Nachrichten vom Höllenhund


Modick
10. März 2015, 16:32
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Klaus Modick: Konzert ohne Dichter

modickkonzertDer Roman zum Bild zum Konzert. Der Titel lässt stutzen, doch im Klappentext steht die Auflösung: Heinrich Vogeler malt ein Quartett, darauf verdeckt sich selbst, und Klaus Modick schreibt 90 Jahre später einen Roman zum Werk. Rilke, der Dichter, ist nicht auf dem Bild, aber Modick weiß, weshalb nicht. Rilke war nämlich schon drauf, wurde aber wieder weggegmalt, weil es Missstimmungen gab in Worpswede, im Künstlerdorf an der Hamme, in der „Familie“, die Heinrich Vogeler um sich geschart hatte. Die „Malweiber“ waren auch dabei, Es herrschte tiefster Jugendstil. Heinrich Vogeler ist der Jugendstil. Das sieht man auf seinen Bildern und an seinen Möbeln, an den Kleidern und Accessoirs, die er entwarf, denn Vogeler verkörperte den Stil. Modick schreibt den Malstil nach.

Satt liegt die Spätnachmittagssonne auf rosenberankten Hauswänden; üppige Schleier aus Efeu und Wein spinnen um Balkone und Loggien, Galerien und Erker, getragen von Karyatiden und Kanephoren. Aus Gärten duften Goldlack, Nelken, Hyazinthen; Rhododendren in Weiß, Rot, Lila scheinen unter ihrer Blütenlast fast zusammenbrechen zu müssen. Kirschlorbeer, Taxus und Buchsbaumhecken säumen Rasenflächen, auf denen Lauben und Pavillons stehen.

Modick weiß aber auch, dass Vogeler trotz der Großen Medaille für Kunst und Wissenschaft nicht zufrieden ist, denn sein Stil ist hermetisch geworden, perfektioniert bis zur Langweile, Kunst als Dekor, Modick stimmt da mit Vogeler überein. Alles, blieb “Kunst und Traum, und nichts und niemand wurde wirklich”. “Labyrinthe des Ornaments, in denen es keine Pausen oder Lücken gab – und vor lauter Überfluss nirgends einen Ausgang.” „Nirgends Freiheit. Ein schöner Vorhang, der die Wirklichkeit verbirgt.” “Etwas unendlich Künstliches.”modickvogeler Gut, dass René Maria Rilke in Worpswede auftaucht und die Verhältnisse zum Tanzen bringt. Rilke ist 23 und schon Dichter, der sich selbst angöttert, “Mir zur Feier” nennt er sein Buch, das Vogeler illustriert. Rilke, der Eiferer mit dem erbarmungslosen Ernst , Rilke, der nicht lacht, Rilke, der Kauz.

Vielleicht fürchtete sie auch nur, dieser seltsame Heilige könnte in seiner exotischen Kostümierung ins Dorf gehen und mit seiner unheimlichen Erscheinung den ganzen Barkenhoff in Klatsch, Verruf und Misskredit bringen. Seitdem die Künstler Worpswede für sich entdeckt und sich angesiedelt hatten und ihre aus großen Städten und fernen Ländern anreisenden Freunde zu Besuch kamen, hatte man in Worpswede zwar schon allerlei karnevaleske Kostümierungen und pittoreske Aufzüge zu sehen bekommen, aber Rilke schoss den Vogel ab. Lina war jedenfalls empört. »De Keerl lett jo dat Hemd över sin Büx hangen.« Und wenn er dann, das Hemd über der Hose hängend, oben in seinem Zimmer auf und ab ging, die roten Russenstiefel einen trägen, unregelmäßigen Rhythmus auf die Bodendielen schlugen und seine Stimme manchmal so laut wurde, dass sie durchs Gebälk bis nach unten drang, dann stand Lina in der Diele, horchte verstört auf und zeigte mit ihrer zerarbeiteten, faltigen Hand zur Decke. »He deit ton leev Heiland proten«, flüsterte sie. »He bedet alltied.« Vogeler lächelte, tätschelte ihr beruhigend die Schulter. »Er betet nicht, Lina. Er dichtet. Der Herr Rilke dichtet doch nur.«

Aber Rilke, der rastlose Geist, hat zwei Talente: Er generiert aus dem Nichts Gedichte und er betört die Frauen. Das unpassende Pathos der frühen Rilke-Lyrik befremdet Vogeler, Modick stellt beides mit sanft ironischem Ton dar.

Ob das, was er jetzt hier am hellen Morgen vor sich hin spricht, ein Pfeifen im dunklen Wald ist, Inspiration erzwingen will oder Arbeit simuliert, Geplapper, mit dem er seine panische Angst vor der Leere vertreibt, oder ob ihm in diesem Moment eins seiner schmelzendschönen, zwischen Kitsch und Tiefsinn schwankenden Gedichte aus dem Mund tropft – wie soll Vogeler das wissen? Die Laute, die Rilke beim Dichten ausstößt, sind eine Sprache, die niemand versteht. Versteht Rilke sie? Doch klang in Rilkes dreistem Selbstbewusstsein eine innere Überzeugungskraft mit an, ein unwiderstehlicher, alle Vorbehalte überwältigender Charme. Wenn später von Rilkes zahlreichen Affären die Rede war und sich so mancher darüber wunderte, wieso diesem schmächtigen Mann mit dem traurigen Hundeblick junge Mädchen und reife Frauen gleich reihenweise erlagen, musste Vogeler immer an diesen Moment zurückdenken, in dem Rilke ihn für sich gewonnen hatte.

Rilke heiratet Clara Westhoff, fast auch Paula Modersohn-Becker, Rilke reist ab, um nirgends anzukommen. Vogeler, Rilkes “Seelenverwandter”, übermalt den Kauz. Klaus Modick schreibt seinen Roman, und er wird wie das Bild, liebevoll verästelt, literarische Birken, mit locker schwebender Ironie, nie gehässig, immer charmant, eine Etüde, eine „Malerei der Worte“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ). eigentlich überflüssig, hübsch, Dekor. Ein Künstlerroman. Wer sich für Worpswede vogelermarthainteressiert, sollte die “kleine Worpswede-Fantasie” (Maidt-Zinke) lesen. Die Geschichte sollte aus der Künstlerkolonie im Moor herausgehalten werden, Modick holt sie nicht herein. „Das alles flieht vor der Gegenwart und ihren Konflikten, und gerade deshalb hat es Erfolg, liefert Trost- und Schönheitspflästerchen gegenüber einer Zeit, deren Industrielärm, Tempo und Rhythmus im Maschinentakt man nicht mehr folgen kann.“ Modick folgt Vogeler in Gedanken an frühere Aufenthalte in Florenz und München, die Übergänge sind fließend elegant, Vogeler fühlt sich nicht wohl in der Geldwelt seiner Bewunderer und Mäzene. Florian Illies hat eine Sammlung von (hauptsächlich Künstler-)Anekdoten zum Jahr 1913 vorgelegt. Modicks “Konzert ohne Dichter” könnte man als Lang-Anekdote aus dem Jahr 1905 lesen. “Hätte es noch keine Birken gegeben auf der Welt – der Jugendstil hätte sie erfunden. Vogeler persönlich hätte sie erfunden für seinen Barkenhoff.”

P.S. Auf der Teppe logiert die Barsoi-Hündin Karla.

2015         230 Seiten

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Henisch
25. April 2014, 14:00
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Peter Henisch: Mortimer & Miss Molly

mortimer“Italien 1944: Kurz vor Kriegsende landet in San Vito in der Toskana ein amerikanischer Soldat mit seinem Fallschirm mitten in einem malerischen Renaissancegarten, ausgerechnet unter dem Fenster der englischen Gouvernante, die ihn vor den deutschen Besatzern versteckt. Das ist die Geschichte von Mortimer und Miss Molly, eine Liebesgeschichte. Jedenfalls der Anfang davon.” So kündigt sich der Roman an, doch der Autor bremst sofort und meldet seine Bedenken an:

Die Geschichte könnte damit beginnen, dass Mortimer vom Himmel fällt. Ein Fallschirmspringer, der im Zentrum des Renaissancegartens landet. Dieser Renaissancegarten ist geome­trisch gestaltet, sechs von Hecken gesäumte Trapeze umgeben ein kreisförmiges Zentrum. Radius: nicht mehr als fünf Meter. In diesem Zentrum landet Mortimer.
Steht Miss Molly am Fenster? Zweifellos wäre das eine schö­ne Szene. Für einen Film, den ein Fellini hätte drehen können. Miss Molly steht am Fenster, sie hat den weißen Vorhang ein wenig beiseite geschoben. Und sieht Mortimer, einen soeben mit dem Fallschirm gelandeten, amerikanischen Soldaten.
Das heißt: Sie sieht ihn noch nicht – er ist ja vorerst vom Fallschirm bedeckt. Oben Miss Molly, die den Vorhang ein we­nig beiseite gezogen hat, unten Mortimer, der unter der Fall­schirmseide hervor muss. Das soll möglichst rasch gehen, aber es ist nicht so einfach. Verwicklungen kommen vor, bei aller Routine.
Miss Molly wartet, bis sich der Mann entpuppt. Gewiss, eine schöne Filmszene, sagte Julia.
Fellini hat diesen Film nicht gedreht, Gott sei Dank. Denn vielleicht werde ich ihn eines Tages drehen, sagte Marco.

 Damit sind Julia und Marco eingeführt, die Hauptpersonen. Julia studiert Kunstgeschichte in Wien, Marco Medizin in Mailand, sie treffen  – in den achtziger Jahren – in der Toscana aufeinander und es beginnt die Sommerliebe. Die eigentliche Liebesgeschichte, denn Mortimer und Miss Molly sind fortan nur noch die Projektionen. Julia und Marco versichern sich ihrer Liebe in ihren Phantasien über die beiden Alten, die vor über 50 Jahren im selben giardino zueinander fanden. Die Geschichte von Julia und Marco ist liebreizend, warmherzig, sentimental in ihren Problemphasen, arg klischeehaft, nicht weit vom Groschenroman. Schön erzählt, das schon. Und man kann viel Italienisch lernen dabei, denn Peter Henisch muss natürlich vieles auf Italienisch sagen, das gehört so zum Ambiente und die Geschichte fängt an zu fliegen: der Roman einer Sommerliebe.

 Der Mond hing als schmale Sichel über der Erde. Und die Erde vibrierte vom Zirpen der Grillen. Und der Himmel erschien ihnen nicht flach wie sonst, sondern als Gewölbe. Ein Himmel, wie er in alten Büchern stand.
Sie gingen den Hohlweg, der an den Feldern entlangführt. Und da sahen sie tatsächlich die Glühwürmchen. Die Glühwürmchen, die Julia im Zug vor ihrem inneren Auge gesehen hatte. Sie schwebten im Brombeergesträuch, glitzernd wie winzige Strassdiamanten.
Siehst du, sagte sie, da sind sie, ich hab es gewusst! Lucciole hießen diese netten Leuchtkäfer auf Italienisch. So viele lucciole, sagte Julia, wie schön! Marco lachte. Irgendetwas schien ihn zu amüsieren.
Ja, sagte er, so viele gibt es nicht einmal im Bahnhofsviertel in Rom.
Es dauerte eine Weile, bis sie begriff.
Lucciole hießen auf Italienisch auch die Prostituierten. Una lucciola (Singular), molte lucciole (Plural).
Ecco, sagte Marco. Das hast du bei deinem Fulvio nicht gelernt.
Sie überging das. Die Glühwürmchen waren trotzdem schön. Nicht nur schön: Sie waren ein wahres Wunder. Nicht nur in den Brombeerhecken glitzerten sie, sondern auch in den Feldern.
Und wie! Und wie viele! Unglaublich! Zahllose Glühwürm­chen! Je mehr sich das Auge an die schöne Dunkelheit gewöhnt hatte, desto mehr von ihnen sah man. Und jetzt stell dir das bitte im Film vor – was für eine Szene! Mortimer und Molly durch ein von Glühwürmchen übersätes Feld laufend.
Anfangs noch immer gebückt, noch immer mit der Angst im Nacken. Aber nach und nach immer entspannter, immer aufrechter. Und in Großaufnahme sieht man, wie Molly nach Mortimers Hand fasst oder Mortimer nach der ihren. Und den leichten Händedruck, mit dem sie einander bestätigen, dass sie es immerhin bis hierher geschafft haben, muss man buchstäb­lich spüren.

 “Aber wenn die Wirklichkeit nun einmal etwas anders aussieht als die Illusion?, sagte er. Umso schlimmer für die Wirklichkeit, sagte sie. Questa realtà non me ne frega un cazzo.”Ob die Begegnung Mortimer mit Miss Molly sich so abspielte, wie ausgedacht, ist ohne Bedeutung. Titel, Cover und Klappentext locken auf die falsche Fährte, was man zunächst bedauert, weil man einen historischen Roman erwartete. Selbstverständlich sind aber auch Julia und Marco fiktiv, die zweite Ebene, die sich mit der ersten ständig vermischt. Der Autor spielt auktorial mit den Fiktionen – und damit wird der Roman wieder interessant. Er “dekliniert in der Spiegelung zweier Liebesgeschichten Möglichkeitsformen der Liebe allerdings nicht durch, um der Wirklichkeit zu entfliehen, sondern um ihr etwas vom Zauber zurückzugeben, den sie verliert, wenn sie sich auf das Sicht-, Mess-, Plan- und Verhandelbare beschränkt und Traum und Utopie verrät“(Beate Tröger, FAZ).

Ja, sagte Julia, ja, sagte Marco, ja, ja, sagten sie beide. Sie probierten diese Szene: Sie spielten sie nach, sie spielten sie einander vor. An dieser Szene konnten sie sich gar nicht sattspielen. Zweifellos war das der bisherige Höhepunkt ihres Fantasiespiels. Es wäre ideal gewesen, hätte man die Zeit an dieser Stelle an­halten können. Aber das ging nicht. Weder für Mortimer und Molly noch für Julia und Marco. Das würde, bedauerte Marco, nicht einmal in seinem Film gehen. Auch wenn diese Szene in Zeitlupe abliefe, müsste sie einmal enden.
So könne doch die Geschichte nicht stehenbleiben. Das wäre, so leid es ihm tue, sehr unrealistisch. Wir können nicht einfach ausblenden, was draußen geschieht. Draußen ist nach wie vor Krieg. Wir sind im Juni 1944.

Vorausgesetzt, dass die Geschichte sich wirklich so zugetragen hatte. Die wahre Geschichte von Mortimer und Miss Molly. Aber ist die wahre Geschichte immer die wirkliche Geschichte? Oder andersherum gefragt: Ist die wirkliche Geschichte immer die wahre Geschichte?
Sie hat sich so zugetragen, sagte Marco.
So?, sagte Julia. Und woher willst du das auf einmal wissen?

 Henisch sei „ein großer Ironiker. Über allen interpretatorischen Bemühungen steht das Lächeln des Autors“, schreibt Helmut Schödel in der SZ. Das kann mit dem „kitsch“ der (periodischen) Sommerliebe schon wieder versöhnen.

 Die Sonnenfinsternis dauerte zwei Minuten und dreizehn Se­kunden. Ihre Umarmung dauerte deutlich länger. Als sie da­nach wieder aufstanden und auf die Mauerkrone hinaustraten, stand die Sonne am Himmel und strahlte wie eh und je. Siehst du, sagte Marco, wir haben sie wieder herbeigevögelt.

 FINE

2013     320 Seiten

Schön gemachte Homepage von Peter Henisch

 Peter Henisch liest aus „Mortimer & Miss Molly

 Leseprobe beim Hanser-Verlag

 Video von den „Lesezeichen“ des BR

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Zeh
1. November 2012, 13:22
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Juli Zeh: Nullzeit

Natürlich ist das Meer auch dafür bekannt, dass es verschlingt. Für Sven, den Erzähler in Juli Zehs „Nullzeit“, gehört es zum „Kriegsgebiet“. Sven hat in Deutschland sein juristisches Examen gemacht, ist dann aber nach Lanzarote gezogen, um dort als Tauchlehrer zu arbeiten. Mit dabei auf der abseits gelegenen Station – „wie auf dem Mond“ – ist seine Jugendfreundin Antje, die sich um die Logistik kümmert. Beide sind zufrieden mit ihrem wenig aufregenden Leben – bis zwei Tauchschüler kommen, die sich für 14 Tage zu einem intensiv betreuten Sonderkurs angemeldet haben und dafür gut bezahlen wollen: Jola (eigentlich: Jolante von der Pahlen) und Theo.

Theo hält sich für einen Schriftsteller, lebt aber von dem Geld, das die deutlich jüngere Jola als Darstellerin in einer Daily-Soap verdient. Jola will sich für ein Casting als Lotte Hass bewerben und sich dafür Tauchkenntnisse aneignen. Beide scheinen in Hassliebe verbunden, sie bewahren sich aber gegenseitig vor dem Absturz. Es kommt, wie es in solchen Romanen immer kommt: Jola bringt Svens Prinzip, sich nicht mit Kunden einzulassen, ins Wanken, er verliert die Selbstkontrolle, Antje haut ab, Theo verhält sich rätselhaft.

Er, Theo, sei dazu bereit. Er könne sich gar nichts Schöneres vorstellen, als den Verfall der Frau von der Pahlen zu beobachten und zu dokumentieren. Am besten über Dekaden hinweg. Je langsamer und qualvoller, desto besser. Am Ende würde er einen Jahrhundertroman darüber schreiben. Eine tausendseitige Metapher auf eine würdelose Epoche. Von Umfang und Bedeutung nur den Buddenbrooks vergleich­bar. Der heutige Abend sei Jolas Ende und damit Anfang eines tragischen Meisterwerks. Theo redete wie im Wahn. Irgendwann fasste ich ihn unter den Armen und zog ihn vom Stuhl. Auf der steilen Treppe trug ich ihn mehr, als dass ich ihn stützte. Tote und Betrunkene sind schwer, sofern sie nicht im Wasser liegen.
»Komm, alter Mann«, rief Jola jetzt, »gerade du solltest den Ausflug genießen. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit.«
Ich hielt das für einen Witz über seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum, aber Theo schien sie beim Wort zu neh­men.
»Wie meinst du das?«, fragte er. »Zeit wofür?«
Sie standen einander am Rand der Kaimauer gegenüber. Leicht schwankend am Abgrund, dachte ich, ihre Lieblings­position.
»Für Bootsfahrten«, sagte Jola. »Schließlich fliegst du am Samstag zurück.«
»Du nicht?«
In den folgenden Sekunden starrten wir Jola an wie ein Orakel, das im Begriff stand, den finalen Schicksalsspruch zu verkünden.

Den Roman hat nicht Theo, sondern Juli Zeh geschrieben. Von Umfang und Bedeutung den Buddenbrooks natürlich nicht vergleichbar. “Tragik” und “Schicksal” passen eigentlich gar nicht zu einer oberflächlich glatten, exaltierten Seriendarstellerin. Man weiß nicht, ob man Jola trauen, ihr etwas zutrauen kann. Ihre Tagebucheinträge, die Zeh neben Svens Erzählung stellt, wirken merkwürdig elaboriert, stellen das Geschehen aber jeweils völlig anders dar als Sven. Da Sven der Erzähler ist, neigt man eher dazu, ihm zu glauben. Ist Jola neurotisch, eine Psychopathin ? Zu seinem 40. Geburtstag will sich Sven selbst ein Geschenk machen: einen Tauchgang zu einem in 100 Metern Tiefe liegenden Wrack aus dem zweiten Weltkrieg. Nur Jola und Theo begleiten ihn. Natürlich ist das Meer auch dafür bekannt, dass es verschlingt.

Juli Zeh hat den Roman “meisterhaft konstruiert” (Klappentext). Erst mit dem finalen Abtauchen erfüllen sich Jolas Orakelsprüche. Erst jetzt merke ich, dass es Orakelsprüche waren, dass ihre Tagebucheintragungen mehr als die belanglosen Notate einer schlechten Schauspielerin waren. Burkhard Müller (SZ) sieht „hier eine gewisse rhythmische Unterbrechung“, mit der Juli Zeh „die Ich-Perspektive des geistig und emotional nicht sehr beweglichen Sven mit Auszügen von Jolas Tagebüchern synkopiert“. Die Tagebücher, man soll’s nicht verraten, sind beileibe nicht nur Beiwerk. Auch dass die Figuren selbst wenig „Tiefgang“ haben, ist so gewollt. Der Klappentext verspricht ein „Kammerspiel“.

Juli Zeh beschäftigt sich hier nicht mit ihren Lieblingsthemen, der Freiheit des Menschen in gesellschaftlichen Systemen. Etwas störend und unnötig wirken die wiederkehrenden Einschübe über das Elend in Deutschland.

Ich dachte an Deutsch­land, wo diese Menschen lebten, wenn sie nicht gerade vor Afrika segelten. Ich wusste, wie sie sich fühlten. Täglich stan­den sie vor der Aufgabe, ihre persönlichen Krisen zwischen Bankenkrise, Finanzkrise, Klimakrise, Energiekrise, Bil­dungskrise, Eurokrise, Rentenkrise und Nahostkrise unter­zubringen. Abend für Abend setzte man ihnen UM 20 Uhr für eine Viertelstunde den bevorstehenden Untergang des Abendlandes auseinander, gepaart mit der Unfähigkeit der Politiker, diesen zu verhindern. Währenddessen klammerten sie sich an die ganz private und ein bisschen peinliche Hoff­nung, es möge am Ende trotzdem alles so bleiben, wie es ist. Weitermachen. Ihr ganzes Leben bestand nur aus Weiterma­chen. Ein großes Abhaken von Stunden, Tagen, Aufgaben. Obwohl ihnen die Zukunft als Erfüllungsort der Katastrophe erschien, kämpften sie sich zäh durch die Schützengräben der Gegenwart. Soldaten, die den Glauben an den Sieg verloren hatten und sich ausschließlich fürs eigene Überleben interes­sierten. Sie desertierten nicht, weil sie nicht wussten, wohin. In einer Welt ohne Unterschiede gab es kein Exil.

Vielleicht liegt es aber auch an der Abwendung von Deutschland, an der kargen Urlaubsinsel Lanzarote, dass Sven nur noch für Jola ein Auge hat. Der Leser kann auch hier nach Anspielungen suchen.

Jola stieg aus, streckte den Rücken und sah aufs Meer, das sich glatt wie Folie bis zum Horizont dehnte. Ich öffnete die Heckklappe des Busses und spürte Dankbarkeit beim An­blick der Ausrüstung. Flaschen ausladen, Tarierjackets vor­bereiten, Bleigurte aussuchen. Jola half mir, die Plane auszu­breiten, auf der wir uns umkleiden würden. Als sie die Arme kreuzte, um ihr Oberteil über den Kopf zu ziehen, wandte ich mich dem Wagen zu, um unter dem Beifahrersitz nach meiner Maske zu suchen.

2012       255 Seiten

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Frayn
28. September 2012, 18:12
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Michael Frayn: Willkommen auf Skios

fraynskiosDr. Norman Wilfred, renommierter Szientometer, soll bei der alljährlichen Sommertagung der Fred-Toppler-Stiftung auf Skios einen Vortrag halten. Nicht, dass das die internationalen Gäste – ein leicht bespottbares Gruselkabinett – sonderlich interessieren würde, aber Dr. Wilfred führt seinen Vortrag ohnehin stets abrufbar an sich. Das ist gut so, denn bei der Ankunft auf Skios wird er mitsamt seinem Koffer verwechselt. Er wird von einem der beiden verbrüderten und deshalb verwechselbaren Taxifahrer auf Skios in ein Ferienhaus gefahren, wo er, entgegen seinen Erwartungen, nicht erwartet wird, an seiner statt landet Oliver Fox bei der Stiftung, ahnungs- und vortragslos. Da Phoksoliva dort eine nette junge Dame vorfindet, Nikki, die Organisationschefin, beschließt er zu bleiben, das weitere wird sich schon finden, den Vortrag wird er schon halten, es ist ja noch ein Tag hin. Dr. Wilfred stößt in seinem Quartier ebenfalls auf eine junge Frau, Georgie, was ihn anfangs irritiert, dann aber zusehends auf andere Gedanken bringt. Den Vortrag hat er ja bei sich.

Aber niemand wartete. Niemand blieb stehen. Niemand hörte ihn.
»Nicht er!« schrie er. »Ich!«
Ein Mann ganz hinten drehte sich um.
»Ich, ich, ich!« sagte Dr. Wilfred, hatte in seiner Wut jedoch Mühe, die angemessenen Worte zu finden, um die ungeheuerliche Ungerechtigkeit zu artikulieren, die ihm widerfahren war. »Dr. Norman Wilfred! Ich. Ich bin’s.«
Der Mann lächelte, nickte und schaute weg. Es war ihm peinlich, dass er das Opfer eines frei herumlaufenden Schizophrenen geworden war.
Auf diese noch unmittelbarere Beleidigung hin richtete sich Dr. Wilfreds Wut auf das zugänglichere Objekt. Er packte den Mann am Arm.
»Ich bin’s! Ich bin’s!« rief er. Der Mann entriss ihm entsetzt den Arm. Mehrere Personen drehten sich neugierig um. Dr. Wilfred wedelte mit dem Text seines Vortrags vor ihren Gesichtern herum.
»Mein Vortrag!« rief er. »Meiner. Ich bin Dr. Norman Wilfred! Nicht er! Ich!«
Die Leute blickten nicht auf den Vortrag, sondern sich gegenseitig an und dann überallhin, peinlich berührt, weil sie gesehen worden waren, wie sie Zeuge dieses Ausbruchs wurden.
Dr. Wilfred blieb stehen und sah zu, wie sie sich immer weiter von ihm entfernten. Die öffentliche Meinung, was seine Identität anbelangte, war in überwältigendem Maße gegen ihn. Er war eine Minderheit von einer Person, und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können.
Er setzte sich auf eine Bank neben dem Weg. Zum drittenmal an diesem Tag fühlte er sich schwach und merkwürdig, als würde er sich von einem weiteren Anfall von Fieberwahn erholen. Im letzten Dämmerlicht blickte er auf seinen Vortrag. Aber er war Dr. Norman Wilfred! Er war es, er war es wirklich! Es stand auf der Mappe! 

Es entwickelt sich die typische comedy of mistaken identity. Da weder Phoksoliva noch Dr. Wilfred ihren Gastgebern persönlich bekannt sind, ergeben sich ständig Verwechslungen und Missverständnisse, die fremde Sprache tut ein Übriges; das Skurrilste ist, dass die Insel Skios nur etwa 20 km lang ist; man müsste sich über den Weg laufen. Da man aber kaum geht, sondern mit dem Taxi fährt, gerät man unweigerlich an die Brüder Spiros und Stavros. Das Handy, das in der Zeit seit Shakespeare und Goldoni entwickelt wurde, darf natürlich nicht funktionieren: Der Akku, die nicht abgehörte Mobilbox, in Not darf es auch einmal im Pool landen. Dass es auch Computer gibt, verschweigt Frayn. Wo einstmals der Geliebte flugs im Wandschrank verschwand, dürfen bei Frayn die Freundinnen Nikki und Georgie nicht herausfinden, dass sie beide auf Skios weilen, keine 20 km voneinander entfernt.

Da der Termin des Vortrags immer näher rückt, steigt die Spannung. Frayn löst sie aber nicht in der früher üblichen Rudelhochzeit, sondern in einem Knall, besser gesagt, in vielen Knällen. Das ist für den Leser enttäuschend, weil ein Knall beim Lesen weniger gut wirkt als eine originelle Lösung, das ist dramaturgisch geschickt, da ein Feuerwerk einen beliebten Schluss beim Film darstellt. Mit Dramaturgie kennt sich Frayn aus, er ist (u.a.) Verfasser der vielgespielten irrwitzigen Bühnenkomödie „Der nackte Wahnsinn“ (Noises Off).

Jetzt waren also all die vielen Elemente, die den Höhepunkt der diesjährigen großen europäischen Hausparty bilden wür­den, an Ort und Stelle. Die unterschiedlichen Handlungs­stränge waren offenbar kurz davor, sich zu vereinigen, um in einem einzigartigen Ereignis von großer Komplexität und Tragweite zu kulminieren. Dem Showdown. Der großen Auflösung.
Was genau für eine Form dieses Ereignis annehmen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand und konnte es auch nicht wissen. Die meisten Beteiligten hegten zweifellos Er­wartungen der einen oder anderen Art, doch auch diese wa­ren konfus und unbestimmt und hoffnungslos vermischt mit dem, was sie wollten, dass passierte, oder hofften, dass passie­ren würde, oder fürchteten, dass passieren könnte. Wie auch immer, keiner von ihnen hatte eine mehr als oberflächliche Kenntnis der entscheidenden Faktoren – oder viel Zeit, um darüber nachzudenken, da der gegenwärtige Moment der Stase, in dem Oliver Luft holte und den Mund öffnete, um zu sprechen, so kurz war.
Hätten sie in einer Geschichte gelebt, hätten sie sich natürlich denken können, dass irgendwo irgend jemand den Rest des Buches in Händen hielt, und dass das, was gleich passieren würde, sich bereits in den gedruckten Seiten befand, feststehend, unveränderlich, ein für allemal existent. Nicht, dass es ihnen wirklich geholfen hätte, denn niemand in einer Geschichte weiß, dass es ihn gibt.

Gelesen, ist „Willkommen auf Skios“, etwas langatmig, nervend auch, zu bekannt und erwartbar sind die Gags. Der britische Humor dringt auch durch die Übersetzung. Reizvoll die eingestreuten Metatexte zum Genre, Frayn gibt auch dem intellektuellen Leser Baklava. Nicht, dass es nicht amüsant wäre, man kann sich die Verwirrungen gut als eineinhalbstündigen sparkelnden Film vorstellen. Ein Sommerstück mit auch ein bisschen Haut. „Nur schlechte Nachrichten aus Griechenland?“, fragt Susanne Mayer in der Zeit und druckt der Carl Hanser Verlag auf die Banderole. „Ach was: Michael Frayn inszeniert in der Ägäis einen herrlichen Spaß aus Lüge, Chaos und Spott.“ Werbung.

2012         285 Seiten

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Lesetipp: Michael Frayn: Das Spionagespiel

Mitten im Krieg spielen zwei Kinder Krieg: Im harmlosen Nachbarn erkennen Keith und Stephen einen Mörder, im Boden unter ihnen vermuten sie Geheimgänge, und ein leer stehendes Haus kommt ihnen höchst verdächtig vor. Doch auf einmal entwickelt ihr Spiel eine unheimliche Dimension: Keiths schöne, kultivierte Mutter hat nämlich tatsächlich etwas zu verbergen. (Klappentext) Ein sehr guter Roman.

Rezensionen beim Perlentaucher



Glattauer
3. Mai 2012, 19:31
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Daniel Glattauer: Ewig Dein

Als er in ihr Leben trat, verspürte Judith einen stechenden Schmerz, der gleich wieder nachließ.

Judith hat einen kleinen Lampenladen im fünfzehnten Bezirk, sie ist Mitte dreißig und Single. Was sie nicht braucht, was ihr aber doch fehlt, ist ein Mann. Den trifft sie gleich zu Beginn des Romans, besser: er trifft sie, und zwar mit dem Einkaufswagen, in dem ihr eine Staude Bananen auffällt, am Knöchel. Sie hätte die schmerzhafte Episode bald wieder vergessen, hätten sich nicht die Zufälle gehäuft, dass er, Hannes, sie traf. Er schleicht sich in ihr Leben ein und erweist sich dabei als der “Traum aller Schwiegermütter”.

Der Dienstag nach Ostern verging für sie bei außergewöhn­lich ruhigem Geschäftsgang hauptsächlich im Hinterzimmer unter dem matten Licht der Bürolampe und war reine Pflicht­übung, die ihr die Buchhaltung vorschrieb. Von Bianca hörte man zwischen acht und sechzehn Uhr nichts, wahrscheinlich schminkte sie sich gerade. Um zu beweisen, dass sie an diesem Tag jedenfalls anwesend war, schrie sie knapp vor der Sperr­stunde plötzlich: »Frau Cheeeefin!« Judith: »Bitte! Nicht so laut! Kommen Sie her, wenn Sie mir was sagen wollen.« Bianca, jetzt neben ihr: »Da ist ein Mann für Sie.« Judith: »Für mich? Was will er?« Bianca: »Guten Tag sagen.« Judith: »Ah.«
Es war der Bananenmann. Judith erkannte ihn erst am In­halt seiner Worte. Er: »Ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen. Ich bin der, der Ihnen vor Ostern im >Merkur< auf die Ferse gestiegen ist. Ich hab Sie in der Früh hier hineingehen gese­hen.« Judith: »Und da haben Sie bis jetzt darauf gewartet, dass ich wieder herauskomme?« Sie kicherte unabsichtlich. Sie hatte das Gefühl, gerade ziemlich witzig gewesen zu sein. Auch der Bananenmann lachte, sehr schön sogar, mit zwei funkelnden, von hundert kleinen Fältchen umsäumten Augen und ungefähr sechzig strahlend weißen Zähnen. Er: »Ich hab hier nur ein paar Ecken weiter mein Büro. Da dachte ich …« Sie: »Sie sagen gu­ten Tag. Das ist nett. Mich wundert, dass Sie mich erkannt ha­ben.« Das hatte sie überhaupt nicht kokett, sondern völlig ernst gemeint. Er: »Das braucht Sie wirklich nicht zu wundern.« Jetzt sah er sie seltsam an, seltsam verklärt für einen Familienvater mit acht Bananen. Nein, das waren nicht die Momente, mit de­nen Judith etwas anzufangen wusste. Unter den Wangen wurde ihr heiß. Sie musste noch dringend einen Anruf erledigen, er­kannte sie an den Zeigern ihrer Armbanduhr. Er: »Na dann.« Sie: »Ja.« Er: »Hat mich sehr gefreut.« Sie: »Ja.« Er: »Vielleicht sieht man sich wieder.« Sie: »Wenn Sie einmal eine Lampe brau­chen.« Sie lachte, um die Situationstragik ihrer Bemerkung zu überlagern. Bianca kam dazu, diesmal zum günstigsten aller Zeitpunkte. »Darf ich, Frau Chefin?« Sie meinte, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen. Auch für den Bananenmann war das das Signal zum Aufbruch. Bei der Tür drehte er sich noch ein­mal um und winkte wie am Bahnhof, aber nicht wie zum Ab­schied, sondern wie einer, der jemanden abholte.

Er war ein anderer Typ als alle bisher, nicht ihrer und auch keiner, den sie von irgendeiner Frau her kannte. Er war schüch­tern und wagemutig zugleich, verschämt und unverschämt, be­herrscht und getrieben, auf tolpatschige Weise zielstrebig. Und er wusste, was er wollte: ihr nahe sein. Das war ein durchaus ehrenwertes Verlangen, dachte Judith. Sie nahm sich vor, be­hutsam damit umzugehen und nichts zu überstürzen.

Hannes beginnt sie zu umsorgen und er lässt sich nicht beiseitestellen, als ihr seine selbstlose Fürsorge etwas zu viel wird. Als sie mit ihm Schluss macht, entwickelt er sich zum Stalker. „Die Ewigkeit schweißt uns zusammen. Du bist mein Licht und ich dein Schatten.“ Das „Ewig Dein“ wird zur Bedrohung, der Roman kippt in die Psychose. Judith verliert sich und braucht lange und vor allem ihren Lehrling, bis sie sich wiederfindet.

Daniel Glattauer teilt den Roman in 15 “Phasen” ein, der Hinweis, dass er etwas Exemplarisches erzählen will, und das Zeichen, dass die Liebe auch eine Krankheit ist bzw. dass sie zur Krankheit werden kann. Gegen Ende wird’s denn auch kriminalistisch und spannend und auch die Bananen spielen noch eine Rolle.

Zum Personal gehören einige Bekannte, “ihr Lehrmädchen Bianca, die nur einen Spiegel brauchte, um vollbeschäftigt zu sein”, die sich aber später als „volle“ vif und hilfreich erweist, und “die Mama”. Glattauer plant den Plot geschickt, er erzählt leicht ironisch distanziert, auch wenn das Thema zwischenzeitlich sehr ernst wird. Die Geschichte spielt in Wien.

2012       206 Seiten

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Leseprobe beim Zsolnay-Verlag



Kracht
24. Februar 2012, 19:08
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Christian Kracht: Imperium

Christian Kracht lässt in seiner Südseeballade “Imperium” allerlei Treibgut im kolonialen deutschen Pazifikparadies anlanden. Mit der Ausuferung des deutschen Weltreichs kamen nicht nur seltsame pazifische Eilande zum Reich, sondern auch manch sonderbarer Heiliger tauchte dort auf.

Von Krachts Helden, dem nackenden Sonnenapostel August Engelhardt, liest man nicht nur bei wikipedia, auch der Schriftstellerkollege Marc Buhl veröffentlichte 2011 einen Roman über Engelhardt – und erhebt jetzt Plagiatsvorwurf gegen Kracht (“Wer hat die Kokosnuss geklaut? – SZ). Marc Buhl liest auf zehnseiten.de aus seinem Roman. (Bei mir leider ohne Bild.) Wer etwas über den echten August Engelhardt erfahren will, kann dies bei Golf Dornseif und seinen Artikeln zur deutschen Kolonialgeschichte tun, hier findet man auch viele Bilder: Ein Kokosnuss-Apostel als Heilsbringer Neu-Guineas. Bedient hat sich Kracht auch bei der Comic-Südseeballade „Cortomaltese“ von Hugo Pratt.

Krachts Vermögen ist nicht die Erfindung, sondern der Stil. Und eigentich nur der Stil. Altväterlich, wie ein Reiseabenteuerschriftsteller der Jahrhundertwende, führt er durch die Kokosmarotten “seines” deutschtropischen Spinners. Ironisches Zitat ist auch das Cover. (Das sich in frappanter Ähnlichkeit auch bei Michael Ondatjes neuem Roman “Katzentisch” findet. Ein neuer Kolonialtrend?) Man erinnert sich daran, dass auch das deutsche Kolonialabenteuer, auch mit dem Hintergrund der Katastrophe des Weltkriegs, nur als Seifenoper zu betrachten ist: “Neupommern” als Palmeninsel.

Da wir uns nun bemüht haben, von der Vergangenheit unseres armen Freundes zu erzählen, werden wir im Folgenden also, einem ausdauernden und stolzen See­vogel gleich, dem das Überfliegen der Zeitzonen unse­res Erdenballs vollends konsequenzlos erscheint, ja diese weder wahrnimmt noch darüber reflektiert, einige Jähr­chen überspringen und August Engelhardt dort wieder aufsuchen, wo wir ihn vor einigen Seiten verlassen ha­ben; splitternackt am Strande spazierend, an seinem ei­genen Strand wohlgemerkt, sich hier und da bückend, ein besonders reizvolles Muschelexemplar auflesend und es in einen Sammelkorb aus Bast gleiten lassend, den er zu diesem Zweck über die Schulter geworfen hat.

Und hatte er schon vor langem entschieden, sich nicht mehr durch Alkohol beseelen zu lassen, so war doch der Erregungszustand, in den er durch die Kokosmilch versetzt wurde, derartig, daß er selbst im Schlaf wahrzunehmen schien, sein Blut werde sukzessiv durch Kokosmilch ersetzt, ja es war ihm, als ströme durch seine Adern kein roter, tierischer Lebenssaft mehr, sondern der wesentlich hochentwickeltere pflanzliche Most seiner Idealfrucht, der ihn dereinst befähigen werde, seine Evolutionsstufe zu transzendieren. Es ist nicht mit Sicherheit zu sagen, ob seine Diät oder aber seine zunehmende Einsamkeit als Ursache für die sich langsam anbahnende Seelenstörung anzusehen war, zumindest aber potenzierte der ausschließliche Verzehr von Kokosnüssen eine bei ihm schon immer vorhandene Irritabilität, eine Unruhe angesichts bestimmter, vermeintlich unveränderbarer, ihn vexierender äußerer Umstände.

Kracht hält sich Engelhardt nur wegen seiner abgründigen Spinnerei, er ist nur Mittel zur Darbietung seiner, Krachts, Eloquenz und Stilparodie. Wenn sich’s anbietet, genügt Kracht auch ein Myriapode: „Springer und Turm waren, hölzernen Granaten gleich, im Sand neben einem Tau­sendfüßler eingeschlagen, der sich beim Verzehr eines ihm als Abendbrot dienenden Blattes empfindlich ge­stört sah und mürrisch durch den Regen davongekro­chen war.” An keiner Stelle sympathisiert Kracht mit dem kruden Wahn des Kokovoren, als auktorialer Erzähler darf er sich durchaus erlauben, ihn vorzuführen. “Alles dies aber berührte Engelhardt nicht, da er ja gerade auf dem Weg war, sich nicht nur der aller­orten beginnenden Moderne zu entziehen, sondern insgesamt dem, was wir Nichtgnostiker als Fortschritt bezeichnen, als, nun ja, die Zivilisation. Engelhardt tat einen entscheidenden Schritt nach vorne auf den Strand – in Wirklichkeit war es ein Schritt zurück in die exquisiteste Barbarei.” Das lässt an Heinrich Mann denken und seinen “Untertan” und Kracht verdoppelt seine Kritik: an der – “nun ja” – “Zivilisation“ und an der abgedrehten „Zivilisationskritik“ des Sonnenapostels. Engelhardt in Berlin: “Ein paar Haltestellen weiter, am Alexanderplatz, lehnt ein durchnäßter Berliner an einer Hauswand und ißt, mesmerisiert kauend, eine jener labberigen Brat­würste. Das gesamte Elend seines Volkes steht ihm ins Gesicht geschrieben. Die überfettete, gleichgültige Trostlosigkeit, das graue Lamentat seiner borstig ge­schnittenen Haare, die öligen Wurstsprenkel zwischen seinen groben Fingern – eines Tages wird man ihn so malen, den Deutschen. Engelhardt, ebenso hypno­tisiert, fixiert ihn, während der Omnibus durch die Wasserwand vorbeirattert. Für eine Sekunde ist es, als ob ein glühend heller Strahl die beiden verbindet, Er­leuchteter und Untertan.”

Ich bin mit meiner Meinung wohl nicht allein, denn „viele Kritiker halten Christian Krachts Roman ‚Imperium‘ für schöne Spielerei.“ (Thomas Assheuer, Die ZEIT) Aber das sei “ein Irrtum. (…) Es gibt viele Möglichkeiten, der modernen Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, aber Kracht hat die schärfste Variante gewählt, nämlich den gnostischen Dualismus.“ Christopher Schmidt (SZ): “Krachts Roman ist eine mit den Mitteln der Literatur vom Pathos zur Parodie verschobene Rekonstruktion der Apokalypse aus dem Geist der Romantik.“ (?)

Nachtrag: Hilmar Klute, der zuverlässig aufheult, wenn er jemand der verweigerten Indifferenz bezichtigen kann, hat Recht, wenn er in der SZ feststellt: „Das einzige Unbehagen, das dieses Buch auslösen könnte, ist der kokosnussdumme Klappentext von Elfriede Jelinek.“

2012       242 Seiten

2-3

 

Auf youtube gibt es einen „Science Slam“ über „Das kokovorische Weltreich des August Engelhardt„. Der Slammer sollte aber mehr üben.



Capus
13. September 2011, 10:31
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Alex Capus: Léon und Louise

Der Erzähler ist der Enkel von Léon Le Gall. Und es bleibt ein Roman, auch wenn Alex Capus hier die Geschichte seines eigenen Großvaters aufgreift. Vielleicht ist auch das ein Grund, dass das Porträt so liebe- und verständnisvoll ausfällt.

Der Roman beginnt mit dem Begräbnis des Großvaters, erzählt wird sonst aber chronologisch und konventionell. Léon Le Gall ist ein netter junger Mann, aus dem eigentlich nichts geworden ist, weil er lieber am Rand des Meeres spazieren geht, als sich in der Schule der trockenen Theorie zu widmen. Er findet allerlei Treibgut und fischt auf einer seiner Radtouren auch ein Mädchen auf, Louise Janvier. Louise ist frech, kokett, selbstbewusst, unabhängig. Und das will sie auch bleiben.

 Oft war Leon nahe daran, den Wirt des Commerce oder des­sen Tochter nach einem Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse zu fragen; er tat es aber nicht, weil er wusste, dass es in kleinen Orten zu nichts Gutem führt, wenn ein fremder Mann sich nach einem einheimischen Mädchen erkundigt. Eines Abends aber, als Leon gerade bezahlt hatte, ging schwungvoll die Tür auf, und herein kam leichten, schnel­len Schrittes das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse, nur dass sie diesmal keine Bluse, sondern einen blauen Pullover trug. Sie warf in vollem Lauf mit wohl­dosiertem Schwung die Tür hinter sich zu, ging zielstrebig zum Tresen und grüßte unterwegs die Stammgäste links und rechts. Nur eine Armlänge von Leon entfernt blieb sie stehen und bestellte beim Wirt zwei Schachteln Turmac­Zigaretten. Während er die Zigaretten aus dem Regal nahm, kramte sie Münzen hervor und legte sie in die Geldschale, dann räusperte sie sich und strich sich mit den Fingerspit­zen der rechten Hand eine Strähne hinters Ohr, die dort aber nicht bleiben wollte und sofort wieder nach vorne schnellte.
»Bonsoir, Mademoiselle«, sagte Leon.
Sie wandte sich nach ihm um, als bemerke sie ihn erst jetzt. Leon schaute ihr in die Augen, und in der ersten Sekunde schien ihm, als erkenne er in der Tiefe ihres grünen Augen­grunds die Ahnung einer großen Freundschaft. »Dich kenne ich«, sagte sie, »aber woher?« Ihre Stimme war noch bezaubernder, als Leon sie in Erinnerung gehabt hatte.
»Von der Landstraße«, sagte er. »Sie haben mich auf dem Fahrrad überholt. Zweimal.«
» Ach ja.« Sie lachte. »Ist eine Weile her, nicht?«
»Fünf Wochen und drei Tage.«
»Ich erinnere mich, du sahst müde aus. Hattest komisches Zeug hinten aufs Rad gebunden.«
»Einen Kanister Petroleum und ein Fensterkreuz«, sagte er. »Und eine Mistgabel ohne Stiel.«
»Sowas schleppst du mit dir rum?«
»Manchmal finde ich sowas, dann schleppe ich es mit mir rum. Übrigens bin ich froh, dass es Ihrem rechten Auge besser geht. «
»Was ist mit meinem rechten Auge?«
»Das war damals ziemlich rot. Vielleicht war eine Mücke hineingeflogen oder eine Fliege. «
Das Mädchen lachte. »Ein Maikäfer war’s, groß wie ein Hühnerei. Daran erinnerst du dich?«
» Und Ihr Fahrrad hat gequietscht. «
»Das quietscht immer noch«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge. »Und du? Stehst dir hier jeden Abend die Beine in den Bauch?« Oh, dachte Leon. Das Mädchen weiß, dass ich hier jeden Abend rumstehe. Oh, oh. Das bedeutet doch wohl, dass es meine Existenz bereits zur Kenntnis genommen hat, und zwar verschiedentlich. Oh, oh, oh. Und jetzt kommt es her und lügt und tut, als ob es mich nicht wiedererkennen würde. Oh, oh, oh, oh.
»So ist es, Mademoiselle. Sie finden mich hier, wann im­mer Sie wollen.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wo ich mir sonst die Beine in den Bauch stehen soll.«
»Ein großer Bursche wie du? Sonderbar«, sagte sie, ver­staute die Zigarettenschachteln in der Tasche und wandte sich zum Gehen. »Ich habe immer gedacht, Eisenbahner seien regsame Leute, vielleicht sogar mit Fernweh. Da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte er. »Darf ich Sie ein Stück begleiten? «
»Wohin denn?«
»Wohin Sie wollen.«
»Lieber nicht. Mein Heimweg führt durch eine dunkle Gasse. Dort würdest du mir womöglich etwas über Ge­schwisterseelen erzählen. Oder versuchen, mir die Zukunft aus der Hand zu lesen. «
Und weg war sie.

Léon und Louise verlieben sich, werden aber durch die Wirren der Zeitläufte getrennt. Beide stürzen in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs jeweils für sich in einen Bombentrichter, überleben gerade noch und werden nach Paris verschlagen. Es wäre ein Wunder, wenn sie sich dort nicht über den Weg gelaufen wären, doch Léon ist inzwischen verheiratet und Louise ist so generös, sich nicht – oder kaum – in diese Beziehung einzumischen. Aber sie lieben sich doch. 1940 besetzen deutsche Truppen Paris und Louise muss mit den Goldschätzen der Bank, bei der sie arbeitet, nach Afrika fliehen. Sie schreibt Léon lange Briefe.

 Léon empfand es als Ironie des Schicksals, dass in jedem Weltkrieg, den er erlebte, dasselbe Mädchen vor seinen Augen spurlos verschwinden musste.

Léon richtet es sich in seiner Arbeit und in seiner Familie ein, beides ohne Begeisterung, doch zu antriebslos, um Widerstand oder Neubeginn zu wagen. Die Familie dümpelt während der Besatzungszeit dahin, es kommen fünf Kinder und es kommt nach dem Krieg auch Louise wieder aus Afrika zurück.

 Ob diese schwere Zeit Yvonne und Leon noch enger zusammenschweißte, weil sie einander jeden Tag aufs Neue ihre Treue und Verlässlichkeit bewiesen, oder ob ihnen unter der steten Bedrohung noch die letzte Hoffnung auf romantische Liebe abhandenkam, weil sie ganz pragmatisch als Kampfgemeinschaft zu funktionieren hatten – ob sie einander unter diesen Umständen also nähergekommen sind oder nicht, ist schwer zu sagen; man kann sich vorstellen, dass sie sich diese Frage gar nie stellten. Denn von Bedeutung war nicht das Etikett oder die Überschrift ihres Zusammenseins, sondern das tägliche Überleben; und jenseits aller Metaphysik hatte schlicht die Zeit gewisse Fakten geschaffen, die stärker ins Gewicht fielen als alle Worte.
So war es eine Tatsache, dass sie beide nun über vierzig Jahre alt waren und mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lebensmitte überschritten hatten. Eine arithmetische Tatsache war es auch, dass sie von ihrem bisherigen Leben die Hälfte miteinander verbracht und bald mehr Nächte miteinander im gemeinsamen Ehebett als ohneeinander geschlafen haben würden. Absehbar war weiter, dass ihre Kinder in überraschend kurzer Zeit halbwegs erwachsen sein und als lebende Beweise dafür in die Welt hinausgehen würden, dass Yvonne und Leon ganz ordentliche Eltern gewesen waren. Bald würden die Tage, die ihnen auf Erden noch blieben, immer rascher verrinnen, und bald würde die Summe ihrer gemeinsamen Erinnerungen so groß sein, dass sie in jedem Fall tröstlicher war als jede Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Leben ohneeinander. Wohl konnte es noch aus diesem oder jenem Anlass ge­schehen, dass eines Tages sie vor ihm Reißaus nahm oder er vor ihr. Ein neuer Anfang aber, ein neues Leben würde das nicht sein, sondern nur die Fortsetzung ihres bisherigen Le­bens unter neuen Bedingungen. Es gab kein zweites Leben, sie hatten nur dieses eine. Das mochte auf den ersten Blick niederschmetternd erscheinen, auf den zweiten aber war es der größtmögliche Trost; denn es bedeutete, dass ihr bisheriges Leben nicht gleichgültig, sondern unabdingbare Voraussetzung gewesen war für alles, was noch kommen würde.

Eine Liebesgeschichte fern von- und mit nur verhalten eingestandener Sehnsucht nacheinander. Die Geschichte rüttelt mächtig an den Schicksalen, sie ist aber nicht alleiniger Grund für die Melancholie. Dennoch zeigt der Roman auch das Leben unter deutscher Besatzung, die auch hier – wie bei Irène Némirovsky – als unerwartet verhalten beschrieben wird. Beide, Léon und Louise, sind so unprätentiös liebreizend, dass man „sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise“ (Christine Westermann, WDR) Capus’ Stil wirkt zuweilen ein wenig altväterlich heimelig, aber letztlich passt das zu dieser rührenden Geschichte.

 »Dann lass uns gehen, es ist endlich Zeit. «
Sie gingen an Bord, verstauten die Vorräte in der Kabine und starteten den Motor. Dann machten sie die Leinen los, legten ab und fuhren aus dem Hafenbecken hinaus auf die Seine und flussabwärts, dem Ozean entgegen.

2011         315 Seiten

Videos, Lese-und Hörprobe beim Hanser Verlag

 Video von BR-Lesezeichen

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Herrndorf
8. Dezember 2010, 17:44
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Wolfgang Herrndorf: tschick

tschick„’Tschick’ ist ein Buch, das einen Erwachsenen rundum glücklich macht und das man den Altergenossen seiner Helden jederzeit schenken kann.“ (Gustav Seibt, SZ/Klappentext)

Die Altersgenossen sind 14, freunden sich, da von den anderen wenig und von den Mädels gar nicht beachtet, in der Schule an, haben somit in den Ferien nichts vor, wollen deshalb nach Süden oder in die Walachei. Maik hat Problemeltern, Tschick ist russischer Aussiedler und geschickt zumindest beim Klauen des nötigen Autos. Der Trip weg von Berlin ist der Inhalt es Buches und schon abenteuerlich – auch wenn es nicht durch Amerika, sondern durch Ostdeutschland geht. Die Jungs sind auf sich selbst gestellt, haben im Leben noch nicht viel gelernt, auch das Autofahren nicht, und stoßen auf eine Menge seltsamer Leute.

Daraus ergeben sich komische Situationen, das Wunderbarste ist aber, dass die zwei Taugenichtse eigentlich ganz nett und sympathisch sind, auch der Russe, und so durch ihre Welt voller Seitenwege kommen.

Dresden war mal ausgeschildert. Dresden lag ziemlich sicher im Süden, und da nahmen wir erst mal diese Richtung. Aber wenn wir die Wahl hatten zwischen zwei Wegen, fuhren wir nach Mög­lichkeit den kleineren mit weniger Autos, und da gab es dann bald immer weniger Wegweiser, und die zeigten immer nur bis zum nächsten Dorf und nicht nach Dresden. Geht es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbink? Wir warfen eine Münze. Tschick fand das mit der Münze toll und sagte, wir fahren jetzt nur noch nach Münze. Kopf für rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus. Die Münze blieb logischerweise nie auf dem Rand liegen, und wir kamen überhaupt nicht mehr voran. Deshalb gaben wir das mit der Münze bald wieder auf und fuhren immer rechts­links-rechts-links, was ich vorgeschlagen hatte, aber das war auch nicht besser. Man sollte meinen, wenn man immer ab­wechselnd rechts und links fährt, könnte man nicht im Kreis fahren, aber wir schafften es. Als wir zum dritten Mal an einem Wegweiser standen, wo es links nach Markgrafpieske und rechts nach Spreenhagen ging, kam Tschick auf die Idee, nur noch Orte anzusteuern, die mit M oder T anfingen. Aber davon gab es eindeutig zu wenig. Ich schlug vor, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand zu nehmen, aber bei Bad Freienwalde 51 km bogen wir gleich falsch ab, und als uns das auffiel (drei mal siebzehn), waren wir schon wieder sonst wo.
Endlich kam die Sonne durch. In einem Maisfeld gabelte sich der Weg. Nach schräg links ging es endlos auf Kopfstein­pflaster, nach rechts endlos auf Sand. Wir stritten, welcher Weg mehr nach Süden zeigte. Die Sonne stand nicht ganz in der Mitte. Es war kurz vor elf.
«Süden ist da», sagte Tschick.
«Da ist Osten.»
Wir stiegen aus und aßen ein paar Schokoladenkekse, die schon zur Hälfte geschmolzen waren. Die Insekten im Mais­feld machten einen ungeheuren Krach.

„’Tschick’ ist ein Buch, das einen Erwachsenen nicht unglücklich macht, das er aber auch nicht lesen muss, weil er schon mehr solche Bücher gelesen hat, und das jüngere Genossen (Klasse 9) lesen werden, weil sie ja auch gern Auto fahren möchten und weil es flott und schnoddrig geschrieben ist. Nach flapsig komischem Beginn wird der Roman sogar ein bisschen melancholisch und anstatt der schicksigen Tatjana erscheint auf einer Müllhalde Isa Schmidt.

2010          250 Seiten

3



Rai
25. Juli 2010, 20:33
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Edgar Rai: Nächsten Sommer

Was ich noch nicht gekannt habe: den Buchtrailer. Kein unverständlicher Mix aus den Bildern, die gibt es ja nicht, aber auch keine Bebilderung des Inhalts. Hier sind es Stimmungen zum Thema, Mediterranes, Meer und VW-Busse, die aufs Lesen vorbereiten sollen – oder das Lesen ersetzen?

Was ich gut finde, aber noch nicht gefunden habe, sind Soundtracks zum Roman. Nicht immer hat man die Cat Power-Version von „New York New York“ oder das Album von Jack Johnson, das im VW-Bus läuft. Man kann sich das alles herunterladen, aber die Verlage könnten doch bei den Kompilationen helfen und vielleicht würde es dann auch noch ein bisschen günstiger.

Apropos Jack Johnson. Das mag zwar zur Stimmung passen, aber nicht zur Zeit. Denn „Nächsten Sommer“ gehört als Roman wie der VW-Bus und seine Besatzung in die Siebziger. Drei Berliner Jungs brechen auf in den Süden, weil einer von ihnen ein Haus in Südfrankreich geerbt hat. Unterwegs lesen sie ein paar Frauen auf, bestehen ein paar Abenteuer in Schluchten und bei Verfolgungsjagden und fragen sich gegenseitig und selbst, wie das denn so ist mit dem Leben und seinem Sinn, was sie machen wollen und wer sie sind? Eine road-novel halt, eine neue, aber arg vertraut. Der stark schüchterne Bernhard, der coole Marc, Felix, der nicht viel sagt, aber meist fährt, schöne Frauen, die letztlich doch unverstanden und unverständlich sind. Und der VW-Bus, der nach und nach nur noch vom Gaffa-Band gehalten wird.

Natürlich sind Reisen in den Süden schön, mit all den Düften und Cafés und Sehnsüchten. Rai erzählt das anschaulich, sommerlich, in kurzen Kapiteln, manchmal originell. Er verzichtet auf das Happyend und mischt ein bisschen Wehmut zu.

Zoe hält die Augen geschlossen. In ihr Lächeln schleicht sich Wehmut. Doch ein Tropfen Wehmut ist ja allem Schönen beigemischt. Auch für sie ist die Reise zu Ende. Nur ich werde bleiben. Das ist mir letzte Nacht klargeworden. Außer mir haben alle etwas, das auf sie wartet: eine Beerdigung, ein neues Leben, ein Job, der nächste Auftritt. Auf mich warten eine Katze, die sich seit fünf Tagen von Achmed füttern lässt, sowie ein autistischer Junge, von dem ich nicht einmal weiß, ob er weiß, wer ich bin. Ich möchte Zoe sagen, dass es okay ist, dass Glück nie von Dauer ist, doch dass jetzt und hier alles an seinem Platz und genau so ist, wie es sein soll. Und mehr kann man vom Leben nicht erwarten.
»Danke«, sagt Zoe und schmiegt ihren Kopf an meine Brust.

Ein Roman, wie aus einer alten Zeit. Und es gibt ja immer einen „nächsten Sommer“.

2010           235 Seiten

15 Minuten Vorleseprobe  des Autors bei „zehnseiten.de“

Edgar Rai hat den Roman zum Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ geschrieben. Auch beim Aufbau-Verlag.

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Steinbeis
6. März 2010, 19:01
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 Maximilian Steinbeis: Pascolini

Braucht’s des?“ (Gerhard Polt) – Braucht’s so ein Buch, ein so aus der Zeit und in die Welt gefallenes? – Natürlich hätt’s das nicht gebraucht, aber schön ist’s doch, dass es so was noch oder noch einmal gibt.

Den Inhalt kann man in wenigen Sätzen wiedergeben, oder auch in vielen. Steinbeis fasst gleich am Anfang bilanzierend zusammen: „In den Wäldern, heißt es, wird immer noch gelegentlich geschossen.“ (Bitte diesen Satz noch einmal lesen! Oder sprechen. Wer ihn mag, mag auch den Roman.) Nicht nur geschossen wird im Oberbayerischen, sondern auf fantastisch viele Weisen kommen die Leut zu Tode, sodass am Ende, ohne was zu verraten, gar nicht mehr viel vom angehäuften Personal überbleibt. Oder, laut „Königlich Bayerischem Amtsgericht“ (KBA): Eine liebe Zeit – trotz der Vorkommnisse, menschlich halt.

Die Handlungsfladen sind geschickt geknetet, manchmal müssen auslappende Enden wieder aufgelesen und eingearbeitet werden, aber das Was ist – mir – eher nebensächlich. Steinbeis bereitet ein Potpourri aus den Klischees übers Oberland, Wildern, Saufen, Schmuggeln, Haberfeldtreiben u.v.m., auch neuen, etwa einem weißen Pulver, füllt seinen Kessel mit bunten Gestalten, vom „Zaiserl“ Stadler über den „roten Gustl“, den Egid „Gidi“ Duftinger, den Jakob Böhm und den Kastenbauer und den Unternehmer Scholten und auch ein paar aus dem Norden, Katholische und Evangelische und erzbayerische Partikularisten, Wunderheiler und natürlich die Schmuggler und Ganoven in höheren Ämtern. Zeitlos unmodern. Nicht zu vergessen: der Titelheld Matthias „Hias“ Pascolini, abstämmig aus dem „Teufelsschlupf“, Inkarnation des sagenhaften „Bayerischen Hiasl“ (Nom de Guerre). Man kennt sie alle aus dem Komödienstadl, doch hier treiben sie’s wild, dumpf, anarchisch und verquerer als dort. Karikaturen, falls die Menschen im Norden nicht eh glauben, dass die Bayern insgesamt solche sind.

Wo es beim KBA heißt: „Das Bier war noch dunkel, die Menschen warn typisch; die Burschen schneidig, die Dirndl sittsam und die Honoratioren ein bisserl vornehm und ein bisserl leger.“, geht Steinbeis ins Volle:

 Die Mädchen staken (Steinbeis liebt diese alten Präterita) in Miederkleidern von ben­zinpfützenhaft schillerndem Himmelblau mit erdbeerrosa Schürzen und trugen eine höchst sonderbare grüne Kopf­bedeckung, geformt wie ein Katzenfressnapf und den Etten­gruber Mädchen bei Besuchen außerorts ein Quell bestän­diger Pein, aber unglückseligerweise auf alten kolorierten Stichen des Münchner Staatsarchivs wiedergegeben und des­halb von Kurt Duftfinger mit brutaler Autorität durchgesetzt. Die Jungen trugen forstgrüne Westen über ihren weißen Hemden, offen, auf dass der farbenfroh mit dem Dorfwap­pen, fakultativ auch dem Wappen des Königreichs Bayern bestickte Quersteg des ledernen Hosenträgers schön zur Schau gestellt bleibe, und auf dem Kopf einen spitzen Nadel­filzhut nebst Auerhahnfeder. Die bayerische Burschentracht mit ihren aufgerollten Hemdsärmeln und kniekurzen Gams­lederhosen legt die jeweiligen Unterteile der Gliedmaßen frei, und das aus gutem Grund: So ein Unterarm, dick wie zwei nebeneinandergelegte Schiffstaue, mit blonden Borsten behaart und in der Lage, die kurzen dicken Finger keulenför­mig zusammenzuballen, zeigt die knochenzermalmende Kraft seines Eigentümers diskreter und eindrücklicher an als jeder noch so gut trainierte Bizeps. Die Wade wiederum gilt in ihrer schwellenden Schnellkraft als Verkörperung nicht nur läuferischer, sondern auch sexueller Leistungsfähigkeit, übrigens auch bei den Mädchen, womit die eigentlich etwas stupide permanente Drehbewegung, die ihnen die Choreo­graphie des Volkstanzes zwischen den schenkelklatschenden, springenden und juchzenden Burschen zuweist, ihren Sinn bekommt, weil sie den knöchellangen Rock zentrifugal auf­steigen lässt und den Blick nicht nur auf allerhand weißes Unterzeug, sondern auch und zuallererst auf die nackten Waden zulässt, und zwar jedermann gleichermaßen, anders als die eigentlich näher liegende Brust, deren Umfang und Formschönheit immer nur Einzelne aus eigener Anschauung kannten und die daher auf dem Heiratsmarkt zur Kursfest­setzung ungeeignet war.

 Erzählen tut alles vom Rande des Geschehens und doch dabei die wenig bescholtene Camilla, denn „um ihr Bestand zu geben, dieser Welt aus Rauchgestalten und Nebelschemen, um sie zu bannen und zu bändigen, da bin ich mir ganz sicher: um das zu tun, muss man sie erzählen.“ Da die Camilla aber nicht alles weiß und auch des öfteren anders beschäftigt ist, erzählt, ohne sich zu outen, auch der Erzähler Steinbeis und, wenn’s offiziell werden soll, der Freiherr von Ergoldsbach, der Chronist. Damit erhält alles den Stempel der Glaubwürdigkeit ;-}

 Steinbeis glänzt neben seinem Wissen über gar manches vor allem mit seinen Sätzen. Ganz und gar nicht recht hat dabei Jennifer Mettenborg, wenn sie meint: Vielleicht ist die Sprache ein bisschen umständlich. Vielleicht wird aber gerade dadurch die etwas gemütliche Umständlichkeit der dargestellten Bevölkerungsgruppe verdeutlicht. (literaturmarkt.info). Die Sprache ist nicht umständlich, sondern höchst elaboriert. Und gemütlich ist hier schon gleich gar nichts. Das Gegenteil ist der Fall. Steinbeis’ Schreibe ist beißend, zynisch, entlarvend. Mir kommt dabei Eckhard Henscheid in den Sinn, der auch über stark oder noch stärker verdeutlichte Grenzexistenzen aus dem Herzen und dem Bauch der Gesellschaft schreibt, auch, wie Steinbeis, höchst kunstvoll und unterhaltsam. Am besten deshalb noch eine Stelle aus dem „Pascolini“:

 Es gab durchaus Katholiken unter den Gästen meiner Mutter, aber die meisten waren doch evangelisch. Streng genommen ist auch das nur eine Vermutung. Die Konfession spielte, erstaunlich aus heutiger Sicht, damals kaum eine Rolle für uns. Das glaubten wir zumindest. Als einmal nach dem Abendessen ein entsetzlich schüchterner junger Mann namens Alfons Bichler, den Seb Rothkehl bei irgendeiner Parteiveranstaltung aufgelesen und seines liebenswerten Sprachfehlers wegen – der junge lispelte – mitgebracht hatte, in eine Gesprächspause hinein »Gelobt sei Jesus Christus« murmelte und sein privates kleines Tischgebet zu seiner gro­ßen Scham plötzlich zum Gegenstand der belustigten Neu­gier der gesamten Runde gemacht sah, schnaubte meine Mutter nur und lachte ärgerlich. Bei den meisten unserer Gäste wusste kein Mensch, welcher Glaubensrichtung sie an­hingen. Bei anderen, deren Konfession ich kannte, hätte sie kein Mensch vermutet: Sebastian Rothkehl beispielsweise, der sich damals als Historiker, Fritz-Schäffer-Biograph und Apologet der bayerischen Partikularismusbestrebungen eben anschickte, zum Chefideologen der Bayernpartei zu werden, unser krachlederner Seb, der keinen Preußen davonkommen ließ, ohne ihn ausführlich über Herzog Tassilo aufzuklären, über die jähe kulturelle Verödung nördlich des Limes sowie die Tatsache, dass das Nibelungenlied aus der Gegend von Passau und Richard Wagners Tannhäuser, des Kaisers Fried­rich des Zweiten Ritter und Bußliedsänger, aus Tannberg un­weit des Chiemsees stammte, woselbst man heute noch den Hof »Zum Venusberger« besichtigen könne – dieser Seb Rothkehl war in Wahrheit, was so gut wie niemand wusste, ein frommer Sohn der evangelisch-lutherischen Kirche. Er kam aus Nürnberg und hatte sich in Ettengrub ein Häuschen gekauft, und zwar mit dem Geld seiner Frau, einer Nichte von Josef Baumgartner und fanatischen Partikularistin, vor deren teigiger Humorlosigkeit er immer öfter und zuletzt ganz und gar in die freundliche Obhut meiner Mutter floh.

 Ich merke gerade, so ganz unaktuell ist das gar nicht.

2010 – 250 Seiten

Maximilian Steinbeis liest am 22. April 2010
– Donnerstag – 20.30 –
bei Dombrowsky in Regensburg

 Roman-Homepage
mit Leseproben, Videos uvm
 Steinbeis‘ Verfassungsblog
 Blog-Rezension von Katharina Schmitz  Aufbau-Verlag

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McCarten
14. November 2009, 19:11
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Anthony McCarten: Hand aufs Herz

Vor 20 Jahren verfasste Anthony McCarten das Theaterstück „Ladies Night“, nach dem der Film „The Full Monty / Ganz oder gar nicht“ entstand. Das Lexikon des internationalen Films schreibt darüber: Eine warmherzige, nuancenreiche Komödie voller Witz, Humor und leisen sozialkritischen Tönen, die mit bewundernswertem Respekt und großer Sympathie ihre Figuren nie für derbe Scherze mißbraucht, sondern ihr komisches Potential aus der aufmerksamen Beobachtung von Widersprüchen schöpft. Amüsant und kurzweilig handelt das Erstlingswerk von der Kraft schlitzohriger Leichtigkeit ebenso wie von heilsamen Änderungen im männlichen Selbstbild. Das gilt auch für „Hand aufs Herz“, das eigentlich „Hand aufs Blech“ heißen müsste.

Die Idee stammt wohl von Tanzmarathons in den USA der Weltwirtschaftskrise – „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ ist der Film dazu von Sidney Pollack mit Jane Fonda von 1969. Da der Wettbewerb primär Reklame für ein verkrachtes Autohaus sein soll, gibt es auch Öffentlichkeit dafür und McCarten kann den Radiomoderator Lee Lerner kommentieren lassen:

Bei dem Wettbewerb kann man ein Auto gewinnen, und das Auto bekommt derjenige, der am längsten die Hand daran halten kann… Wie man hört, sind die Teilnehmerjetzt bald den dritten Tag ohne Schlaf dabei. Ich wollte von der ganzen Sache nichts wissen, doch heute Morgen schlug ich die Zeitung auf, und da war sie, wenn auch ziemlich weit hinten. Eine Geschichte. Mit einem hübschen großen Foto. Und da habe ich den Artikel gelesen. Offenbar sind Leute aus allen Schichten dabei, stehen in diesem Augenblick dort draußen im strömenden Regen. Einige sind befragt worden, und man bekommt die Art von Geschichten zu hören, die man erwarten würde – jemand, dem das Geld ausgegangen ist, jemand, der einen Zweitwagen braucht, Harvey Bingham aus Dorset, der seine Freundin beeindrucken möchte, viel Glück, Harvey, und so weiter und so weiter. Doch dann kam ich zur Geschichte der Frau, die auf dem Foto zu sehen ist. Jess Podorowski heißt sie, und sie ist Politesse. Buuuh, höre ich Sie rufen. Tststs. Aber bevor Sie jetzt alle auf sie losgehen oder hier anrufen und Ihren liebsten Politessenwitz erzählen wollen, da muss ich sagen … ihre Geschichte, die hat mich wirklich gerührt. Wirklich gerührt. Sie erzählt, dass sie diesen Geländewagen gewinnen will, damit sie hintenrein einen Rollstuhl stellen kann, für ihre kleine gelähmte Tochter.

Schon im ersten Kapitel stellt McCarten „Die Kandidaten“ vor, die auch in der Qual des Wettbewerbs im Mittelpunkt des Interesses stehen: den gebildeten, aber auch eingebildeten Tom Shrift und eben Jess. Es soll nicht verraten werden, dass sie sich befehden und beschimpfen und am Ende doch. Nachdem viele Kandidaten ihre Hand unfreiwillig zurückziehen, verlagert sich die Beobachtung mehr zu den drei/zwei Verbleibenden und der Frage, ob der Guiness-Rekord im Nicht-Schlafen übertroffen werden kann. Gedanken der Solidarität blitzen auf, soll man gleichzeitig aufgeben?, doch natürlich gewinnt das Privatinteresse die Oberhand:

Das Leiden der anderen.
Es war unglaublich, wie einen das aufbaute. Sie war verblüfft, wie sehr sie innerlich jubilierte, wenn ein anderer aufgab, davonwankte, nicht mehr an den Wagen zurückkam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, doch die Wirkung blieb. Nach Mitternacht, als der Fischhändler aus Norfolk einfach zusammensackte und auf den Fersen hockenblieb, fühlte sie sich prächtig. Alle hatten mitfühlende Worte, als der Mann in Tränen ausbrach und dann von dannen schlurfte, doch Jess konnte nicht leugnen, dass ihr das Weitermachen danach ein ganzes Stück leichter fiel, dass es überhaupt viel einfacher schien – und nicht nur für sie. Nach jedem Ausscheiden kam Partystimmung auf. Zuerst dachte sie, es ginge nur ihr so, und schämte sich, doch dann sah sie, dass auch alle anderen nach dem Zusammenbruch des Fischhändlers auflebten. Wo andere untergingen, stieg man selbst auf. So einfach war das. Und je weiter die Nacht fortschritt, desto häufiger kamen diese Muntermacher – stets auf Kosten eines anderen – und waren immer willkommener.
Um zwei der nächste Energiestoß. Gerade als allen wieder so richtig flau wurde, sorgte die Hebamme für Rettung, indem sie im Toilettenhäuschen einschlief und erst durch Schläge an die Tür wiederbelebt werden konnte. Die Frau hatte sich großer Beliebtheit erfreut, weil sie jedem, der fragte, medizinische Ratschläge gab, und allenthalben wurde beteuert, wie sehr man sie vermissen werde usw. usw., doch …

Der Roman hat ein interessantes Thema, das gerade in England immer wieder gerne aufgegriffen wird, vielleicht weil dort die sozialen Deprivationen noch augenfälliger sind als sonstwo. Da der Wettbewerb als solcher letztlich doch keine 300 Seiten trägt, werden sozial-psychologische (Selbst-)Deutungen eingefügt, die aber auch keine neuen Gedanken enthalten. So zieht sich das Lesen für mich – vielleicht auch, weil die Spannung durch die Sympathie des Autors für die Personen und durch das absehbare und zudem angekündigte Ende nicht durchgehalten oder gar gesteigert wird. Ganz nett.

2009      320 Seiten 

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Die Bücher des Diogenes-Verlags haben hinten immer ganz viele Tipps zum Weiterlesen und oft liegt auch ein Ex-Libris bei, die mich schon öfter dazu gebracht haben, ein Buch zu kaufen und zu lesen. Werbungen übertreiben natürlich – meist. Warum machen das nicht alle Verlage?