Nachrichten vom Höllenhund


Garmus
28. Januar 2023, 17:07
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Bonnie Garmus:
Eine Frage der Chemie

Er war zwar kein Chemiker, er war ein Hund, aber auch als Hund erkannte er eine dauerhafte Bindung auf den ersten Blick.

Elizabeth Zott ist Chemikerin. Das wäre an sich nicht schlimm. Von heute aus betrachtet. Aber Miss Zott betont es in allen Situationen, versteift sich gar darauf. Sagt es bei unpassend erscheinenden Gelegenheiten, etwa beim Kochen. Sogar ihre Küche sieht aus wie ein Labor: „Roth klappte vor Verwunderung der Mund auf, als er sich den Raum ansah, der mal eine Küche gewesen sein musste. Jetzt sah er aus wie eine Kreuzung aus OP-Saal und Gefahrstofflager.

  »Es war  eine unsymmetrische  Ladung«,  erklärte sie und schob noch irgendetwas über die Trennung von Flüssigkeiten basierend auf deren Dichte nach, während sie auf ein großes silbernes Ding zeigte. Zentrifuge? Er hatte keine Ahnung. Er öffnete sein Notizbuch wieder. Sie stellte einen Teller Kekse vor ihm auf den Tisch.
  »Das sind Zimtaldehyde«, sagte sie.“

 Elizabeth Zott ist eine attraktive Frau. Äußerlich. (Auch wenn sie Hosen trägt!) Innerlich reißt sie alles wieder ein, denn sie ist eine dezidiert rationale Frau. Mit ihrer entschieden spröden Art irritiert sie ihre Kontaktpersonen. Es ist ihr nicht wichtig, nett, angepasst zu sein, sie will keine Kompromisse machen, die schlecht für die Benachteiligten sind. Die Benachteiligten sind in den USA der 50er-Jahre: die FRAUEN. Das ist natürlich nicht nur zu dieser Zeit und an diesem Ort so, aber im Rückblick von heute aus war das so arg, dass man sich auf einen anderen Planeten gebeamt fühlt. (Obwohl ?)

Elizabeth Zott lächelt drei Mal im Roman. „»Lächeln?«, hatte Elizabeth erwidert. »Lächeln   Chirurgen während einer Blinddarmoperation? Sie hat aber auch nichts zu lachen. Im Chemischen Institut in Hastings veröffentlich der Fachbereichsleiter ihre Forschungsergebnisse als seine eigenen, nachdem er sexuell übergriffig geworden ist. Als sie gefeuert wird, nachdem ihr beruflicher und privater Partner gestorben ist, verunglimpft er sie beruflich und als Person (Frau). Im Amerika der 50er-Jahre ist die Rolle der Frau festgeschrieben: Hausfrau und Mutter – Kinder, Küche, Kirche. Elizabeth Zott reagiert idiosynkratisch gegen alle drei. Sie will ihren Partner nicht heiraten, weil sie sonst nicht nur ihre Selbstständigkeit verlöre, sondern auch ihren Namen: Aus Elizabeth Zott würde sie zu Mrs Calvin Evans. Die Kirche verteidigt dieses System an vorderster Front. Elizabeth Zotts ganzes Denken ist wissenschaftlich angelegt, sie bezeichnet sich als öffentlich Atheistin, in ihrer Überzeugung meint das Humanismus.

Bonnie Garmus stellt der kühl berechnenden Frau Dialogpartner zur Seite. Im Gespräch mit Reverend Wakely kann sie sich über Gott austauschen. „Glauben Sie nicht, dass es möglich ist, sowohl an Gott als auch an die Wissenschaft zu glauben?«

   »Sicher«, hatte Calvin zurückgeschrieben. »Das nennt man intellektuelle Unaufrichtigkeit.«
   Calvins Schnodderigkeit, die schon oft viele Menschen verärgert hatte, schien dem jungen Wakely nichts auszumachen. Er schrieb umgehend zurück.
   »Aber Sie werden doch gewiss einräumen, dass das Gebiet der Chemie nicht existieren könnte, wäre es nicht von einem Chemiker   — einem Meisterchemiker — erschaffen worden«, hielt Wakely in seinem nächsten Brief dagegen. »Genau wie ein Gemälde nicht existieren kann, solange es nicht von einem Künstler erschaffen wurde.«
   »Ich befasse mich mit evidenzbasierten Wahrheiten, nicht mit Spekulationen«, antwortete Calvin prompt. »Daher, nein, Ihre Meisterchemiker-Theorie ist Schwachsinn.

Das stammt zwar aus dem Briefwechsel ihres Partners Calvin Evans, entspricht aber auch Elizabeths Denken.

Dann ist da Harriet, ihre Nachbarin und Haushaltshilfe, eine verständnisvolle und sorgende Frau, die sie in ihre Privatsphäre lässt und der sie zur „Selbstermächtigung“ gegen ihren rabiaten Ehemann verhilft. Die früh- und hochbegabte Tochter Mad (eigentlich Madeline) sucht ihrerseits den Zuspruch, sie argumentiert wie eine Erwachsene, in der Schule ist sie völlig unterfordert, ihr Lieblingsort ist die Bibliothek.

Und, ein Schmankerl des Romans, da ist noch der Hund. Halbsieben. (Six-Thirty). Halbsieben ergänzt Elizabeth Zott in emotionaler Hinsicht. Der Familientherapeut. Er spürt, wenn die Personen, ob Mutter oder Tochter, Anlehnung suchen, er übernimmt Aufgaben, holt z.B. Mad (die er für sich „das Wesen“ nennt) von der Schule ab, er kennt Hunderte von Wörtern.

Halbsieben stand auf und trabte ins Schlafzimmer. Unbemerkt von Elizabeth hatte er kurz nach Calvins Tod damit begonnen, Hundekekse unter dem Bett zu  bunkern. Nicht, weil er fürchtete, Elizabeth könnte vergessen, ihn zu füttern, sondern weil auch er eine wichtige chemische   Entdeckung gemacht hatte, nämlich die, dass Essen half, wenn er es mit einem ernsten Problem zu tun hatte. (…) Wie wär’s denn, das Baby nach irgendwas aus der Küche zu nennen? Topf Topf Zott. Oder aus dem Labor. Pipette Zott. Oder vielleicht etwas in Richtung Chemie — vielleicht eine Abkürzung wie, na ja, Chem? Oder besser Kim. Wie Kim Novak, seine Lieblingsschauspielerin in Der Mann mit dem goldenen Arm. Kim Zott.
   Nein. Kim war ihm dann doch zu kurz.
     Und dann dachte er: Wie wär’s mit Madeline? Elizabeth hatte ihm Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorgelesen. Er konnte es eigentlich nicht weiterempfehlen, aber eine Stelle hatte er verstanden. Die Stelle mit der Madeleine. Dem Keks. Madeline Zott? Warum nicht?
   »Was hältst du von dem Namen >Madeline<?«, fragte Elizabeth ihn, nachdem sie rätselhafterweise Proust aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch gefunden hatte.
   Er sah sie an, sein Gesicht ausdruckslos.

Das ist arg fabulös. Aber Halbsieben ist eine Stellvertreterfigur, da kann man das – nach anfänglicher Irritation – schon mal durchgehen lassen. Manchmal ufern die Diskussionen etwas aus: über das Mensa-Essen oder übers Rudern müsste man nicht so viel sprechen. Es zeigt sich aber, dass die vertretenen Positionen noch gebraucht werden, um das Bild von Elizabeth Zott abzurunden. „Eine Frage der Chemie“ ist ein Roman, in dem wir Frauen lesen können, wie „erfolgreich“ die „Emanzipation“- bei allen Einschränkungen – war und in dem wir von Elizabeth Zott ohne Unterlass und mit Nachdruck auf unsere Pflicht zur Eigenständigkeit erinnert werden. „Eine Frage der Chemie“ ist aber auch ein Roman für uns Männer, denn er zeigt uns, was für Arschlöcher Männer waren und sein können, wenn man sie lässt. Was für ein Glück, dass das heute ganz anders ist. 😉

Fast vergessen: Nach ihrem Rauswurf aus dem Chemielabor wird Elizabeth Zott: Fernsehköchin! In ihrer täglichen Show „Essen um sechs“ kocht sie nicht nur kompetent, sondern gibt den Zuschauerinnen auch Lebenshilfen und ermuntert sie zum Selbstdenken und zur Infragestellung ihrer tradierten Rolle. Das Publikum reagiert fasziniert, obwohl Elizabeth Zott auch das Kochen als Chemie verkauft.    »Die Kartoffelschale«, dozierte Elizabeth zehn Minuten später, »besteht aus suberinisierten Phellemzellen, die die äußere Schicht des Knollenperiderms   bilden. Sie stellen die Schutzstrategie der Kartoffel dar ...« (…)

»Fordern Sie sich heraus, Ladys. Nutzen Sie die Gesetze der Chemie und verändern Sie den Status quo.« »Denn wenn Frauen Chemie verstehen, begreifen sie zunehmend, wie alles zusammenwirkt.«
»Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte er höflich und zeigte ihr seinen Presseausweis. »Was gefällt Ihnen so an dieser Sendung?«
   »Dass ich ernst genommen werde.«
   »Nicht die Rezepte?«
   Sie sah ihn fassungslos an. »Manchmal denke ich«, sagte sie langsam, »wenn ein Mann einen Tag als Frau in Amerika verbringen müsste, würde er gerade mal bis Mittag überleben.«
   Die Frau auf seiner anderen Seite tippte ihm aufs Knie. »Macht euch auf einen Aufstand gefasst.«

„Eine Frage der Chemie“ ist auch Stoff für Hollywood. Sehr amerikanisch, Elizabeth Zotts Rigorismus wirkt nur im Rückblick radikal, ihre Bekundungen und Appelle sind so allgemein formuliert, dass die heute kaum Anstoß erregen dürften, und wir können uns beim Lesen prima fühlen.

Danksagung: „Meine große Zuneigung    und Dankbarkeit geht an alle meine Ruderteam-Kameradinnen    von Green Lake und Pocock in Seattle. (…) Zu guter Letzt danke ich meinem Hund Friday, von uns gegangen, aber unvergessen, und dem allzeit stoischen 99.“

»Ich habe Sie mit hierhergenommen«, sagte sie zu Roth, »weil ich möchte, dass Ihre Leser eines verstehen: In Wirklichkeit bin ich keine Fernsehköchin. Ich bin Chemikerin. Eine Zeit lang habe ich versucht, eines der größten chemischen Rätsel unserer Zeit zu lösen.«
   Sie begann, mit offensichtlicher Begeisterung   die Abiogenese zu erklären, von der sie mittels präziser Beschreibungen ein umfassendes Bild malte.

„Eine Frage der Chemie“ landete 2022 auf Platz 1 der Liste der meistverkauften Bücher in Deutschland. 2023 wird bei Apple TV+ in Serie „Lessons in Chemistry“ ausgestreamt.

2022 – 560 Seiten

+2

Hörprobe – Extended Version: »Eine Frage der Chemie« von Bonnie Garmus (35 Minuten)

„Auch ein sehr witziges Buch …“ – (Gespräch im „Literaturclub“ des SRF (Video 15 Minuten)



Haruf
29. März 2022, 16:27
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Kent Haruf:
Ein Sohn der Stadt

Dann, etwa Mitte Februar, schlug dieses persönliche Gefühl von Schock und Angst plötzlich in Feindseligkeit und offene Empörung um. 

Kent Haruf arbeitet gerne mit solchen Voraussagen. Das zeigt, dass er als Autor den Überblick hat und dass man ihm vertrauen und weiterlesen kann, wenn er Spannung verspricht. Für den Roman delegiert Kent Haruf seine Erzähler-Autorität an den Zeitungsmann der Stadt, Pat Arbuckle, den er als Beobachter und als Akteur ins Geschehen steckt. Eigentlich geschieht ja nicht viel in Holt/Colorado. „Ein Sohn der Stadt“, Jack Burdette, ist plötzlich verschwunden und kehrt nach acht Jahren ebenso unvermutet wieder zurück. Er schien verloren – später stellt sich heraus, dass er in Kalifornien war, aber das liegt außerhalb des Holter Horizonts – und das hat die Stadtgesellschaft – zumindest einen Teil davon – ganz schön ins Vibrieren gebracht.

Jack Burdette war kein großes Licht in der kleinen Stadt. Aber er war groß und eignete sich als Highschool-Football-Star, was in den USA zu sowas wie Ruhm verhilft. Wegen dieser ‚Qualifikation‘ darf Jack Burdette zum ‚Studieren‘, was ihn wenig interessiert und was er auch bald beendet, da er im Footballteam jetzt nur einer von vielen besseren ist. Er geht zurück nach Holt.

  Ich rutschte ein Stück weiter am Tresen und bestellte noch ein Bier. Wanda Jo Evans saß ganz allein an einem Tisch. Sie winkte mir, und ich ging rüber und setzte mich auf einen Stuhl neben sie. Jack Burdette stand am Billardtisch und unterhielt sich mit einer Gruppe von Männern. Schwer, kräftig, massiv, eine imposante Gestalt, stand er da und redete, gestikulierte mit einem vollen Schnapsglas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand, sein Gesicht schwebte über denen der anderen, erhitzt und lebhaft, die Augen ein bisschen glasig. Alle Männer sahen ihn an, während er schwadronierte. (…)

So hätte es ewig weitergehen können. So war es schon seit mehr als zehn Jahren gegangen. Im Jahr 1970 dann wurde Doyle Francis fünfundsechzig und beschloss, in Rente zu gehen.   Und Doyles Ausscheiden aus dem Arbeitsleben entpuppte sich als das Erste in einer Reihe von Ereignissen, die für Wanda Jo das Ende bedeuteten, obwohl das damals weder sie noch sonst jemand ahnte.

Dann wird Jack Burdette Manager der Farmer-Kooperative in Holt. „Dann war es 1971. Frühling.“ Und dann war Jack Burdette verschwunden und mit ihm viel Geld. Die Stadt vibriert – und richtet es sich wieder zurecht. Pat Arbuckle und Jack Burdettes Frau Jessie finden zueinander und so hätte es weitergehen können.

Die amerikanische Kleinstadt (des Mittleren Westens) ist eigentlich auserzählt. Auch in „Ein Sohn der Stadt“ ist der Plot nicht neu, ist die Geschichte routiniert und anschaulich geschrieben. Der Titel gibt sich wenig Mühe, auch der Originaltitel „Where You Once Belonged“ ist eher banal und auf dem Niveau des Schlagers. Kent Haruf hat sechs Romane geschrieben, die in Holt angesiedelt sind. Es geht um die Menschen, die fiesen und die mitmenschlichen, Politik oder Geschichte spielen nicht in die Stadthinein. Am bekanntesten ist wohl der letzte Holt-Roman: „Unsere Seelen bei Nacht“. Auch hier wird die Kleinstadt umgetrieben, doch verleiht die Altersfreundschaft zweier einsamer Menschen, Addie und Louis, dem Roman ungeahnte Wärme.

1990 – 280 Seiten

3


Wink
9. Oktober 2021, 19:26
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Callan Wink:
Big Sky Country

Die Menschen sind  “entwurzelte Wesen, die der Wind dahin und dorthin weht, die sich verhaken und weitergetrieben werden, in der vagen Erwartung, eine neue Pflanzheimat zu finden“. (Callan Wink, „Der letzte bessere Ort“) In Callan Winks Stories von 2016 liest man Skizzen eines Romans, jetzt hat er diese Schlaglichter ausgebaut zu 380 Seiten. Den „letzten besseren Ort“ hat er noch immer nicht gefunden, auch der Ort, an dem August aufschlägt, ist nur eine Station auf dem Erwachsen-Werden, „fast ein Zuhause“.

August – so heißt der Roman im Original – kommt aus Michigan, doch da seine Eltern sich trennen, kann er nicht dort bleiben. Er zieht mit seiner Mutter nach Montana. Michigan an den Großen Seen ist feuchtes Industrieland, Montana ist so groß wie Deutschland und hat 1 Million Einwohner, trocken, kalt, Rocky Mountains: Big Sky Country. Mehr als 2000 Kilometer von Michigan, 24 Stunden Fahrzeit, Augusts Vater meint es nicht ernst mit einem Besuch. Seltene Telefonate, was sollte man sich sagen.

August kann sich nicht zum Studium durchringen, er arbeitet lieber, hat schon seinem Vater gern auf der kleinen Rinderranch geholfen. In Montana findet er Arbeit auf der Virostok Ranch. August ist nicht unzufrieden, schläft und isst in einem Anbau, gut, dass er keine Ambitionen hat. Das Leben macht Pause.

Eine Tasse Kaffee im Bauch, bevor es überhaupt hell war, die zweite, während das Grau sich zum goldenen Morgen festigte. August toastete sich zwei Scheiben Weißbrot. Er schmierte Butter drauf, schnitt sich eine Banane und arrangierte die Scheiben darauf wie blasse Taler. Er träufelte ein präzises Zickzack aus Honig darüber und aß auf seiner kleinen Terrasse, die Kapuze wegen der Kälte hochgeschlagen, und atmete den Dampf über dem Becher ein. Von dort konnte er das Licht in Ancient Virostoks Küche sehen. Manchmal tauchte Ancient hinter dem Fenster auf, er war allein, füllte die Kaffeekanne mit Wasser, spülte seinen Reisebecher aus, wusch sich die Hände, nachdem er Speckstreifen in die Pfanne gelegt hatte. Bis Ancient aus dem Haus kam, hatte August seine ganze Kanne getrunken.  Als er schließlich so weit war, trat Ancient auf die Veranda, streckte sich und gähnte.

Toppas und Tacos, Hobbies wie Angeln interessieren nicht wirklich, Sport stellt sich als bedrohlich, langweilig und übergriffig heraus, Saufen, ja, ein paar Händel, aber wozu, Pick-ups, Quads, Bagger. Freunde sind rar und allenfalls zum Abhängen und Absitzen in Bars akzeptiert, wozu Mädchen da sind, wird August auch nicht ganz klar. Nebenan wohnen Hutterer, „Hoots“, und liefern Milch und Hähnchen.

August hatte die Kaffeemaschine an einer Zeitschaltuhr hängen, und er wachte langsam auf, während der Topf sich gluckernd füllte. Er zog die Jeans von gestern an, die schon Tage vorher hätten gewaschen werden sollen, und schenkte sich einen Becher ein. Er ging draußen pinkeln, barfuß, das Gras taufeucht, während das Tageslicht gerade erst erstarkte. Drinnen schob er zwei Scheiben Brot in den Toaster und schaltete das kleine Radio an, das er auf der Arbeitsplatte stehen hatte. KPIG aus Billings kam relativ rauschfrei rein. Die Wetteransage machte so früh am Morgen eine Computerstimme. Mehr Sonne, keine Wolken. Keine Überraschung. Der erste Song nach dem Wetter war John Mellencamps »Jack and Diane«, und August schmierte sich Erdnussbutter auf sein Toast — vermisste die Marmelade — und aß es trocken, aber klebrig an der Spüle. Er hatte dort das Polaroid-Foto vom Musselshell River an die Wand gepinnt, und Mellencamp sang von two American kids growing up in the heartland, als August sie genau ansah. Jack und Diane. Two ‘merican kids doin‘ the best they can. seinen Reisebecher, schaltete das Radio aus, zog seine Stiefel über und ging das Quad   auftanken. Er hatte einen weggeschleiften Zaun zu reparieren.

August, eine Art des American Kids. Ungewisser Zusammenhalt und schleichender Zerfall der Familie, Frauen, gegen die man nicht ankommt, wenn man nicht so hart sein will oder kann, wie es die Erziehung zum Mann erwartet, Frauen, die gehen, wann sie wollen, Freunde, die auch keine Perspektive sehen. Politik spielt am Rande herein bis nach Montana: der Kumpel, der in Afghanistan fällt, am Nachbarzaun Tafeln mit Verschwörungssprüchen. „AMERIKA DEN AMERIKANERN!  JUDEN=TERRORISTEN — 9/11 WAR DER MOSSAD! BUSH WUSSTE ALLES!“ August will sich raushalten, hat aber kein positives Programm für sich selbst. Montana ist der nächstbessere Ort. Nicht mehr.

Sie schwiegen einige Meilen. Dann sagte August: »Hast du schon mal einen Bisonsprung gesehen?« (…), einen alten Bisonsprung der Indianer. Eine Stelle, wo sie die Tiere von der Klippe gejagt haben. Ich habe mal einen bei meiner alten Arbeit hinten in den Hügeln gefunden. Ein Riesenhaufen kaputter Schädel und so weiter. Man konnte genau sehen, wo sie über die Kante gekommen sind und wo sie dann unten auf die Felsen aufschlugen. Muss ein krasser Anblick gewesen sein. Wie so eine ganze Herde da rüberkommt.« 
»Ja? Und?« 
»Und das ist alles. Ich musste nur gerade daran denken. (…) Ein Tier folgt dem anderen von der Klippe oder in Sicherheit, das spielt eigentlich gar keine Rolle. Keine Helden. Wir laufen bloß alle den ganzen Tag durch die Gegend, mal hier, mal dort lang, aber immer dem Arsch vor uns hinterher. Genau wie mit den Frauen. Wenn du gerade meinst, du bist der Leitbulle, wird dir plötzlich der Boden unter den Füßen weggezogen. Man könnte ja meinen, daraus lernen wir, aber eigentlich hat es keine neue Idee mehr gegeben seit Adam mit Eva. Am besten wäre es doch, seine Tage für sich zu verbringen, und dann, wenn es Zeit ist, zum Sterben raus in die Prärie zu gehen.«
  »Klingt einsam.«  »Aber wenigstens würdevoll.«

Die Darstellung ist sachlich, trotz großer Nähe distanziert, August will auch seinem Autor nicht zu  nahe kommen, Gefühle sollen drinnen bleiben, Callan Wink respektiert das, nimmt nicht Stellung. Harte Kerle reden nicht, weiche auch nicht, aber es ist alles nicht einfach.  „Ein geradezu klassischer Entwicklungs- und Bildungsroman im ländlichen Amerika.“ (Christoph Schröder, ZEIT)

August schwitzte in der Two Dot Bar und wartete auf seinen Hamburger. Er hatte den ganzen Tag Heu gemacht, und obwohl er auf dem Barhocker saß, konnte er immer noch den Traktor unter sich dröhnen spüren. Mit Rückenschmerzen von der Feldarbeit. Er war kaputt, und dabei hatte er nicht mal zwischendurch einem Lerchenstärling das gebrochene Bein geschient. Wo war Paul Harvey mit seinem Lob der Farmer, wenn man ihn brauchte? Vor August stand ein Bier auf einer Serviette, und der Abend war warm, also hatte Theresa die Tür offen stehen. Im Spiegel hinter der Bar sah er Tim kommen. Einen Moment an der Schwelle einhalten, bevor er sich ans andere Ende der Bar setzte. Er bestellte sich einenKurzen Jim Beam und ein Pabst Blue Ribbon zum Nachspülen, und während Theresa ihm einschenkte, saß er mit steifem Rückgrat auf seinem Hocker und starrte stur nach vorne. Er kippte den Whiskey und stellte das Glas leise auf dem Tresen ab. Es war leise in der Bar, die Jukebox still, die Fernseher stumm geschaltet, nur ein Scheppern von Pfanne auf Kochplatte kam aus der Küche. 
»Damals im Schnee, als du mich ein Phantom genannt hast«, sagte August, »was hast du da gemeint?« Tim erwiderte Augusts Blick im Spiegel. »In dem Moment hatte es etwas zu bedeuten«, sagte er. »Jetzt weiß ich nicht mehr.«   

Tim leerte sein Bier mit drei großen Schlucken. Er legte das Geld auf den Tresen und stellte das leere Schnapsglas darauf. »Stimmt so, Theresa«, sagte er. Dann stand er auf, setzte sich wieder den Hut auf und ging hinaus in den Abend.

2020 – 380 Seiten

2-3


Strout
5. Januar 2021, 17:21
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Elizabeth Strout:
Die langen Abende

500 Kilometer sind es von Portland bis New York City. Es ist die Distanz zwischen Provinz und Welt, die Distanz zwischen Jung und Alt, zwischen Leben und Sterben. Maine ist der Bundesstaat ganz rechts oben in den USA, viel Wald und Meer, wenig Menschen, überwiegend katholisch und liberal.

In Bob schwoll eine Traurigkeit an, die er seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Er hatte seinen Bruder vermisst – seinen Bruder! -, und sein Bruder vermisste Maine. Aber sein Bruder war mit einer Frau verheiratet, die Maine hasste, und Bob machte sich nichts vor: Sie würden nie mehr hierherkommen. Jim würde den Rest seines Lebens im Exil in New York City verbringen. Und Bob den Rest seines Lebens im Exil in Maine. Er würde nicht aufhören, Pam zu vermissen, er würde nicht aufhören, New York zu vermissen, auch wenn er weiterhin einmal im Jahr hinfahren würde. Er war hier im Exil. Und die Seltsamkeit von alldem – wie sich das Leben gefügt hatte, für ihn, für Jim, ja sogar für Pam -, wie ein ganzer Ozean der Traurigkeit fühlte es sich an.

Maine ist die Protagonistin in Elizabeth Strouts Roman „Die langen Abende“. Crosby nennt sie den Ort, an dem Olive Kitteridge lange Lehrerin war, sie ist so nüchtern wie ihre Disziplin. Kurz angebunden, manche empfinden sie als abweisend. Im Original heißt das Buch „Olive, again“, Strout hatte Olive Kitteridge schon 2007 zur Titelheldin eines Romans gemacht, auf Deutsch „Mit Blick aufs Meer“ – und jetzt „Die langen Abende“ so pathetisch banal wie nichtssagend übertragen. (Ja > der Buchmarkt > die Zielgruppe.)

Der Roman ist eigentlich eine Geschichtensammlung.  In Crosby treffen sich – meist ältere – Leute und es entwickeln sich Gespräche. Worüber wird gesprochen? Eigentlich über nichts. Also über das Leben. Und das Sterben. Und das, was dazwischen liegt: das Alter. Über den Familien-Knatsch, über die Hoffnungen von früher, die sich als Illusionen erwiesen, über die, die gestorben sind, von selbst oder mit eigener Hilfe, über die, die – noch – leben. Die Kinder sind weggezogen in die Welt, haben keine Zeit für Besuche, sie haben falsch geheiratet, die Enkel sind verzogen. Man ahnt, dass man selbst als Mutter nicht alles richtig gemacht hat. Der Lauf der Dinge wird zurückgedacht aufs Private. Wie soll man sonst seinen Platz behalten. Tiefgreifende Gedanken im Verfliegen. Elizabeth Strout erzählt mehr als „lange Abende“.

Betty seufzte:

Ich denke manchmal, wenn ein Kind so weit wegzieht, dann versucht es, Abstand zu etwas zu gewinnen, und das bin in diesem Fall ja wohl ich.«
Und erst da begriff Olive zur Gänze – in gewisser Weise be­griff sie es allen Ernstes erst jetzt-, warum Christopher in New York lebte. »Das stimmt wahrscheinlich«, sagte sie langsam, während sich der Schmerz wie ein feines Netz in ihr ausbreite­te.

Das Nichts wird immer beschränkter, immer wichtiger. Olive Kitteridge spricht in vielen der Geschichten mit, läuft in manchen einfach mal kurz durchs Bild. Nachdem auch ihr zweiter Mann gestorben ist, zieht sie sich zunächst ins zu groß gewordene Haus und dann ins Altenheim zurück. Das Weiterleben wird beschwerlich und reduziert sich aufs Wesentliche. Das schien mir zunächst als nebensächlich, ich las es als bieder und spannunglos weg, der Tratsch aber gewinnt Konturen in seiner Reduktion, ja, berührt.

Sie hatte das Einzelbett aus dem Gästezimmer in dem Haus mitgebracht, in dem sie mit ihrem zweiten Mann Jack gelebt hatte, und einen kleinen Holztisch, den sie zusammen mit ihrem ersten Mann besessen hatte. Henry. Und dazu noch ein Schränkchen, ebenfalls aus Henrys Zeiten. Es war Jacks Vorschlag gewesen, diese Möbel bei ihnen im Keller einzulagern, und jetzt war sie darüber sehr froh. Auf diese Weise konnte sie ein Stück von Henry um sich haben. »Danke, Jack«, hatte sie laut gesagt, nachdem die Umzugsleute gegangen waren. Und dann hatte sie gesagt: »Und danke, Henry.« Auf dem Schränkchen hatte sie ein Foto von Henry stehen und daneben ein kleineres von Jack.

“Die langen Abende” ist ein Familienroman. Mit vielen Dialogen, Alltagssprache, leicht und schnell zu lesen. Keine Analysen, kein Kitsch, Klischee schon, viel vertraute Heimeligkeit, die Suche nach Intimität. Die Gesellschaft lässt das immer weniger zu, auch die Provinz ist kein Refugium. Am Rand dosierte Tabubrüche: die eigene Inkontinenz, Empörung über Obsessionen von Bekannten. „Es ist, als klappe Elizabeth Strout die Fassade von Puppenhäusern auf, die mit dem zeitgenössischen Wissen um Zerrüttung, Kindesmissbrauch, Vernachlässigung und häusliche Gewalt möbliert sind.“ (Catrin Lorch, SZ) Das Individuum muss sich seinen Platz finden – oder erträumen. “Über Politik wird hier nicht geredet. Haben Sie mich verstan­den?” Da ist Olive rigoros. (Nur einen Schlenker erlaubt sich Elizabeth Strout: Olive ägert sich über Bettys Autoaufkleber „mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war”, sie hätte fast “den nächs­ten Herzinfarkt bekommen”.)

Wichtiger sind aber doch die Jahreszeiten, das Blühen und Verwelken.

Und so saß sie da und betrachtete den Himmel, die Wolken hoch oben, und dann sah sie hinunter zu ihren Rosen, die sich phantastisch gemacht hatten in dem einen Jahr. Sie beugte sich vor und schaute genauer hin – da, gleich hinter der Blüte dort kam noch eine Knospe! Das machte sie richtig froh, der An­blick dieser neuen kleinen Rosenknospe. Und dann lehnte sie sich wieder zurück und dachte an ihren Tod, und das Staunen und die Beklommenheit ergriffen aufs Neue von ihr Besitz.
Er würde kommen.
»Tja-ja«, sagte sie. Und sie saß noch viele Minuten so, ohne recht zu wissen, was sie dachte.

2019 – 350 Seiten

2-3



Lerner
19. November 2020, 14:41
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Ben Lerner:
Die Topeka Schule

„Der politischen Literatur unserer Tage könnte [das Werk] ein Licht aufstecken.“ So Kai Sina, FAZ. Deshalb ist „unsere Welt ein bisschen heller geworden“. So Barack Obama, Literaturkenner. Der Roman ist, so Felix Stephan, SZ, „ein literarisches Phönomen“, „ein brillantes, einzigartiges Buch“ (Washington Post) „Es geht um (…) die große Krise der Männlichkeit. Brillant!“ (Welt am Sonntag). Sally Rooney, gehypte Jungautorin, weiß “die Zukunft des Romans (…) angebrochen” und Ocean Young, gehypter Junglyriker, liest in Ben Lerners „Die Topeka Schule“ „letztlich ein Werk der Liebe“.

Die vielen Stimmen, mit denen der Suhrkamp-Verlag bewirbt, klingen schwammig und ‚letztlich’ hohl, konterkarieren den im Buch vermuteten Inhalt. Man sollte misstrauisch werden. Ich hab den Roman dennoch gekauft und gelesen und nach dem Licht und der Erleuchtung gesucht. Was werde ich sagen? Finde ich Anknüpfungspunkte zum gehudelten Lob?

„Die Topeka Schule“ ist ein Familienroman, angesiedelt im amerikanischen (gehobenen) akademischen Mittelstand im Mittleren Westen, Topeka, im Gravitationsfeld von Kansas City, mit Ausflügen an die Ost- und Westküste und darüber hinaus. Adam Gordon steht vor seinem Abschluss an der titelgebenden Topeka High School. Die Eltern forschen an der berühmten Menninger Foundation in Topeka. Vater Jonathan kümmert sich neben seinem Sohn psychotherapeutisch um weniger arrivierte, „lost boys“, Mutter Jane ist mit ihrem feministischen Ratgeberbuch sehr erfolgreich, die Überfliegerin in der Familie, und trat sogar bei Oprah auf. Sie wird aber in Shitstorms auch als „Familienzerstörerin“ beschimpft. „Die Grundrisse der Einfamilienhäuser in diesem Vorort sind allesamt identisch, und die Grundrisse des Bewusstseins ihrer Bewohner sind es auch.“ (Felix Stephan, SZ) Alles Leben, ja sogar Räume und Städe sind psychoanalytisch aufgeladen. Auch der Roman.

Ben Lerner wirft seinen Strahl in den Kapiteln abwechselnd auf die drei Gordons, mittelbar durch die Erzählperson oder beschreibend. Es verwundert vielleicht Adam, aber nicht den Leser, dass die Familienkonstellation das Erwachsenwerden des Jungen nicht erleichtert. „Seine Eltern hat­ten mit seltener Entschiedenheit darauf bestanden, dass er entweder Erwood konsultierte oder eine konventionelle Ge­sprächstherapie begann. Die Heftigkeit, sagten sie, sei außer Kontrolle: wie schnell er in Wut gerate, auch wenn er sich relativ rasch wieder beruhige. Er brauche »Strategien«”.

Die Analyse übernimmt die Kontrolle, das Kind hat keine Chance.

Jane übernahm die Führung, versuchte ihn zu unterbrechen, in eine andere Richtung zu lenken, während wir einander immer wieder voller Sorge, mit einem Gefühl der Hilflosigkeit ansahen. Und dann sagte Jane sehr nachdrücklich seinen Namen, und er hörte auf und kehrte zu sich selbst zurück (von wo?). »Was?«, fragte er.
»Ich verstehe dich ganz schlecht«, sagte sie. (Ich warf ihr einen verdutzten Blick zu; wir hörten ihn laut und deutlich.) »Tut mir leid«, sagte sie, »die Verbindung ist nicht so toll. Kannst du uns von einem anderen Telefon aus anrufen?«
»Wieso?«, fragte Adam verwirrt.
»Es ist völlig verrauscht, und du bist einfach zu leise.«
»Vielleicht liegt es am Gewitter«, sagte Adam; mittlerweile regnete es in New York offenbar kräftig.
»Gibt es im Wohnheim oder in der Nähe ein Münztelefon?«, fragte Jane, und jetzt begriff ich, was sie da machte, und es verschlug mir den Atem.
»Ich glaube, es gibt eins im Keller, in der Nähe der Waschmaschinen«, sagte Adam. In der Nähe der Kupferwand. »Aber ich rede einfach lauter«, sagte er und tat es.
»Tut mir leid, wir verstehen dich einfach nicht«, sagte Jane, wie sie es bei den Männern zu tun pflegte. »Du musst uns von unten zurückrufen.«
Er unterschätzte, wie sehr der Wechsel nach New York für ein Semester – ohne Natalia als stabilisierenden Faktor – einem erneuten Auszug von zu Hause gleichkommen würde. Sie hatten sich sehr früh in seinem ersten Studienjahr an der Brown University aufeinander eingelassen; sie war seine Er­satzfamilie. Er hatte keine richtige Erfahrung mit der Stadt, die überwältigend sein kann, zumal wenn man in Topeka aufgewachsen ist. Ihre Bipolarität: eben noch glitzernde Fülle, im nächsten Moment ein Abgrund. Ihre überlegene, ernste Verachtung. Und die Beziehung zwischen den beiden war chaotisch gewesen, wie für dieses Alter typisch; er kam in den Ferien nach Hause (je teurer die Uni, desto länger die Ferien) und ließ sich mit früheren Freundinnen ein; Natalia wartete darauf, dass er erwachsen wurde. Dann ging sie nach Spanien und hatte keine Lust mehr zu warten; sie verliebte sich in einen Spanier, irgendeinen Musiker, einen Under­ground-Rap-Star oder aufstrebenden Rapper, und zog von ihrer Gastfamilie in seine Wohnung.

Ein wichtiger Baustein zu Adams Sozialisation ist das Debating. Wie sein Autor Ben Lerner ist Adam Gordon US-Meister im Debattieren, einer „Kunst“, die das Argumentieren zum bloßen Zweikampf herabzieht. Auch hier ist der Stratege nötig: der Rhetoriktrainer.

Einem Anthropologen oder einem Gespenst, das die Flure der Russen High School durchstreifte, käme das schulüber­greifende Debattieren weniger wie ein Redewettstreit als wie ein rituelles Zungenreden vor. Siehe den mit zystischer Akne geschlagenen ersten Kontra-Redner von der Shawnee Mis­sion, der – in lässigerer Kleidung, typisch für die reichen Kids aus Kansas City – mit einer Geschwindigkeit von 340 Wör­tern pro Minute Belegstellen für seine Behauptung vorliest, dass der Plan der Pro-Seite die Familiengerichte überlasten und damit eine katastrophale Ereigniskette in Gang setzen werde. Er lässt jede Seite auf den Boden fallen, wenn er da­mit fertig ist, dazu Schweißtropfen. Er atmet scharf ein, brüllt einen neuen Leitsatz – »Überlastung der Gerichte führt zum Zusammenbruch des Systems« -, liest dann weitere Belege vor und verheddert sich kurz in einem Stottern, das seinen Vortrag bei dieser Lautstärke und Geschwindigkeit so klingen lässt, als hätte er einen Krampf- oder Schlaganfall. Während die Zeit abläuft, fasst er seine Argumente zusammen, obwohl nur wenige Uneingeweihte ihn verstehen könnten: Gregor be­legt Überlastung der Gerichte infolge zunehmender Durchsetzung von Kindesunterhaltsansprüchen Überlastung der Justiz führt zu Zusammenbruch des Systems Zusammenbruch führt zu Atomkon­flikt chinesischer oder nordkoreanischer Atomschlag in folgendem Machtvakuum wiegt schese-schese-schwerer als sämtliche etwaigen Vorteile des Pro-Plans und und und und Stevenson beweist dass Pro-Plan in jedem Fall keine Lösung weil Widerstand innerer Kräfte Du-Durchführung blockiert Nein-Votum allein schon we­gen nachteiliger Auswirkungen zwingend aber aber auch wenn man Plan als Plan betrachtet keine Lösung weil Hauptquelle für Gerichte in Georgia nicht nicht anwendbar aufBundesprogramm nur auf Einzelstaat also keine andere Möglichkeit als negatives Votum.(…) Seine Rede wurde von Tempo und Intensität überdehnt, bis er spürte, wie sich ihre Sachbedeutung in reine Form auflöste. (…)„Das Letzte, was man mit diesen Tausenden von Wörtern anfangen sollte, war, sie zu verstehen. Derartige Offenlegungen waren zur Verschleierung gedacht.

The „Spread“, Nikolaus Stingl übersetzt es gewitzt mit “Schnellsen”,

In der Highschool bestand das Problem für ihn darin, dass das Debattieren einen zum Nerd und die Lyrik einen zur Pussy machte – auch wenn beides dazu beitragen konnte, einen in die undeutlich imaginierte Stadt an der Ostküste zu bringen, von der aus man mit großer Ironie über seine Erfahrungen in Topeka berichten konnte. Entscheidend war, seine Beteiligung an Debattierwettbewerben als eine Form von sprachlichem Kampf zu erzählen; entscheidend war, zum Rabauken zu werden, geistig beweglich, gemein, jederzeit bereit, einen Gesprächspartner auf die kleinste Provokation hin mit Beleidigungen zu schnellsen. Lyrik ließ sich rechtfertigen, wenn sie einem half, nochmal hochzuschalten, wenn sie Cypher und Flow wurde, wenn sie ein Grund dafür war, dass Amber mit einem vögelte, und nicht mit Reynolds und Konsorten. Wenn sprachliches Können Schaden anrichten und dafür sorgen konnte, dass man Sex hatte, dann konnte man es als Jugendlicher in den Bereich des Sozialen integrieren, ohne von den geläufigen Werten von Intellekt und Ausdruck vollständig abzurücken. Es war keine Versöhnung, aber eine handhabbare Spannung. Sein katastrophaler Frisurenkompromiss. Die Migräneanfälle.

Für Adam ist das “Schnellsen” ein nerdiges Mittel,ein Mann zu werden, hart, erfolgreich, womanizing. Die Credibility verleiht der nächste Schritt auf dem Weg zur Poesie: “Freestyle-Rappen. Das war in vieler Hinsicht die beschämendste aller Posen, die deutlichste Ausprägung einer Krise weißer Männlichkeit und ihrer Repräsentationssysteme, bei der eine kleine Gruppe privilegierter Weißer sehr oft arhythmisch die vorherrschenden und für sie vollkommen unzutreffenden Klischees des Genres recycelten.”

Damit ist viel erzählt und ausreichend analysiert. “Meine Theorie war, dass die Sprechmechanismen bei Überlastung durch Informationen zusammenbrechen”. Ben Lerner aber erzählt weiter. Hört nicht auf, den “Roman” in viele Richtungen zu überladen. Sein Großvater ist als Besucher eines Debattierwettbewerbs gekommen.

Plötzlich gab sein Großvater ein Geräusch von sich. Es war ein Ächzen oder Krächzen – tief, heiser -, und es dauerte zwei, drei Sekunden lang. Am Beginn und am Ende bemerkte Adam kleine Modulationen, die Ansätze von Phonemen, von Sinn, von Sprache gewesen sein mochten. Kleine sprach­liche Phosphene. War es ein Wort, eine Wortverbindung, eine Äußerung von Schmerz oder ein asemantisches, unwillkür­liches Luftausstoßen, sinnleere Vibrationen, die ihn durchlie­fen? Das Gesicht seines Großvaters war ausdruckslos, lieferte keinen Hinweis, obwohl er den Kopf zu Rose gedreht hatte. Adam wusste nicht, ob sich hier die Stimme des alten Man nes oder ihre keinerlei Bedeutung tragende Negation bekun­dete. Was auch immer es war, es war grässlich, unanständig: vielleicht hatte er sich in die Hose gemacht. Gegen seinen Willen stellte Adam es sich als Begleitgeräusch eines Orgas­mus vor.

Viele Kritiker und Kritikerinnen sehen den Roman als den großen aktuellen, Amerika erklärenden Gesellschaftsroman. Insa Wilke weist auf Topeka als Ausgangsort der amerikanischen Pfingstbewegung hin, die der politischen Rechten nahesteht. Deren “In-Zungen-Reden” hört Wilke auch als “Gefasel”. Ben Lerner kreist um die Sprache, ihre Funktionen und ihren Missbrauch. Das ist ein wichtiges Thema der Genwart, nicht nur, aber am erkenntlichsten in den USA. Aber er lässt dem Leser kaum die Chance des Selbterkennens, der Autor schüttet ihn mit Apperzeptionen zu. (Überschrift des letzten Kapitels: “Thematische Apperzeption”) “Die Topeka Schule” ist kein politischer Roman, auch wenn Namen von Politikern vorkommen. Der Roman selbst stiftet die Deuter an, alles Mögliche heraus- oder hineinzulesen und damit Richtung und Perspektive zu verlieren. “Wenn die Zeiten unübersichtlich sind, wird oft die Sehnsucht nach einer great american novel spürbar, dem definitiven Roman, der die vergangenen Jahrzehnte erzählerisch sortiert und wenigstens im Rückblick folgerichtig und plausibel erscheinen lässt.“ (Felix Stephan) Das ist aber doch nicht Aufgabe der Literatur. „Inwiefern sind die rhetorischen Virtuositäten, die wir in der Kunst haben, eigentlich auch etwas, das wie „Schnellsen“ funktioniert? Was soll die Kunst dem entgegensetzen“ (Insa Wilke) Wenn der Roman „aber ins Dozieren gerät, wird sein Selbstwiderspruch offenbar: In seiner raumgreifenden Eloquenz ähnelt er fatal der Sprechweise, die er überwinden will.“ (Felix Stephan) Er nahm „gleichzeitig zwei Blickwinkel ein: er sah sich selbst unter ihren Ästen und betrachtete sie zugleich von oben; er schaute hinauf zu sich selbst, wie er hinabschaute.“ Selbstreferentielles Mansplaining:

Er redete schon eine ganze Weile.
Als er sich umdrehte, um festzustellen, welche Wirkung seine Rede gehabt hatte, war Amber verschwunden.

2-3

Fünf Fragen an Ben Lerner

Ben Lerners Kurzgeschichte The Media vorgelesen von ihm selbst



Ng
17. August 2020, 15:09
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Celeste Ng:
Was ich euch nicht erzählte

Amerikanische Klein- und Mittelstädte, Vorstädte auch, machen es ihren Bewohnern verdammt schwer, zurechtzukommen. Ist der „Schmelztiegel“ Großstadt anonym, lebt von der Diversität, ist das Dorf homogener. In Ohio nennt man village, was unter 5000 Bewohner hat. In den Gemeinden dazwischen gibt es community colleges,eine weniger bedeutende Universität, kulturelle und kommunikative Infrastruktur. All das zieht gehobenes Bürgertum an, das qua Existenz aber zum Außenseitertum neigt und sich daher zur existenziellen Einbettung rigide Normen auferlegt. Die Mitgliedschaft im exkludierenden Club, der standardisierte Konsum, der gepflegte Rasen, die angepassten Kinder. Wehe, man weicht ab, wehe, man leistet sich Eigensinn, distinguiert sich.

Wehe, man sieht anders aus. Walter Lee und die Kinder sehen anders aus, ein bisschen nur, aber es reicht. Walters Eltern stammen aus China, er hält seine Vorlesung an der örtlichen Hochschule – über Cowboys, Marilyn ist eine der wenigen Hörer*innen, in der Sprechstunde überfällt sie ihn mit einem Kuss. Das war das Leben. Die Kinder sehen ein bisschen asiatisch aus, Marilyns Träume vom Medizinstudium enden im Haushalt. Routine. In Middlewood (!) gibt es in den 1970ern keine „asiatische“ Commnuity. Marilyns Mutter hatte gewarnt. Marilyn ruft es sich ins Gedächtnis:

Deine Mutter hatte letztendlich recht. Du hättest jemanden heiraten sollen, der mehr wie du ist. Mit einer Bitterkeit in der Stimme, die ihr den Atem nahm. Die Worte kommen ihr bekannt vor; sie wiederholt sie stumm und versucht, sie zu verorten. Dann erinnert sie sich. An ihrem Hochzeitstag, im Gerichtsgebäude: Ihre Mutter hatte sie wegen ihrer Kinder gewarnt, dass sie nirgendwo hinpassen würden. Du wirst es bereuen, hatte sie gesagt, als würden sie mit Flossen zur Welt kommen.

DieZentralfigur des Romans ist Lydia, die ältere Tochter, bald volljährig. Der erste Satz: „Lydia ist tot.“ Niemand will es glauben. Bis die Polizei ihre Leiche im See findet. Auch das will niemand glauben, weil es nicht sein kann, weil es nicht sein darf, weil man mit ihrem Tod zu tun haben würde. Die Familie macht sich mit Celeste Ng auf die Suche: „Wie hatte es angefangen?“, fragen sie zu Beginn von Kapitel zwei. Die Antwort versteckt sich hinter allgemeinen Beschwörungen. “ Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehn­lichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen.”

»Dir ist klar, dass du das einzige Mädchen in der Schule bist, das nicht weiß ist?«
»Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Das war eine Lüge. Selbst mit ihren blauen Augen konnte sie nicht so tun, als gehörte sie dazu.
»Ich wette, du und Nath seid wahrscheinlich die einzigen Chinesen in ganz Middlewood.«
»Kann sein.« (…) Lydia zögerte. Manchmal vergaß man es fast: dass man nicht so aussah wie alle anderen. Man hörte sich die Morgenansprache an, gab im Drugstore einen Film zum Entwickeln oder packte im Supermarkt einen Karton Eier in den Einkaufswagen und fühlte sich genau wie jeder andere in der Menge. Manchmal dachte man überhaupt nicht daran. Und dann wie­der spürte man, wie das Mädchen auf der anderen Seite des Gangs glotzte, wie der Apotheker gaffte, der Junge an der Kasse einen be­äugte, und man sah sich in ihren starren Blicken widergespiegelt: fehl am Platz. Man stach ins Auge wie ein Fremdkörper.

Die Methode der nachgeschriebenen Aufklärung steckt schon im Titel. (Celeste Ng übernimmt sie auch in „Kleine Feuer überall“ von 2017.Auch hier verstärken neu zugezogene Nachbarn die Sehnsüchte und den Zwang, diese abzuweisen.) Das kann Spannung in den Text legen, obwohl der Leser ja auch nicht völlig unbelesen ist und aus der Gestaltung und den vielfältigen kaum verhüllten Anspielungen die Hintergründe absehen kann.

Eigentlich bräuchte der Roman die Elemente ethnizistischer Diskriminierung nicht. Lydia ist ja schon allein deshalb überfordert, weil sie zwischen den ambivalenten Erwartungen vor allem der Mutter nur versagen kann. Sie soll den latent rebellierenden Lebenstraum der Mutter verwirklichen und sie soll zugleich die überangepasste, brave Tochter sein. Beides zugleich geht nicht, so sehr Lydia sich auch abstrampelt. Immer wieder bemüht Celeste Ng das Bild, wie Lydia unter dem Esstisch die Arme um die Knie schlingt, sich klein macht, unsichtbar, ihre Existenz ungeschehen machen will. (Nach Lydias Tod komplementiert sich die Metapher: “Marilyn sitzt wie ein kleines Mädchen auf Lydias Bett, die Arme um die Knie geschlungen.”)

„Was ich euch nicht erzählte“ ist ein ambitionierter, genau beobachteter Familienroman in einer „sorgfältig aufgebauten klaustrophobisch-repressiven familiären Versuchsanordnung. (…). Aber „die Welt bleibt außen vor“ (Martin Zähringer, NZZ) Die rassistisch motivierten Gehässigkeiten verschärfen die Leiden der Kinder, ihre Einsamkeit, ihr unbeholfenes Abplagen, sie selbst sein zu können, zu dürfen.

»Wir haben auch mit anderen Klassenkameraden und Lehrern gesprochen. Soweit wir es beurteilen können, hatte sie nicht viele Freunde.« Officer Fiske blickt auf. »Würden Sie sagen, dass Lydia einsam war?«
»Einsam?« James sieht kurz seine Frau an und dann – zum ersten Mal an diesem Morgen – seinen Sohn. Als eine von nur zwei Asiaten an der Middlewood High – der andere ist ihr Bruder Nathan -fiel Lee in der Schule auf. Er kennt das Gefühl: die vie­len fischbleichen Gesichter, die einen stumm anstarren. Er hatte sich einzureden versucht, dass Lydia anders wäre, dass ihre vie­len Freundinnen sie einfach zu einer aus der Gruppe machten. »Einsam«, wiederholt er langsam. »Sie war oft allein.«

Martin Zähringer stellt sich die Frage, „warum die Autorin im Jahr 2015 einen Roman schreibt, der dem Erfahrungsraum heutiger Asian Americans so wenig zu entsprechen scheint“. Ich habe das Buch 2020 gelesen und auch da hat Corona einiges offen gelegt.

„Nicht nur in den USA, auch in Deutschland berichteten Menschen asiatischer Herkunft kurz danach von zunehmender Diskriminierung. Wohnungssuchende seien wegen ihres Aussehens zurückgewiesen worden, Ärzte hätten Behandlungen verweigert. Von einer Pandemie des Rassismus war mitunter die Rede – zusätzlich angeheizt durch im Internet kursierende Verschwörungstheorien, die China vorwarfen, das Virus bewusst in die Welt gesetzt zu haben.“(SPIEGEL)

Author Celeste Ng noted on Twitter that “Asians worldwide are facing actual harassment because of people who insist on calling the illness the Chinese virus”. (Lauren Aratani, The Guardian März 20)

Im Roman untersucht Celeste Ng die Wurzeln des Rassismus nicht. „Dabei bleiben die Einflüsse von aussen nur schattenhafte Erfahrungsmomente im drangvoll geschlossenen Familienkreis.“ (Martin Zähringer)

Bei diesem letzten Vorsatz war Lydia klar, was sie tun musste. Dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen musste, damit sie nie wieder Angst vor dem Alleinsein hätte. Was sie tun musste, um ihre Vorsätze zu besiegeln und zu verwirklichen. Vorsichtig stieg sie in das Ruderboot und löste das Tau. Als sie sich vom Ufer abstieß, rechnete sie mit einem Anflug von Panik. Er kam nicht. Selbst als sie langsam und ungeschickt auf den See hinausgeru­dert war – so weit, dass der Laternenpfahl nur noch ein Punkt war, zu klein, um die Dunkelheit um sie herum zu verschmutzen -, war sie merkwürdig ruhig und zuversichtlich. Über ihr stand ein Mond, rund wie eine Münze, klar und perfekt. Unter ihr schaukel­te das Boot so sanft, dass sie es kaum spürte. Als sie in den Him­mel blickte, hatte sie das Gefühl, vollkommen frei im Weltraum zu schweben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass etwas nicht mög­lich war.

2014 280 Seiten

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Gaitskill
25. Mai 2020, 12:38
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Mary Gaitskill:
Bad Behavior – Schlechter Umgang

gaitskillbadbehaviorDie Begegnung mit Franklin im East Village verwirrte Con­stance zum Teil deshalb, weil er zwei Jahre zuvor genau eine Woche lang mit feuriger Energie versucht hatte, sie zu verführen, um sie dann wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen und eine bis dahin geheim gehaltene Verlobte zu heiraten. (Andere Faktoren) – Susan war seit fünf Jahren nicht in Manhattan gewesen, und sie hatte sich auf diesen Besuch gefreut, hatte ihn sich vorgestellt als eine Mischung aus genussvollem Schwelgen in sentimentalen Gefühlen und dem sanften Schmerz des Déjà-vu. Die ersten drei Tage waren genau das gewesen. (Verbindung) – As er ihr am Morgen auf dem Weg zur Arbeit begegnete, tat er so, als würde er sie nicht bemerken, obwohl er sie seit vier Jahren nicht gesehen hatte. Sie hatten sich an der Universität von Michigan kennengelernt. Es war eine derart kurze, chaotische Af­färe gewesen, dass er sie nicht einmal als frühere Freundin betrach­tete, wenn er an sie dachte. (Eine Affäre, Director’s Cut) – Sie wollte einen Mann treffen, in den sie sich kurz zuvor Hals über Kopf verliebt hatte. Sie befand sich in einem Zustand ent­setzlicher Angst. Zum einen war er mit einer Koreanerin verhei­ratet, die er als Inbegriff von Weiblichkeit und Eleganz beschrieb. Aber damit nicht genug, eine Wahrsagerin hatte ihr prophezeit, dass eine Beziehung mit ihm sie für den Rest ihres Lebens emo­tional zum Krüppel machen könnte. Und schließlich quälte sie die Vorstellung, sie würde einen unvollkommenen Eindruck machen. (Ein romantisches Wochenende) – Stephanie war eigentlich keine »Professionelle«; etwa einmal im Jahr, wenn sie die Büroarbeit allzu sehr anwiderte oder wenn sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte, rutschte sie mehr oder weniger zufällig hinein ins Gewerbe. Einige ihrer Kunden mochte sie sogar, aber sie war nie auf die Idee gekommen, sich mit einem von ihnen privat zu verabreden; sie hielt ihre ge­heimen Vorstöße in das Reich der Prostitution sorgfältig verbor­gen und getrennt von ihrem sonstigen Leben. Insofern war sie ein wenig erschrocken, sich dabei zu ertappen, wie sie in Stöckelschu­hen und Unterwäsche vor dem verschmierten Spiegel im »Shadow Room« stand und Bernard, dem Rechtsanwalt, ihre Telefonnum­mer gab. Sie spürte, dass sie tiefer in etwas hineingezogen wurde, was eigentlich nicht ihre Sache war, aber sie hatte keinen Freund, und sie mochte den Rechtsanwalt. Da er verheiratet war, würde er wahrscheinlich nur flüchtige Spuren in ihrem Leben hinterlas­sen. (Versuchen zu sein)

Erste Sätze. Constance, Stephanie, Susan, Daisy, Virginia – die Namen sind austauschbar wie die Schicksale, die man zu den eigenen machen möchte, in die man schlüpfen und in die man sich verbergen möchte. Die junge Frau wartet darauf, dass ihr Leben identifizierbar iwrd, dass sie sich in einem Leben wiederfindet, dass sie das Leben trägt. Doch das Schicksal ist nicht so, es nimmt keine Rücksicht auf Hoffnungen, lässt die kleine Erwartung zur Illusion verrinnen. “Versuchen zu sein” heißt eine Erzählung.

Sie stellte sich vor, wie sie in ferner Zukunft als erfolgreiche Au­torin problemlos darüber sprechen könnte, dass sie einmal Nutte war, ohne dass jemand Anstoß daran nehmen würde. »Ich hab in jener Zeit nicht viel geschrieben«, würde sie im Kreis von erfolg­reichen Freunden sagen, die sich lächelnd mit einem Drink in der Hand um sie scharten. »Am meisten Zeit hat es mich gekostet, meine Persönlichkeit wiederherzustellen.« Und alle würden lachen angesichts dieses bewundernswerten Eingeständnisses ihrer weib­lichen Verwundbarkeit.

Die Geschichten von Mary Gaitskill variieren Vorstufen des Lebens, der Traum ist zu Ende, aber noch nicht ausgeträumt. Künstlerin – es fehlen noch Beziehungen, Sekretärin – man muss Geld verdienen, “Professionelle” – nur vorübergehend, die Richtung lässt sich aber nicht umkehren, Hauptsache, in “Verbindung” zu leben. Gaitskills Stories haben entlarvend ernüchterte Titel: “Andere Faktoren”, “Was Nettes”, sogar “Ein romantisches Wochenende” beginnt mit einem “Zustand entsetzlicher Angst”. Und anstelle des Wohlfühlens stellen sich ein: Männer. Surrogate. Imaginierte Ausstiegs- oder sogar Aufstiegshilfen.

Männer haben Macht, doch das macht sie nicht sicher. Männer überbrücken ihre Ängste, indem sie ihre Position zur Geltung bringen. Und dazu brauchen sie: Frauen. Sie laden ein, sie erwecken vage Hoffnungen, sie finanzieren, und – wenn sie auch dazu zu schwach sind -, schlagen oder demütigen oder quälen sie. Gaitskill wertet nicht, sie lädt ein zur Kenntnisnahme.

Er setzte sich aufs Bett. »Stephanie, das ist sehr einfach. Ich habe viel Geld. Du hast nicht viel. Du brauchst Geld. Ich kann dir was geben. Bitte, nimm es.«
»Du hast mir auch kein Geld gegeben, als wir essen gegangen sind.«
Er suchte nach einer Erklärung und musste passen. »Gut, wenn wir das nächste Mal essen gehen, werde ich dir Geld geben.«
»Ich werde es nicht nehmen.«
»Wenn nicht, dann werde ich es dir eben schicken.«
Schließlich war der Punkt erreicht, an dem es einfacher war, das Geld anzunehmen, als zu streiten. Als er gegangen war, saß sie auf ihrem Toilettentisch, starrte das Geld an und dachte: Jetzt ist es also mein wirkliches Leben. Dann stand sie auf und steckte die Scheine in ihre Brieftasche.
Bei ihrem nächsten Treffen fand sie die Sache mit dem Geld nicht mehr so schlimm.

Das Zittern hörte auf. Sie schluchzte noch einmal, drehte sich auf den Rücken und sah ihn aus verwirrten Augen an. Sie blinzelte. Plötzlich überkam ihn die Müdigkeit. Ich sollte so was nicht tun, dachte er. Im Grunde ist sie ein netter Mensch. Einen Moment lang verspürte er den Impuls, sie zu umarmen. Ein stärkerer Impuls trieb ihn, sie zu schlagen. (…)
Dann würde er zu seiner Frau nach Hause gehen, und sie würde ihm Abendessen machen. Es würde alles so perfekt ausgewogen sein, dass ihm schon die bloße Vorstellung Vergnügen bereitete.
Am nächsten Tag würde er ihr Blumen schicken.
Er nahm eine Hand vom Steuer und tätschelte ihr den Kopf. Au­ßer sich, verkrallte sie sich in sein Hemd.

Ihre Beziehungen zu Männern waren in jener Zeit aufreibend; sie führte endlose Gespräche mit Leisha und quälte sich mit der Frage, warum sie immer wieder bei solchen schrecklichen Kerlen landete. In ihrer Erinnerung verschwammen sie alle zu einem pein­lichen Klecks: der hübsche, zarte Drogensüchtige, der masochisti­sche chinesische Junge, der angeberische italienische Journalist, der verheiratete Professor, der wichtigtuerische Jurastudent, der halbirre Clubbesitzer, der sie eines Nachts beinahe mit seinem Gürtel erwürgt hätte.

Sie standen da, verbunden durch eine zarte Membran erinnerter Intimität. (…) Noch einmal spannte sich zwischen ihnen das dünne Netz einer Verbindung.” Die “Verbindungen” sind durchwegs volatil, müssen so sein, da ja keine fundierte psychische Basis besteht. Die Frequenzen der Oszillation sind oft extrem dicht, die ambivalenten Gefühle fallen in Eins: Freude und Schrecken, Euphorie und Abscheu.

Auf dem Höhepunkt ihrer Angst entdeckte sie ihn hinter der Glaswand der Pizzabude. Sofort bemerkte sie den boshaften Aus­druck auf seinem Gesicht. Sie erkannte, weiche kalte Geringschät­zung darin lag, dass er sie beobachtete und abwartete, anstatt sie zu begrüßen. Sie litt, aber nur einen kurzen Augenblick; dann wurde sie von der Liebe fortgetragen. Sie lächelte und überquerte die Straße mit einem unsinnigen Vertrauen in die Macht ihres Lä­chelns.

Sex und Drogen gelten als “Mittel” der Überbrückung. Wo Liebe versucht wird, endet sie im Krampf. “Den größten Teil ihrer emotionalen Energie hatte sie auf Männer verschwendet.”

Mary Gaitskill lässt ihren Frauen die Rationalität, auch wenn die Situation anderes verlangt. Sie lässt sie genau hinschauen, weil die Oberfläche, die Kleidung vor allem, eine Äußerung von Zugehörigkeiten darstellt, aber auch Wünsche symbolisieren kann, Vor- und Selbsttäuschungen. Der Schnitt, die Farben, die Musterungen, High Heels und glitzernde Ringe, alles ist Zeichen. Auch die Sprache: Sensibles Wachen über angesagten Slang, bloß keine Fehler machen, cool wirken, sich selbst ausstellen und verkaufen. All diese Codes können natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass all anderen diese Rituale ebenfalls anwenden. (Nur die Männer scheinen auch hier beschränkt, haben das Spiel auch nicht nötig.)

Kristen Roupenian schrieb ein Nachwort. Ihre virale Erzählung“Cat Person” wurde mit Mary Gaitskill verglichen, beides #MeToo zugeordnet. Roupenian aber ist mädchenhafter, märchenhafter, auch sprachlich weniger tief. Schon das Coverbild von “Bad Behavior” ist deutlicher, dreckiger, ehrlicher als die Stories von Roupenian. Der deutsche Titel führt in die Irre.

1988         270 Seiten         2020 “Endlich wieder auf Deutsch” (Cover)

Leseprobe beim Aufbau-Verlag (Blumenbar)

Mary Gaitskills Story “This is Pleasure” von 2019 –
zum Download bei “The New Yorker” (amerikanisch)

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Roupenian
3. April 2020, 15:02
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Kristen Roupenian: Cat Person (Stories)

roupeniancatpersonKristen Roupenian wurde 2017 bekannt, als ihre Shoort-Story „Cat Person“ im New Yorker Magazineveröffentlicht wurde und „viral“, wie es hieß, ging. #MeToo war gerade erfunden worden, die NYT stellt die Geschichte ins Netz und ich #alterweißerMann habe sie geladen und gelesen. Auf Englisch, was heißt, dass ich für mein Textverständnis nicht bürgen kann.

Jetzt, in der deutschen Übersetzung, hat sich der Text wohl nicht sehr verändert, aber man liest ja nie zwei Mal dieselbe Geschichte. Eine junge Studentin, Margot (20), lässt sich von einem viel älteren Mann (34) ins Kino einladen und geht danach mit ihm nach Hause. Sie lässt sich beschlafen, gerät dann aber in Zweifel über ihre Entscheidung: Roberts Körper ist nicht makellos und beim Sex stellt er sich, na ja, unbeholfen an. Reaktion bei Margot: Ekel. Auch angesichts ihrer „Wahl“. Ein Mann ohne Klasse, nicht ihrer Klasse, schon die Wohnungseinrichtung hält ihrer Prüfung kaum stand.

Jetzt diskutiere ich natürlich darüber, ob Margots vorübergehende Gleichgültigkeit nicht eher ein gefühltes „Nein“ gewesen ist, ob Robert ihr Verhalten nicht als Ablehnung hätte deuten können und müssen. Ob es nicht in allen Fällen sinnvoller ist, sich gegenseitiges Einvernehmen zu versichern. „Ist es für dich OK?“ Ob es nicht besser gewesen wäre, Robert hätte für solche Situationen mehr Erfahrungen gehabt. Ob man nicht auch von einer 20-Jährigen erwarten könnte, sich zu entscheiden und nicht zu erwarten, bis die Entscheidung zu spät gekommen ist. Aber die Wirklichkeit ist wohl unübersichtlicher und schneller als die Reflexion darüber. (Unklar bleibt, ob Robert überhaupt ein Katze hatte.)

Margot saß auf dem Bett, während Robert sein T-Shirt auszog und seine Hose aufknöpfte. Er hatte sie schon bis auf die Knöchel heruntergezogen, als er bemerkte, dass er die Schuhe noch anhatte, und er beugte sich vor, um die Schnürsenkel aufzubinden. Wie sie ihn da so sah, so ungelenk vornübergebeugt, mit dem Bauch, dick und weich und stark behaart, dachte Margot: O nein. Aber der Gedanke daran, was es an Aufwand bedeuten würde, jetzt zu stoppen, was sie in Bewegung gesetzt hatte, war überwältigend. Es hätte ein Maß an Takt und Sanftmut gebraucht, das sie sich nicht vorstellen konnte, aufzubringen. Das Problem bestand nicht darin, dass er sie zu etwas zwingen könnte, was sie nicht wollte. Eher darin, dass, wenn sie jetzt daraufbestand, aufzuhören, nach allem, was sie unternommen hatte, damit es so weit kam, es sie mies und launenhaft hätte aussehen lassen. So als hätte sie in einem Restaurant eine Bestellung aufgegeben, nur um das Essen dann, als es kam, zurückgehen zu lassen.
Sie versuchte, ihre Ablehnung in Unterwerfung niederzuknüppeln, indem sie einen Schluck Whiskey trank. (…) Und dann, ganz eindringlich: »Warte mal. Hast du das hier überhaupt schon mal gemacht?«
Der Abend fühlte sich so seltsam und beispiellos an, dass ihr erster Impuls war, mit Nein zu antworten. Aber dann be­griff sie, was er meinte, und fing laut an zu lachen.
Sie wollte eigentlich nicht lachen; sie wusste nur zu gut, dass Robert zwar gern Gegenstand harmloser, koketter Ne­ckereien war, aber es ganz und gar nicht mochte, ausgelacht zu werden. Aber sie konnte nicht anders. (…)Die Vorstellung, dass sie sich statt dieses aufwendigen emotionalen Prozesses einfach einen prätentiösen Holocaust-Film angesehen und drei Bier getrun­ken hätte, um dann in irgendein Zuhause mitzugehen, in dem sie ihre Jungfräulichkeit an einen Typen verloren hätte, den sie im Kino kennengelernt hatte, war so amüsant, dass Mar­got gar nicht mehr aufhören konnte zu lachen, hysterisch zu lachen.

“Cat Person” streift die #MeToo-Frage, die Story relativiert sich aber an den anderen Erzählungen des Buches. Wann die Texte geschrieben wurden, vor oder nach “Cat Person”, ist dem Buch nicht zu entnehmen. Man liest Märchen und viele Jungmädchengeschichten, bei denen oft die Girls noch nicht zu sich gekommen sind, noch in der Selbstfundungsphase sind, die – vielleicht Vorurteil – in den USA länger anhält als hierzulande. Viele wissen noch nicht, dass sie Frau geworden sind, wissen nicht, was tun. In der Geschichte “Der Junge im Pool” versuchen einige junge Frauen ihre Kindheit weiterleben zu lassen. Zum Junggesellinnenabschied (ein “Brauch”, den sich die Mädels in scheinemanzipatorischem Meinen aufgedrückt haben) von Tayler laden sie ihren Kinderschwarm, den Schauspieler Jared, ein. Der süße “Junge im Pool” wird als Überraschungsgast gekauft, er “tanzt immer noch wie ein Trottel”. Der Mann komt nicht mit. Und die Geschichte von Anna & Ted, hilflos:

Anna sackt vornüber. »Ich weiß nicht …e, sagt sie. »Ich dachte einfach, dass … « Sie setzt neu an. »Seit Wochen reden wir darüber, wie schwierig das für mich werden würde und welche Sorgen ich mir gemacht habe, alle wiederzusehen. Du wusstest ganz genau, dass ich nicht auf die Party wollte, aber dann hast du beschlossen, mit deiner neuen Freundin hier auf­zukreuzen, also musste ich auch kommen. Und dann war auf einmal Marco da, und das war supertraumatisch, und als ich nach dir gesucht und auf deine Unterstützung gehofft habe, sehe ich dich da in der Ecke, wie du mit Rachel Derwin-Finkel rummachst. Es ist einfach … unsere Beziehung hat sich ver­ändert, ich habe dich irgendwie verloren. Ich vermisse dich, Ted.«
Sie hat Tränen in den Augen. Ted hat sie nie zuvor so nie­dergeschlagen gesehen, und Anna sieht oft traurig aus.
»Warum sagst du denn nichts?«, fragt Anna schluchzend.
»Ich nehme mal an …«, antwortet Ted, »ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Unbeholfen nimmt er sie in den Arm. »Ich bin für dich da, Anna. Das weißt du doch.«
»Ich weiß«, sagt sie. Sie lehnt den Kopf an seine Schulter, und für eine Sekunde fühlt es sich an wie an jenem Abend am Lagerfeuer, das kurze Ausbrechen aus dem Teufelskreis: Marco verletzt Anna, Anna verletzt Ted, Ted verletzt Rachel, diese endlosen Zirkel von Versehrung und Eifersucht.
Anna sagt weinend: »Ich bin es so leid, all diesen Scheiß­typen hinterherzujagen. Ich möchte mit jemanden zusammen sein, dem ich vertrauen kann. Mit jemanden, dergut zu mir ist.«
Und Anna, die leuchtende, wunderschöne Anna; Anna mit ihren Grübchen, der glatten Haut und den Sommerspros­sen auf der Nase und ihrem hübschen, hübschen Haar; Anna, deren Duft ihn verzaubert; Anna, die ihn für all die anderen Frauen verdorben hat; Anna, für die er sterben würde; Anna, das beste Mädchen der Welt …
Anna küsst ihn.
Ich werde gut zu dir sein, Anna, denkt Ted und umarmt sie. Ich werde gut zu dir sein für den Rest meines Lebens.
Gib mir nur eine Minute, um mit Rachel Schluss zu ma­chen.

Manche Geschichten leben davon, dass sie die Grenzen des wohlanständigen Mädchenuniversums unschuldig tangieren. Kristen Roupenian erzählt in einfachen Sätzen und trifft dabei routiniert die Sprechweise des Milieus (was nicht für das Milieu spricht), klar, dass der Ausdruck zunächst an der Oberfläche bleibt. Nahezu jede Figur in diesem Buch verhält sich amoralisch, selbstsüchtig und zugleich genau so, wie es ihr von der Kultur aufgetragen wird. (Felix Stephan, SZ) Die „Kultur“ aber ist die US-Mädchenkultur. Wenig, was ich mir merken wollte. Bin auch das falsche Erzählziel.

2019            280 Seiten

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Ross
25. März 2020, 14:52
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Fran Ross: Oreo

franrossoreoTrizina liegt in der Argolis auf der griechischen Halbinsel Peloponnes. Ihr antiker Name war Troizen, die Stadt gilt als Geburtsort von Theseus. Theseus’ Vater hieß Aigeus, die Zeugung war einigermaßen rätselhaft.

Da Aigeus glaubte, dass die Königstochter Aithra von ihm schwanger sei, versteckte er ein Schwert und ein Paar Sandalen unter einem schweren Stein. Sollte Aithra ein Sohn geboren werden, so solle dieser, wenn er stark genug sei, den Stein zur Seite rollen und mit den deponierten Dingen zu ihm nach Athen kommen. Das ist von Belang, da Fran Ross Aigeus, Aithra und Theseus als „Figuren“ des Romans auflistet und ihre „Darsteller“ Samuel Schwartz, Helen Clark und Oreo nennt. Oreo (16), die eigentlich Christine heißt, also weiblich ist, ist die „Heldin des Romans“, die Familiengeschichte ist ähnlich unübersichtlich wie die die von Theseus. Oreos Vater ist Jude, ihre Mutter Schwarze. Aigeus hatte sich nach Athen verzogen, Schwartz verließ Frau und Kind nach New York.

Der erste König von Troizen soll Oros geheißen und seine Reich Oraia genannt haben. Das Mädchen Oreo nannte sich nach einem mit einer weißen Creme gefüllten schwarzen Doppelkeks. „Oreo ist aber auch ein Schmähbegriff für Schwarze, die durch höhere Bildung, Religion oder Familie vermeintlich Teil der weißen Kultur geworden sind oder es gerne sein würden.” (Max Czollek im sehr informativen Nachwort)

Auch die Autorin Fran Ross hat einen jüdischen Vater nud eine schwarze Mutter.
Das alles muss man nicht wissen, um dem Inhalt folgen zu können. Aber ein paar Informationen über jüdische Feste und Riten helfen beim Lesen. Im Buch gibt es auch einen Anhang hierzu und ein Glossar jiddischer Wörter, die Einordnung des amerikanischen Lebens in die griechische Mythologie macht die Lektüre erst (recht) zu einem Vergnügen.

Teil 1 heißt „Troizen“, meint Philadelphia und beschreibt die „Mischpoke“. Herausragend sind die Großmutter mütterlicherseits: Louise und Helen, die „Mutter der Heldin“ Christine aka Oreo. Louise ist bekannt für ihre Sprechweise und ihr Faible für Essen.

Zu Helens frühesten Erinnerungen gehört, wie sie bei Louise auf dem Schoß saß und genötigt wurde, »’bier ma diier, Tor­nado Bernice« (probier mal die hier, tournedos Bearnaise), ihr dabei über die Schulter sah und das erstaunlich weiße Ge­sicht ihrer Mutter mit dem von deren Vater verglich, dem ab­soluten Farbtyp 1, wenn es je einen solchen gab. Sein Porträt hing in einem ovalen Rahmen im Esszimmer. (…)

Louise sprach nur in groben Zügen, das Wer, Was, Wo, Wann, Wie und Warum mussten die Angesprochenen je­weils selbst einfügen. Namen merkte sie sich nur selten (»Da gehn Miss Hießdienoch und ihre Tochter.«), oder sie nahm erst zwei-, dreimal Anlauf, bevor sie den tödlichen Sprung auf die Beute schaffte (»Juuhuu, Jenkins … ich meine Mabel … ach nee, George!«), oder griff zu ähnlich klingenden Ersatz­wörtern (das »Kiel« in »Geh in‘ Laden ’ne Flasche Kiel holn« stand für Pril). Auch im Umgang mit Zeit blieb sie vage. Stun­den oder Minuten gab sie grundsätzlich nicht an. Immer nur »halb«, »vittelvö« oder »vittelnä«. Entsprechend war alles zwi­schen 3 Uhr 1 und 3 Uhr 25 bei ihr schlicht »vittelnä«. Woher sie die Südstaatensprüche hatte, die ihrer Sprache die Würze gaben, wusste niemand. Als Helen heranwuchs, sagte Louise oft, solange sie zwei Löcher in der Nase habe, wolle sie » ver­dammich« sein, wenn sie je begreifen würde, wie diese ihre Tochter derart »schlurich« (schluderig) sein könne, und dass ihre Haare aussähen »wie’n Heuhauf’m« und ihr Zimmer »wie ‚m Teufel sein Hühnerstall« und sie bloß »Stroh im Kopp« habe und sich manchmal benehme wie ein »Straßenköter« und ein »Heidenkind« sei, weil sie sich weigerte, in die Golgatha-Bap­tistenkirche zu gehen, und was ihr tägliches Treiben angehe, naja, man wisse ja, »Gott mach‘ hässlich nich’«.

Die Krönung von Louises Kochkunst ist “La Carte du Diner d’Helène” .

Helen schrieb (…) auf einen Zettel, welche Ta­lente sie hatte:

    1. Mimesis
    2. Kopfgleichungen
    3. Singen
    4. Klavierspielen.

Soweit sie wusste, war die Nachfrage nach schwarzen Imitato­rinnen nicht eben groß. (»Und jetzt mache ich James Cagney, wie er Mae West Steppen beibringt, und zwar Buck-and-Wing.« Cagney: Klicketi-klick, Klicketi-klick. Mae West: Umpfti-umpf, umpfti-umpf. Cagney :»Du, du, du miese Ratte – es heißt buck, mit b!«) Ihre Kopfgleichungskapazitäten kommerzialisieren wollte sie nicht. Und Nr. 3 und 4 waren die Klischee-Plusse und -Minusse. Trotzdem nahm sie die 4.

Es gibt auch noch Bruder Jimmy C, Haustiere und –lehrer und viel Sprach-WITZ (“Weg des Interstitiell Treffsicheren Zorns”), gern auch derb und feucht:

Vom anderen Ende kam ein Stöhnen, dann ein heiseres: »Ich würde doch ganz gern persönlich vorbeikommen und die komplette Untersuchung vornehmen.«
»Dann tun Sie das doch«, erwiderte die Bestöhnte liebrei­zend.
»Ich bringe meine Instrumente mit«, sagte der Doktor in einem letzten Täuschungsversuch.
»Mehrere?«, fragte Oreo. »Eins reicht doch. Ach übrigens, Herr Doktor, mir sind endlich ein paar Wörter eingefallen.
Weiß gar nicht, wieso mir die vorhin entfallen waren.« Sie sprudelte einen Haufen Wörter heraus, die mit F und N und P anfangen und sich auf Zicken und Hageln und Noppen rei­men.
Jetzt entfuhr dem Doktor ein Keuchen im Format Masters und Johnson. In einer Stunde sei er da, japste er. Oreo ver­sprach, ihn auf der Veranda zu erwarten, bekleidet mit einem Begonienblatt.
Dann lief sie schnurstracks drei Häuser weiter zu Betty Williams und erzählte ihr, sie wolle einem Bekannten einen Streich spielen. Betty Williams war die Kieznymphomanin. Sie würde für zwei Cent einen Pümpel pimpern. In West Phil­adelphia hatte die Geschichte von Betty und dem Freund aller Klempner Sagenstatus. Damit war jeder, der das Wort Freund nicht als Schibboleth verstand, sondern auf einen Menschen bezog, automatisch als nicht hiesig enttarnt und wurde zum Objekt von xenophobischem Hohn und Spott. Betty willigte gern ein, ihrer jungen Freundin zu helfen.

Teil 2 heißt “Mäandern” und folgt in der besagten Methode Oreos Weg zu ihrem Vater nach New York.

Dann zog sie die Kor­del der schwarzen Handtasche (Modell Pferdeheusack) auf, schob die Socken beiseite, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte, und zog die kaffeeverkleckerte Liste mit seinen Hinweisen heraus.

    1. Schwert und Sandalen
    2. Drei Beine
    3. Der Große Riss
    4. Sau
    5. Tritte
    6. Zwirbel
    7. Größen
    8. Down by the River
    9. Tempel
    10. Glückszahl
    11. Gestrüpp
    12. Segel

Sie strich den ersten Punkt durch. Wenn der zweite genauso weit hergeholt war wie der erste, dann konnte »Drei Beine« alles heißen, von kaputter Stuhl bis siamesische Zwillinge. Egal. Sie war zu jedem Scheiß bereit, sie würde auch da hinge­hen, wo sie nicht erwünscht war, da reinplatzen, wo sie nichts verloren hatte, aller Welt beweisen, dass sie auch da war. Oreo war ein ziemlich zähes Luder.

Die Kapitel beziehen sich auf die griechische Mythologie: “Oreo folgt der Theseus-Sage mit all ihren Volten.“ (Klappentext) Der Weg schlängelt sich vorbei am Bösewicht Peripetes, am Fichtenbeuger Sinis, am Krommyionischen Schwein Phaia, dem Wegelagerer Kerkyron oder dem Gliedausrecker Prokrustes. Bei Fran Ross heißen sie natürlich anders. Die Zwergenfamilie, die in gräßlichen Reimen spricht, der üble Zuhälter Parnell mit seinen 9 „Dirnelein“, eine geschmuggelte Bulldogge. Oreo besiegt sie alle mit ihren sehr speziellen Methoden. Ihr Motto: „Nemo me impune lacessit“, bzw, auf südstaatisch: „Mir saacht kein Nigger nich, was ich zu tun und zu lassen hab!“ Das alles wirkt hier wohl reichlich unübersichtlich. Aber Du solltest dich nicht abschrecken lassen. Einfach mal lesen.

“Gibt es authentisches schwarzes, jüdisches, weißes, femi­nistisches Schreiben? Nein, antwortet Ross mit Oreo, schon die Frage verengt den Umgang mit Literatur auf eine politische Debatte um kulturelle Aneignung und Authentizität, die sich niemals für alle Teile einer Gruppe beantworten lässt. Die Rea­litäten jeder einzelnen Person sind so radikal vielfältig, dass es das gesamten literarischen Kanons bedarf, um sie darzustellen”. (Max Czollek) “’Oreo’ ist ein köstliches, sprachexplosives Anti-politische-Korrektheitsprogramm, und ein Genuss für alle, die schon immer postmoderne Romane mochten. Denn identifikatorisch ist hier gar nichts, eher wirkt es so, als habe die Autorin alles (…) durch einen Mythen-Fleischwolf gedreht.“ (Maike Albath, SZ) „Wir wussten es nicht, aber wir haben auf dieses Buch ge­wartet.” (Max Czollek)

1974        280 Seiten           Deutsche Erstausgabe 2019

Für die Übersetzung erhielt Pieke Biermann den Preis der (ausgefallenen) Leipziger Buchmesse 2020

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Angelou
29. November 2019, 11:41
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Maya Angelou:
Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt

mayaangelouIst das Heranwachsen für das schwarze Mädchen im Süden schmerzhaft, das Wissen um ihre Deplatziertheit ist der Rost an der Klinge, die die Gurgel bedroht.
Es ist eine unnötige Beleidigung.

Man weiß das ja, man glaubt, es oft gesehen zu haben: Die Schwarzen in den USA hatten es schwer, haben es schwer, sind diskriminiert, haben für ihre Berechtigung zu kämpfen. Von Gleichheit nicht zu sprechen.

„I Know Why the Caged Bird Sings“. Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt. Maya Angelou weiß es, weil sie es selbst erlebt hat. Sie ist 1928 geboren, 1969 erschienen ihre Aufzeichnungen aus dem Leben eines schwarzen Mädchens, das Teile der Kindheit bei hrer Großmutter in Stamps/Arkansas/Südstaaten verbracht hat. Vater und Mutter hatten sie nicht brauchen können, bei der „Momma“ erlebte der „Vogel“ eine behütete Kindheit in und um den kleinen Laden. Was nicht verhindert, dass im Alter von acht Jahren brutal vom Stiefvater vergewaltigt wird. Sie spricht die nächsten fünf Jahre nicht mehr, sie wähnt sich selbst für schuldig am plötzlichen Tod des Mannes. Momma nannte sie „Schwester“, ein Ritual, das den Zusammenhalt der schwarzen „Community“ symbolisierte. Ansonsten regelten Redensarten und Bibelsprüche Denken und Erziehung und das Leben im Algemeinen. »Heißt es nicht, Himmel und Erde werden vergehen, aber das Wort wird nicht vergehen? Die Leute werden bekommen, was sie verdienen.«

Momma wollte Bailey und mich auf den Lebensweg führen, den sie und ihre Generation, ja alle Schwarzen vor uns, als sicher erfahren hatten. Der Gedanke, dass man überhaupt mit Weißen sprechen könnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, war ihr fremd. Und offen durfte man ganz sicher nicht mit ihnen reden. Selbst in ihrer Abwesenheit war es besser, nur Andeutungen zu verwenden, »die da«. Auf die Frage, ob sie feige sei oder nicht, hätte Momma geantwortet, sie sei Realistin.

In Stamps war die Rassentrennung so total, dass die meisten schwarzen Kinder eigentlich nicht wirklich wussten, wie Weiße aussahen. Sie wussten nur, dass sie anders waren, dass man sie fürchten musste, und diese Furcht schloss die Feindschaft der Machtlosen gegen die Mächtigen, der Armen gegen die Reichen, der Arbeiter gegen die Besitzenden und der Zerlumpten gegen die Wohlgekleideten mit ein.

Viele Frauen, die bei Weißen in der Küche arbeiteten, kauften bei uns im Laden, und wenn sie die saubere Wäsche zurück in die Stadt trugen, stellten sie oft die großen Körbe auf unsere Veranda und zogen einzelne Stücke der auserlesenen Kollektionen hervor, um zu zeigen, wie geschickt ihre Hände beim Bügeln waren oder wie gewaltig der Wohlstand ihrer Herrschaften war.

Menschen waren diejenigen, die auf meiner Seite der Stadt lebten. Ich konnte sie nicht alle leiden, oder besser gesagt, ich mochte niemand von ihnen besonders, aber sie waren Menschen.
Die andern, die seltsamen bleichen Kreaturen, die ihr fremdes Unleben lebten, waren keine Menschen. Sie wa­ren Weiße.

Wie der Zahnarzt Linncoln ; »Annie, du weißt, ich behandele Schwarze nicht, Far­bige.«
»Ich weiß, Zahnarzt Lincoln. Aber das is ja nur meine kleine Enkelin, sie wird Ihnen keinen Ärger machen …«
»Annie, jeder hat seine Überzeugungen. In dieser Welt muss man Überzeugungen haben. Meine Überzeu­gung ist, ich behandle keine Farbigen.«

Marguerita, wie Maya eigentlich hieß, ging auf die Schule und sie lernte etwas. Sie lernte gut und sie lernte uach, dass das Wissen nicht unabhängig von der Herkunft, von der Hautfarbe war.

Nichts als meine eigene Leistung hatte mir einen Spitzenplatz eingebracht. (…). Vor mir lag die Freiheit, ein oftenes Feld.
Jugend und sozialer Aufstieg verbündeten sich mit mir und bannten die Erinnerung an Kränkungen und Beleidigungen. Der Rückenwind plötzlicher Fortschrit­te belebte meine Kräfte. Die vergossenen Tränen setzten sich ab, wurden Schlamm, später Staub. Jahre des Still­stands ließ ich hinter mir, ein dunkles Moosgewebe.

Aber mit der Wut fängt das Denken an, das Bewusstsein:

Schwarz zu sein, nicht über das eigene Leben be­stimmen zu können, war schrecklich. Jung zu sein, aber schon gewohnt, die Vorurteile über die eigene Hautfarbe still und widerspruchslos anzuhören, war brutal. Besser, wir wären alle tot. Alle, eine Leichenpyramide: unten die Weißen, dann die Indianer mit ihren verrückten To­mahawks, Wigwams und Verträgen, dann die Schwar­zen mit ihren Schrubbern, Rezepten, Baumwollsäcken und Spirituals, die ihnen zum Hals raushingen. (…)Wir waren Mägde und Bauern, Handlanger und Waschfrauen, und es war albern und vermessen, Höheres anzustreben. Das war der Augenblick, in dem ich wünschte, Gabriel Prosser und Nat Turner hätten alle Weißen im Bett ermordet, Abraham Lincoln wäre vor Unterzeichnung der Proklamation zur Abschaffung der Sklaverei erschossen worden, Harriet Tubman am Schlag auf den Kopf gestorben und Christoph Columbus mit der Santa Maria untergegangen. (…)Weiße Jugendliche hatten die Chance, Galileos und Madame Curies zu werden, unsere Jungen durften ver­suchen, Jesse Owens und Joe Louis zu werden, die Mäd­chen waren ganz aus dem Spiel.

Maya Angelou erzählt viele Anekdoten, in denen das eigene Erleben des Kindes zum “Singen” wird, zur Einübung der “gottgewollten” Rolle, aber auch zum Erfahren und Üben der “eigenen Leistung”, der eigene Stärke. Ob die Erzählungen einen Roman ergeben oder ein Memoir, ist egal, weil jedes (Er-)Leben ein Roman ist. Beim Kind und beim Rückblick auf die Kindheit verschwindet der Unterschied vollends. Als sie und ihr Vertrauensbruder Bailey älter wurden, kamen sie wieder zurück zu Mutter und Vater, die aber weiterhin mit sich selbst beschäftigt waren. Die Welt der Maya weitete sich, musste selbst erschlossen werden. Sie wurde erste erste afroamerikanische Straßenbahnschaffnerin, auch bald schwanger. Maya Angelou hat viel erreicht im Leben. Sie wurde US-amerikanische Schriftstellerin, Professorin und Bürgerrechtlerin und sie war eine wichtige Persönlichkeit der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA. (wikipedia)

„Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“ ist ein Frauenbuch ersten Ranges, handlungsstark, äußerst konkret und markig, in der Metaphorik superlativisch, grob, laut und überwältigend. Dafür ist das Spiel mit den Variationen der Motive sehr subtil.” (Hubert Winkels, SZ) „When, in disgrace with fortune and men’s eyes, / I all alone beweep my outcast state / And trouble deaf heaven with my bootless cries…“. Sie hört darin ihr eigenes Leid. Und die erwachsene Maya Angelou, Autorin und politische Aktivistin, erzählt immer wieder davon, „ich dachte: Shakespeare ist ein schwarzes Mädchen“.

320 Seiten

 

Zur Biographie Maya Angelous

Rezensionen beim Perlentaucher (FAZ – SZ)

Gespräch im Literaturclub des SRF (Video – 15 Minuten)

Videos bei youtube – incl. Verfilmung des Romans von 1979

 



Vlautin
30. September 2019, 15:48
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Willy Vlautin: Ein feiner Typ

vlautinfeinertypEr betrachtete den Sternenhimmel über sich und dachte an seine Töchter und dann an Horace, und er wünschte, Little Lana wäre da, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er schloss die Augen und döste noch einmal weg. Das nächste Mal erwachte er bei Sonnenaufgang, nahm eine halbe Valium, wartete darauf, dass sie wirkte, und arbei­tete sich dann langsam aus dem Schlafsack. Er machte die Streckübungen, zu denen er in der Lage war, und rieb sich die untere Rückenpartie mit Wärmebalsam ein. Er packte sein Schlafzeug zusammen, aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und Gelee und wechselte die Cowboystie­fel gegen ein neues Paar Laufschuhe, die seinem Rücken besser taten. Die Pferde standen ruhig beieinander. Er zog bei beiden die Sattelgurte fest und gemeinsam mach­ten sie sich auf den Weg zu Pedro.

Mr. Reese hat in der Bergwelt Nevadas eine Ranch mit Schafen, Pferden, Eseln, Hühnern, Hunden. Er ist schon recht betagt, sein Rücken schmerzt, die Tiere haben kein Nachsehen und auch die Maschinen müssen repariert und der Brunnen vertieft werden. Mrs. Reese kocht ihm das Essen, ist ihm aber bei der Arbeit keine Hilfe, die beiden Töchter sind aus dem Haus. Die Reeses haben einen Jungen aufgenommen, den seine Mutter in für sie schweren Zeiten abgeschoben hat, den Halb-Paiuten, halb Iren Horace. Die Reeses lieben ihn wie einen eigenen Sohn, Horace erweist sich auf der Ranch als geschickt und willig, er könnte sie übernehmen.

Mr. Reese ist ein feiner Typ. Er ist abgeklärt, hat mit seiner Zukunft abgeschlossen, aber er kümmert sich rührend um Horace.

Und wer weiß schon, was daraus am Ende wird? Eine Ranch zu verwalten, ist harte Arbeit, vor allem, wenn man allein ist. Und viel Geld ist auch nicht rauszuholen. Ich weiß, du bist schüchtern uns gegenüber und es fällt dir schwer, Geschenke anzuneh­men. Und ich weiß, dass es für dich nicht einfach war, dich bei uns wohlzufühlen. Uns zu vertrauen. Aber wir vertrauen dir. Was ich versuche zu sagen, ist, dass Mrs. Reese und ich dich als unseren Sohn betrachten und dass wir möchten, dass du die Ranch übernimmst, wenn du so weit bist. «

Horace sah den Alten an, brachte aber kein Wort he­raus. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er sah aus dem Fenster auf die salbeibewachsenen Hügel und dahinter in der Ferne die Berge. Sie fuhren etliche Meilen, ehe er etwas sagte. »Ich glaube, noch nie hat jemand gemeint, ich könnte eine Ranch führen«, sagte er schließlich. »Aber dass Sie und Mrs. Reese mir das zutrauen, das ist das Schönste, was ich je gehört habe. Ich werde niemals vergessen, dass Sie das gesagt haben. Wirklich nicht. Sie und Mrs. Reese, Sie haben mich gerettet. Ich weiß das. « »Na ja, und du hast uns auch gerettet«, sagte Mr. Reese. »Und du hast Mrs. Reese geholfen. Sie war ganz außer sich, als unsere Töchter weggegangen sind. Du weißt, wie sie war, wie sie sein kann. Du hast ihr gehol­fen. « . (…) Der Alte fuhr langsamer, bis der Truck nur noch dahin­kroch, und sah wieder zu dem jungen rüber. »Ich wollte dich nicht verärgern, Horace. Es tut mir leid – wirklich. Ich finde bloß, dass ich dir diese Fragen stellen muss, weil du mein Freund bist, und das machen Freunde: Sie passen aufeinander auf.

Horace ist auch ein feiner Typ, doch er kann sich nicht damit abfinden, dass er abgeschoben wurde. Er fühlt sich nutzlos, sucht nach seiner Identität, seinem Wert im Leben. Er meint sich beweisen zu können, wenn er Boxer wird. Das gelingt. Vorübergehend.

Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht als Außenseiter oder Versager. Er fühlte sich nicht wie ein Sonderling, er fühlte sich nicht ausgestoßen oder mangelhaft. Endlich, nach all der Arbeit und all dem Herzschmerz, konnte er Horace Hopper loswerden. Er konnte ihn abschütteln und im Nichts verschwinden lassen. Er hielt den Pokal in Händen und spürte den Respekt der Menschen im Raum. Er hatte gewonnen.
(…) Horace lehnte sich erleichtert und vol­ler Stolz gegen die Wand und schloss die Augen.

Willy Vlautin erzählt in ruhigen Worten. Mr. Reese bleibt bei Frau nd Ranch, Horace geht nach Tucson und Las Vegas und nach Mexico. Er will sich Hector Hidalgo nennen lassen, findet einen Trainer, gewinnt ein paar Kämpfe, von denen Vlautin eindringlich, aber auch erfreulich knapp erzählt. Mehr als die Schläge interessiert ihn, wie Horace mit den Einschlägen umgeht, was sie aus ihm machen, ob sie ihm die so heftig verlangte Selbstbestätigung vermitteln. Horace muss sich in der Box-Welt ziemlich auf sich allein gestellt durchbringen, durch die Kämpfe wird er immer hinfälliger, der ganze Körper schmerzt und ist verquollen, die Blessuren machen ihn steif und er muss sich vom Bett rollen. Und gleicht hierin dem alten Mr. Reese, den sein Rücken mehr und mehr erledigt.

Vlautin rückt nicht ab vom traurigen Schicksal der feinen Typen, er wird mit seinen Figuren immer sentimentaler. Als Leser mag ich da nicht mitweinen, werde eher bös auf das selbstgefällige Fallenlassen von Horace. Soll der Roman eine Parabel sein auf die „Geworfenheit“ des einfachen Menschen im raubtierhaften US-System? „Dieses zutiefst amerikanische Verlorenheitsgefühl, das kein Urvertrauen kennt, zieht sich wie ein roter Faden durch Vlautins Romane und Songs und macht seine Figuren zu Archetypen weit jenseits der Tagespolitik .“ (Willy Vlautin ist auch Musiker und hat einen Song zu „Don´t skip out on me“ – so der Originaltitel – Lass mich nicht im Stich – gemacht.)

Andrian Kreye (SZ) vergleicht Vlautins Texte in hrer Authentizität mit denen von Bruce Springsteen, doch es fehlt die Musik, die das Gefühl begleitet und der Roman hat den Nachteil gegenüber dem Song, dass er die Emotionalität streckt, dass er sich in anschwellender Wiederholung verläuft. „Schlicht und ergreifend“, heißt es in der „Buchkultur“. Der Tenor vieler Kritiken: „Herzzerreißend, aber ohne Kitsch“. Der verlorene Sohn – „Von der Gewissheit, dass am Ende des Tunnels – möge er ihnen auch bisweilen unendlich erscheinen – das Licht der Erlösung auf seine Helden wartet.“ (Peter Henning, SPIEGEL). „Willy Vlautin ist kein raffinierter, kein formal avancierter oder ambitionierter Erzähler. Aber: Wenn Barmherzigkeit eine literarische Kategorie ist, dann ist Vlautin einer ihrer lesenswerten Verfechter.“ (Christoph Schröder, ZEIT). Ein bisschen viel Seelengüte, ein bisschen viel Misericordia, aber das braucht’s zum Überleben und zum Sterben in den USA.

Leseprobe beim Piper-Verlag

Will Vlautin chats about his new novel and coinciding album – New Day Northwest (englisch – incl. Song)

Willy Vlautin scheint auch ein feiner Typ zu sein.

2018         330 Seiten

2-3

 



Saunders
21. September 2019, 18:04
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George Saunders: Lincoln im Bardo

saunderslincolnMan kann den Boandlkramer um Aufschub bitten, aber irgendwann wird’s aus sein. When I’m dead and gone. Wolfgang Niedeken und Trude Herr sangen: Niemals geht man so ganz, es gibt Vorhölle und Vorhimmel (Limbus und Purgatorium) als der Unendlichkeit vorgelagerte Aufenthaltsräume fürs Nach-Leben. Die Buddhisten nennen diese Regionen „Bardo“ – eigentlich gibt es davon wie bei Dante mehrere –, in denen man vor der finalen Auslöschung noch ein wenig herumspuken darf. Man sieht, man wandelt auf schummrigem Gelände.

George Saunders lädt den Leser ins Bardo ein (hat nichts mit Bardolino zu tun) und setzt ihn dort dem Geplapper einiger Vortoten aus. Gesichert ist nichts. Den Hauptpart der Unterhaltungen auf dem Friedhof in Georgetown bestreiten hans vollman, roger bevins iii und ein paar reverends (Saunders lässt die Namen klein drucken), aber auch Leute wie du und ich reden mit, so die eher vulgären eddie und betsy baron, Ärzte, Geistliche, Soldaten, Nichtsnutze, bunt geschichtet.

Ah, Benjamin, Benjy! Weißte noch, dieser Sch-schnurrbart? Haben wir ihn nich mal bei McMurray festgehalten, dass der ihn kahlschert? (eddie baron) Ich hab mal mit Benjy rumgeferkelt wie Satan und Gar:… ha. (betsy baron) Ach, wer nich? Haha! Nee: soweit ich weiß, hab ich selber nie mit Benjy rumgeferkelt, aber is schon mal vorgekommen, dass so in dem allgemeinen, äh. Frohsinn bisschen sch-un­ klar war, wer) etzt grade mit wem rumferkelt wie der Seh­satan – (eddie baron) 

Man erinnert sich an das Leben und kommentiert die aktuelle Situation, spekuliert auch über die Geschichte, 1862, Sezessionskrieg, Abraham Lincoln. Die Meinungen über den Präsidenten sind durchaus ambivalent; „Ihr habt die Zügel ergriffen und Euch zum Diktator aufge­schwungen und damit eine neue monolithische Form des Regierens eingerichtet, die die Rechte des Einzelnen über­trumpft. Eure Herrschaft sagt eine schreckliche Zeit voraus, in der all unsere Freiheiten zugunsten der Rechte des Mono­lithen verloren sein werden. Die Gründerväter wenden sich mit Grausen.“ (In: »Der Schurke Lincoln«, von R. B. Arnolds, Bericht von Darrel Cumberland) Der Raum des Bardo ist liquide, die Personen materialisieren sich formfrei und können sich anderen Körpern einfügen, auch durch sie hindurchgehen. Die Zeit der toten Individuen ist auch im Bardo begrenzt, wenn sie ihre Illusionen verloren haben, endlich ihr Totsein akzeptieren und loslassen können, entmaterialisieren sie sich in einer „Materienlichtblüte“, dass es nur so knallt und furzt. Die Handlung soll sich an einem Tag, einer Nacht abspielen, aber das ist egal.

Seine Gestalt (wie es manchmal mit denjenigen passiert, die kurz vorm Weggang stehen) flackerte jetzt zwischen den ver­schiedenen Formen, die er an jenem vormaligen Ort ein­genommen hatte: purpurrotes Neugeborenes, schreiender nackter Säugling, Kleinkind mit Puddinggesicht, fiebernder Junge auf dem Krankenbett. (hans vollman) Dann, ohne seine Körpergröße im Geringsten zu verändern (also immer noch in Kindergröße), nahm er seine verschie­denen zukünftigen Gestalten an (die er leider nicht mehr er­ reicht hatte): nervöser junger Mann im Hochzeitsgehrock; nackter Gatte, von der gerade erlebten Lust noch feucht zwischen den Beinen; junger Vater, aus dem Bett springend, um eine Kerze anzu­zünden, weil ein Kind geschrien hat; trauernder Witwer mit weißem Haar; gebeugter alter Knabe mit Ohrtrompete, breitbeinig auf einem Baumstumpf, nach Fliegen schlagend. (roger bevins iii)

Als dieser Herr durch mich hindurchging, spürte ich eine Seelenverwandtschaft.
Und beschloss, ein bisschen zu bleiben.
Da drinnen.
Und so bewegten wir uns nun gemeinsam voran, ich rich­tete mich Schritt für Schritt nach ihm. Was nicht leicht war. Er hatte sehr lange Beine. Ich streckte meine Beine aus, da­mit sie sich seinen anpassten, streckte mich komplett aus, und wir waren gleich groß, und draußen, auf dem Rücken eines Pferdes, und (verzeiht mir) die Aufregung, wieder auf einem Pferd zu reiten, war zu groß, und ich – ich blieb. Da drinnen. War das aufregend! Zu tun, was ich wollte. (thomas havens)

Zwischen die Gespräche setzt Saunders Zitate von Zeitzeugen, Texte aus Sachbüchern und zeitgenössischen Briefwechseln. Saunders nennt die Quelle, ich kann nicht prüfen, was davon authentisch ist. Auch Abraham Lincoln erscheint in dieser Nacht auf dem Friedhof, deshalb hat Saunders den Termin gewählt. Lincoln im Titel, das ist auch der Leserfang. Lincolns Sohn Willie ist mit 11 Jahren gestorben, an Tuberkulose, der Vater ist trostlos. “

Doch da die Tür nur angelehnt war und die Kranken-Gestalt seines jungen drinnen lag, konnte er offenbar nicht widerstehen, ein letztes Mal hineinzugehen. (reverend everly thomas) Wiir sprangen vom Dach hinunter und folgten ihm hinein. (hans vollman) Die Nähe der Kranken-Gestalt schien Mr. Lincoln aus einer früheren Entschlossenheit zu reißen, und er zog die Kiste aus ihrem Wandfach und stellte sie auf den Boden. (reverend everly thomas) Vie es aussah, wollte er nicht weiter gehen (roeger bevins iii) E:r hatte ursprünglich nicht einmal so weit gehen wollen (reverend everly thomas) Nur dass er sich dann hinkniete. (hans vollman) Und als er da kniete, konnte er offenbar nicht widerstehen, üe Kiste ein letztes Mal zu öffnen. (reverend everly thomas) Er öffnete sie; sah hinein; seufzte. (roger bevins iii) Griff hinein und strich zärtlich die Stirnlocke zurecht. (hans vollman) Veränderte die Stellung der blassen gekreuzten Hände ein wenig. (roger bevins iii) Auf dem Dach schrie der Knabe auf. (hans vollman)

Er nimmt seinen Sohn aus der “Kranken-Kiste“ – dem Sarg – und drückt ihn, um Abschied zu nehmen. Auch für dieses Tun gibt es Zeitungsberichte? Die Vortoten mischen sich ein. Fort?, schrie der Junge auf. Wir hatten ihn jetzt befreit. Er schob sich aus der Wand, taumelte ein paar Schritt weit und setzte sich auf den Boden. (reverend everly thomas)

Auch Willie spricht:

Ich bin Willie     Ich bin Willie     Ich bin sogar jetzt noch Bin nicht Willie
Nicht willie aber irgendwie    Weniger
Mehr     Alles ist          Jetzt erlaubt          Alles ist mir jetzt er­laubt
Alles ist Licht   Licht    Licht    mir jetzt erlaubt
Aus dem Bett aufstehen, zum Empfang runtergehen, er­laubt (…)
Aus dem Fenster fliegen, erlaubt, erlaubt (die ganze la­chende Gesellschaft des Empfangs steht glücklich hinter mir, drängt mich, ja, flieg los) (und sagt, oh, es geht ihm schon viel besser, er wirkt überhaupt nicht krank!)!
Alles, was der frühere Kerl (willie) hatte, muss jetzt zu­rückgegeben werden (wird mit Freuden zurückgegeben),
denn es war nie meins (nie seins) und wird deshalb auch nicht weggenommen, überhaupt nicht!
Da ich (der ich willies war, doch nicht mehr (nur) willies bin) nun zurückkehre
Zu solcher Schönheit.

willie lincoln

saunderslincol3Das Buch zu lesen ist leicht und doch ungewöhnlich. Es fügen sich viele Stimmen, oft nur wenige auf einer Seite. Man liest schnell drüber hinweg, versucht Relevantes herauszufiltern, braucht dazu Zeit und hat doch bald viele Seiten hinter sich. “Es sieht nicht wirklich aus wie ein Roman.” (Thea Dorn) Die Geister ergeben keinen Chor, obwohl sie gesellschaftliche Empfindungen abbilden, aber die Stimmen begleiten nicht, sie sind das Sprechen, eher ein Drehbuch als eine Erzählung. Als “musikalische Literatur” empfindet es Thea Dorn. Auch als Mosaik lässt sich das Buch nicht lesen, ein Mosaik lebt von der Gleichzeitigkeit der Betrachtung, für den Roman braucht man Stunden oder mehr, vieles vom Gelesenen hat man bald wieder vergessen. Was natürlich auch nicht schlimm ist. Möglich, dass ein zweites Lesen manches zurechtrückt, Überblicke verschafft, das Umgehen mit der Methode erleichtert. Aber, so Andreas Isenschmid mehrdeutig: “Ein solches Buch wird man so bald nicht wieder lesen.“ (ZEIT) Ulrich Baron (SZ) hat lange kein Buch mehr gelesen, das die „Schönheit der Welt“ derart feiert wie Georg Saunders‘ erster Roman. Laut Klappentext mündet der vielstimmige Chor, “in die eine große Frage (…): Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?” In meinem Buch habe ich weder die Frage noch eine Antwort darauf gefunden. Das Buch sei ein Wunder, hört man, doch das Spirituelle ist nicht so meine Sache.

2017          450 Seiten

* Die Zitate geben nur den Text wieder, das Seitenlayout ist nicht berücksichtigt. (siehe Bild/ZDF)

Leseprobe

Gespräch mit Hubert Winkels in der 3Sat-Kulturzeit

Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF

3-4

 



Shteyngart
2. August 2019, 16:54
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Gary Shteyngart:
Willkommen in Lake Success

shteyngartlakesuccessDas ist die Geschichte von Barry und Seema. Eigentlich die Geschichte von Barry, denn Seema ist die Frau. Barry bräcuchte eher einen Therapeuten als einen Leser, denn Barry ist Hedgefonds-Manager. Seine Fonds nennt er nach Werken von F. Scott Fitzgerald, This Side of Capitalism nach This Side of Paradise oder The Last Tycoon. Gary Shteyngart lässt ihn nicht gut ausssehen, er muss ihn aber nicht bloßstellen, denn das besorgt Barry selbst, einen außen- und drüberstehenden Leser vorausgesetzt.

Barry Cohen (!) hat sich emporgearbeitet, hat es bis zum sehr vielfachen Millionär gebracht, der milliardenschwere Fonds verwaltet. Er hat Seema abbekommen ,die hübsche und kluge Tochter einer indisch-tamilischen Einwandererfamilie. Barry und Seema wohnen im 20. Stock in einem Dreihundertfünfzig-Quadratmeter-Apartment und “Barrys größte Freude war, all seine Uhren mit einem ewigen Kalender kurz vor dem Monatsanfang um Mitternacht nebeneinanderzulegen und zu beobachten, wie die Plättchen mit den Angaben zu Wochentag, Datum und Monat mit einem universellen Klick weiterrückten. Er verspürte eine anbrandende Aufregung, wenn die Bewegungen für den Wech­sel sich ankündigten, und nach diesem befriedigenden Geräusch entspannte er sich.” Er hatte “über sechzig Millionen Dollar für Uhren ausgegeben, haupt­sächlich für Pateks, und den Großteil seines Nettovermögens verpulvert. Obwohl er kein Rolex-Fan war, hatte er die berühmte Bao Dai Rolex gekauft, einst im Besitz des letzten Kaisers von Vietnam, für 7,2 Millionen Dollar – eine der teuers­ten Uhren, die je versteigert wurden. Nach seinem Siegergebot kotzte Barry auf der Toilette von Christie’s.”. Geld ist im Überüberfluss da. »Ich habe noch was von dem achtundvierzig Jahre alten Karuizawa Single Cask Whisky«, sagte er. »Drei­unddreißigtausend Dollar die Flasche, wenn man noch eine findet.«
»Ein bisschen peinlich, Barry, den Preis zu erwähnen«, sagte Seema.

Barry und Shiva haben einen dreijährigen Sohn, Shiva. Shiva hat die “Diagnose”, er liegt im “Spektrum”, Shiva ist Autist. Barry dagegen liebt nur sich selbst, ja, weniger, er ist “gefühlsleer” (Seema). Immer folgt die Pose, das Vortäuschen von Emotion, von Empathie, glauben tut das keiner, nicht mal man selbst, auch wenn man sich auch das vorspiegelt.

Barry weinte wunderschön. (…) Barry weinte, dass er keinen Cent Geld habe, und ein mexikanisches Mädchen mit Brille und bauchfreiem Top kaufte ihm Garne asada torta und eine Jarritos-Brause, Geschmacksrichtung Tamarinde. (…) Er fing an zu weinen. »Ich bin den ganzen Weg aus Manhattan hergekommen!«, heulte Barry.

Barry inszeniert sich weiter als Mensch: „Er begreift, dass sein Sohn niemals in seine Fußstapfen treten wird. Mit nichts als seinen Lieblingsuhren im Gepäck flieht Barry mit einem Greyhound-Bus aus New York.“ (Klappentext) Er redet und heult sich ein, das „echte“ Leben zu suchen, ein anderer werden zu wollen – oder wieder der alte. Shteyngart schickt ihn in den emotionsgeladenen Süden, bis hin nach TexasArizonaMexiko, Ciudad Juárez. Ohne Millionen, ohne 350m2, nur mit seinem Koffer voller Uhren, der ihm dann auch gestohlen wird. Ein Märchen, schön erzählt, voller Klischees, die Katharsis des Maklers. „Mein Leben beginnt wieder, dachte Barry. Ich komme nicht ins Gefängnis. Wiedergeboren. Wiedergeboren.” Man muss als Leser aufpassen, dass man nicht auf Shteyngarts Barry hereinfällt, seinen faulen Zauber für authentisch hält.

Zuhause in New York hat Seema keine Zeit und auch kein Bedürfnis, Barrys Verschwinden zu betrauern. Sie muss sich – zusammen mit Kindermädchen Novie – um den kontaktverweigernden Shiva kümmern, sie freundet sich mit der Mutter des mit Shiva gleichalten Arturo an und lässt sich auf eine Affäre mit dessen Vater ein. Als Barry zurückkehrt, lässt sich Seema für eine üppige Summe scheiden. Der wieder reich gewordene Barry finanziert Shivas Bar-Mizwa mit einer halben Million Dollar.

»Ich wusste nicht, dass ich der Vogel-Vater bin«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Er hat die ganze Zeit alles gewusst. Du wusstest es auch. Ich habe es als Einziger nicht gewusst. Und du hast dieses wundervolle Kind geschaffen. Ohne mich.«
»Machst du Witze?«, fragte Seema. »Er ist genau wie du.
Das freundlichste scheißautistische Kind der ganzen Straße.
Die totale Rampensau. Die totale halbjüdische Rampensau. Du hast ihn ja heute da oben gesehen.«
»Gut, mein Lieber«, sagte sie. »Fang bitte nicht wieder an zu weinen. Du verwirrst ihn sonst.«Okay, Barry, du musst aufhören zu weinen.«

Gary Shteyngarts Roman ist eine gut geschriebene Mischung aus Satire, Road-Novel und Gesellschaftspsychogramm. Satire, weil sich ein Hedgefonds-Manager nicht anders denn als Witzfigur darstellen lässt. US-Trip, weil der Greyhound als Mythos des Ländlichen verkauft wird und weil der Kontrast zwischen Plastik-Ostküste, in der jedes Ding nur gilt, wenn es einen Markennamen hat, und Schmuddel-Süden so attraktiv ist. Gesellschaft, weil das Geschehen 2016 angesiedelt ist, im Wahlkampf zwischen Trump und Hillary. Allein, Politik spielt eine arg minderbemittelte Rolle, das Greyhound-Abenteuer ist zu sehr aus der larmoyant-selbstgefälligen Perspektive Barrys erzählt, wodurch das „authentische“ America zur Attrappe abgleitet. Und die Karikatur scheitert am mangelnden Willen Shteyngarts, seinen „Helden“ in die Pfanne zu hauen. „Selbst der Schuft hat eine Seele“, titelt Cornelius Dieckmann (FAZ). Für Felix Stephan (SZ) ist Barry „eine rundum tragische Figur“. »Es geht nicht immer nur um dich«, sagte sie. »Glaub‘ mir.« Wer hat schon Mitleid mit einem egomanischen Multimillionär mit Uhren-Tick statt Seele.

Shteyngart verweigert das Lachen ,das sich überlegen dünkt. Ein ernster und ernstzunehmender Roman ist dennoch nicht entstanden.

Am nächsten Morgen erfuhren sie, dass es stimmte. Donald J. Trump, der zutiefst gestörte New Yorker Geschäftsmann, würde ihr Präsident werden.

2018               430 Seiten

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Moshfegh
3. Juli 2019, 17:44
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Ottessa Moshfegh: Eileen

moshfegheileenWarum vergesse ich bei vielen Büchern noch schneller als den Inhalt den Anreiz, sie zu lesen – oder, früher noch, sie zu kaufen. War es bei Ottessa Moshfeghs “Eileen” eine verlockende Besprechung, eine kontroverse TV-Diskussion oder die Information, dass der Roman 2016 auf der Shortlist des Man Booker Preises stand? Das Cover hat mich nicht weiter animiert, der Titel weist nichtssagend auf eine Frau. Ich hab’s dann doch aus dem Regal gezogen und – recht schnell – gelesen. Was für das Buch sprechen kann.

Eileen Dunlop beschreibt sich über hunderte von Seiten als Frau ohne jedes Selbstbewusstsein. Und sehr früh erzählt sie, dass es “die Geschichte mei­nes Verschwindens” ist. Das macht neugierig wie auch die Aussage, dass es jetzt, da sie erzählt, 50 Jahre später ist. Eileen inszeniert das Geschehen: “An diesem Abend – ich werde meine Geschichte an dieser Stelle beginnen”. Es ist eine Gechichte mit Eiszapfen.

Nach mir drehte niemand den Kopf um. Dabei war nichts wirklich Schlimmes oder Abstoßen­des an meinem Aussehen. Im Grunde genommen war ich jung und nicht unbedingt hässlich, eher normal, durch­schnittlich, könnte man sagen. Aber damals fand ich mich das Allerletzte – widerlich, abstoßend, untauglich für die Welt. Da kam es mir idiotisch vor, irgendwie Aufmerk­samkeit auf mich ziehen zu wollen. Ich trug nur selten Schmuck und nie Parfüm oder Nagellack. Eine Weile hat­te ich einen Ring mit einem kleinen Rubin am Finger. Der hatte meiner Mutter gehört.

Meine letzten Tage als die kleine, zornige Eileen spiel­ten sich Ende Dezember in der grimmigen Kälte jener Kleinstadt ab, in der ich geboren und aufgewachsen war. Mehr als ein Meter Schnee war bereits gefallen und schmolz auch nicht mehr weg. Unerschütterlich lag er in allen Vorgärten und drängte wie eine Flutwelle an die Brüs­tung jedes Erdgeschossfensters. Tagsüber taute die oberste Schneeschicht ein wenig an, etwas Matsch floss in die Gul­lys und man erinnerte sich, dass es Freude und Sonnen­schein im Leben geben konnte. Aber im Laufe des Nach­mittags verschwand die Sonne, alles fror wieder zu und bildete nachts eine Eisschicht, die so dick war, dass sie das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes tragen konnte. Je­den Morgen streute ich Salz aus dem Eimer, der neben der Haustür stand, auf den schmalen Gartenweg von unserer Veranda zur Straße. Vom Dachsparren über der Tür hin­gen Eiszapfen, und wenn ich darunter stand, stellte ich mir vor, sie würden abbrechen und meine Brüste durchbohren, den dicken Knorpel an meiner Schulter durchtrennen oder sich wie eine Gewehrkugel in mein Gehirn bohren.

An den Himmel glaubte ich nicht, aber an die Hölle schon.“ Eileen arbeitet in der Verwaltung eines Jugendgefängnisses. Sie schließt keine Kontakte oder Freundschaften, ihren Kollegen Randy träumt sie sich als Partner, wagt aber nicht ihn anzusprechen, fährt jedoch oft vor sein Haus, um sich vorzustellen, wie er lebt. Ihre Realität ist so bitter wie gewöhnlich in US-Vorstädten. Das Haus gleicht einer Müllkippe. Ihre Mutter ist gestorben, ihr Vater, früher Village-Cop, ist Alkoholiker ohne Realitätsbezug. Eileen versorgt ihn mit Gin, er missachtet und schurigelt sie dafür. ER hat Eileen auch begrapscht, ohne dass die Mutter sich darum geschert hätte. Das ist nicht unwichtig.

An diesem Abend – ich werde meine Geschichte an dieser Stelle beginnen – saß er barfuß auf der Treppe, einen Zigarrenstummel zwischen den Fingern, und trank den Sherry. »Arme Eileen«, sagte er sarkastisch, als ich zur Tür hereintrat. Er behandelte mich meist herablassend, immer hatte er etwas an meinem be­dauernswerten Anblick auszusetzen und auch keinerlei Skrupel, mir das mitzuteilen. Hätten sich meine damaligen Träume bewahrheitet, hätte ich ihn eines Tages am Fuß der Treppe vorgefunden, mit gebrochenem Genick, aber noch atmend. »Das wurde auch langsam Zeit«, hätte ich dann so gelangweilt wie möglich vorgebracht und ihn ge­mustert, während er sterbend am Boden lag. Ja, ich verab­ scheute ihn, aber ich war trotzdem pflichtbewusst. Nur wir zwei wohnten in dem Haus – Dad und ich. Ich habe eine Schwester, die vermutlich noch am Leben ist, aber ich habe seit über fünfzig Jahren kein Wort mehr mit ihr ge­wechselt.
»Hi, Dad«, sagte ich, als ich auf der Treppe an ihm vor­beiging.

In den selbstzentrierten Schilderungen des “Familien”- und – deutlich weniger – des Berufslebens erschöpft sich die Handlung des Romans weitgehend. Er beginnt am Freitag und endet am Donnerstag darauf, Heiligabend 1964. Der ideale Tag für ein Familienfest, hätte man denn eine. Eileen muss ihn zum ersten Mal nicht zuhause verbringen, denn ihre neue Arbeitskollegin Rebecca hat sie zu sich eingleladen. Eileen bringt eine Flasche Wein mit. Rebecca Saint John schiebt sich vor Randy und wird zu Eileens Sehnsucht nach dem Leben und sich selbst.

Mein Leben würde sich verändern. Endlich hatte ich eine Seelenver­wandte, eine verbündete, eine Vertraute gefunden. Ich wollte ihre Hand ergreifen und Blutsbrüderschaft mit ihr schließen. So einsam, so leicht zu manipulieren war ich. Aber ich nahm die Hände nicht aus den Taschen. Dieser Augenblick markierte den Beginn des dunklen Bundes, der den Rest dieser Geschichte beherrschen wird. (…)Es war, als hätte sich mein verborgenes Leid gerade in sein Gegen­teil verwandelt. Wahrscheinlich durchschaute Rebecca mein forsches Auftreten sofort, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich hielt mich für ungemein weltgewandt.

Markus Gasser liest in “Eileen” “gebändigte Redseligkeit”, ich habe in der murrköpfigen Suada manches überlesen, ließ mich von den offensichtlich eingestreuten expliziten Bemerkungen aber doch zum Fertiglesen teasern. “In „Eileen“ nun wird die Leserin lange, fast bis zum Ende des Romans, mit Andeutungen hingehalten. (…) Am Ende kommt einem die seltsame Eileen Dunlop ein bisschen zu krass, ein wenig unglaubwürdig vor. Etwas fesselt, etwas stört aber auch an dieser Figur. (Sylvia Staude, FR) Wenn man denkt, der Gram habe ein Ende, steht man dicht am Abgrund.

2015         330 Seiten

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Eugenides
8. Mai 2019, 18:17
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Jeffrey Eugenides:
Das große Experiment

eugenidesexperiment● Kendall hatte nie so leben wollen wie seine Eltern. Das war der Leitgedanke, die hochtrabende Rechtfertigung für die Schneekugelsammlung und die Flohmarktbrillen. Aber als Max und Eleanor größer wurden, dämmerte es ihm, dass ihre Kindheit dem Vergleich mit seiner eigenen nicht standhielt. Und sein Gewissen begann sich zu regen. (…)
Wie war das innerhalb einer Generation möglich gewe­sen? Das Schlafzimmer seiner Eltern hatte so nie ausgesehen. Die Wäsche seines Vaters lag stets gefaltet in einer Kommode, Hemden und Anzüge hingen frisch gebügelt im Schrank. Das Bett, in das er abends stieg, war immer akkurat gemacht. Wenn Kendall heutzutage so leben wollte, wie sein Vater ge­lebt hatte, müsste er eine Waschfrau, eine Putzfrau, eine Privatsekretärin und eine Köchin einstellen. Er müsste eine Ehefrau einstellen. Wäre das nicht phantastisch? Stephanie könnte auch eine gebrauchen. Jeder konnte eine Ehefrau ge­brauchen, aber niemand hatte eine.
Um aber eine Ehefrau einzustellen, musste Kendall mehr Geld verdienen. Die Alternative war, so zu leben, wie er es tat: als verheirateter Junggeselle im bürgerlichen Elend.

Das Ende des amerikanischen Traums. Was man aber nicht wahrhaben will und eine Scheinfirma gründet. Kebdall hat ein Buch über Toqueville geschrieben (“Die Taschendemokratie”), findet dafür aber nicht genügend Käufer und tut sich mit seinem “Verleger” Piasecki zusammen und erwirbt viel Geld mit gefaketen Rechnungen für nicht gedruckte Bücher. (Das große Experiment, 2008)

● Die Eltern des Erzählers lassen sich von Misserfolgen nicht entmutigen. Sie ziehen von Ort zu Ort, um einen Platz zum Leben und Geldverdienen zu finden.

Dann kamen die Rückschläge. Eines seiner Projekte in North Carolina, ein Skihotel, ging pleite. Wie sich heraus­stellte, hatte sein Partner hunderttausend Dollar unterschla­gen. Mein Vater musste ihn vor Gericht bringen, was noch mehr kostete. Unterdessen verklagte ihn eine Sparkasse, weil er mit Hypothekenzahlungen in Verzug geraten war. Weitere Anwaltskosten türmten sich. Die Millionen versickerten rasch, und noch während sie verschwanden, versuchte er sich an allen möglichen Unternehmungen, um sie zurückzubekommen.

Schließlich kaufen sie mit Krediten eine Art heruntergekommenes Motel, nennen es “Timesharing-Residenz”, und päppeln es auf. Es wird nie fertig werden, aber die Hoffung darf nicht sterben. USA. (Timesharing, 1997)

Die Sonne geht unter. Wir veranstalten unseren Grillabend, sitzen auf Klappstühlen auf dem Dach.
«Das wird noch schön hier oben», sagt meine Mutter. «Als wäre man mitten im Himmel.»
«Mir gefällt», sagt mein Vater, «dass man hier keinen sieht. Privater Meerblick, auf dem eigenen Haus. Ein so großes Haus am Wasser würde dich unverschämt viel Geld kosten.»
«Sobald wir das abbezahlt haben», fährt er fort, «ist das unser Penthouse. Das bleibt dann in der Familie, von einer Generation zur nächsten. Immer wenn du in deinem eigenen Florida-Penthouse wohnen willst, kannst du kommen.»
«Toll», sage ich und meine es auch so. Zum ersten Mal übt das Motel eine starke Anziehung auf mich aus. Die unerwar­teten Freiheitsgefühle auf dem Dach, der salzbedingte Verfall der Küstenbebauung, die angenehme Absurdität Amerikas, alles kommt zusammen, sodass ich mir vorstellen kann, wie ich in kommenden Jahren Freunde und Frauen mit auf dieses Dach nehme.

Die Frauen sind raffinierter, wenn sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.

● Tomasina – ich wiederhole, wie eine tickende Uhr – war vier­zig. Sie hatte so ziemlich alles im Leben, was sie wollte. Sie hatte einen tollen Job als stellvertretende Produzentin der C B S Evening News mit Dan Rather. Sie hatte ein sagenhaftes, großzü­giges Apartment an der Hudson Street. Sie verfügte über gutes, größtenteils intaktes Aussehen. Ihre Brüste waren vom Lauf der Zeit zwar nicht unberührt geblieben, hielten jedoch tapfer die Stellung. Außerdem hatte sie neue Zähne. Einen ganzen Satz nagelneuer, blitzender, hübsch beieinanderstehender Zähne. Zuerst, bevor sie sich an sie gewöhnt hatte, hatten sie gepfiffen, aber inzwischen waren sie ausgezeichnet. Und Bi­zeps hatte sie. Auf ihrem privaten Rentenkonto hatten sich stattliche einhundertfünfundsiebzigtausend Dollar ange­sammelt. Doch ein Baby hatte sie nicht. Keinen Ehemann zu haben konnte sie ertragen. Keinen Ehemann zu haben war in mancher Hinsicht sogar besser. Aber ein Baby wollte sie.

Sie veranstaltet eine “Fruchtbarkeitsparty”.

Es waren eine Menge Leute da, vielleicht fünfundsiebzig. Es sah aus wie eine Hallo­ween-Party. Frauen, die sich das ganze Jahr über insgeheim gern sexy anziehen würden, hatten sich sexy angezogen. Sie trugen tief ausgeschnittene Playboy-Oberteile oder seitlich geschlitzte Hexengewänder. Nicht wenige streichelten pro­vokativ die Kerzen oder fummelten an dem heißen Wachs herum. Sie waren nicht jung. Niemand war jung. Die Männer sahen aus, wie Männer in den letzten zwanzig Jahren immer ausgesehen haben: verlegen, aber liebenswürdig ergeben. Sie sahen aus wie ich.

Im Badezimmer steht ein Becher bereit, in den die ausgewählten Herren ihre Spende abgeben sollten.

Das Rezept kam per Post:
Samen von drei Männern mischen. Kräftig verrühren. In die Bratenspritze füllen. Sich zurücklegen. Tülle einführen. Zusammendrücken.

Es funktioniert. (Die Bratenspritze, 1995)

● Die indischstämmige Schülerin Prakrti soll bei einem Besuch in der Heimat ihrer Eltern nach Landesbrauch mit einem Jungen verheiratet werden. Um dem zu entgehen, plant sie, sich in den USA entjungfern zu lassen, dann käme sie für die arrangierte Ehe nicht mehr in Frage. Sie sucht sich für die “Tat” den – viel älteren – Physikprofessor Matthew aus. Das hat auch für diesen Folgen. (Nach der Tat, 2017)

● Della und Cathy sind alt geworden. Sie lesen ein Buch wieder, das sie durchs Leben begleitet hat (Klagende, 2017):

Das Buch beruht auf einer alten athabaskischen Legende, die die Autorin, Velma Wallis, als Kind gehört hat. Die Le­gende, die «Mütter an ihre Töchter weitergeben», erzählt die Geschichte der beiden alten Frauen Ch’idzigyaak und Sa‘, die in einer Hungersnot von ihrem Stamm zurückgelassen werden.
Und das bedeutet: zum Sterben zurückgelassen werden. Wie es der Brauch war.
Nur sterben die beiden alten Frauen nicht. Im Wald kom­men sie miteinander ins Gespräch. Wussten sie nicht früher, wie man jagt und Fische fängt und im Wald auf Nahrungs­suche geht? Könnten sie das nicht wieder tun? Sie tun genau das. Sie lernen wieder neu, was sie als jüngere Frauen schon konnten, sie jagen und gehen eisfischen, und einmal verste­cken sie sich vor Kannibalen, die ihr Revier durchqueren. Sol­che Sachen halt.

Als sie wieder aus dem Fenster sieht, ist Cathys Auto weg, und sie nimmt das Buch in die Hand, das Cathy ihr mitge­bracht hat. Der bläuliche Gebirgszug auf dem Umschlag ver­wirrt sie noch immer. Aber der Titel ist unverändert: Zwei alte Frauen: Eine Legende von Verrat undTapferkeit.  Sie schlägt das Buch auf und blättert darin, hin und wieder hält sie inne, um eine Zeichnung zu bewundern.

Della verbringt viel Zeit allein im Haus. Die Menschen, die ihr helfen, fahren nachmittags nach Hause, oder sie habenden Tag frei, und Bennett kann nicht kommen. Es ist wieder Win­ter. Zwei Jahre sind vergangen. Sie ist fast neunzig. Sie scheint nicht dümmer zu werden, oder nur ein bisschen. Jedenfalls nicht so dumm, dass man es bemerken würde.

Eines Tages schneit es wieder. Della bleibt am Fenster ste­hen, da verspürt sie den Drang hinauszugehen, geradewegs in das Schneetreiben hinein. So weit ihre alten Füße sie tragen. Sie bräuchte dazu nicht einmal ihre Gehhilfe. Sie bräuchte überhaupt nichts. Della sieht, wie der Schnee vor dem Fenster wirbelt, und ihr ist, als würde sie in ihr eigenes Gehirn blicken. Genau so sind ihre Gedanken jetzt, sie kreisen und wirbeln, sie bewegen sich hierhin und dorthin, in ihrem Kopf herrscht ein einziges riesiges Schneegestöber. Es wäre gar nichts Neues für sie, in den Schnee hineinzugehen, in ihm zu verschwin­den. Es wäre, als würden das innere und das Äußere aufeinan­dertreffen. Eins werden. Alles weiß. Einfach nur hinausgehen. Immer weiter. Vielleicht würde ihr dort draußen jemand be­gegnen, vielleicht auch nicht. Eine Freundin.

“Man muss sie nehmen, wie sie sind”, heißt es am Schluss von “Das Orakel der Vulva” (1999). Viele der Geschichten enden versöhnlich, mit Geduld und Verständnis für die anderen, die Eltern, die Partner, für andere Sitten und Bräuche, auch für die Zumutungen des Lebens und des Landes. Eugenides versteckt in seinem nüchternen Erzählen die Anteilnahme, die Empathie mit seinen Figuren. Am reizvollsten sind die Geschichten mit zunächst exotisch scheinenden Sujets und Personen, die Themen des amerikanischen Storybooks sind doch schon vielfach beschrieben – auch von Eugenides selbst – und bekannt. Wie es so ist bei Kurzgeschichten, vergisst man beim Lesen der nächsten das Geschehen der vorhergehenden. Die Texte stammen von 1988 bis 2017.

330 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

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