Nachrichten vom Höllenhund


Lustiger
16. September 2020, 18:55
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Gila Lustiger:
Die Schuld der anderen

Es gab zu viele widersprüchliche Informationen. Zu viele Ansatzpunkte. Zu viele Geschichten. Und doch spürte Marc, dass das alles irgendwie zusammengehörte. Nur wie? Er wusste es nicht. Wo ansetzen? Welcher Spur musste besonders nachgegangen werden? Was war vorrangig und was konnte vorläufig zur Seite gelegt werden?

Ich habe beim Lesen den Eindruck, dass die zu vielen Themen im Kopf von Gila Lustiger waren und dass sie in Marc Rappaport und über diesen in den Roman platziert wurden. Sie „irgendwie“ zusammenzubringen, wird Marc durch den Roman geschickt, er hat als Journalist mehr ermittlerische Freiheiten – und mehr biographisch motivierten Elan, als wenn er Kommissar wäre.

Pierre kannte ihn und kannte die Antwort. Seit fünf Jah­ren schrieb er, Marc Rappaport, Abiturient des renommier­ten Privatgymnasiums Stanislas, Spitzenschüler der Prepa Henry IV, Absolvent der Ecole Normale Sup&ieure und der Hochschule für politische Wissenschaften, kurz: je­mand, der alle selektiven Aufnahmeprüfungen aller Kader­schmieden der französischen Gesellschaft spielend bestan­den und gleich zwei »Grandes écoles« besucht hatte, seit fünf Jahren schrieb er nichts anderes als Meldungen und Artikel über Morde, Sexualverbrechen und Finanzskandale, und immer türmte er Fakten auf und begrub darunter jegliches Leben.

Der Faden durch den Roman: Eine junge Frau ist ermordet worden, die sich aus der Provinz nach Paris geflüchtet hatte und sich dort mit Sex-Diensten ihren Unterhalt erarbeitete. Der Fall liegt 27 Jahre zurück und wurde nicht aufgeklärt. Marc ahnt irgendwelche Verflechtungen in obere Wirtschafts- und Politikkreise, er beginnt erneute Nachforschungen, fragt sich durch eine Vielzahl irgendwie Beteiligter und (Gila Lustiger) hat dabei Gelegenheit, ein Kaleidoskop von Personen und Milieus zu durchleuchten: das Französisch-Sein, das Jüdisch-Sein, Pariser Arrondissements, Industrie-Gebiete, Schul-Systeme, Chemie-Konzerne, Milieus. Vertuschungen, Bestechungen, Abfindungen, Verstrickungen, Resignation. “Was als klassische Ermittlungsgeschichte beginnt, entpuppt sich bald als Gesellschaftsroman über ein ganzes Land und unsere Gegenwart.” (Klappentext)

Und so wird der Leser durch den Roman gezogen, von Gespräch zu Gespräch. Hin und wieder taucht im Hintergrund der Mordfall “Emilie” auf, zunehmend  verlagern sich Marcs Ermittlungen auf üble Chemie-Konzern-Praktiken. Um profitabler zu produzieren, setzen sie Arbeiter Giftstoffen aus. Als viele an Krebs erkranken, verzichten diese auf Klagen, damit der Konzern seine Schweinereien nicht in billigere Länder verlagert. Die “Skandale”sind immer und überall und allbekannt, (Der Konzern heißt im Roman Nutrissor, in Wirklichkeit “Adisseo”.), Gila Lustiger stellt sie als Recherche-Ergebnis von Marc Rappaport aus und nimmt damit den Leser nicht recht ernst. Was soll erwiesen, bewiesen, aufgedeckt werden? Dass der Journalist nicht aufgab, um sich selbst gerecht zu werden?

Wollte er etwa einen Ab­stecher zu den großen, metaphysischen Fragen machen? Nun, vielleicht nicht gerade das, aber zumindest wollte er dem nachgehen, was die endgültige Erfahrung des Todes in so einem Menschen wie Neuhart bewirkt hatte. Hatte der Mann Gewissensbisse? Hatte er all die Jahre danach an  “Emilienie T. gedacht? Hatte der Mord vielleicht sogar den Lauf seines Lebens verändert? War er ein anderer Mensch ge­worden? Oder hatte Neuhart die Prostituierte aus seiner Er­innerung gelöscht? Mit welchen Mitteln hatte er sich, wenn überhaupt, Frieden verschafft?
Fragen, Fragen, Fragen.

Er wusste von Nietzsche, dass sich für jeden Men­schen ein Köder fand, an den er anbeißen musste. Geld, Ehre, Macht, das waren alles nette Lockspeisen gewesen, und sie hatten diejenigen, denen er den Kampf anzusagen gedachte, satt gemacht. (…)  Epiktet hatte ihn gelehrt, dass es nicht die Dinge waren, die die Menschen beunruhigten, sondern die Meinung von ihnen. Nicht der Tod, sondern die Meinung, dass er etwas Schreckliches sei, ließ die Menschen seiner angesichtig bangen. Diese Herren würde daher nicht der Ruin, den er ihnen in allen Farben ausmalen würde, son­dern die Sorge, mittellos zu werden, in die Knie zwingen, nicht die tatsächliche Herabwürdigung, sondern die Vor­stellung von öffentlicher Demütigung, nicht die Bestrafung, sondern die Angst, in die Fänge des Strafvollzugs zu ge­raten. (…) Denn von Hobbes wusste er, dass man seine Gegner entweder durch rohe Gewalt oder durch Zusagen überzeugen konnte, sichzu ergeben, und dass es immer lohnend war, dem Feind die Vorteile einer Kapitulation vor Augen zu führen. Er brauchte sich nur einen dieser Schweinehunde herauszupicken. Einer würde genügen. Und Marc würde in aller Diskretion mit ihm verhandeln. Denn verborgene Vereinigungen wa­ren, so Heraklit, besser als offene. (Auch Hannah Arendt oder Max Weber werden zitiert.)

Als Marc alle alle befragt hat, stellt sich – angedeutet – heraus, dass die schuldigen „Anderen“ gar nicht so weit entfernt gewesen waren/wären.

Auf diese Wendung muss man aber sehr lange warten und so zerfließt der Skandal in zu viele Verästelungen. Die Seiten sind souverän vollgeschrieben, Lustiger hat umfassend recherchiert, wie sie in ihrer „Danksagung“ offenbart. Die Charakteristika des Genres sind versammelt: der anstachelnde und zugleich bremsende Vorgesetzte, der eifrige Praktikant als Zuträger, die emanzipierte Geliebte („Drei Wochen hatten sie ausschweifen­den Sex gehabt, so wild und aufregend.”), die genaue Beobachtung und Bescheibung von Schauplätzen und Personen: “Erst als Marc ihr gegenübersaß, unterzog er sie einer kurzen Musterung und stellte überrascht fest, dass sie nicht schlecht aussah, ja, sogar ausgesprochen gut. Sie hatte einen blassen Teint, ein fein geschnittenes Gesicht, eine Nase, die geradezu perfekt erschien. Sie war eine dieser Naturblondinen mit schimmerndem Haar, das ihr auf die Schultern fiel, und man erriet unter ihrem etwas unförmi­gen Baumwollkleid, das nichts zur Geltung brachte, weil es nichts zur Geltung bringen sollte, einen sportlichen Körper. Sie war von einer zeitlosen Attraktivität, und doch fehlte es ihr an Sinnlichkeit. Aber gerade das machte sie in seinen Augen begehrenswert.
»Sie wollen also einen Artikel über unsere Schule schreiben?«, fragte sie.”
Die Autorin als Macho-Imitat.

Sicher war Charles Riant sich im Nachhinein nur in einem: Es gab keinen Rechtsweg, keinen Staat, keine regio­nale oder nationale Instanz mehr, die die Bewegungsfrei­heit des Kapitals, die Freiheit des Marktes einschränken konnte. Es hatte eine Umverteilung der Macht stattgefun­den. Und der Freiheit. Weltweit. Und niemand hatte diese Entwicklung aufgehalten oder auch nur bemerkt.

“Es sind Wut und Verzweiflung der Autorin, die diesen Roman durchziehen.” (Martin Ebel) Das Motto  hat sich Gila Lustiger von Marx geborgt:

Kam endlich eine Zeit, wo alles, was die Menschen bisher als unveräußerlich betrachtet hatten, Gegenstand des Austausches, des Schachers, veräußert wurde. Es ist dies die Zeit, wo selbst Dinge, die bis dahin mitgeteilt wurden, aber nie ausgetauscht, gegeben, aber nie verkauft, erworben, aber nie gekauft: Tugend, Liebe, Überzeugung, Wissen, Gewissen etc ., wo mit einem Wort alles Sache des Handels wurde.

2015 – 490 Seiten

Leseprobe beim Piper-Verlag

Gespräch im Lizeraturclub des SRF (10 Minuten)

Druckfrisch: Denis Scheck im Gespräch mit Gila Lustiger (ab 4:30)

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Schimmelbusch
29. Mai 2018, 15:58
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Alexander Schimmelbusch: Hochdeutschland

Eschimmelbuschs ist nirgends exakt definiert, was ein Roman zu sein hat. Wenn dazu eine Handlung, die Entwicklung und Konflikte von Personen gehören sollten, dann streift Alexander Schimmelbusch das Genre nur am Rande. Der „Held“ Victor (sic) ist zu Beginn Banker und am Ende tot, doch so sehr er die meiste Zeit über nur die von „Statusmarkern“ zusammengehaltene Maske ist, so wenig ist das Ende anders begründet als durch die dem Text vorgegebene Seitenzahl. Bindungen kann der Zwangs-Individualist schon deshalb nicht eingehen, weil das die neoliberalisierte Laufbahn nicht vorsieht – und selbst seiner Tochter Victoria (!) wagt er sich nur geschützt durch Markenmasken unter die Augen. Wo aber verpflichtende Beziehungen ohne die Knute der Life-Bestylung nicht denkbar sind, ist ein Konflikt des Protagonisten mit der Umwelt von Mensch & Gesellschaft obsolet.

Schimmelbusch und sein Victor wären besser als im Roman auf der Bühne aufgehoben: als Unterhaltungskünstler im Pointenfeuerwerk. Allerdings fänden da wohl viele der Überspitzungen keine Abnehmer, da alles viel zu schnell geht. Beim Lesen möchte man sich mehr Zeit nehmen und die hochelaborierte Prosa mit beträchtlicher Bewunderung und hohem Vergnügen genießen.

Der Text zerfällt in 3, vielleicht auch bloß 2 ½ Teile. Zunächst entlarvt sich Victor selbst durch Berichte von seinen Lifestyle-Orgien. Das Leben, das ist der Job, das sind Kontakte im und für den Job und das ist der Markenozean. Der Job:

Bei der Birken Bank, “die auf M&A spezialisiert war, Mergers & Acquisitions, also Fusionen und Übernahmen (…) war Victor für coverage zuständig, (…) Victor war zuletzt Head of German Investment Ban­king bei der UBS gewesen, mit einem Angebot zum Wech­sel zu Morgan Stanley und dem geheimen Vorhaben, sich mit 40 Jahren zur Ruhe zu setzen. Er hatte 102 Wohnungen in Berlin erworben, in Gründerzeithäusern am Luisenstäd­tischen Friedhof, mit einem Blick über Mausoleen auf die Hangarbauten des Flughafens Tempelhof in naher Ferne.

Die Frauen, die Ehe, die Familie und weiteres Chichi:

Antonia und er waren vor allem deshalb ein Paar geworden, da Victor sie zum richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Er war in einem Zustand gewesen, in dem er eine Freundin gebraucht hatte, im Sinne einer mit ihm befreundeten Person, einfach irgendeine Form der Nähe, um sich gegen die Depression zur Wehr setzen zu können, die das Resultat seiner damaligen Phase destruktiver Arbeitsbelastung gewesen war – einer finsteren Wolkendecke der Grenzerfahrung, durch die er sich hatte kämpfen müssen, um in das strahlende Licht des Reichtums emporzuschweben. (…)Ihre Beziehung hatte acht Jahre lang gehalten, obwohl sie aus Victors Per­spektive nicht auf Dauer angelegt gewesen war, was weniger mit Antonia und mehr damit zu tun gehabt hatte, dass eine Konstante in seinem Leben schon immer das Gefühl gewe­sen war, sich gerade in einer Übergangsphase zu befinden.

Und so entstanden Fliehkräfte in diesen Ehen, die als Allianzen autonomer Einheiten angelegt waren, da die Ab­wesenheit aller Erwerbszwänge die Ehefrauen mit der Ver­suchung konfrontierte, ihre Männerberufe aufzugeben, um fortan ihren Interessen nachzugehen. Um sich zu emanzi­pieren vom gesellschaftlichen Zwang, eine Führungsfunk­tion im Risikomanagement oder im Devisencontrolling auszuüben.

Um endlich etwas Kreatives zu machen – ein Bedürfnis, das Victors Einschätzung zufolge im Hochtaunuskreis in den kommenden Jahren zu einem Boom im Bau und der Vermarktung hochwertiger, aber kompakter Bungalows führen würde, klassischer Erstfrauen-Bungalows in bewal­deten B-Lagen, deren Bewohnerinnen im Heilklima gegen das seelenlose Surren ihrer Töpferscheiben würden antrin­ken können.

Seine Affäre Maia Maia hatte er zum ersten Mal in Moskau gese­hen, auf seinem iPhone, während einer Besprechung. Sie war durch die Lücke in der Hecke in seinen Garten ge­kommen, wo sie die Bewegungsmelder und somit die Alert­Funktion seiner Cribz-App aktiviert hatte. Auf seinem Touchscreen hatte er sie dabei beobachten können, wie sie durch seine gläsernen Außenwände sein Interieur begut­achtet hatte.

Sie hatte nur ein langes T-Shirt getragen, und Victor hatte sich gefragt, was sie wohl darunter angehabt hatte – nichts? Einen String von La Perla? Einen weißen Baumwoll­slip wie seine Freundinnen in der Schule damals? Bevor er sich im Detail Maias Irokesen hatte ausmalen können, hatte er mehrfach seine große Lampe an- und ausgeschal­tet, woraufhin sie panisch geflohen war und Victor manisch aufgelacht hatte – dies war in einem Meeting mit dem Stra­tegiechef der Gazprom gewesen.

Zu seinem Haus am Taunusrand fährt er in seinem Porsche ‚Shere Khan’ „mit 24 Lautsprechern und einem Armaturensektor, dessen Lederverkleidung allein so viel wie ein VW Polo gekostet hat“.

Nach gut 100 Seiten wird nicht nur Victor, sondern auch der Leser des hohlen Esprits überdrüssig. Der Leser könnte zuklappen, Victor beginnt ein Manifest zu schreiben. Er entwirft auf etwa 30 (Buch)-Seiten eine Art Regierungsprogramm zwischen dem “auch nach drei Litern Lem­berger meist noch luziden Gründervater” Ludwig Erhard und einer streng neoliberalisierten Grün-SPD, “unsere Bewegung heißt Deutschland AG” und bezweckt “die Reifung des deutschen Staates zum Unternehmer“ und sie “verfolgen die Zielsetzung, Wohlstand für alle zu schaffen”. Das Programm ist streng national(istisch): “Nur mit einer effi­zienten Allokation nationaler Ressourcen wird die Politik ihre zentrale Aufgabe erfüllen können, nämlich die Verbesserung der Lebensumstände aller deutschen Bürger zu gewährleis­ten.”

„Er wischte über das Touchpad, um sein Laptop zu wecken, und ein leeres Dokument erschien. Im Kern würde er wie immer einen Pitch des Genres »Strategische Optionen« schreiben, mit dem er sich diesmal aber nicht an einen Funktionsträger, sondern direkt an den Souverän richten würde. Victor hatte sich mittlerweile in eine tiefe Konzentration manövriert, und wenn man in seine grauen Augen geschaut hätte, wären die grünen Kontrollleuchten seiner organischen Mainframe-Architektur zu sehen gewesen.”

Nach diesem Kokolores folgt der Endteil, der wieder wie die Eingangsseiten konzipiert ist, nur dass Victor inzwischen die Bank verlassen hat und sich ganz seiner Tochter widmet. Die Arme! Wieder viel verbales Lifestyle-Geplänkel, ohne dass irgendwer ein anderer geworden wäre. Alles hohl wie eh, gründlich gut recherchierte Psalmodien, Insidergebabbel. Ja, nicht zu vergessen, ein Coup: Bundeskanzler ist seit 2017 “Ali Osman, der ‘Kreuzberger Kennedy’, wie ihn Caren Miosga getauft hatte.

Victor starb dann erst 15 Jahre später

Volker Weidermann zählt „Hochdeutschland“ zu den drei besten deutschen Büchern dieses Frühjahrs: „Schimmelbusch hat einen wahnsinnig lustigen, bösen, politisch klugen Untergangs- und Aufbruchsroman geschrieben.“ Im besten Sinn ist der Roman eine deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs „Unterwerfung“, schreibt Jens-Christian Rabe in der SZ. „’Hochdeutschland’ müsste man den politischen Roman zur Zeit nennen, wenn das nicht so abgenutzt klingen würde.“ „Was der Roman bietet, ist Material für lesenswerte Essays und Glossen, die vielleicht eine geeignetere Textform gewesen wären für Schimmelbuschs durchaus interessante Theorien und Einblicke. So bleibt dem Leser die Welt der Banken und Manager so lebensfern, wie sie es immer war.“ (Hendrik Lullies, NDRkultur)

Lustig ist der Text wohl, aber ich lese zu viel vom Gleichen. Das Böse und Politische beschreibt und beklagt den öden Schein, nicht viel mehr. Ein „Roman zur Zeit“ ist „Hochdeutschland“ insofern, als der Plot „an der zweifelhaften Oberfläche des schnellen, reichen Lebens [seines] Protagonisten“ (Norbert Frei) hängen bleibt und diese von innen heraus zelebrierend zersetzt. Das „Manifest“ ist nicht eingebunden und in seiner liberalpopulistischen Tendenz doch sehr wurschtig. Eine „deutsche Antwort auf Michel Houellebecqs ‚Unterwerfung’“ liefert Schimmelbusch nicht. Bei aller Ignoranz von Houellebecqs Protagonist François ist der doch ein ernsthaft Suchender, kein Knallhallodri wie Victor; dass ein Muslim Regierungschef ist, ist eine Parallele, bei Schimmelbusch ist das Thema aber nicht ausgeführt. Mit „Hochdeutschland“ kann man keine Politik machen und auch keine Zeiterscheinungen eingehend kritisieren. Zeitgeist.

2018           215 Seiten

Leseprobe beim Verlag Klett-Cotta

Infos zum Buch der Woche beim „freitag“

 

2/4-5



Manotti
10. August 2016, 15:44
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Dominique Manotti: Letzte Schicht

manottiletzteschichtDer Wirtschaftskrimi hat ein Handicap.Wirtschaft ist System, Struktur, abstrakt. Man kann analysieren, Theorien erstellen, Prozesse offfenlegen. Der Roman aber braucht Figuren, Personen, Handlungsträger, Jean Paul hat das einst Charaktermasken genannt, Typen, die ihr Handeln für autonom halten. Aber anstatt „die Wirtschaft“ zu gestalten, werden sie vom System getrieben, es wird physisch.

Als Erstes möchte er fliehen, weit, weit weg. In die Mongolei, ein alter Traum, die kleinen Pferde mit dem waagerechten Hals reiten, dem Schneetiger mit seinem dichten weißen Fell und den schwarzen Streifen endlos hinterherjagen. Aber er flieht nicht. Mehrere besorgte Gesichter fragen ihn, ob es besser gehe. Viel besser. Sehr gut sogar. Ein kleiner Schwächeanfall wegen Überarbeitung, die Anreise auf leeren Magen, es ist nichts. Er hört sich mit den Zähnen knirschen. Ermittlungen der Börsenaufsicht dauern mehrere Monate. Bis dahin … Er weiß nur, dass bis dahin nichts mehr sicher ist und dass er Angst hat.

Die Möglichkeiten liegen darin, sich an die Stelle des Konkurrenten zu drängen, noch etwas brutaler, raffzahniger, korrupter zu sein. Das ist ihre Welt. Sex und Drugs und Geld und das selbstgeglaubte Gefühl, Macht zu haben. Accessoires, Talmi.

Dominique Manotti zeigt diese „Welt“ in ihrer hemmungslosen Dürftigkeit. Wer sich ihnen in den Welt stellt, liegt dort bald als Leiche, Geld ist rigoros. Natürlich kann auch Manotti das „System“ nicht darstellen, aber sie zeigt in all ihrer Realität die vom System Getriebenen und Gezeichneten. Sie zeigt, dass hinter den Mördern Männer stehen, die das System am Laufen halten, die es für legitim halten, dass ihnen dabei viel Geld zufließt. Manotti zeigt sie als Masken, sie lässt sie nicht davonkommen. „Die Wirtschaft“ juckt das nicht, sie dreht sich weiter.

Die „Letzte Schicht“ ist keine Fiktion, die Privatisierung des französischen Rüstungs- und Elektronikkonzerns Thomson sollte 1996 erfolgen. Lothringen ist weitgehend deindustrialisiert, das Kapital verfolgt sein Hauptanliegen, Arbeitsplätze sind rar und umkämpft, auch die Solidarität ist auf der Strecke geblieben, so etwas wie Klassenbewusstsein zuckt gelegentlich noch auf. (Didier Eribon beschreibt, wie es – nicht nur in der Region – in die rechte Ecke gedriftet ist.) Die Arbeitsbedingungen in der Thomson-Bildröhrenfabrik sind desolat. Ein Unfall soll die Abläufe nicht weiter stören, doch deckt er die brüchigen Strukturen auf. Wem gehört eigentlich die Fabrik, wer hat das Sagen, wer bezahlt die Arbeiter? Weshalb werden ihnen die zugesagten Prämien versagt? Es zuckt! Betriebsbesetzungen à la française, plötzlich brennt das Werk. „Die Polizei wird sich zunächst für die Arbeiter interes­sieren.”

Alcatel, Matra und Daewoo streiten um die Übernahme, Manotti nennt die Namen. Es stellt sich immer deutlicher heraus, dass die geheimen Fäden ganz oben gesponnen werden. Die Gelder kommen von der EU und die Raffzähne sorgen dafür, dass sie nicht in der Region und bei den Arbeitern ankommen. Die “oberste Liga der Korruption”, „Blut und Tod, so weit entfernt und doch so nah an der Welt der großen Geschäfte. (…) »… Es war, als wäre die ganze Fabrik eine Kulisse, und wir führten ein Stück auf, ohne es zu verstehen …«”

Er grüßt ihn mit einem Knurren, lässt sich auf die Rückbank fallen und breitet die Titelseiten der drei französischen Tageszeitungen aus, Ein und dieselbe Meldung in allen Schlagzeilen: Landesweiter Streik und Demonstrationen der Beschäftigten von Thomson Multimedia gegen die Übernahme durch Daewoo. Erleichte­rung. Nicht nötig, die Artikel zu lesen. Was kann ein Streik schon gegen die großen Deals der internationalen Finanzwelt ausrichten? Nichts. Das ist bestenfalls lachhaft. Diese Leute wer­den es nie verstehen.
Er faltet die Zeitungen wieder zusammen. Dann kehrt die Unruhe zurück. Die Presse hat vor allem Daewoo im Visier, schon zum zweiten Mal. Ohne Deckung von Matra. Riskant. Mit diesem Schnüffler in der Nähe, der sogar schon bis zu Tomaso vorgestoßen ist. Der Kommissar sagt, er ist sauber. Aber dem kann man leicht ein X für ein U vormachen. Ich werde ihn noch mal darauf ansprechen. Er lässt sich zurücksinken und betrachtet bewundernd die in Nebel gehüllten letzten Ausläufer des Waldes, die sich auflösen, als sie mit der Stadt in Berührung kommen. Die Bäume färben sich rot, bald werden die Blätter fallen, und im Forst kann gejagt werden. Ich muss mit dem Wildhüter eine Runde durch den Wald gehen, um zu sehen, wo in der Grande Commune die Fasane sind. Die Zeit vergeht.

Dominique Manotti verflicht ihr Personal zu einem – wie in der Realität – oft unübersichtlichen Knäuel von Raffzähnen, lässt die Arbeiter und mehr noch die Arbeiterinnen hilflos zappeln und leiden und sterben. Das Glück ist fern und klein und kurz. Ein paar Reste von Guten gibt es auch. Rolande Petit, die aufrechte und attraktive Frau – wie lange kann sie widerstehen? Charles Montoya, der von außen kommt und als angeblicher Journalist viel herausfindet. Letztlich aber sinn- und nutzloses Wissen, denn der Fall kann und darf nicht gelöst werden. »Damit können wir die ganze Republik hochgehen lassen, was ja nun nicht unsere Absicht war. Alle würden dabei verlieren.« Immerhin führt es zu einem “peinlichen Rückzieher” (Die ZEIT zur Privatisierung des Thomson-Konzerns) der Regierung. Das Thema ist geparkt – beim “Alumniclub”.

Manotti schreibt im Arbeitstakt, heftig, sich überschlagend, präzise. (Mehr zu ihrem Stil hier.) Die Geschichte beschleunigt, kommt nicht voran und wird dadurch immer spannender. Ein Wirtschaftskrimi, nahe an der Realität, die man sich nicht so brutal vorstellen mag, die aber wohl jedes Klischee übertrifft.

Oberkörper richten sich auf, am Ende des Bands Rolande, prü­fender Blick, ob die Lötpunkte korrekt sitzen. Klack, zischsch, das Band läuft weiter, Kopf leer, Hände und Augen arbeiten von selbst, klack, eins, zwei, drei, vier, Blick drauf, klack, zischsch, zwischen zwei Röhren Aïshas Gesicht, abgespannt, zwanzig Jahre, könnte besser gehen, klack, eins, ging’s dir mit zwanzig besser, zwei, schwanger, sitzen gelassen, drei, Mutter Alkoholi­kerin, aggressiv, vier, lag dir damals schon auf der Tasche, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, leerer Blick, brutaler Vater, klack, eins, mein Sohn, Hände streichen übers Haar, zwei, übers Gesicht, liebevoll, drei, niemals in die Fabrik, nie, vier, lerne, lerne, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha, die Arbeit, sie kann nicht mehr, klack, eins, seit dem Unfall, zwei, der Unfall, das Blut, drei, überall Blut, vier, der durchtrennte Hals, Blick drauf, klack, zischsch, Aïsha voller Blut, klack, eins, sie hat Angst, zwei, ich auch, drei, wir alle, vier, Angst geht um zwischen den Blech­wänden, klack, zischsch, Aïsha, ihr Vater, immer am Rumbrül­len, klack, eins, greller Blitz bei der Reihe gegenüber, bis zu den Neonröhren, eine Röhre brennt durch, ein Schrei, der auf dem höchsten Punkt abbricht, fast platzt das Trommelfell, Emilienne ist starr hintenübergekippt, Rolandes flache Hand schnellt von selbst zum Sicherheitsknopf, das Band bleibt stehen. Ein Kabel brennt bis hinauf zur Neonleiste, gelb-orange Funken und ein scharfer Geruch nach verbranntem Gummi, Gummi oder etwas anderem, zum Erbrechen.
Stille.

 

2006            250 Seiten

Rezension der crimi-couch

Perlentaucher-Rezension

Interview mit Dominique Manotti beim Argument-Verlag