Nachrichten vom Höllenhund


Tuil
17. April 2023, 17:50
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Karine Tuil:
Diese eine Entscheidung

Und die kooperativen, liebenswürdigen  Häftlinge, die zu bereuen scheinen, werden sie sich nicht, sobald ich sie in die Freiheit entlasse, ein Messer besorgen  und auf offener Straße einen Passanten erstechen?

Beruf und Privatleben kommen sich gerne in die Quere, überlappen sich, sollten eigentlich strikt getrennt sein, führen zu Verwerfungen in einem der beiden Sektoren oder auch in beiden. Natürlich ist oft auch die Arbeit die Brutstätte für die Liebe. Und natürlich gibt es produktive Ausnahmen.

Alma Revel ist Untersuchungsrichterin mit Schwerpunkt Terrorabwehr. Sie vernimmt einen jungen Mann, Abdeljalil Kassem, der aus Syrien nach Frankreich zurückgekommen ist und im Verdacht steht, Anhänger des IS, des „Islamischen Staates“ zu sein. Immer wieder beteuert er seine Unschuld. Die Protokolle der Verhöre sind in den Erzählverlauf eingefügt:

Frage der Richterin: Warum wollten Sie nach Frankreich zurückkehren?

Antwort:  Nach den Attentaten vom Januar 2015 habe ich verstanden, dass es das Ziel des IS war, Menschen zu töten. Ich habe meinen Irrtum eingesehen und wollte ihn ausbügeln.

Frage der Richterin: Wenn man Sie so hört, fragt man sich, warum Sie sich dem IS überhaupt angeschlossen haben.

Antwort:  Ich bin nicht hingefahren, um mich dem IS anzuschließen.

Die Richterin reflektiert beständig die Vorgaben, die Aussagekraft von Gutachten, die Wechselwirkungen von Umgang mit den Häftlingen und deren weiterer Entwicklung, sie erläutert ihre Verhörmethoden, will alles unter Kontrolle halten. Man weiß, wohin das führt.

Ich hatte Abdeljalil und Sonia lange vernommen. Sie kamen mir vertrauenswürdig vor, vor allem Sonia. Sie wirkte verletzlich und authentisch, ich glaubte ihr, dass sie sich in Syrien unfrei fühlte und nichts anderes im Sinn hatte, als ihr Kind großzuziehen. Ich wollte sie retten. Abdeljalil erschien mir undurchsichtiger, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sein nebulöser Charakter und sein auffälliges Verhalten mehr mit mangelndem Vertrauen zu den Menschen zu tun hatte als mit verborgenen Motiven. Ich unterstellte, dass er imstande war, seine Fehler zu erkennen und sich zu ändern, selbst wenn    mich sein starrer, abwesender Blick ein wenig beunruhigte. Am Ende sagte ich mir, dass ich ihn nach seinen Taten beurteilen musste und nicht nach dem Unbehagen, das er mir einflößte.

Als Ermittlungsrichterin verbringe ich viele Stunden mit einem Beschuldigten, anstrengende Stunden, in denen ich eine dunkle, harte Materie bearbeite. Wenn meine Ermittlungen   abgeschlossen sind, muss ich entscheiden, ob genügend Anklagepunkte vorliegen, die es rechtfertigen, den Verdächtigen   vor Gericht   zu bringen. Es ist eine mentale Tortur: Treffe ich die richtige Entscheidung?  Und was ist eine richtige Entscheidung?  Richtig für wen? Den   Beschuldigten? Die Gesellschaft? Mein Gewissen?

2015 gab es in Paris mehrere Terroranschläge an verschiedenen Orten. Der „spektakulärste dabei war das Massaker im Musiktheater ‚Bataclan‘, bei dem islamistische Attentäter 89 Menschen erschossen.

Tagesschau-Berichte zum Attentat und den Prozessen
Terroranschläge am 13. November 2015 in Paris

Der Roman „Diese eine Entscheidung“ spielt 2017. Alma Revel soll junge Männer verhören, die verdächtig sind, an den Anschlägen beteiligt gewesen zu sein. Im Mittelpunkt der problematischsten Entscheidung steht Abdeljalil Kassem. Dreh- und Angelpunkt aber ist die Überkreuzung von Beruf und Privatleben. „In meiner Arbeit kannte ich Zweifel und Ängste, doch am Ende musste ich klare Entscheidungen treffen, um der Sicherheit eines ganzen Landes willen. Im Privatleben hatte ich mich bisher davor gedrückt, aber jetzt fühlte ich mich bereit.“ Sie will sich von ihrem Mann Ezra trennen, der jüdische Wurzeln hat und immer näher an die jüdische Orthodoxie rückt. Ihre Tochter ist am Abend des Attentats unter den Club-Besuchern. Und Alma fängt eine Affäre an – mit dem Anwalt, der Abdeljalil Kassem verteidigt. Die Kalamität liegt zutage, die Seelennot lässt sich erfühlen, die Frage ist aber auch, ob die überströmenden Befindlichkeiten das Thema Terrorismus nicht an den Rand des Romans drängen, auch wenn ständig darüber geredet wird. „Wochenlang verharrte ich in einer Art Schockstarre, weil ich die emotionale Achterbahn nicht ertrug, in die mich die Überlagerung einer leidenschaftlichen Affäre durch ein nationales Drama katapultierte.“

Alma Revel geht ständig im Kopf herum, von welcher inneren Motivation ein Attentäter getrieben wird, ob sie diese Antriebe erkennen kann, ob sie hätte mögliche Lügen hätte sehen müssen. Wäre Präventivhaft ein probates Mittel gewesen? „Ein hochspannendes, fast schmökerhaftes und doch sehr politisches Buch, wie wir es genau in dieser Zeit jetzt brauchen,“ meint Elke Heidenreich. Sehr „politisch“ würde ich bestreiten, da Hintergründe des Terrorismus eher im Privaten verortet werden. Gut geschrieben schon, die Komposition könnte auch die Vorlage für eine Serie sein.

»Glaube denen, die die Wahrheit suchen,
und zweifle an denen, die sie gefunden haben.«

André Gide

2022 – 350 Seiten

2-3

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