Nachrichten vom Höllenhund


Jerger
23. April 2019, 13:07
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Ilona Jerger:
Und Marx stand still in Darwins Garten

bergermarxdarwinIlona Jerger hat entdeckt, dass Marx und Darwin ungefähr zeitgleich gelebt haben. Sie haben wohl voneinander gehört – Marx hat Darwin gelesen, er hat das Kapital mit einer Widmung an Darwin geschickt, dieser hat aber nur ein paar Seiten aufgeschnitten -, sie sind sich aber nie begegnet, obwohl sie zeitweise nur 20 Meilen voneneinander wohnten. Beide gehören zu den wichtigen Influencern des 19. Jahrhunderts, deren Werk das Wissen der Welt umgekrempelt hat und bis heute gültig ist. Menschlich waren sie natürlich sehr verschieden, doch Ilona Jerger findet Gemeinsamkeiten in ihren körperlichen Leiden, das oftmals nicht weit von Hypochondrie entfernt ist. Sie lässt Marx und Darwin vom selben Arzt behandeln, dem fiktiven Brückenbauer Doktor Beckett. Eine fruchtbare Idee.

Der Leser trifft Dr. Beckett zunächst bei Darwins. Charley, wie ihn seine Frau Emma nennt, ist schon über 70 und laboriert an allerlei Gebrechen, wie er Dr. Beckett auf einen Zettel notiert: „Extreme krampfartige tägliche und nächtliche Blähungen. Häufiges Erbrechen, manchmal monatelang an­haltend. Dem Erbrechen gehen Schüttelfrost, hysterisches Weinen, Sterbeempfindungen oder halbe Ohnmachten voraus, ferner reichlicher, sehr blasser Urin. Inzwischen vor jedem Erbrechen und jedem Abgang von Blähungen Oh­rensausen, Schwindel, Sehstörungen und schwarze Punk­te vor den Augen. Frische Luft ermüdet mich, besonders riskant, führt die Kopfsymptome herbei; Unruhe, wenn meine Frau mich verlässt.” Ungeachtet dessen forscht er weiter, z.B. an Regenwürmern.

Und nun, in diesen schlaflosen Stunden, würde Charles seine Würmer mit einer Paraffinlampe anleuchten. Auf das Kerzenlicht in der Nacht davor hatten die Tiere nicht eindeutig reagiert. Einige hatten sich in die Erde zurückgezogen, andere nicht.
Charles nahm seine Wurmlisten aus dem Schreibtisch und legte Stoppuhr und Stift bereit. Er wollte endlich herausfinden, ob und wie diese Wenigborster, die des Nachts umherwanderten – und sei es auch nur im beengten Umkreis der Wedgwood-Schüsseln -, auf Helligkeitsreize reagierten. (..)Er zündete den Docht an und wartete, bis die Flamme aufhörte zu flackern und sich in eine wohlgeformte ovale Gestalt verwandelte. Er mochte diesen Übergang und nahm das friedliche Licht in sich auf. Das Aufgewühlte, das ihn seit Jahrzehnten aus dem Bett trieb, diese bittere Melange aus Schlaflosigkeit, Fehlverdauung und nervösem Kopfweh, begann sich in diesem Augenblick zu mäßigen.
Charles näherte sich dem ersten umherwandernden Wurm, der blitzartig in der Erde verschwand, sobald das Licht ihn erhellte. Der nächste Wurm reagierte nicht. Der übernächste auch nicht. Dann schoss wieder einer zurück. Das Ergebnis war unbefriedigend.

Charles betrachtete in Ruhe die Darmausgüsse seiner Schützlinge und dachte nach. (…) Charles war gerade dabei, ein wenig einzunicken, als im Kamin ein nicht vollständig verbranntes Holzscheit umfiel. Die Würmer lagen noch immer Bauch an Bauch, Charles fand ihr gemeinsames S besonders gelungen. Die gegenläufige Anhaftung geriet, wie ihm in den vielen Jah­ren des Beobachtens nicht verborgen geblieben war, kei­neswegs bei allen Würmern in gleicher Weise zur formalen Vollendung. Auch beim Regenwurm gab es in Hübschheit, Farbe und Beweglichkeit feine Unterschiede.

(“The Formation of Vegetable Mould through the Action of Worms, with Observations on their Habits” erschien 1881.) Er hat sogar einen “Wurmstein” in den Garten legen lassen, um zu messen, wie schnell dieser durch die Aktivität von Lumbricus terrestris im Boden versinkt.

Ilona Jerger “hatte weniger einen Roman über die Theorie der Evolution im Sinn, als dass [sie] einen Blick in Darwins Innenleben werfen wollte.” Das gelingt ihr ausgezeichnet. Sie ist unmittelbar beim Leben der Protagonisten, beschreibt immer anschaulich, “wie es hätte sein können”, lässt die Charaktere in den Dialogen lebendig werden. Liebevoll geht sie auch mit Darwins Hündin Polly um. Charles

tat wie jeden Mittag so, als würde er über sie stolpern, mimte ausgiebig den Ver­blüfften, woraufhin Polly den höchsten Freudenjauchzer hören ließ, der einer Foxterrierstimme möglich war. So­dann sprang die Hündin auf und hüpfte an ihm empor vor Glück.
Die gemeinsam mit Charles in die Jahre gekommene Hundedame schaffte es nur noch mit Mühe, ihren kurzen Bart mit seinem langen in jene flüchtige Berührung zu brin­gen, die beide seit vielen Jahren zur Begrüßung zelebrier­ten. Da dem 72-jährigen Charles mittlerweile das Bücken schwerfiel und Polly das Hochspringen, wurden beide, im Moment des Gelingens, von einem Gefühl des Vergnügens beflügelt, in das sich zunächst unmerklich, und nun von Mal zu Mal mehr, jene Erleichterung mischte, die Begeg­nung der Bärte noch einmal geschafft zu haben.
Wie immer entlockten die freundlichen Augen des Fox­terriers Charles eine reflexartige Liebesbezeugung, indem er, ohne die Lippen zu öffnen, ein warmes, tiefes Brummen produzierte. Seinerseits mit einem leicht zur Seite geneig­ten Kopf. Er griff nach seinem Stock und schritt in die herbstlich strahlende Sonne hinaus.

Es geht nicht ohne Gott. Schon die Kapitelüberschriften künden davon: Strafe für den Ketzer – Arzt ohne Gott – Der Gottesmörder – Tischgebet mit Ungläubigen – In den Klauen der Kirche. Marx wie Darwin hat die wissenschaftliche Grundlage für die Überflüssigkeit Gottes geschaffen, Marx hat ihn für das “Hinwegfegen” des “Jenseitsgeschwätzes” gelobt. Darwin war über diesen side-effect seiner Forschung nicht glücklich, doch gelang es seiner Frau Emma nicht, ihn für die Wiederanerkennung Gottes zu gewinnen. Auch Lenchen, die anhängliche Haushälterin von Marx, meinte, ein „bisschen mehr Frömmigkeit könne nicht schaden“. Ilona Jerger lässt das immer wieder diskutieren und setzt Doktor Beckett als Vermittler ein. Doch Beckett ist ein Mann des Fortschritts, der Wissenschaft. “Er hatte es nicht lassen können, seinen Glauben an das Nichts allerorten zu verkünden. Der junge Beckett predigte den Atheismus an Kranken­betten, weil er, so führte er in die Sache ein, den Patienten die Angst vor Tod und Hölle nehmen wollte.” Beckett ist es auch, der das Treffen zwischen Darwin und Marx vermittelt – im Roman. Von Harmonie ist nichts zu spüren. Marx ist ein verdrießlicher Polterer.

Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten. Wer für eine bessere Welt kämpft, der braucht doch zunächst eine Idee von der Sache, nicht wahr?«
Im Schutz der Dunkelheit nuschelte Marx schwer Verständliches – dem Klang nach war es ein leiser Protest -, um gleich wieder zu verstummen.
In der Ferne bellte ein Hund. Ein anderer antwortete, und sogleich begannen sie ein munteres Gespräch. Darwin war froh, dass Polly sich nicht einmischte, wahrscheinlich schlief sie in seinem Arbeitszimmer.
Marx stand grau und regungslos da, als hätte er sich in eine Statue verwandelt. Ihm war kalt. Üblicherweise hätte längst sein Krakeel eingesetzt, denn alles, was mit Idealismus zu tun hatte, musste heruntergeputzt werden. Er konnte Idealisten nicht leiden. Mit harten Bandagen kämpfte er gegen diese Spezies, besonders wenn er sie unter Sozialisten antraf. Wie oft hatte er gepredigt, dass man keinen Flohsprung weiterkomme mit irgendwelchen Idealen. Nicht umsonst hatte er die Sache vom Kopf auf die Füße gestellt und die verdammte Hegelei in die Rumpelkammer der Geschichte geworfen. Sein Credo lautete, dass das Bewusstsein der Menschen nur aus ihrem Sein erklärt werden kann, nicht ihr Sein aus dem Bewusstsein. Erst unlängst hatte er einem jungen Sozialisten eingehämmert, dass bei Hegel und Konsorten der Sohn die Mutter gebäre.

Hierin lag auch der Grund, warum Marx es sich verbot, sich vom kommunistischen Leben ein Bild zu machen. Jeden Neugierigen, der danach fragte, kanzelte er ab. So etwas fragten nur Idioten, die seinen wissenschaftlichen Sozialismus nicht im Ansatz kapiert hätten. Man könne doch keine Freiheit im Vorhinein konzipieren. Erst müssten die Verhältnisse gewandelt werden, alle Ketten abgeworfen, und die Bedingungen für ein gutes Leben hergestellt, dann ergebe sich alles Weitere von selbst.

Doch Marx stand still in Darwins Garten.

Ein kluges Buch, amüsant, geistreich und mit feinem Humor, sporgfältig recherchiert, geschickt Fakten mit Fiktion angereichert. Sehr im Mittelpunkt stehen die Krankheiten der beiden schon alten Antagonisten, aber das verlangt Ilona Jergers Interessen an den Privatpersonen und resultiert auch aus ihrer Erfindung des Doktor Beckett. Lesenswert.

2017        280 Seiten

Lese- und Hörprobe bei vorablesen.de

“Marx stand still in Darwins Garten” hat (bisher) kaum Aufmerksamkeit im Feuilleton gefunden. Eine der wenigen längeren Rezensionen stammt von Martin Schneider im Magazin “Spektrum der Wissenschaft”. Der Perlentaucher kennt Ilona Jerger nicht, viele Amazon-Besprecher halten nicht ihre Vorurteile, sondern das Buch für ein Missverständnis. Natürlich verführt auch der schön rhythmisierte Titel zu falschen Erwartungen.

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Wunnicke
13. Dezember 2018, 16:39
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Christine Wunnicke:
Die Dame mit der bemalten Hand

1759 hält Prof. Michaelis in Göttingen Vorträge über die Bibel und ihre historischen Wahrheiten.wunnickedame

»Der Gelehrte, ich, wir, hier, daheim in unseren Stuben«, fuhr Michaelis fort, »wir lesen aus unseren Büchern und Gedanken ab, was in den Ländern des Orients zu finden sein wird und wie es uns hilft, die heilige Schrift zu begreifen. Wir stellen nach richtigem Studium die richtigen Fragen. Wir lesen die Bibel und den Koran, sie mit dem rechten, ihn mit dem linken Auge, und stellen im Gehirn die Verbindung her. Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt ein und derselben Sprache, nicht mal völlig so weit entfernt als Obersächsisch und Niedersächsisch, und ich leiere das her wie eine Repetieruhr, bis mir das Schlagwerk erlahmt, und Sie halten immer noch Maulaffen feil. Arabien ist unsere Wiege! Dort spielt sie, die heilige Schrift! (…) Der Reisende, den wir in den Orient schicken, ist unser Rennpferd. Der Springer auf unserem Schachbrett. Unser Werkzeug, unsere Angel, unsere Linse. Unser Fernrohr ist er!«

In der Vorlesung sitzt auch Carsten Niebuhr, eigentlich Mathematiker, aber vom Theologen Michaelis so inspiriert, dass er sich einer dänischen Expedition anschließt, die sich in biblischen Landen mit Überlieferungen, Menschen und Sprachen befassen soll. Carsten Niebuhr ist eine historische Person.

Christine Wunnicke lässt allein Niebuhr die Reise überleben, allerdings findet er nicht sofort wieder nach Hause, sondern strandet auf der Flussinsel Elephanta bei Bombay – bekannt für ihre hinduistischen Höhlen. Auf Elephanta leben nur wenige Leute, aber viele Affen. Auf Elephanta wartet auch der persisch-indische Gelehrte Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri, kurz Musa, bekannt für seine selbstgefertigten Astrolabien. Niebuhr und Musa verstehen sich nicht, interessieren sich aber wegen ihrer „wissenschaftlichen“ Beobachtungen füreinander. Das Schiff, mit dem sie weiterreisen wollen, lässt auf sich warten und so ergeben sich Gelegenheiten für Kommunikationsversuche und für Insel-Erkundungen.

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Musa.
   »Mein Arabisch  …«
   »Dein Arabisch ist gut und ich rate, wovon du sprichst. Und dann?«
   »Am   tiefsten ist es bei Bahr al-Qulzum. Das schrieb ich auf, und die Maße. Dem Beduinen   war der Faden der Ruhe zerrissen und er schmiss mir die Lanze um. Beduinen sind furchtbare Leute. Fragt man sie etwas, sagen sie immer >ja, ja<. >Hat Israel hier das Meer durchquert?< — >Ja, ja.< >Geschah es nicht eher dort?< — >Ja, ja<. Dann ging’s ins Gebirge. Viel Gebirge gibt es bei Sues. Staubige Wüste mit Aussicht. Doch an den Prospekten des Landes mich zu erfreuen, wurde ich nicht bezahlt. >Hat Gott hier die Leute mit dem Tod gestraft, die zu viel Salwa-Selav-Vögel verspeisten?< — >Ja, ja<. >Fängst du mir einen Vogel, guter Scheich, zwischen den vielen Bergen, die vielleicht Sinai sind, aber vielleicht auch nicht, auf dass ich ihn braten und essen kann und der Herr mich tötet?«<
   »Ha, ha«, sagte Musa.
   »Was?«
   »Da sagte der Beduine >ha, ha<, nehme ich an. Hast du Fieber?«
   »Es steht in meinem Auftrag geschrieben!«
   »Samt Gott dem Allmächtigen?«
   »Samt Gott dem Allmächtigen und seinem heiligen Wort!«
   Musa steckte Holz ins Feuer. Als es aufflammte, rückte er näher und blickte Niebuhr mit gerunzelter Stirn ins Gesicht. Wiederum konnte Niebuhr seine Miene nicht deuten. Allerlei war dort in Bewegung, Lachlust, Mitleid, ein wenig Ekel vielleicht — Niebuhr wusste es nicht.

wunnickedame2Christine Wunnicke nimmt sich sehr viel Zeit für dieses verständniswillige Aufeinandertreffen der Zivilisationen, viel Zeit fürs Beobachten der Affen-Population, viel Zeit für sprachliche und kulturelle Missverständnisse, für Einblicke in divergente Beziehungen zu Wissenschaft und kulturelle Traditionen, auch zu Grenzbereichen der Esoterik. „All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft.“ (Bories vom Berg) All das plänkelt vor sich hin, verplänkelt sich, es kommt lange kein Schiff, das die Protagonisten von ihrer Insel holt und damit auch den Leser erlöst.

P.S. „Die Dame mit der bemalten Hand“ ist der arabische Name eines Sternzeichens, das im Westen weniger pittoresk benannt ist.

2020 – 165 Seiten

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Niebuhrs Bericht übet seine Reise nach Arabien

Christine Wunnicke: Katie

wunnickekatieDa ist William Crookes. Wissenschaftler, soweit man das Ende des 19. Jahrhunderts sagen kann, er entdeckt das Element Thallium, befasst sich mit Radioaktivität, experimentiert mit Kathodenstrahlung, ist Mitglied der Royal Society und „Ich habe gestern den vierten Aggregatzustand entdeckt”, sagte William Crookes zu seiner Frau. In Alltagsdingen wie Familie oder Haushalt eher irrlichternd, zunehmend verunsichert, weshalb er sich auch dem Spiritismus zuwandte. William Crookes gab es wirklich.

Da ist Florence Cook, ein kränkelndes Mädchen von 17 Jahren mit eigenartigen Fähigkeiten.

Im Winter 1869, in ihrem dreizehnten Jahr, stellte Florence Cook fest, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust.
Es kostete wenig Anstrengung. Einmal überm Gesäß verschränkt, glitten sie mühelos immer weiter nach oben, bis zwischen die Schulterblätter, und die Schultern blieben bei alledem schön gesenkt, der Hals lang, der Rücken gerade wie ein Besenstiel; und wenn Miss Cook wollte, konnte sie auch die Unterarme bis zu den Ellenbogen zusammenlegen, ohne dass ihr Nachthemd aus der Fasson geriet.

Diese Gaben gestatteten ihr, sich in Schränken zu verkriechen und sich aus angelegten Fesseln zu befreien. Sie wurde zum Medium, denn in ihrer Zeit war es von der Begabung zur Magie noch nicht weit, das „Sitzen“ (die Séance) war beliebtes Spektakel und ließ sich auch recht profitabel vermarkten. Auch Dr. Crookes versuchte sich darin. Florence Cook gab es wirklich.

Wer bezahlte, wollte nicht betrogen sein, nicht hinters Licht geführt werden. Und so kam es, dass William Crookes einen Auftrag annnahm, das Medium Florence zu begutachten. Als Strahlenexperte war er der Mann, sich auf die Luminiszenzen des Mädchens katie2einzulassen, auch konnte man solche Expertisen profitabel verwerten. Wissenschaft und Hirngespinst manifestierten sich in Geld. Es gibt Fotos davon.

Christine Wunnicke macht aus den Erscheinungen einen kleinen Roman. Das ist nichts aktuell Weltbewegendes, aber doch reizend, denn sie erzählt mit ersichtlicher Freude von den Beschwörungen der Aggregate und der Geister. Die spintisierenden Schlüsselfiguren kämpfen sich durch ihre physischen und psychischen Defizite, aufrecht gehalten durch wenige Pragmatiker wie Nelly Crookes, die real durch die Wohnung wandert. Oder der schüchtern-biedere Gehilfe Pratt, der sich an seinem Radiometer erfreut. „Jeremiah Pratt (…) hatte keine dezidierte Meinung über die Phänomene der Welt. Was half es einem? Was half es einem wie Pratt?” Faktenfetischismus meets Okkultismus. Damit „ist Christine Wunnicke ein Roman gelungen, der Wissen und Wünschen in ein hinreißend schummriges Verhältnis zueinander setzt (…) Kawumm!” (Jutta Person, SZ) Christine Wunnickes “Bücher kommen unscheinbar daher, entfalten beim Lesen aber größten Zauber“. (Ulrich Rüdenauer, SWR)

Und dann kommt Katie.Katie war ein Kind der Sünde, gezeugt im Schatten des dreigegipfelten Cadair Idris” in Wales. “Katie wurde stark und schön. Wenn der Mond über dem Cadair Idris hing, schrie sie nach Elfen und Trollen. Man fürchtete sie. Männer wollten sie. Auch Frauen wollten sie; denn der Geist des Vaters war so stark in Katie, dass sie manchmal, vor allem bei Vollmond, halberlei ein Knabe war.” Das trug sich zu im 17. Jahrhundert, zur Zeit der Bukanier, und jetzt leuchtete Katie im Victorianischen Zeitalter als Geist wieder auf.

Sie trug ein weißes Kleid oder Hemd und über dem Kopf, über anscheinend offenem blondem Haar, ein weißes Tuch, das auf ihre Schultern herabfiel. Das zage Licht umspielte ihre Gestalt und ihre Konturen verschwammen darin. Sie ging lang­sam, lautlos, mit sicherem Schritt. Ihr Gesicht blieb im Schatten. Ihr Kleid oder Hemd war zart und beweglich, es wehte ein wenig und ein Mieder befand sich darunter nicht. In großem Abstand von Crookes, der regungslos sitzen geblieben war, hielt sie inne. Jetzt drehte sie ein wenig den Kopf. Ein weiches, schönes Profil. Sie nickte. Crookes machte ein Geräusch, eine Art Schnappen. Da lächelte die Fremde. Ihre Lippen waren schwarz im niedrigen Gaslicht, die Augen blass. Keine Farben waren in dieser Frau. Sie sah aus wie ein Lichtbild. Der Ton changierte, vom matten Sepia einer Albuminkopie bis hin zum Blauschwarz und Reinweiß eines kostbaren Chlorgoldabzugs.

»Ja oh, Pratt«, sagte der Geist.
Er sah Miss Cook ein wenig ähnlich, und dann auch wieder nicht. Er sah aus wie ein Bursche, der wie ein Mädchen aussah; zu seinen Lebzeiten, vermutete Pratt, war solches noch an der Ord­nung gewesen.
»Sechzehnhundertdreiundfünfzig.« Der Geist las Gedanken. Das war das geringste Problem. Er hatte unter Pratts Decke ge­griffen, unter der sich dieser weitgehend versteckt hatte, und sei­ne Hand genommen und herausgeholt, und nun hielt er sie in der seinen. »Oh Pratt«, sagte der Geist noch einmal. Seine Hand war weich und griff fest zu.
Dies war eine Menschenhand. Ob sie verstorben und vergeistigt war? Pratt bezweifelte es. Ob sie aus soliden Atomen bestand, wie Demokrit und Boyle und Bernoulli sagten? Das bezweifelte er eben­falls. Jeremiah Pratt hatte keine dezidierte Meinung zur Stofflich­keit des Geistes in seinem Bett. Denn dort befand er sich nun. Und lächelte. Und diskutierte nicht. Er verwirrte Pratt. Doch dann er­freute er ihn, seine Stofflichkeit, seine Atome und Nichtatome, seine newtonisch beharrliche Kraft und Masse. Er erfreute ihn, wie sich Pratt bislang nur selbst erfreut hatte – meist über Formeln gebeugt und ganz in ihnen verloren; wie ein Bursche erfreute er ihn, wie ein zweiter Pratt, der wusste, was dem ersten Pratt notwendig war, wie Pratts Geist, der Pratts Körper erfreute, wie Pratts Körper, der Pratts Geist erfreute, wie alle Zwischenstufen zwischen Energie und Ma­terie, die einander erfreuten, in einer komplizierten, unkomplizier­ten, letztendlich pragmatischen Weise. So schlicht. So schön. Dun­kel war es in Jeremiah Pratts schmalem, jungfräulichem Bett, und fort war das Glühen im Haar des Geistes, und Pratt dachte, oder flüsterte gar, »p-strich gleich p plus df durch dt«, und all das Schö­ne explodierte langsam und lautlos und lange, nach dem Gesetz der elektrischen Elastizität und oh, dem Durchflutungsgesetz.

Ob es Katie wirklich gab? Egal, solange Christine Wunnicke so viel Esprit in Geister und Körper zaubert. Eine amüsante, geistreich funkelnde  Geschichte. Wird man, wenn abermals 200 Jahre vergangen sein werden, auch auf unsere Zeit als gutgläubiges graues Gestern zurückblicken? Wenn es noch Menschen mit Rückblicken gibt.

2017       175 Seiten

3SAT – Büchertip vonKatrin Schumacher

Zum Thema Prof. Crookes

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Christine Wunnicke: Serenity

wunniserenityIn eine reichlich exotische Welt führt auch Christine Wunnikes „Serenity“: ins Internet. Für Dr. Rüdiger Varendorf, 53, liegt hier absolutes Neuland. Der leicht verschrobene Leiter der Schopenhauer-Bibliothek habilitiert seit Jahren über die „Ideengeschichte des Nichts im abendländischen Denken“.

Zur Zeit erforschte er den Begriff der Anni­hilatio in Luthers Frühwerk Dictata super Psalterium. Wenn sich im Kollegenkreis oder anderswo die Mög­lichkeit bot, verspottete sich Varendorf gerne ausgie­big selbst, als einen gutartig weltfernen Nihilisten, der nach vielen Jahren mit Meister Eckhart nun bei Luther gelandet sei und dort auch noch eine gute Weile blei­ben wolle, da ihn jeder Schritt nach vorn unweiger­lich näher zu dem selbsternannten Alleinpächter aller modernen Nichtstheorie, Martin Heidegger, führen würde, den Varendorf aus dem Stegreif viertelstunden­lang parodieren konnte und nicht zu seinen Idolen zählte.

Dr. Varendorf ist nicht weltfremd, er ist nur nicht mit allen technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte vertraut. Er hat eine Freundin, Marion, einen Sohn, einen Balkon, der von allerlei Düften und Geräuschen umweht wird und auf dem er entspannt und arbeitet, und er hat den Asistenten Urs, der ihm Zu Hause einen Anschluss ans Internet einrichtet.

Dr. Varendorf, 53, ist hin- und her- und ins Netz hineingerissen. Er will da rein, weil da drin eine Chatgruppe haust, die er bei seinen eher ziellosen Besuchen entdeckt hat, eine Gruppe quakender Teenies: Aprilchan,LauraAutomatic, Salli04, Prozacduckie, CaliNeko. Dr. Varendorf verliert sich is abendländische NICHTS.

Er öffnete megablogg.com. Er klickte create Journal an. Ein Formular erschien. Name? Varendorf gab seinen Na­men ein. Passwort? Varendorf gab »Varendorf« ein. Wie würde Urs mit ihm schimpfen, wenn Urs das wüsste, Varendorf zündete sich grinsend eine Zigarette an.
Username?Varendorf gab »Varendorf« ein.
Hey Varendorf, rad! I buddied you! Nein. Varendorf löschte »Varendorf«. Er bezweifelte, das Aprilchan einen Varendorf auf ihrer Kumpelliste haben wollte. Er brauchte einen anderen Namen.
Ruediger?
Rudy?Marchchan?
Varendorf schüttelte den Kopf über diese idiotischste aller Aufgaben. Er tippte wieder »Varendorf«. Er lösch­te es erneut. Am linken Bildrand trabte das Pärchen durch Manhattan, mein Date ist so süß, und wenns nun HERPES ist?
Schopenhauer?
Gauloise?
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Nothing?

Nihil?
Nichts? Nullo? Rien?
Varendorf stöhnte. Dann tippte er »Serenity«.

Dr. Varendorf beginnt als Serenity zu leben und zu leiden, aus heiterem Gleichmut wird zehrende Sucht. Von Assistent Urs geworfen verbeißt er sich , alters- und geschlechtsblind, in die Tiefen der Chatrooms in der ersponnenen Meinung, als Wissenschaftler sei er Herr des Versuchs. Das Aufeinandertreffen des leicht verschrobenen Bibliothekars mit Aprilchan & Co. gestaltet Christine Wunnicke zu einigen schönen Episoden in parallelen Neuländern. Erzählt ist das mit Feinsinn und wohlwollender Ironie. Das Netz ist ähnlich skurril wie „Katie“s Lumineszenzen im 19. Jahrhundert, doch war die Welt damals nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich weiter entfernt und mir deshalb noch fremder und ergötzlicher.

2008            230 Seiten



Binet
25. Juli 2017, 16:55
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Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion

binetKommissar Bayard hat einen neuen Fall. Ein Mann ist von einem Lieferwagen mit bulgarischem Kennzeichen angefahren und lebensbedrohlich verletzt worden. Der Verletzte ist nicht irgendwer, sondern Roland Barthes, der bekannte (?) Wissenschaftler, einer der renommiertesten Poststrukturalisten. Also ein Mordversuch. Barthes soll ein Papier bei sich getragen haben, es soll sich um die rätselhafte 7. Sprachfunktion des Linguisten Roman Jacobson gehndelt haben, aber der Zettel ist weg. Bayard hat von (der) Wissenschaft keine Ahnung und heuert den jungen Studenten Simon Herzog als „Gehilfen“ an. Er soll ihm die Sprache der Strukturalisten übersetzen.

Das Aufklärungsduo erfüllt natürlich alle Klischees des Genres, doch sind die kriminalistischen Ermittlungen randständig, sie legen nur einen gefälligen Faden durch die persönlichen Wirrnisse der Wissenschaft. Immer, wenn sie mögliche Betroffene befragen wollen, ergeben sich skurrile Situationen, in denen die Heroen des Poststrukturalismus an unerwarteten Orten mit ihrer dort funktionslosen Sprache allein gelassen werden. Die Linie führt zu Barthes in die Intensivstation der Klinik, auf Foucault stoßen sie in der Männersauna, zu Umberto Eco fliegen sie nach Bologna, zu John Searle ans Ithaca College, zum Personal gehören auch Philippe Sollers und seine Frau Julia Kristeva, Bernard-Hénri Levy (BHL), Jacques Lacan und ihrer mehr. Im Tross finden sich undurchsichtige Japaner und Bulgaren und die üblichen maghrebinischen Strichjungen. Die Treffen gestaltet Binet als phantasmogorische Kasperltheater mit Drogen-Sex-Strukturalen Delirien, Walpurgisnächte national- und kulturstereotypischer philosophischer Hexenmeister. Die Ermittler werden eingestrudelt, die Frauen erfüllen ihre Rolle.

Auf einmal ist aus dem Krankenzimmer Lärm zu hören. Bayard macht die Tür auf, er sieht Barthes von Krämpfen geschüttelt, er redet im Schlaf, und die Krankenschwes­ter versucht, ihn zu beruhigen. Er spricht davon, wie der Text «bestirnt» wird: «Wie bei einem winzigen Erdstoß werden die Bedeutungsblöcke auseinandergetrieben, von denen die Lektüre nur die Oberfläche wahrnimmt, die un­merklich durch den Fluss der Sätze, durch den geschmei­digen Diskurs des Erzählens, durch das Natürliche der geläufigen Sprache zusammengeschlossen wird.»

Bayard lässt sofort Simon Herzog rufen, damit er ihm das übersetzt. Barthes wird immer unruhiger in seinem Bett. Bayard beugt sich zu ihm und fragt ihn: «Monsi­eur Barthes, haben Sie Ihren Angreifer gesehen?» Barthes schlägt die Augen auf, packt ihn am Nacken und erklärt mit verrücktem Blick, heftig schnaufend, von Angst zer­fressen: «Der Bezugssignifikant wird in eine Folge sich untereinander berührender kurzer Fragmente aufgeteilt, die wir hier, weil es Leseeinheiten sind, Lexien nennen. Diese Aufteilung wird, das muss gesagt werden, eine sehr willkürliche sein. Sie wird methodologisch nichts zu verantworten haben, denn sie betrifft den Signifikanten, während die vorgelegte Analyse sich nur auf das Sgnifikat ausrichtet …» Bayard sieht Herzog fragend an, der zuckt die Achseln. (…) Barthes ist nun am Rand der Hysterie und schreit, als ob es um sein Leben ginge: «Alles ist im Text! Verstehen Sie! Den Text wie­derfinden! Die Funktion! Ach, das ist zu dumm!» Dann fällt er zurück in sein Kissen.

Jacques Bayard und Simon Herzog, ein kleines weißes Handtuch um die Lenden gebunden, flanieren durch die Saunadämpfe, zwischen lauter schwitzenden Gestalten, die sich verstohlen berühren. Seinen Dienstausweis hat der Kommissar in der Umkleide gelassen, sie sind inkognito, denn falls sie ihn auftreiben, soll sich der Stricher mit dem Ohrring nicht erschrecken.
Eigentlich geben sie ein ziemlich glaubwürdiges Paar ab: der Ältere breitschultrig, behaarter Oberkörper, der mit inquisitorischem Habitus den Überlegenen gibt, und der schmächtige bartlose Jüngling, der verstohlene Blicke wirft. Simon Herzog, die Karikatur eines verschüchterten Anthropologen, weckt Begehrlichkeiten; die Männer, die ihm begegnen, mustern ihn lang und drehen sich nach ihm um, wenn er vorüber ist. Aber auch Bayard kommt ganz gut an. (…) Hinter Bayard sitzt ein Glatzkopf mit hagerem Körper und quadratischem Unterkiefer, nackt, die Arme über dem Kopf verschränkt auf einer Holzbank, die Beine breit, wäh­rend ihm ein gertenschlanker Jüngling mit Ohrring, aber kurzem Haar einen bläst. «Haben Sie etwas Interessantes gefunden, Herr Kommissar?», fragt Michel Foucault und mustert Simon Herzog. (…)Bayard: «Ich suche jeman­den, der Roland Barthes noch kurz vor seinem Unfall ge­sehen hat.» Foucault streichelt den Kopf des jungen Man­nes, der sich zwischen seinen Beinen zu schaffen macht: «Roland hatte ein Geheimnis, wissen Sie …» Bayard fragt, was für eines. Das Stöhnen in den Backrooms nimmt zu. Foucault erklärt Bayard, dass Barthes die Sexualität abend­ländisch verstand, also zugleich als etwas Geheimnisvolles und als etwas, dessen Geheimnis man auf die Spur kommen musste. «Roland Barthes», sagt er, «ist das Schaf, das Hirte sein wollte. Das war er! Und wie! Aber für alles andere. Für die Sexualität ist er immer Schaf geblieben.» Tierschreie aus den Backrooms: «Bäh -! Bäh -! Bäh -! Bäh -!»

«Denn die Wunschmaschinen bilden die fundamentale Kategorie der Wunschökonomie, bringen selbsttätig einen organlosen Körper hervor und treffen keine Unterscheidung zwischen ihren eigenen Be­standteilen und den Agenten noch zwischen den Produktionsverhältnissen und ihren eigenen Verhältnissen … » Die Worte von Deleuze durchkreuzen den Geist des jungen Mannes im selben Augenblick, wo sein Körper sich zusam­menkrampft, wo Biancas Körper abhebt, bis sie vollkom­men erschöpft über ihm zusammensackt und ihr Schweiß sich mit dem seinen vermischt.
Die Leiber entspannen sich in abklingenden Zuckun­gen.
«So ist die Phantasie niemals individuell, sondern Grup­penphantasie.»
Dem Behandschuhten gelingt es nicht, aufzubrechen. Auch er ist erschöpft, aber es ist keine gute Ermüdung. Er hat Phantomschmerzen in den Fingern.
«Der Schizophrene hält sich an der Grenze des Kapita­lismus auf. Er verkörpert dessen entwickelte Tendenz, das Mehrprodukt, den Proletarier und den Würgengel.»
Bianca erklärt Simon den Deleuze’schen Schizo und dreht dabei einen Joint. Draußen singen die ersten Vö­gel. Die beiden unterhalten sich bis zum Morgengrauen. «Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus gewünscht – und das heißt es zu erklä­ren.»

Man könnte aus dem Roman auch lernen, denn manches wird erklärt, so auch „die siebte Sprachfunktion? Si­mon, benebelt, wie er ist, merkt erst gar nicht, dass nicht etwa Bayard, sondern Eco die Frage gestellt hat. Bayard dreht sich zu ihm. Simon nimmt zur Kenntnis, dass Bi­anca ihn noch immer an der Hand hält. Eco blickt das Mädchen leicht lüstern an. (Alles kommt ihm leicht vor.) Simon versucht sich zu konzentrieren: «Wir haben allen Anlass zu der Annahme, dass Barthes und drei andere Per­sonen wegen eines Schriftstücks umgebracht wurden, das sich auf die siebte Sprachfunktion bezieht.» Simon hört seine eigene Stimme reden und hat dabei den Eindruck, da spreche Bayard.

Nach Austin ist jedes Sprechen ein Sprechakt, weil es zum einen darin besteht, etwas zu sagen, zum anderen aber auch ein illokutiver oder perlokutiver Akt ist, der über den rein verbalen Austausch hinausgeht, weil er etwas bewirkt, also eine Handlung zur Folge hat.
Es handelt sich um die Fähigkeit bestimmter Aussagen, im Sprechakt selbst das zu realisieren (Eco sagt «aktua­lisieren»), was sie aussagen. Wenn zum Beispiel der Bür­germeister «Ich erkläre Sie zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten» sagt oder wenn der Lehnsherr jemanden adelt mit den Worten «Ich schlage dich zum Ritter» oder wenn der Richter «Ich verurteile Sie» sagt, wenn der Vorsit­zende einer Versammlung «Ich erkläre die Versammlung für eröffnet» sagt, ja selbst wenn man jemandem «Ich verspreche es dir» sagt, dann tritt mit dem Aussprechen dieser Sätze bereits das ein, was sie aussagen.
Eco setzt seine Erläuterungen fort: «Also, stellen wir uns einmal vor, die performative Funktion würde sich nicht auf diese wenigen Beispiele beschränken. Stellen wir uns eine Sprachfunktion vor, die sehr viel extensiver ir­gendjemanden davon überzeugen könnte, irgendetwas in irgendeiner Situation zu tun.»
10 Uhr o6.
«Wer diese Funktion kennt und beherrscht, wäre prak­tisch der Herr der Welt. Seine Macht wäre grenzenlos. Er könnte sich bei jeder Wahl wählen lassen, könnte die Mas­sen mobilisieren, Revolutionen auslösen, Frauen verfüh­ren, jedes beliebige vorstellbare Produkt verkaufen, Impe­rien errichten, die ganze Welt betrügen, alles bekommen, was er will.»

Binet spielt und führt seine spielerische Kompetenz vor, indem er die Hohlheit der Aussagen verdoppelt, indem er den Figuren die Schauplätze zuweist, indem er die Koinzidenzen verwirbelt. Das Jahr ist 1980: Da kam Barthes ums Leben, da forderte ein Erdbeben in Süditalien fast 3000 Opfer, in Bologna lehrte Umberto Eco und sprengten Faschisten den Bahnhof in die Luft und töteten 85 Menschen. Binets Akteure sind immer mittendrin, was manchmal makaber ist. 1980 befand sich François Mitterrand im Wahlkampf mit Giscard d’Estaing und wird zur Romanfigur:

Giscard verhaspelt sich immer mehr.
Simon zieht sein Resümee: «Mitterrand hat die siebte Sprachfunktion gefunden.» (…)
Simon versteht. Mitterrands Ziel war ein Nahziel: Giscard im TV-Duell zu schlagen.“

Und hier wird’s etwas krude und der Roman entzieht sich selbst sein Fundament und löst sich in Verkrampfungen auf. Die Verknüpfung von Politik und Sprachtheorie ist ein arg oberflächlicher Gag, den Binet auch zu lange am Köcheln hält. Die Rhetorik-Duelle im “Logos-Club” spinnt er aus, wiederholt die Treffen in der Geheimloge mit ihren humorig-blutigen Ritualen, die Lust am Parlieren weitet sich vom Jargon der Linguisten ins Englische und mit Vorliebe ins Italienische. Der Roman strotzt von Anspielungen, Referenzen und Spitzen, alles wird zum Symbol, man überliest viel. Natürlich ist “Die siebte Sprachfunktion” zu lang, aber trotz sich ähnendeln Humormechanismen wiederholt vergnüglich.

Der Roman von Binet ist eine Satire. Man muss nichts von Poststrukturalismus oder Sprachfunktionen wissen, um ihn lesen und verstehen zu können, dass Binet die Philosophen und ihre Sprachperformanzen veruzt. „Binet überzeichnet seine Figuren dabei ins Groteske: Tendenziell taktlos und mit durchaus erfrischender Respektlosigkeit entlarvt er ihre Eitelkeiten, internen Hahnenkämpfe, festgefahrenen Konflikte und unerfüllbaren Geltungsbedürfnisse. Doch vom Grotesken zum Klamauk ist es immer nur ein kurzer Weg, und Binet lässt die Phantasie ein wenig zu oft mit sich durchgehen.“(Patrick Kilian, foucaultblog)

Simon Herzog ist zum Semiotiker avanciert: „Meiner Meinung nach gibt es zwei große Herangehensweisen. Die Semiotik und die Rhetorik, verstehen Sie? (…) Die Semiotik hilft verstehen, analysieren, dekodieren – sie ist defensiv, sie ist Borg. Die Rhetorik ist dazu da, zu überreden, zu überzeugen, zu besiegen – sie ist offensiv, sie ist McEnroe. (…) Die Semiotik ist wie Borg: Es reicht, den Ball ein einziges Mal mehr zurückzuspielen als der Gegner. Die Rhetorik, das sind die Asse, Volleys, Spin- und Longline-Bälle, aber die Semiotik, das sind die Returns, Passierschläge und Lobs“ .

2015            525 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

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