Nachrichten vom Höllenhund


Zeh
31. Juli 2021, 16:20
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: , ,

Juli Zeh: Über Menschen

Dora. 36. Erfolgreich in der Werbebranche. Ihr Leben mit Robert in Berlin-Kreuzberg empfindet sie „als quasi perfekt. „Es gab nichts, was sie ändern wollte.“ „Alles ist gut, bis Dora eine „Mehrwegflasche in den Restmüll warf. Als es ihr auffiel, empfand sie ein seltsames Gefühl von Befreiung. Es fühlte sich so gut an, dass sie es wieder tat.“ Bis sich Robert als Gutmensch in Sachen Umweltrettung radikalisierte und dann vom „Klimaaktivisten zum Epidemiologen konvertierte“. „Man rief das Ende der guten alten Zeit aus. Nie wieder würde das Leben ein, wie es gewesen war. Virologen wurden zu Medienstars. Zeitungen fragten Prominente, wofür sie beteten. Das große Mitmachen wurde übermächtig. Als Robert sagte, dass das Virus in gewisser Weise auch ein Segen sei, weil es den Planeten von der Mobilität befreie, wusste Dora, dass sie gehen würde.“

Dora ist eine Frau, die die Verhältnisse reflektiert, ihre Wirkmacht durchschaut und dann auch Konsequenzen zieht. Das hat sie von ihrer Autorin Juli Zeh. Es geht um den „Kreislauf der Projekte, das Lebensrad des modernen Großstadtmenschen“.

Man beendet ein Projekt, um gleich darauf das nächste anzufangen. Für eine Weile glaubt man, das aktuelle Projekt sei das Wichtigste auf der Welt, man tut alles dafür, um es rechtzeitig und so gut wie möglich zu beenden. Nur um dann zu erleben, wie alle Bedeutung im Moment der Fertigstellung kollabiert. Gleichzeitig beginnt das nächste, noch wichtigere Projekt. Es gibt kein Ankommen. Streng genommen gibt es nicht mal ein Weiterkommen. Es gibt nur Kreisbahnen, auf denen sich alle bewegen, weil sie Angst vor dem Stillstand haben. Inzwischen hat fast jeder heimlich verstanden, dass das sinnlos ist. Auch wenn man ungern darüber spricht. Dora sieht es in den Augen ihrer Kollegen, im tief verunsicherten Blick. Nur Neueinsteiger glauben noch, man könne »es« schaffen. Dabei ist »es« unschaffbar, weil »es« die Gesamtheit aller denkbaren Projekte darstellt und weil in Wahrheit nicht das Eintreffen, sondern das Ausbleiben des nächsten Projekts die größte anzunehmende Katastrophe wäre. Die Schaffbarkeit von »es« ist die Grundlüge der modernen Lebens- und Arbeitswelt. Ein kollektiver Selbstbetrug, inzwischen lautlos zerplatzt.

Aber irgendwann kam Dora „nicht mehr mit, und die Idee vom Landhaus hat dem Nicht-mehr-Mitkommen ein Gehäuse gegeben. Das war letzten Herbst, und jetzt steht sie hier, inmitten ihrer Brackener Brache, und bekommt es mit der Angst zu tun. Der Kreislauf der Projekte könnte außer Kontrolle geraten. Der Anblick des Flurstücks macht das klar. Das Flurstück ist ihr nächstes verdammtes Projekt, und vielleicht ist es dieses Mal eine Nummer zu groß.“

Die Stadt entfernt sich immer weiter, gerät aus dem Blick, der Roman geht weg von der Karikatur der ‚Gutmenschen“ zu der Biederkeit der Dorfbewohner. Juli Zeh schildert akribisch Doras Tagesrhythmus im brandenburgischen Bracken (!) Körperarbeit.

Weitermachen. Nicht nachdenken.

  Dora rammt den Spaten in den Boden, zieht ihn wieder heraus, durchtrennt mit einem Hieb eine hartnäckige Wurzel und wendet das nächste Stück sandiger Erde. Dann wirft sie ihr Werkzeug beiseite und presst die Hände ins Kreuz. Rückenschmerzen. Mit — sie muss kurz rechnen — 36 Jahre. Seit dem fünfundzwanzigsten Geburtstag muss sie immer nachrechnen, wenn es um ihr Alter geht.

  Nicht nachdenken. Weitermachen. Der schmale Streifen umgegrabener Erde taugt noch lange nicht zum Erfolgserlebnis. Wenn sie sich umsieht, wird das Gefühl existenzieller Chancenlosigkeit übermächtig. Das Grundstück ist viel zu groß. Es sieht nicht aus wie etwas, das »Garten« heißen könnte. Ein Garten ist ein Stück Rasen, auf dem ein Würfelhaus steht. Wie in dem Münsteraner Vorort, in dem Dora aufgewachsen ist. Oder vielleicht auch eine Miniaturblumenwiese auf einer Baumscheibe in Berlin-Kreuzberg, wo Dora zuletzt gewohnt hat. Der „Clash of Civilizations … zwischen Berlin und Bracken“.

Bracken heißt auch: Natur. Aber Dora hat nicht die die Selbstverständlichkeit erworben, in ihr und mit ihr zu leben. Es geht nichts ohne die Kontrolle der Gedanken. Das „Nicht nachdenken. Weitermachen.“ ist – hilflos verzweifelter – Teil der Selbstkontrolle.

Um sie herum tut der Frühling, was er muss. Zwingt jeden biologischen Organismus zu Wachstum und Fülle. Peitscht das Leben zu Höchstleistungen, nötigt alle Beteiligten zur Reproduktion. Nichts wird beurteilt, alles wird benutzt. Was stirbt, lässt sich verwerten. Verschwindet eine Art, füllt eine neue die Lücke. Tod und Geburt sind keine Dramen, sondern Scharniere der Lebensmechanik. Menschliche Aufregung spielt keine Rolle. Niemandem kann es gleichgültiger sein als einer Tannenmeise, ob die Menschheit zugrunde geht oder nicht. Außer den Virenstämmen braucht uns keiner, denkt Dora. Weil das ein trauriger Gedanke ist, verdrängt sie ihn wieder.   

In Bracken leben nicht viele Menschen. Juli Zeh hat sie weiter reduziert auf die unmittelbare Nachbarschaft zu Doras „Flurstück“. Der erste Nachbar haust direkt hinter der Gartenmauer, ein nicht nur körperlich verwahrloster Hüne, er stellt sich derb  vor als „ich bin hier der Dorf-Nazi“. Er hat eine verschwommene Jugend als Rostock-Rüpel, war der Messerstecherei angeklagt, säuft einmal abends mit zwei Kumpels unter Absingen von Nazi-Liedgut. Aber er hat sich zurückgezogen, isoliert hinter der Mauer. Nur kurz flammt die Auseinandersetzung auf, auch über die AfD, das Buch ist auf der Höhe der Zeit. doch dann wird Gote (von Gottfried!) für Dora zum Menschen. „Aber so einer ist Gote doch nicht. Er ist einer, der Betten und Stühle verschenkt.“ Der Roman verliert seine politische Brisanz und wird zum Heimatroman, zum Buch „Über Menschen“, Nazi hin oder her. Aus dem Zeitroman wird die Gartenzaun-Romanze. Die Dorfbewohner bilden eine erwartungslose Gemeinschaft, anstatt wie die Großstädter über die besten Espressomaschinen zu streiten (Julis Karikatur-Challenge mit Sahra!), bringt Zadie Saatkartoffeln, statt sich an nachhaltige Speiseregeln zu halten, sabbert Dora über die „Fleischlappen“ (Distanz!), die Gote grillt: „Die Steaks sind phantastisch, besser als alles, was Dora in letzter Zeit gekocht hat, wahrscheinlich sogar besser als das meiste, was man in Berliner Restaurants   bekommt.“

»Schon komisch,  oder?«   »Was?«, fragt Dora.    »Wir«, sagt Gote.

Vor dem Schlafengehen geht Dora ein letztes Mal zur Mauer und pfeift. Dann kommt Gote, steigt auf die Obstkiste, und sie rauchen gemeinsam, wobei sie schweigen.

Vervollkommnet wird das Glück durch Franzi, die kleine Tochter, die ihre Mutter bei Gote abgegeben hat und der er nur ein unterfürsorglicher Vater ist, und die Freundschaft geschlossen hat mit Jochen, der beigen kleinen Hündin von Dora. Unermüdlich balgen die beiden durch Haus, Garten und Wald. Gote stirbt. Er hat eine Wolfsfigurengruppe geschnitzt und dazu eine kleine Holz-Jochen.

Das ist doch genau das, was du wolltest. Du wolltest alles loswerden. Familie. Beziehungen. Verantwortung.  Nähe. Den ganzen Nervkram. Berlin.  Robert. Die Agentur. Corona. Axel und die Anekdoten aus dem Heldenleben eines Familienvaters. Freunde, Bekannte. Die Überfüllung, das Geplapper, die Bildschirme, die Geschwindigkeit und Aufgeregtheit. Den Alarmismus der Medien. Die Arroganz der Metropole. Parks mit Leinenzwang. CarSharing, Fahrrad-Sharing und Roller-Sharing. Kribbelnde Bläschen und Schlaflosigkeit. Den ganzen Scheiß. Du wolltest auch keinen Nazi hinter der Mauer und keine nervige Pflegetochter. Du wolltest das Nichts. Das hast du jetzt. Freu dich doch.

Das ist es also, was bleibt. Das ist das Ergebnis der großen Befreiung: ein trauriger kleiner Hund.

Jochen liegt auch auf dem Cover, Symbol für Treue. Für Menschlichkeit. Sie liegt mitten auf der Straße, in Brandenburg ist das gefahrlos. Die Ohren sind dreieckig wie Gotes Schnitzsignatur. Sie guckt in die Ferne, der Sonne entgegen – oder dem „Regen“, so heißt das letzte Kapitel.

Juli Zeh arbeitet präzise. Sie lässt Dora denken (später auch nachdenken), zweifeln, widersprechen, sie streut Natur ein, später auch Träume. Nicht zuletzt auch Humor: „Unabgeschlossen an einem Bahnhof zu stehen und nicht gestohlen zu werden, muss für ein Fahrrad ziemlich hart sein.“ Gefühle will Dora unter Kontrolle behalten. „Doras Nacken beginnt zu kribbeln. Das sind keine aufsteigenden Bläschen, das ist echte Angst.“ Ein durchkomponierter und -kontrollierter Roman, der geplant aus dem Ruder läuft. Ein Roman über Lifestyle, über Corona, über Neonazis, ein Roman ÜBER LIEBE.

Zwischendurch hat Dora viel nachgedacht. Zum Beispiel über Liebe. Sie hat immer geglaubt, dass das, was Filme und Romane   »Liebe« nennen, in Wahrheit nicht existiert. O der jedenfalls nicht in der beschriebenen Form. Für sie gab es das nicht: Menschen, die sich begegnen und sofort wissen, dass sie füreinander bestimmt sind. Die für immer zusammenbleiben.

2021 – 410 Seiten

2-3

Lesefreundliche Darstellung



Leky
19. Februar 2018, 17:10
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Mariana Leky:
Was man von hier aus sehen kann

lekyokapi»Keiner ist alleine, solange er noch wir sagen kann«,

Selma ist die Großmutter von Luise und die Dörfler merken bald, dass sie irgendeinem Promi aus dem Fernsehen ähnlich sieht. Sie kommen aber erst spät auf Rudi Carrell. Ich habe bis Seite 190 gebraucht, bis mir einfiel, wem der Roman in seiner Struktur und Schreibweise ähnelt: Pu der Bär. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Kind gebliebener Roman. Was durchaus ein Lob ist. Luise, die Erzählerin, ist anfangs zehn, altert im dritten Teil auf die dreißig und wird dabei nicht alt. Das kindlich Naive hängt auch zusammen mit der – im positiven Sinn – Naivität der Sicht auf die Welt. Ja, der Buddhismus durchweht Personen und Geschehen. Ein unverschämt altmodisches Lesevergnügen.

Wir sind nicht im Hundertsechzig-Morgen-Wald, sondern im Westerwald, der Handlungsraum ist ebenso überschaubar und das Personal eng beschränkt, auch in den Schrullen, die sie zu Menschen machen. Nach Art der Waldbewohner im Ashdown Forest bei Winnie-the-Pooh bilden die Figuren eine verschworene Gemeinschaft. Jede(r) ist ständig auf den Beinen, um sich gegenseitig zu besuchen. (Bis auf Marlies.)

Selma deutete aus dem Fenster, wo drei beschirmte Gestalten den Hang hoch­kamen, es waren Elsbeth, der Einzelhändler und Palm.
Selma öffnete die Tür.
»Hallo«, sagte Elsbeth und hielt ihr einen Küchenmixer ent­gegen. »Ich wollte dir endlich mal den Mixer zurückbringen. Ich war zufällig gerade in der Nähe.«
»Genau, und wir haben auch Eis mitgebracht«, sagte der Ein­zelhändler hinter Elsbeth, der ein riesiges eingewickeltes Tablett auf den Armen trug.
Selma trat zur Seite, und die drei kamen hintereinander in die Küche. Ich rutschte näher an den Optiker heran und war mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich gut war, die Welt hereinzulassen. Der Optiker lächelte mich an. »Es geht im Buddhismus ja auch da­rum, jedem Erleben bedingungslos zuzustimmen«, flüsterte er.

Was geschieht, fasst Luise für ihren neuen Freund Frederik zusammen:

Und dann blieb ich stehen. Ich hielt Frederik am Ärmel seiner Kutte fest.
»Es ist folgendermaßen«, sagte ich. »Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Mein bester Freund ist gestorben, weil er sich an eine nicht richtig geschlossene Regionalzugtür gelehnt hat. Das ist erst zwölf Jahre her. Immer, wenn meine Großmutter von einem Okapi träumt, stirbt hinterher jemand. Mein Vater findet, dass man nur in der Ferne wirklich wird, deshalb ist er auf Reisen. Meine Mutter hat einen Blumenladen und ein Verhältnis mit einem Eiscafebesitzer, der Alberto heißt. Diesen Hochsitz da«, ich zeigte auf die angrenzende Wiese, »hat der Optiker angesägt, weil er den Jäger umbringen wollte. Der Optiker liebt meine Großmutter und sagt es ihr nicht. Ich mache eine Ausbildung zur Buchhändlerin.«
All das hatte ich noch nie jemandem gesagt, weil es teilweise Dinge waren, die alle, die ich kannte, wussten, und teilweise Dinge, die keiner wissen durfte. All das sagte ich zu Frederik, damit er umstandslos einsteigen konnte.
Frederik schaute über die Felder und hörte mir zu wie jemand, der versucht, sich eine Wegbeschreibung genau einzuprägen.
»Und das ist eigentlich so weit alles«, sagte ich.

Frederik lebt als buddhistischer Mönch in einem Kloster in Japan. Er passt wunderbar in die kleine Welt von Luise und ihren Freunden, in der jeder am Leben des anderen Anteil nimmt. Auch der Tod wird nicht ausgespart, aber er lässt sich ertragen, wenn man sich gegenseitig stützt. (Der Tod kündigt sich dadurch an, dass Selma von einem Okapi träumt.) Hilfe findet man daneben in der buddhistischen Leichtigkeit, der auch keine Trennung widerstehen kann.

Viele Dinge ziehen sich als running gags durch den Roman, man freut sich, wenn sie wieder auftauchen oder erwähnt werden. Das Reh etwa, das immer wieder am Waldrand steht und durch lautes Türenzuschlagen vertrieben wird. Oder Marlies, die immer sagt, es sei niemand zuhause, wenn Besuch vor der Tür steht. Mariana Leky macht das sorgfältig und liebevoll und verspielt und „zauberhaft“ (Rüdiger Safranski) und vergisst nichts. „Das ist gelegentlich ein bisschen kitschig, macht aber nichts, weil es halt die Herzen wärmt und weil es schön erzählt und gut gemacht ist.“ Man kann den Kitsch aber auch als Ironie lesen. (Jörg Magenau, SZ) Als Leser ist man nicht Außenstehender, sondern fühlt sich von Anfang an daheim und geborgen. Auch, wenn es regnet.

Frederik klappte den entkräfteten Schirm zusammen und nahm meine Hand, als habe es eine Zeitverschiebung gegeben, als seien seit gestern Nacht, als er meine Hand zum ersten Mal genommen hatte, viele Jahre vergangen und als sei es ganz selbst­verständlich, dass wir uns an den Händen hielten.
Wir rannten zurück, so wie ich nur als Kind, nur mit Martin gerannt war, wenn wir geglaubt hatten, ein Höllenhund oder sonst ein Tod, den es nicht gab, sei hinter uns her. Alaska rann­te neben uns, das war anstrengend, denn durch all den Regen in seinem Fell war er viel schwerer als sonst.

Einmal im Jahr kann man etwas so Wohlfühliges schon lesen.

2017          315 Seiten

Leseprobe bei der Büchergilde Gutenberg

Besprechung im Literarurclub des SRF (Video 11 Minuten)

 



Haruf
27. Juli 2017, 19:07
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: , ,

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht

harufDer Klappentext sagt schon alles: „Holt, eine Kleinstadt in Colorado. Eines Tages klingelt Addie, eine Witwe von 70 Jahren, bei ihrem Nachbarn Louis, der seit dem Tod seiner Frau ebenfalls allein lebt. Sie macht ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag: Ob er nicht ab und zu bei ihr übernachten möchte? Louis lässt sich darauf ein. Und so liegen sie Nacht für Nacht nebeneinander und erzählen sich ihre Leben. Doch ihre Beziehung weckt in dem Städtchen Argwohn und Missgunst.“

Kent Haruf erzählt in leisen Worten, einfachen Sätzen, mit Gefühl für seine Personen. Behutsam tasten sich Addie und Louis aneinander heran, hören zu und lassen den anderen reden, können kaum glauben, was ihnen geschieht, versuchen ihr eigensinniges Vorhaben für sich zu rechtfertigen.

Ja. Also, ich sag es jetzt einfach.
Ich höre, antwortete Louis.
Ich wollte fragen, ob du dir vorstellen könntest, hin und wieder zu mir zu kommen und bei mir zu schlafen.
Was? Wie meinst du das?
Ich meine, dass wir beide allein sind. Wir sind schon viel zu lange uns selbst überlassen. Seit Jah­ren. Ich bin einsam. Ich dachte, du vielleicht auch. Deshalb wollte ich fragen, ob du zu mir kommen und bei mir übernachten würdest. Und mit mir reden.
Er starrte sie an, betrachtete sie. Neugierig. Vor­sichtig.
Du sagst ja gar nichts. Hat es dir die Sprache ver­schlagen?, fragte sie.
Ich glaube, ja.
Ich spreche davon, die Nacht zu überstehen. Es gemütlich und warm zu haben. Zusammen im Bett zu liegen, die ganze Nacht. Die Nächte sind am schlimmsten. Findest du nicht?
Doch. Das finde ich auch.

Dann war es dunkel, nur das Licht von der Straße fiel schwach in den Raum. Sie sprachen über banale Dinge, wurden ein bisschen vertrauter miteinan­der, unterhielten sich über die üblichen alltäglichen Geschehnisse in der Stadt, die Gesundheit einer alten Dame namens Ruth, die zwischen ihren bei­den Häusern wohnte, und das Pflaster in der Birch Street. Dann verstummten sie.

Der Text beginnt wie eine Novelle mit einem “unerhörten” Ereignis, es gibt aber keine spektakuläre Entwicklung, wenn nicht der Wunsch nach menschlicher Nähe selbst schon spektakulär ist. Addie und Louis finden ihr leises Glück in der Wärme der Zweisamkeit. “Help me make it through the night” sang Kris Kristofferson schon 1970.

„Friedlich und heiter ist dann das Alter“, phantasierte Hölderlin. In kleinen Ausflügen zum Picknick oder ins Theater, im gemeinsamen Essen, im Gefühl, dem anderen vertrauen zu können, erleben sie im Alter, was sie noch nicht aufgeben wollen, was sie so noch nicht kannten, in ihren (früheren) Ehen gab es große Probleme. Kent Haruf kann im Rückblick des nächtlichen Erzählens davon berichten.

Ein Roman fürs wohlige Gefühl, fürs warme Herz. Mit dem Blick aufs Erscheinungsjahr 2015 erwarte ich auf jeder Seite das Aufschrecken, den Wendepunkt, das Ende der Idylle. Darf es das geben? Zwei so verständnisvolle, herzensgute Menschen? Aber es kommt noch härter: Addies Sohn Gene, der sich nie um die Mutter gekümmert hat, hat Ehekrise und bringt seinen Sohn Jamie zu Großmutter Addie. Auch Lois gewinnt den Kleinen lieb, spielt mit ihm, nimmt ihn als Person ernst, holt ihm sogar einen Hund aus dem Tierheim, damit Jamie seine sozialen Kompetenzen erweitern kann – und auch der Hund ist ein lieber, schläft bald in Jamies Bett, lässt sich von ihm an der Leine führen. Die Harmonie ist kaum auszuhalten.

Die Geschichte ist in einer Kleinstadt in der Prärie Colorados im Mittleren Westen der USA angesiedelt. Die Einwohner in diesem „ehrenwerten“ Land tuscheln anfangs schon über das „seltsame“ Gebaren der beiden Alten, die ihr „Treiben“ so gar nicht verheimlichen wollen. “I don’t care what’s right or wrong” (Kristofferson). Der aufgeklärte deutsche Leser kann aber partout keinen Tabubruch erkennen und freut sich mit Addie und Louis über ihr Glück im Kleinen. „Könnten Sie sich persönlich ein ‚Arrangement‘ vorstellen, wie es Addie und Louis praktiziert hatten?“ fragt der Lesekreis und man nickt selig.

Als Sohn Gene seinen Jamie wieder abholt, ist der Sohn verstört und der Vater aufgebracht:

Sie zelten mit meinem Sohn in den Bergen. Und dann schlaft ihr auch noch mit ihm im selben Bett, Herrgott!
Woher weißt du das?, fragte Addie.
Ach, vergiss es. Ich weiß es. Was zum Teufel habt ihr euch dabei gedacht?

Auch eine Frage für den Lesekreis. Herrgott! Teufel! Es geht aber nur ums Geld und das duldet kein Glück! Ein kleines Buch aus den Zeiten, bevor wir Patchwork erkämpft haben. Daran sollte man aber beim Lesen nicht denken.

2015         200 Seiten

2-3

Lese- und Hörprobe beim Diogenes-Verlag



Seethaler
21. August 2016, 17:55
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Robert Seethaler:
Die weiteren Aussichten

seethaleraussichtenSo erzählt man gern in Österreich. Man lässt sich Zeit, lenkt den Blick auch auf die kleinen Dinge und die kleinen Leute, weil die ja auch ihre Wichtigkeit haben. Das Fahrrad, das Deckerl, die Frisur, die Mama, den Goldfisch, auch die Traurigkeit und das Glück. Nicht alles ist nur gut, es gibt auch Raufereien und Eifersucht und Amtsschimmel und Verletzungen und den Tod. Robert Seethaler lässt auch seinen Personen Zeit, denn die brauchen sie. Er nimmt sie ernst, auch wenn sie nicht perfekt sind. Und er macht sie zu Trotteln.

Hinter dem Erzählen steht die Präpotenz des Autors. Er sieht nicht nur alles (er hat es ja erfunden), er weiß auch alles. Und er erklärt alles, wie es so ist, warum es so ist, was die Personen davon halten, wenn sie es mitbekommen. Und wenn die nichts sagen und bloß die Hände in die Taschen stecken, schreibt der Autor halt seine Meinung hin. Zu Dorffesten etwa und zur volkstümlichen Musik, zur aktuellen Kunst und zum TV-Programm, zum Leben überhaupt und zum Tod und zur „Infrastrukturoptimierung“. Man liest das gern, weil man ja eine ähnliche Meinung hat, der Schriftsteller kann das aber so originell sagen und so nett. Seethaler legt seinen Figuren einen wummernden Populismus in den Kopf und versieht ihn mit dem Autorenstempel. Und das nervt. Doch!

Karl Sprnadl hasst das Fernsehen. Das Fernsehen ist nach Karl Sprnadls Meinung der größte Dreck auf Gottes Erden. Noch nie ist irgendetwas Brauchbares oder Gescheites im Fernsehen gewesen. Und wahrscheinlich wird auch nie irgendetwas Brauchbares oder Gescheites kommen. Weil die Fernsehmacher allesamt verbrunzte Vollidioten sind. Die denken sich nämlich Sendungen aus, die nicht einmal einem hirngeschädigten Halbaffen einfallen würden. (…) Gerade und vor allem die Volksmusiksendungen! Da stellen sich fast jeden Abend ein paar bunt geschminkte Deppen in eine Reihe und versuchen mit einem einzementierten Grinsen im Gesicht dem Playback des immer gleichen Liedes hinterherzusingen. (…)Insgesamt sitzen nach Karl Sprnadls Meinung in den diversen Fernsehredaktionen sicher weit mehr Idioten als in allen Psychiatrien und geschlossenen Anstalten dieser Welt zusammen. Und da könnte er recht haben.

Herbert ist lang und beinig, er lebt mit seiner Mutter in einer eher wenig frequentierten Dorftankstelle. „Mütterlichkeit“ ist wichtig bei Seethaler, er ist beseelt von ihr. Herbert ist nicht der Schnelst, nicht der Hellste, „dieser blöde Bub“, und Herbert ist Epileptiker. Hilde ist Putzfrau im Hallenbad und „prall“ und „rund“ wie die Böhmin Anezka in „Der Trafikant“ und auch so weich und eines Tages radelt Hilde auf ihrem blauenFahrrad an der Tankstelle vorbei. In Herbert erwacht etwas, was, weiß er nicht so genau. Der Fisch im Aquarium heißt Georg.

Von da an läuft das Leben an und gleich auch aus dem Ruder. Herbert und Hilde legen eine Ausbruchsstory hin, klauen die Mutter aus dem Krankenhaus und den Krankenwagen gleich dazu, die planlos wilde Jagd geht weiter über die Felder und durch den Wald und den Hügel hinab, mit dem Boot über den Fluss ins Nirgendwo, man kommt nicht voran.Skurril, sich überschlagend, dann wieder im gedankenlosen Stillstand. Georg im Glas muss auch mit. Seethaler bebildert das minutiös und dadurch auch eintönig, dass man hofft, der die Flucht und mit ihr der Roman möge zu einem Ende kommen. Immer wieder steckt Herbert die Hände in die Taschen, immer wieder denkt er an sich als „der kleine Herbert“, immer wieder hört er zu denken auf, immer wieder schreibt Seethaler das gleiche.

Der Schmerz, denkt sich Herbert, ist die Luft. … So schnell kann das also gehen, denkt sich Herbert noch, und dann ist er weg. … Und dagegen muss etwas unternommen werden. Und zwar jetzt sofort und ohne großartig nachzudenken … Deswegen hat Herbert also aufgehört mit dem Denken. …An all das denkt Herbert jetzt nicht, während er mit weit ausholenden Armbewegungen das Wasser durchackert. … Herbert denkt an gar nichts. Oft ist nämlich das Denken dem Fühlen nur im Weg. … Und so hört er auf mit dem Denken.

Komisch muss das ausgesehen haben von weitem, wie da zwei Menschen, ein ziemlich runder und ein ziemlich langer, auf einem winzigen blauen Fahrrad den Horizont entlangwackeln, den abglühenden Sonnenrücken im Hintergrund. Aber das Leben ist eben manchmal komisch. Und das Glück sowieso. … Vom Ufer aus muss das seltsam aussehen, das schmale Holzboot mitsamt den drei Menschen und der Krankenliege inmitten des Flusses. Da könnte sich schon jemand so seine Gedanken machen.

Auch in seinen späteren Erfolgsromanen ”Der Trafikant” (2012) und “Ein ganzes Leben” (2014) erzählt Seethaler ähnlich. Aber er er lässt seine Protagonisten auf eine echte Welt stoßen. Andreas Egger ist ein Außenseiter, der seine kleine Bergwaldarbeitswelt vergeblich gegen die Gegenwart, den Tourismus, die Natur, den Krieg verteidigt. Seethaler konzentriert ein ganzes Leben auf 160 Seiten, dem Buch tut das gut. Der Der 17-jährige Franz Huchel wird 1938 aus seinem Heimatdorf nach Wien geschickt, um dort Trafikant zu werden, er trifft auf Sigmund Freud und muss sich mit den rabiaten Hitleristen auseinandersetzen. Gerade diese Verflechtungen des persönlichen Schicksals mit den historischen Wirren macht die Attraktivität des Romans aus. In „Die weiteren Aussichten“ fehlen solche Bezüge, fehlt auch die erzählerische Reduktion. Das Erzählen ist pure Empathie, der Zweck ist damit beschrieben.

Diese Hasen, hat sich Herbert gedacht, die schauen aus ihren braunen Augen in die Welt hinaus und wissen eigentlich recht wenig. Zum Beispiel wissen sie nichts über die eigene Schlachtung, die haben nicht einmal eine Ahnung davon, die kennen auch keine Spieße, und schon gar nicht kennen sie Nagelscheren, aber irgendetwas hinter diesen mit Samt ausgelegten großen, runden, dunklen Augen, irgendetwas da tief drinnen in so einem Hasen, kennt den Tod, hat Herbert sich weiter gedacht, und da war er sich ganz sicher. Den Tod kann man nämlich kennen, ohne viel zu wissen. Und wer den Tod kennt, der kennt auch das Leben, und wer das Leben kennt, der hat auch eine Seele, so ist das nämlich und nicht anders.

Gottlob nennt Seethaler Herbert nicht “der Herbert” und gleitet so nicht ganz ins kindgrecht Christinenöstlingerische, “die Mama” muss natürlich so heißen.

2008 315 Seiten



Knapp
29. Februar 2016, 18:15
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Radek Knapp: Der Gipfeldieb

knappgipfeldiebLudwik Wiewurka lebt schon lange in Wien, nachdem ihn seine Mutter als Zwölfjähriger von Polen und seinen Großeltern weg nach Österreich „entführt“ hat. Zu seiner Mutter spricht er in der 3. Person und lässt sich von ihr mit Unmengen von Palatschinken verwöhnen. Jetzt ist er 35, – äußerlich – erwachsen und nach verschiedenen Tätigkeiten als Heizungsableser beschäftigt. Ein Job, der ihm zusagt, denn er kommt in Gemeindewohnungen und trifft dort auf seltsame Wiener samt ihren Tieren und erlesenen Liebhabereien. Besonders ins Herz schließt er den „Gipfeldieb“, der ihm einen Gipfel von der hohen Tatra schenkt.

»Ich bin so gut wie fertig«, sagte ich meinen Spruch auf und machte mich an die Arbeit. Schon nach einigen Augenblicken wurde klar, dass es weniger eine Wohnung war als eine umgebaute Skihütte. Praktisch alles außer meinen Heizkörpern gehörte ins Reich der Berge, denn wenn man in meiner neuen Heimat von etwas wirklich was versteht, dann davon, Tausende mysteriöse Gegenstände zu produzieren, die das Fortkommen in den Alpen erleichtern. (…)
Es gab keine Möbel oder sonst irgendwelche Spuren dessen, was man Wohnlichkeit nennt. Stattdessen stand es voller Glasvitrinen, zwischen denen man auf schmalen Wegen hindurchgehen konnte. Etwas Ähnliches hatte ich mal im Naturhistorischen Museum in der Käfersammlung gesehen. Nur lagen in diesen Vitrinen hier keine Käfer, sondern kleine Felsbrocken. (…)»Schauen Sie doch bitte genau hin«, sagte er sanft und zeigte auf die Vitrine vor meiner Nase. »Was sehen Sie da?«
Ich ging so nah an das Glas wie nur möglich. Aber es waren immer noch gewöhnliche Felsstücke, egal, aus welcher Entfernung man sie betrachtete.
»Ich muss passen«, sagte ich. »Worauf muss ich achten? Übersehe ich etwas Wichtiges?«
»Alles haben Sie übersehen! Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sie sehen mit den Augen eines Laien. Nehmen wir den da zum Beispiel«, er zeigte auf ein Felsstück, das wie ein halbiertes Brot aussah. Auf der Schachtel stand: »Eiger, Mönch und Jungfrau«. »Das habe ich als Letztes heruntergeholt.« Er berührte zärtlich das Glas: »Das sind alles Gipfel.«
»Gipfel? Was für Gipfel?« Ich stand auf der Leitung. Aber ich war kein Bergmensch.
»Berggipfel natürlich. Alle eigenhändig abgeschlagen. Mit der Spitzhacke da drüben.« Er zeigte auf die Spitzhacken, die sich in einer Ecke türmten. »Und jetzt sind sie alle hier bei mir.«
»Ja, aber darf man das denn?«, fragte ich verwundert. Eine berechtigte Frage, wie ich fand. Wenn mehr Leute auf die Idee kämen, würden die Österreicher bald statt Skiabfahrten nur noch einen großen flachen Eislaufplatz haben.
»Sicher darf man das. Die Berge gehören uns allen.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Das ist wirklich originell. « »Das ist nicht originell«, er ärgerte sich wieder, »das ist notwendig und nützlich.«
Ich zweifelte daran, ob der Alpenverein das auch so sehen würde, aber ich nickte eifrig, weil mir nichts Intelligentes als Antwort einfiel.
»Ich bin kein primitiver Gipfeldieb, mein Junge«, belehrte er mich dann. »Wenn ich ein Problem habe, gehe ich auf einen Berg und schlage einen Gipfel ab. Letztes Jahr starb meine Mutter, da habe ich den Großglockner genommen. Ich habe sieben Tage gebraucht, um hinaufzukommen, weil das Wetter so schlecht war. In diesen sieben Tagen habe ich alles vergessen, sogar dass ich eine Mutter hatte, die einfach so tot umgefallen ist. « Er nahm vorsichtig einen anderen Gipfel heraus. »Und den habe ich vom Montblanc geholt, als meine Angetraute mir sagte, sie würde lieber mit der Luft zusammenleben als mit mir. Da habe ich endgültig verstanden, was das Wichtigste ist im Leben. Weder Geld noch Gesundheit, ja nicht mal die Liebe, sondern die Vogelperspektive. Hinter der sind alle her. Verstehen Sie langsam?«
»Ich glaube, ich fange an, ja.«

Radek Knapp erzählt amüsant verschiedene Episoden aus seinem Leben – stets verwundert über die Rituale und deren skurrile Eigenheiten. Im Rathaus wird ihm die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen, gerade noch rechtzeitig vor seinem 35. Geburtstag, damit er zum Wehrdienst eingezogen werden kann. „Von nun an wird sich der österreichische Staat um Sie kümmern.“ Mit etwas List und Glück kann er den Dienst aber als Helfer im Altersheim „Weiße Tulpe“ leisten. Auch dort findet er sich schnell ein und freundet sich mit dem Leiter und mit Schwester Sylvia an.

Ein Schelmenroman, heiter und melancholisch erzählt, mit dem Zynismus des Menschenfreundes. „Die Behörden in ganz Westeuropa bemühten sich recht ordentlich, die Fremden zu integrieren. (…) Der Westen hatte gute Absichten, er übersah nur einen Punkt. Dass es keinen Emigranten auf der Welt gibt, der sich selbst als Emigranten sieht.“
„Die Leichtigkeit und subtile Hintergründigkeit, mit der Knapp das Leben dieses Konsum- und Karriereverweigerers skizziert, macht ihm so schnell keiner nach.“ (Linda Stift, Die Presse) Im Polnischen heißt „wiewiórka“ Eichhörnchen.

2015        2015 Seiten

Audio-Besprechung des SWR (4:30)

Leselounge: „Man darf nicht alles so ernst nehmen!“
Radek Knapp im Gespräch mit Günter Kaindlstorfer (Video 14:30)

2-3



Uhly
17. September 2013, 15:10
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Steven Uhly: Glückskind

uhly_glueckskind

Hans fängt nicht nur an, sich zu waschen, frisieren, rasieren und die Wohnung aufzuräumen, er findet auch eine Gruppe von herzenswarmen Mitmenschen, die sich mit ihm zu einer Gemeinschaft verschwören, dass es nur so ein Freuen ist. Der alte Herr Wenzel vom Toto-Lotto-Laden und Herr und Frau Tarsi, die persischstämmigen Nachbarn, sie das beseelte Herz in Person.

Alls das ist das Werk eines Engels, den Hans in Gestalt eines kleinen Mädchens im Müllcontainer gefunden und mitgenommen hat. Nicht nur das Mädchen ist ein Glückskind, sondern auch Hans – daher der Name! – und mit ihnen wir alle, die Leser. Hans, der ehedem gleichgültig gegenüber seiner Familie war, sie deshalb verloren hat und in einsam-freudlose Lethargie verfiel, berappelt sich und kümmert sich rührend um das Baby. Ein Penner und ein Baby. Felizia nennt er es und sie tun einander so gut.

Steven Uhly erzählt die Gesichte von den Glückskindern in einem Christine-Nöstlinger-Ton (nur der Ton, bewahre!), im Präsens, ohne Arg. Man kennt so einen Ton auch von Eckard Henscheid oder von Wiener-Krimiironikern. Doch Uhly konstruiert eine geschickt kaschierte Meta-Ironie-Ebene. Die Wirklichkeit, man weiß es, sie ist nicht so. Er blendet die Realität keineswegs aus, es gibt schon auch die Polizei und das Gefängnis und Hartz-IV. Aber nur als „Christmas-Carol“ ist seine Geschichte erträglich, als Weihnachtsengelmärchen darf sie die Herzen erweichen. Uhlys herz- und hirn? – erweichte Lesergemeinde allerdings spricht Uhly von jeglicher Ironie los. Und es ist zu vermuten, dass Uhly das akzeptiert, ja, womöglich wirklich so gemeint hat. Weihnachten ist jetzt und alle Tage und der Roman wird schon fürs Fernsehen verfilmt. So wird der Leser, wird die Leserin in besserer Mensch.

Als Hans zu Hause ankommt, ist er sehr müde. Anstatt direkt zu den Tarsis zu gehen und Felizia zu holen, stellt er seinen Wecker und schläft eine halbe Stunde. Anschließend schmiert er ein paar Butterbrote, kocht Kaffee, setzt sich auf seinen Stuhl im Wohnzimmer. Erst nachdem er alles gegessen und seinen Kaffee getrunken hat, geht er nach nebenan. Frau Tarsi öffnet ihm mit Felizia auf dem Arm. Felizia sieht aus, als hätte sie oft und lange geweint, und als sie Hans sieht, streckt sie die Arme nach ihm aus und schaut ihn verzweifelt an. Die Trauer, die Hans empfindet, als er sein Kind in die Arme nimmt, sein Kind, das nicht sein Kind ist und es nie war, kennt einen winzigen Moment lang keine Grenzen. Hans schließt die Augen. Der Moment geht vorbei, aber die Erinnerung an ihn bleibt. Felizia hört auf zu weinen, sie legt ihren Kopf auf seiner Schulter ab, drückt ihre Stirn an seinen Hals und gibt zufrie­dene Laute von sich. Frau Tarsi steht daneben und sagt kein Wort.

Als Hans wieder sprechen kann, sagt er: »Ich komme später, dann erzähle ich, wie es war.«
Frau Tarsi sagt: »Zum Abendessen. Herr Wenzel kommt auch.« Hans nickt, dann geht er mit Felizia nach Hause. In seiner Woh­nung setzt er sich mit ihr im Wohnzimmer auf den Boden unter dem Fenster. Er drückt Felizia den Beißring in die Hand, den Herr Wenzel ihr geschenkt hat, und während sie darauf herumkaut und ihn anschaut, erzählt Hans ihr alles, was an diesem Tag geschehen ist. Als er fertig ist, seufzt er und schaut aus dem Fenster. Dann wendet er sich wieder zu Felizia und sagt: »Ich hoffe, dein Vater liebt dich so, wie ich dich liebe.« 

An diesem Abend erzählt Hans noch einmal von seinem Besuch in der Justizvollzugsanstalt. Felizia liegt im Schlafzimmer der Tarsis und schläft, nachdem sie während des Essens ihre Milch bekom­men hat. Als Hans geendet hat, ist es eine Weile still. Dann sagt Herr Wenzel: »Felizia wird also nur eine Episode in unseren Leben gewesen sein?« Er schüttelt den Kopf, als könne er es nicht glauben. Hans zuckt mit den Schultern, er kann nicht sprechen, er muss sich zusammenreißen. Frau Tarsi hat Tränen in den Augen. Herr Tarsi schenkt Tee nach, seine Augen sind feucht. Er sagt: »Ich habe den Flur geputzt, haben Sie gesehen?«
Hans schüttelt den Kopf.
Herr Tarsi lächelt traurig. »Sie überlassen das besser mir, das ist nicht Ihre Stärke.«
Hans nickt.

Den Roman „Glückskind“ hat mir mein Buchhändler ans Herz gelegt, nachdem er ihn auch der Büchergilde Gutenberg anempfohlen hatte. Alle, die den Roman gelesen haben, waren gerührt, allen hat er das Herz ergriffen und erwärmt. Gute Menschen. Sentimentale Welt. Wird ein Abgestürzter solch einen Roman lesen? Sich damit aus dem Sumpf ziehen? Und wenn er ihn lesen sollte, wird er ihn nicht als verlogen in die Ecke werfen? – Aber sind wir nicht alle ein bisschen Hans? Nicht immer gut drauf. Und dann lesen wir vom Hans im Glück und es wird schon wieder gehen. Früher hätte man das Erbauungsliteratur genannt. Finden wir uns wieder in solchen Zeiten, wo wir des Glückskinds bedürfen?

Es fehlen die Abgründe. Es fehlt die Kritik an den unsozialen Verhältnissen, Uhly kratzt nur am Klischee, trotz der Realitätspartikel, trotz der Überlegungen, ob so einer wie Hans das Baby behalten könnte, trotz der Suche nach der Mutter des Kindes, trotz der polizeilichen Überwachungen, trotz oder auch gerade wegen der Berg- und Höhlenträume von Hans, trotz des offenen und doch eindeutigen Endes.

„Dieses Buch sagt viel aus über das Leben und die Einsamkeit.“ (Sonja Hartl, zeilenkino.de) Ja. Aber das spricht eher gegen den Roman.

2012         245 Seiten

4-

4-

 


Lewycka
12. Juni 2010, 16:15
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: , ,

Marina Lewycka: Das Leben kleben

Zu lang. Ja, das schon. Aber warmherzig. Und originell im Kleinen wie im Großen. Sympathische Menschen, alle Figuren, auch die Schrulligen und Verschrobenen und gerade die. Und schrullig sind sie alle, auch die Ich-Erzählerin Georgie, oder Georgina, oder Georgiana, je nach Partner. Und warmherzig.

Oft und oft zieht Mrs. Shapiro ihre König-der-Löwen-Hausschuhen a, oft und oft liegt und streicht Wonder-Boy, eine der sieben Katzen der Mrs. Shapiro, im Haus herum. Es gibt viele Auf- und Abtritte, doch letztlich fügt sich alles aufs Schönste zusammen und man ist Teil der Familie. Obwohl eigentlich keine der Personen eine Familie hat. Georgies Mann Rip ist gerade ausgezogen, Mrs. Shapiros Beziehungsgeflecht ist sehr rätselhaft, sie lebt allein im halb verfallenen Canaan House, das ihren morbiden Charme doppelt, und auch die anderen Besucher und Eindringlinge kommen einzeln daher. Aber sie finden sich.

Georgie findet Mrs. Shapiro bei ihrem Sperrmüll und wieder im Supermarkt, wo sie übelste Schnäppchen ergattert. Das erinnert Georgie an ihre Mutter und sie nimmt sich Mrs. Shapiros an und kämpft mit ihr gegen die Unbillen des Weiterlebens.

Als ich der Hand mit den Augen folgte, entdeckte ich eine alte Frau, die zwischen den Schultern zweier dicker Damen durchtauchte. Ihr Haar steckte unter einer feschen karierten Schottenmütze mit einer strassbesetzten herzförmigen Brosche, doch ein paar Strähnen schwarzer Locken hatten sich gelöst. Ihre Hand schwirrte hin und her wie ein wild gewordener Greifarm. Es war Mrs. Shapiro.
»Hallo!«, rief ich.
Sie hob den Kopf und starrte mich einen Moment lang an. Dann erkannte sie mich.
» Georgine!«, rief sie. Sie sprach das G hart aus, und dehnte den vorletzten Vokal. Georgiene! »Guten Tag, Darlink!«
»Schön, Sie zu sehen, Mrs. Shapiro.«
Ich beugte mich zu ihr und gab ihr ein Küsschen auf jede Wange. Im engen Supermarktgang roch sie reif und furzig wie alter Käse gemischt mit einem Hauch von Chanel No. 5. Ich sah die Gesichter der anderen Kunden, als sie zurückwichen, um sie durchzulassen. Sie hielten sie für eine Obdachlose, eine Spinnerin. Sie konnten nicht wissen, dass sie Bücher sammelte und große russische Komponisten hörte.
»Jede Menge schöne Schnäppchen heute, Darlink!« Mrs. Shapiro war ganz atemlos vor Aufregung. »In einer Sekunde der volle Preis, in der nächsten die Hälfte – gleiche Ware, kein Unterschied. Schmeckt immer besser, wenn man weniger be­zahlt, nich wahr?«
»Sie sollten mal meine Mutter kennenlernen. Sie ist ständig auf Schnäppchenjagd: Sie sagt, es hat etwas mit dem Krieg zu tun. «
Ich nahm an, dass Mrs. Shapiro etwas älter als meine Mut­ter war, vielleicht Ende Siebzig. Faltiger, aber auch lebhafter. Statt in den alterstypischen breiten Halbstiefeln mit Klettver­schluss wackelte sie wie ein Starlet auf zehenfreien Stöckel­schuhen herum, aus denen die schmuddeligen Zehen ihrer grauweißen Baumwollsocken heraussahen.
»Nicht nur mit dem Krieg, Darlink. Ich hab schon früh im Leben lernen müssen, über die Runden zu kommen. Ein har­tes Leben ist ein guter Lehrmeister, nich wahr?«
Ihre Wangen waren rot, der Blick konzentriert und wach, die Stirn leicht gerunzelt vom Mitrechnen, als die neuen Eti­ketten auf den alten landeten.
»Kommen Sie schon, Georgine, Sie müssen zupacken!«

Die Handlung verästelt sich. Mrs. Shapiro, die niemanden mehr hat und aus ihren ehemals mondänen Kleidern geschrumpelt ist (wie aus ihrem Leben), ist vielleicht gar nicht Mrs. Shapiro, Georgies Sohn Ben gerät in den Strudel des virtuellen Weltuntergangs, Fürsorgerinnen und Makler und Georgies Klebstoff-Kollege Nathan kriegen ihr Eigenleben. Gut, dass alles miteinander verleimt wird. Hilfreich oder gerade nicht ist, dass Georgie zur Verarbeitung an ihrem Roman „Das verspritzte Herz“ laboriert, der sie sie auch bei ihrer Suche nach Liebe Geborgenheit  Heimat begleitet . „Vor lauter Hormonrauschen konnte ich mich gar nicht denken hören.“ Mrs. Shapiro rät auch hier zum Zupacken.

Zentraler Treffpunkt des Gewusels ist das Canaan-House, in dem Marina Lewiycka auch noch den Palästina-Konflikt versammelt und löst, zumindest im warmherzigen Netz Nest von dessen Patchwork-Besatzung.

Das könnte kitschig, klebrig werden, tut es aber nicht, weil Lewycka an ihren Personen und an ihren Themen interessiert ist und niemanden denunziert. Und weil sie auch Hintergründe bietet: das Verhalten der Dänen zu „ihren“ Juden während der deutschen Besetzung, Schicksale jüdischer und palästinensischer Familien im Israel von 1948 bis heute, und daneben Infos zu Klebetechniken. Das ist natürlich arg konstruiert, aber es geht zusammen.

Ein schöner Roman, der einem immer stärker ans warme Herz wächst.

Der deutsche Titel „Das Leben kleben“ ist natürlich dumm. Das englische „We Are All Made Of Glue“ müsste mit „Sind wir nicht alle ein bisschen Uhu?“ übersetzt werden.

2009          450 Seiten

Video-Beitrag des NDR-Kulturjournals

Hompepage von Marina Lewycka

Lange Leseprobe hier

+2