassen.

 »Westerberg?«, fragte Sundström. »Du sprichst von Marko Westerberg aus Helsinki?«
»Ja«, sagte Joentaa.
»Ist in diesem Kaff. Karjasaari.«
»Ja.«
»Wegen eines Doppelmords.«
»Vermutlich.«
»Der mit unserer Toten zusammenhängt.«
»Ich denke, ja«, sagte Joentaa.

»Weil eine Verrückte in der Frau ihre Klavierlehrerin zu erkennen glaubt.«
»Ja«, sagte Joentaa.
»Deren Namen sie nicht kennt, sie weiß nur, dass sie ein Engel war.«
»Ja«, sagte Joentaa.
Er erwartete, dass Sundström gleich einen Witz machen und Karjasaari und alles andere verwerfen würde, aber wie so oft vermochte Sundström zu überraschen: »O. k.«, sagte er. »Wenn sich das verdichtet, kann es uns weiterbringen. Rufst du am Abend noch mal an und sagst, wie es aussieht?«
»Mache ich«, sagte Joentaa.
»Und gib mir die Adressen durch, von den Angehörigen der Verrückten. Wir setzen uns da schon mal dran. Vielleicht können die sich ja an den Namen der Klavierlehrerin erinnern.«
Angehörige der Verrückten, dachte Joentaa. »Mache ich«, sagte er.
»Dann hau rein«, sagte Sundström. »Bis später.« »Ja. Bis später«, sagte Joentaa.
Er legte das Handy aufs Bett, nahm den Laptop und schaltete ihn an. Er hatte keine neuen Nachrichten erhalten. Keinen Lottogewinn.
Keine Telefonrechnung.
Noch nicht einmal ein »Ja«.

Zunächst klingen die finnischen Namen oft ähnlich, dann aber beschleunigt Wagner die Spannung und das Lesefieber, während Joentaa bei seiner fast schon provozierenden Bedächtigkeit bleibt. Jan Costin Wagner baut den Roman geschickt auf. In die detailliert wiedergegebene Aufklärung der Morde stellt er Tagebuchauszüge aus den Jahren 1985 bzw. 2010, von denen man weiß, dass sie mit den Morden zu tun haben, die sich aber zunächst nur mühsam entschlüsseln lassen, da die Ermittler mit ihrem Wissen noch nicht so weit sind. Langsam wird erkennbar, dass der Hintergrund eine Jahrzehnte zurückliegende Vergewaltigung ist und dass die Klavierlehrerin Saara Koivula irgendwie im Netz der Rätsel und Personen sitzt.

Joentaa hat eine Prostituierte zur Freundin genommen, Larissa, eine rätselhafte Person, die sich nicht von Joentaa vereinnahmen lässt, ihm schließlich abhanden kommt, nicht mehr auf seine E-Mails reagiert, schließlich aber doch wichtige Informationen für ihn hat.

 „Kimmo Joentaa lebte mit einer Frau ohne Namen in einem Herbst ohne Regen. Das Hoch wurde Magdalena getauft. Die Frau ließ sich Larissa nennen. Sie kam und ging. Er wusste nicht, woher und wohin.“

„Vieles in diesem Buch bleibt auf reizvolle Weise bis zum Schluss ungesagt. Schreibend kreist dieser Autor weniger um die Greuel, sondern um das Entsetzen, das sie hervorrufen. Es geht ihm nicht um den Tod, sondern um die Leere, die er bei den Lebenden hinterlässt.“ (Sandra Kegel, FAZ)

Kalt, nüchtern brutal, leise und verschwiegen, sehr spannend.

Jan Costin Wagner liest auf zehnseiten.de

 Rezensionen auf der KrimiZEIT-Bestenliste August 2011

 2011      310 Seiten

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Gustafsson
23. November 2009, 21:34
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Lars Gustafsson:
Frau Sorgedahls schöne weiße Arme

Ich brauche nicht zu verreisen. Ich bin schon da.“ –

Es sind viele schöne Sätze eingebettet in die schweifenden Gedanken des emeritierten Professors, und wie es wohl so ist, wenn man älter wird, gehen viele der Gedanken zurück in die Jugend, hier sind es die 50er-Jahre in Schweden. Erzählt wird vom Geruch der Zimtbirnen, vom guten Studienrat Westerberg, Dufvenbergs Hund, Dörfern und Häusern und Seen und Stürmen und Ingela, der Tochter des Gießers, die erste unbeholfene Liebe.

 Es ist wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches eintrifft, behauptet, wie wir uns alle erinnern, Aristoteles in seiner Poetik. Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass das eine einigermaßen statthafte Übersetzung ist. Mein Kol­lege Myles Burnyeat hier in Oxford hätte vielleicht etwas Besseres anzubieten. Aber ich sage es so: Es ist wahr­scheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches eintrifft. Ei­gentlich ist das natürlich falsch. Ein einzelnes Ereignis kann keine Wahrscheinlichkeit besitzen. Wie auch im­mer: Etwas Unwahrscheinliches geschah tatsächlich. Ich bekam ganz unerwartet eine Chance, nicht nur mit ihr zu reden, sondern sie anzufassen, ihre Düfte wahrzuneh­men. An einem Nachmittag unten an den Briefkästen. Sie bekam einen Platten, Ingela, die Tochter des Gießers. In der kiesbestreuten und staubigen Kurve oberhalb von unserer Grundstückgrenze, auf dem Weg zu den Brief­kästen. Das Fahrrad, das nicht ganz leicht zu handhaben war, kam ins Schleudern, und sie bremste mit einem Fuß im Kies, verlor das Gleichgewicht und schrammte sich den Ellbogen auf.
Natürlich rannte ich hin und bot meine Dienste an. Bezeichnenderweise bat ich sie nicht in das Sommer­häuschen meiner Eltern, sondern lief einen Schwamm, Wassereimer und Pflaster holen.
Es war keine große Schürfwunde, aber es gefiel mir sehr, sie zu versorgen. Sie verströmte so viele interes­sante Düfte, nach sonnengebräunter Haut, nach Sham­poo, nach Mädchen.
Erstaunlicherweise jammerte sie nicht, während ich mit dem Schwamm die Steinchen aus der Wunde wusch. Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich sah, wie geduldig, fast ein wenig höhnisch sie sich mit diesem Schmerz abfand. Zugleich erlaubte sie es mir mit einer Art von überlegener Miene, als ginge sie eigentlich nichts von alledem, weder der Unfall noch meine immer enthusiastischere Wundbehandlung, et­was an.
Erst als ich das Heftpflaster- nach ein paar missglück­ten Versuchen, weil das an einem Ellbogen keine ganz leichte Sache ist – an seinen Platz bekommen hatte, schaute sie mir tatsächlich ins Gesicht.
Sie hatte eine geblümte Bluse und einen hellen, ziemlich abgetragenen Rock an, der Spuren von Johan­nisbeersaft trug. Ihre Füße waren staubig.

Der Erzähler erinnert sich nicht an alles, aber an vieles genau. In der Erinnerung ist die Vergangenheit gegenwärtig, es macht keinen Unterschied, ob das jetzt geschieht oder vor 50 Jahren. „Wenn das so weitergeht, werde ich in meiner eigenen Vergangenheit ertrinken – die Erinnerungen werden genauso konkret, genauso detailliert geschildert werden wie das Gegenwärtige.“ Der Erzähler  – bzw. Gustafsson – selbst reflektiert das Erinnern und die Wahrscheinlichkeiten des Lebens und lässt den Leser so teilhaben an der Entstehung der Gedanken beim Denken. Die Zeit ist ein “Möbiusband”: „Alles beginnt überall. Es gibt keine besondere Stelle, die der Anfang ist.“ Alterweisheit, wenn es sie gibt, könnte sie so aussehen. Das Glück im Verzicht auf Erwartungen in einem Jenseits. „Warum dieses Gerede vom ewigen Leben?“, hält er dagegen. „Der Mensch hat ja ein ewiges Leben, solange er nicht tot ist. Ist er tot, kann er ja nicht leben. Aus dem einfachen Grund, weil es ihn nicht gibt. Und wozu sollte es gut sein, nach dem Tod weiterzuleben?“ Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung: Gustafssons spielerischer Umgang mit Philosophie, Theologie und Sinnlichkeit ist mitreißend, poetisch und hochamüsant.

Und Frau Sorgedahl?

Damals muss sie etwas über dreißig gewesen sein.
So, wie sie damals war, hätte sie die Tochter dessen sein können, der ich heute bin. Mit Leichtigkeit. Aber ich habe keine Töchter.
Frau Sorgedahl – war sie schön? Ich erinnere mich an ihre roten Haare und ihre weichen, weißen Hände, als sie behutsam den Rücken der Katze streichelte, die da auf meinem Schoß lag. Freilich war sie schön. Sehr schön. Das Schönste, was ich bis dahin gesehen hatte.
Mittlerweile träume ich ziemlich viel. Das macht viel­leicht das Alter. Die Kindheit kehrt in der Form von Träumen zurück. Das Sommerhäuschen, klein und braun an seinem allzu steilen Hang. Der Brennball, den wir auf dem erschreckend großen Schulhof mit seinen duften­den Balsampappeln spielten. Der stechende Schmerz, wenn man ausrutschte und das Knie über den Kies schrammte. Die Aussicht vom Volksschulzimmer aus, so hoch da droben in dem alten roten Ziegelhaus, dass wir praktisch in den Kronen der Kastanienbäume saßen. All die sonderbaren Typen, die sich damals auf den Straßen herumtrieben.

2008      240 Seiten

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Andere schöne Romane von alten Männern bzw. über sie und ihre Gedanken daran, wies früher war:

Per Petterson:  Pferde stehlen
Gerbrand Bakker:  Oben ist es still