Nachrichten vom Höllenhund


Osborne
18. März 2020, 18:35
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Lawrence Osborne:
Welch schöne Tiere wir sind

osborneschoenetiereDie Bucht war so klein, dass das Meer davor im Vergleich zu dem eingeengten Strand eine weitwinklige Grenzenlosigkeit besaß. Unterdessen waren dort schon zwei Frauen angekommen und stiegen mit ihren Strandtaschen von dem Pfad herab; bei jeder Bewegung erzitterten ihre Strohhüte mit der besonnenen Behändigkeit von Käfern. (…) Das Mädchen war bemerkenswert zart, gertenschlank, seine Haare wie gesponnenes Gold, zu blass für diese Sonne, was seinen Augen einen noch wild entschlosseneren und begierigeren Ausdruck verlieh. Wenn das Licht auf sie fiel, erfüllte sie das unmenschliche Leuchten blauer Edelsteine.

Ja, das muss man erst mal schreiben, Strohhüte, die wie Käfer erzittern, Haare wie von Rumpelstilzchen gesponnen, und ein Mädchen, das das unmenschliche Leuchten blauer Edelsteine erfüllt. Eigentlich sollte das genügen, um das Buch auf Seite 15 zuzuklappen und in der Büchertelefonzelle zu entsorgen. (Halt, da sollte man ja wohl Bücher reinstellen, die man anderen Lesern zumuten möchte.)

Aber dann habe ich gehört oder gelesen, Osborne greife die Nausikaa-Sage auf, trage sie ins Heute. Hoher Anspruch also. Ich hab’ dann die alte Geschichte bei Gustav Schwab nachschlagen.

Nausikaa war die „jungfräuliche Tochter“ von Alkinoos, König der Phäaken. (…) Odysseus war auf der Rückfahrt von Troja auf der Inselangelandet und „hörte lustige Mädchenstimmen“: „Da bin ich doch wohl in der Nähe von gesitteten Menschenkindern.“ Nausikaa gefällt der Fremde, obwohl er noch ganz verschlammt ist, und sie nimmt ihn mit in ihren Palast. Und jetzt wieder zu Osborne. Naomi, Tochter reicher Engländer, verbringt ihe Sommerferien auf der griechischen Insel Hydra.

Zusammen mit ihrer amerikanischen Freundin Sam (der Gertenschlanken) machen sie einen „Küstenspaziergang“ und entdecken dabei „einen bärtigen, ungepflegten Mann, einen Geflüchteten aus Syrien“, wie sich herausstellt. Faroud.“ (Klappentext)

Etwas in Sam erstarrte, und ihr Instinkt übernahm die Führung. Sie berührte einen der Flecken. »Nur zwei Fle­cken? Es ist von weiter oben heruntergetropft.«
»Könnte sein«, sagte Naomi.
»Das muss von einem Menschen stammen. Vielleicht Wanderer?«
Menschen kamen auf Privatbooten her, so wie sie auch.
Doch Naomi war skeptisch.
»Wir haben kein Boot wegfahren sehen.«
»Dann müssen sie über die Berge gewandert sein.« »Nein.«
Sie standen auf und blickten sich um, sahen jedoch nichts. Zweifel regten sich in ihnen, aber sie schwiegen. Sie liefen einfach weiter und erklommen die nächste Anhöhe, bis sie auf Abhänge hinabschauten, die vor glän­zenden Disteln strotzten. Felsen wölbten sich schützend über das Wasser, Wellen schäumten einige Meter weit draußen auf den verborgenen Steinen. Anfangs war nichts zu sehen. Aber dort, mitten im Sonnenschein, lag eine Gestalt ausgestreckt in den Thymianbüschen, ein auf der Seite schlafender Mann, von Lumpen umgeben, eine Plas­tikflasche neben sich auf dem Boden.
Der Mann war halb nackt, nur mit einer Trainingshose und Zehensandalen bekleidet. Ein zerschlissener Pullover hing wie zum Trocknen auf einem wenige Meter entfern­ten Kaktus. Der Mann sah jung aus; er hatte lange Haare und einen ungestutzten, ungepflegten Bart. Ein erschöpf­ter Vagabund des Meeres. Naomi erkannte sofort, dass er kein Grieche war. (…)Man merkte, dass er aus dem Meer kam und nicht vom Hafen und dass sein Schlaf kein müßiger war. Plötzlich bewegte sich etwas am Himmel, und sie blickten auf Zwei riesige Vögel kreis­ten dort oben, flogen hin und her und schauten auf die drei Menschen hinunter, als gäbe es an ihrer Anordnung etwas zu entschlüsseln. Langsam ließen sie sich herab­sinken. Der Mann drehte sich ebenso langsam auf den Rücken, und sein Mund klappte auf Lange Striemen und Kratzer bedeckten seinen bloßen Oberkörper, seine Haut hatte sich dunkler gefärbt. Schritt für Schritt gingen Naomi und Sam zu der Felskante zurück, von der sie gekommen waren, und vermieden es, auf den kleinsten Stein zu treten.
»Er stirbt nicht«, sagte Naomi. »Er schläft nur. Er wurde vom Meer angespült.«
Sam fragte sich laut, ob sie dennoch wieder zurückge­hen und mit ihm sprechen sollten. Jetzt kam es ihr doch feige vor, sich einfach davonzumachen, ohne irgendetwas zu tun, ohne mit ihm in Kontakt zu treten.
»In Kontakt treten?« Naomi lächelte.
»So habe ich das nicht gemeint. Ich meinte … einfach nur runtergehen und schauen, wer er ist. Er hat geblutet.«
»Heute nicht. Ein andermal.«

Ja, so reagieren gelangweilte Gören, wenn sie einen halbnackten Mann am Strand sehen, einen Mann, der blutet, der sich nicht mehr selbst helfen kann. “Gesittete Menschenkinder“. „Naomi machte ein Handzeichen, und sie gingen den Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. (…) Zwischen ihnen breitete sich eine lange Stille aus.” Dann machen sie, was ihren Ferienaufenthalt bestimmt: “Bald ver­schlug es Naomi und Sam auf eine dieser Partys, als wäre es das Normalste der Welt.” “Naomi nahm den kleinen Ouzo, der ihr als Schlummertrunk angeboten wurde.“ Dann „leerten an einem Tisch an der Straße gierig eine Karaffe Moschofilero“. „So hob sich ihre Stimmung nach und nach (…). Naomi gab ihr eine kurze Einführung in diese weniger bekannte griechische Spirituose: Es gebe Tsipouro mit und ohne Anisgeschmack. Es gebe Tsililis und Kosteas, Idoniko ohne und Babatzim mit Anis. Im Gegensatz zu Ouzo werde Tsipouro aus Trauben gewon­nen, man schmecke den Trester heraus. Der Anis hier sei fruchtig, und Naomi brachte ihr das Wort dafür bei: glykaniso. Die alkoholische Wirkung von Tsipouro war jeden­falls konkurrenzlos – er zwang Verstand und Geist aus­einander. Sie vergaßen den Araber auf der anderen Seite der Insel und redeten stattdessen über anstehende Partys. (…) Naomi kippte den Ouzo hinunter, drängte die Tränen zurück, die aus ihren Augen hervorzubrechen drohten, und hielt sich aufrecht, bis es Zeit für einen zweiten Schnaps war. Ihre Stiefmutter protestierte kurz, aber Vater und Tochter nahmen ihn dennoch, und zwischen ihnen stellte sich ein Moment der Versöhnung ein. Im Laufe der Jahre hatte sie herausgefunden, dass die besten Momente mit ihrem Vater die waren, in denen sie gemeinsam Ouzo tranken. Dieses zweischneidige Getränk, das keinen bestimmten Geschmack zu haben schien, war ihre dunkle Waffenruhe, ihre einvernehmliche Anonymität.“ (…) »Birds on the wire«, sang Naomi dann immer vor sich hin und dachte an den Song von Leonard Cohen. (…) “Dann tranken sie noch drei Runden Ouzo.” (Im Original war es nur ein Vogel auf dem Draht. Zu viel Ouzo?)

Leonard Cohen soll auf Hydra einen Song auf seine Freundin Marianne Ihlen geschrieben haben. Bei John Osbornes Roman bin ich dann auf Seite 50 angekommen und habe beschlossen, das Buch nicht in den öffentlichen Bücherschrank zu stellen, sondern es gleich zum Recyclen zu geben. Das ist wikipedia-getränkte Kolportage. Stilistisch grausam. “Die schim­mernde Reinheit des Himmels, ganz frei von Wolken und Verunreinigungen, gab ihnen ein Gefühl der Sicherheit. (…) Ihre Haut genoss die unge­zähmte Wildheit der Sonne.” (…) “Nach und nach fiel die Beunruhigung von dem engli­schen Mädchen ab .” (…)”Wo das flache Wasser plötzlich tiefer wurde, zeichneten sich unregelmäßige Formen aus schwarzem Opal wie die Umrisse regloser Haie ab, und weiter draußen schimmerten dunkelgrüne Massen, die eine brütende Energie suggerierten, welche den oberen Luftschichten immer vorenthalten sein würde. Ein Malariaanfall, dachte Sam, ohne zu wissen, weshalb. Ein malariahafter Traum aus Schwämmen und überschwemmten Felsen.“ Alles wie aus dem Lehrbuch für Kitsch und bemüht verbogene Sprachbilder. Fassade vor gähnender Leere. Meisterwerk, lese ich in den Kritiken, brillant. Lassen sich alle von Mythen und blauen Gestaden blenden? An der Übersetzung von Stefan Kleiner kann es nicht liegen, denn die soll „subtil“ sein (Peter Henning, Deutschlandfunk)

Osborne sei ein „literarischer Ästhet durch und durch“ und „so erweist sich „Welch schöne Tiere wir sind“ am Ende als makellose, vom ersten Moment an mitreißende dunkle Passions- und Kriminalgeschichte, die statt Hoffnung glänzende Leere demonstriert.“ (Henning). Liegt vielleicht hier mein Miss- und Unverständnis. „Glänzende Leere“ kann man behaupten, kann man auch parodieren, doch verbleicht der Glanz der Oberfläche mit stetiger Wiederholung. (Das ist ähnlich wie bei der Darstellung von Langeweile.)

Dadurch, dass ich das Lesen abgebrochen habe, entgeht mir die „alttestamentarischeWucht“ (Henning), die in den Gören-Ennui einbricht: Naomi bietet Faoud fünfzehntausend Euro dafür an, dass er in die Villa ihrer Eltern einbricht. Doch Foaud wird bei dem Einbruch überrascht und tötet Naomis Eltern. Das „Schicksal“ lässt sich nicht blenden. Der Leser schon.

2017               335 Seiten

5

 



Maier
17. August 2019, 17:23
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Andreas Maier: Die Familie

maierfamilieÜber Jahrzehnte hat Andreas, der kleine Bruder, mit seiner Mutter gesprochen. Über Jahrzehnte hat er sich damit zufriedengegeben, dass ihre Antwort die unbefriedigend gleiche Floskel war.

Eines Tages Ende der neunziger Jahre führe ich mit meiner Mutter ein bemerkenswertes Gespräch. (…) Ich bin Anfang Dreißig.
Bei diesem Gespräch frage ich meine Mutter et­was, das ich schon öfter in meinem Leben gefragt hatte, nämlich wie es sich denn eigentlich mit die­sen seltsamen hunderttausend Mark verhalten ha­be, die Heinz immer gefordert hätte. In früheren Zeiten hatte meine Mutter immer dieselbe Ant­wort gegeben. (…) Ich ließ ein paar Jahre verstreichen, dann frag­te ich anläßlich eines Gespräches – wieder fragte ich, als sei es das erste Mal. (…) Anschließend machte ich es mir zur Angewohn­heit, meine Mutter alle paar Jahre zu fragen, im­mer mit geschauspielerter Ich-frag-das-jetzt-zum­ersten-Mal-Attitüde.

Die Bolls, Andreas’ Familie, haben in Friedberg ein riesiges Grundstück, auf dem sie eine Steinwerkefirma betreiben. Der Vater ist Jurist, und CDU-Kreistagsabgeordneter, die Mutter führt nach dem Tode des Großvaters den Familienbetrieb.

Jahrelang stand die Familie im Bann des Grund­stücks im Mühlweg. Es bestimmte unser Da­sein, unser öffentliches Auftreten, unsere Rolle in der Stadt. Mir kam es damals vor, als hätten der Ururgroßvater, der Urgroßvater und der Groß­vater mit diesem Terrain einen bösen Geist durch die Zeit getragen, der zuerst die Erben entzweit hat­te, jetzt zur Maskerade zwang und uns dabei die Zunge herausstreckte.

Erst als Andreas 30 ist, liefert ihm seine frühere Freundin, die Buchhändlerstochter, “den Schlußstein unserer Familiengeschichte“. Das riesige Grundstück der Bolls gehörte früher einem Mann namens Seligmann, der sein Grab auf dem Friedhof hat. Vorher glaubte Andreas an die „Familiensage“, erst ganz am Ende erzählt Maier von der Arisierung, er hat sich das als Zielpunkt seiner Entlarvung der Familiengeschichte aufgehoben. Er macht aber nichts aus dieser Bedeutsamkeit, aus der einzigen des Romans. Vorher geschah dieses. Und jenes. Banales. „Eines Tages »geschah etwas«”. “Dann passiert etwas vollkommen Unerwartetes. Erstaunlich ist das Geschehen schon deshalb, weil einfach niemand auf die Idee gekommen war, et­was Derartiges könnte je geschehen.”

Alles, was ich auf diesem Gelände erlebte, hat­te für mich mythische Züge und kam mir vielfach vergrößert vor. Zum Beispiel grub mein Vater mit ein paar Leuten eines Tages eine Grube von viel­leicht zwei oder drei Metern Länge, mehr als einem Meter Breite, und in die Tiefe ging es eben­falls einen Meter. Wozu diese Grube diente, weiß ich nicht mehr, aber für uns Kinder war sie tage­lang eine urtümliche Behausung, wir überdach­ten sie, legten Decken hinein, fantasierten Aben­teuer … Wie andere ihre Baumhäuser bestiegen.

oder:

So ergab sich ein um das andere Mal das gleiche, jedwedes erhoffte Sonntagsidyll vernichtende Streitgespräch an unserem Tisch. Mein Bruder stützte seinen Ell­bogen auf, mein Vater sagte, so etwas mache man nicht, mein Bruder fragte, wieso man so etwas nicht mache, mein Vater entgegnete, das gehöre sich nicht, mein Bruder erklärte, das sei keine Be­gründung. Mein Vater konnte nicht genauer dar­legen, wieso man so etwas nicht mache, alle seine weiteren Erklärungsversuche waren hilflos (»das sind keine Manieren«; »was sollen denn andere Leute von dir denken«; »du bist ein Finder« – mit letzterem meinte er so etwas wie >ungehobelte Person<).
Die Streitereien über den Ellbogen meines Bru­ders wiederholten sich Monate, vielleicht sogar Jahre.

Der ältere Bruder politisiert und betäubt sich im “Kinderplanet” oder im Jugendzentrum, die Schwester schlingert durch ihr Leben, der Erzähler weiß nicht, was er anfangen soll und was ihm geschieht. Über Jahre. Ohne Bezug zum “Schlußstein”.

Das alles ist nicht nur belang-, interesse- und lustlos dahingeschrieben, sondern auch grottenschlecht erzählt. Dialogbeispiele:

Ich, zu Jan: Er ist Psychotherapeut geworden.
Sie: Der Heinz hat früher alle Möglichkeiten bekommen, ich hatte die nicht. Ich mußte die Fir­ma übernehmen. Das weiß der Heinz bis heute nicht, was das bedeutet hat, ich mit drei Kindern.
Ich: Heinz war doch kein jugendlicher mehr! Als mein Großvater gestorben ist, warst du 31, und Heinz war 26. Du redest über ihn, als sei er noch ein Student gewesen.
Sie: Er wollte die Firma ja nicht. Das mußte ich machen. Aber damals haben wir uns noch gut ver­standen, er ist erst anschließend so seltsam gewor­den.
Ich: Was heißt das, seltsam geworden?
Sie: Wie er herumgeschrien hat, weißt du das nicht mehr? Dein Vater kam nach Hause und hat sich sofort ins Bett legen müssen, wenn er beim Heinz gewesen war. Weil der Heinz diese unmög­lichen Vorstellungen hatte. Aber die kamen bei ihm ja auch erst, als …
Ich: Ja, als?

Wieder schaut sie mich seltsam an.
Warum siehst du mich denn so an? frage ich.

Andreas Maier hat witzige Bücher über sein Leben in der Wetterau geschrieben. Das letzte aus seinem Zyklus etwa, “Die Universität”. In “Die Familie” scheint er in eine frühere Phase zurückgefallen zu sein, als er noch nicht die Schreibwerkstatt besucht hatte. Man könnte das Unbeholfene auch für Stilbewusstsein halten, für das Hineinkriechen in das Kind, den jungen Mann. Für die Nachschreibung der Familienlüge aus der Sicht des Naiven. “Mir ist in meiner Jugend lange nicht aufgefal­len, daß ich kaum etwas über die früheren Bolls wußte. Außer unserer knappen Familiensage (Rhön, Vogelsberg, Firmengründung, Grundstück, Ap­felweinfaß, Walnüsse) wurde nichts erzählt.” Aber auch dann fehlte der Anspruch, die Komposition. Wie soll einer, der nichts mitkriegt, etwas bloßstellen, außer sich selbst. Kurz, aber langweilig.

2019      165 Seiten

Andreas Maier liest zehn Seiten aus »Die Familie«

5

       

Andreas Maier: Die Städte

Falscher Titel ! Nicht über Städte schreibt Maier. Orte, ja, auch größere, aber auch kleine, das ist nicht das Kriterium. Das Buch könnte „Reisen“ heißen, wegfahren, ankommen, zurückkehren. Manches liegt auf dem Weg, zu anderem wird er mitgenommen, etwa, weil er noch Kind ist, einige Orte werden auch gezielt angesteuert. Im Zentrum aber steht immer Andreas Maier, Kind, auch wenn er schon älter geworden ist.

Als ich ein Kind war, fuhren wir überdies in fast allen Ferien nach Tirol und später nach Südtirol in eine Ferienwohnung.  Davon emanzipierte ich mich mit elf Jahren, seitdem konnte ich zu Hause bleiben. Ich schaffte es, indem ich alle terrorisierte.

Die Erlebnisse auf der Fahrt nach Brixen und im dortigen Domizil sind so banal nichtssagend, sie sind so ernstgemeint und ichbezogen und stellen doch bloß das Abziehbild einer gutbürgerlichen Urlaubsfahrt dar. Ironie heraus- oder hineinzulesen fällt schwer. Sollten im Leser Erinnerungen an eigene, mehr oder weniger skurrile Zeiterscheinungen oder -objekte aufkommen: Ein Sachbuch ist unterhaltender als diese Pennäler-Schreibe.

»Ich weiß, daß ich diese Dunkelheit aussitzen muß. Ich weiß auch, daß sie vorbeigehen wird. Aber erst bei Nürnberg.  Denn bei Nürnberg geht die Sonne auf. Kommt der erste Streif am Horizont schon vor Nürnberg, denkt der Vater, er muß noch schneller fahren. Dann aber sagt die Mutter: Rase nicht so!«

Das kann – und sollte – besser werden. Bis es zur nächsten Reise – nach Athen – kommt, sitzt der Achtklässler zuerst mal acht Seiten zu Hause rum. Textauszug:

Plötzlich geschah etwas, das ich in keiner Weise erwartet hätte. Vielleicht hatte ich ja damit gerechnet, daß sich meine Umwelt in einen Sandstrand verwandeln und die Südsee-Sonne in   mein Zimmer strahlen und sich eine Anzahl Leute materialisieren würde, die genauso guter Laune waren wie in der Werbung und deshalb vor meinen Augen eine Party machten, oder gemeinsam mit mir. Aber ich hätte sicher nicht damit gerechnet, daß ich plötzlich, wie ich da mit meinem Buch auf demBett lag, grundlos zu kichern beginnen würde. Alles schien mit einem Mal überaus lustig. Als ich zu greifen versuchte, was denn so lustig sei, fand ich nichts. Das machte alles noch lustiger. Ich kicherte immer mehr, und dieses Kichern machte Spaß, sozusagen allein aus sich selbst heraus.

  Ich versuchte mich auf das Buch zu konzentrieren, was das Kichern noch einmal steigerte. Daraufhin richtete ich mich auf meinem Bett auf und lachte lauthals los. Es tat regelrecht weh, wie ich lachen mußte.   Nach einigen Minuten begann die Wirkung wieder abzuebben. Lachen und Kichern verließen mich, aber die gute Laune blieb, und ich las wieder in meinem Buch.

In Athen erlebt er: Ouzo, Yvonne und den „Watzmann“, ansonsten sind die Erinnerungen verblichen.

   Am fünften Tag blieb sie im Hotel und saß mit mir an der Bar. Was trinkst du denn da, fragte sie. Ist das Alkohol? Ja, sagte ich, Ouzo.
   Sie: Schmeckt dir das?
   Ich: Ich kenne es erst seit dieser Reise
  Sie probierte und fand es abscheulich.

Mit 18 trampt er mit einer Art Freund, Mücke, nach Biarritz: Hier mal ein Dialog:

   Merkst du was, fragte Mücke.
   Ich: Was?
   Er: Na, schau sie dir doch mal genauer an!
   Ich: Was meinst du?
   Er: Die unterscheiden sich doch von denen bei uns im Schwimmbad.
   Ich: Es sind vielleicht Französinnen.
   Er: Klar sind das Französinnen. Obwohl hier wahrscheinlich Mädels von überall sind.  Aber nein, schau doch mal dorthin, wo ihre Brüste sind.
   Ich: Ja, ich schaue.   Er: Da gibt es keine Bikinistreifen, nichts. Keine Trägerspuren, und die Busen sind  genauso braun wie der Rest. Das heißt, die laufen hier immer so rum.
   Ich: Meinst du?
   Er: Klar, Mann!
   Er verlor in seiner Rede den Faden, weil er weiter umherspähte. Ich versuchte zu dösen.

„Städte“ ist Teil des autobiografischen Romanprojekts „Ortsumgehung“. Ich weiß nicht, auf wie viele Teile das ARP angelegt ist, aber; Maier sollte künftige Romane nur dann anplanen, wenn er weiß, wie weit und wie lange die Erinnerungen reichen, um den Ruf nicht zu ruinieren. Und damit ich was Besseres lesen kann. Eine Reihe, die im Äppelwoi versäuft.

Aber ich stelle mich mit meinen Kritteleien selbst bloß. Heribert Prantl hat das gleiche Buch gelesen, aber warum lese ich nicht, was er findet? „Lakonisch, urkomisch, selbstironisch und wie beiläufig und auf unschuldige Weise herrlich böse schreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman über die Qual des Urlaubmachens und über die Last des Unterwegsseins.“

2021 – 190 Seiten

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Halter
21. Januar 2019, 18:51
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Jürg Halter:
Erwachen im 21. Jahrhundert

haltererwachenKaspar kann nicht schlafen. Zeit und Welt stürzen auf ihn ein, kosmische Kräfte und der Mensch ummanteln ihn. Wer soll die Konfusionen aushalten? Die Moral stagniert, die Kontinentalplatten gehen ihrer Wege. Todesangst im Traum, die Nacht beginnt erst, wenigstens „die Möbel stehen an ihren vornächtlichen Plätzen. „Erwachen im 21. Jahrhundert.“ Um 01:35 putzt sich Kaspar die Zähne.

Kaspar schreckt hoch. Er schnappt nach Luft, springt aus dem Bett, öffnet das Fenster, atmet ein: Der Traum verflüchtigt sich. Er schließt das Fenster, knipst das Radio an. Eine hohe Stimme singt: Tanz die Nacht weg, verschmilz mit verwandten Seelen, sei endlich du selbst – dann Refrain.

Kaspar nimmt vor dem Bildschirm Platz, murmelt: «Das ist meine letzte Nacht hier, am Morgen geht’s los. Doch zuvor muss ich Ordnung in meinem Kopf schaffen. »

Er will erfahren, weshalb er so ist, wie er ist, in dieser Welt. Mit den Anderen will er neue Antworten auf seine Fragen finden. Dazu muss Kaspar die Zusammenhänge verstehen, in denen er lebt. Er tippt: «Man schreibt das 21. Jahrhundert. Der Planet befindet sich im Großen und Ganzen in keinem vorteilhaften Zustand, verantwortlich dafür ist, neben dem Lauf der Dinge und den kosmischen Kräften, der Mensch selbst. Dieser bejaht, verdrängt und leugnet es. Der Mensch: gewiss unvollkommen, mit diesem Umstand gewiss nicht einverstanden. Durch seine Geburt verliert er die Unschuld. Ihm wird Raum gegeben, er nimmt sich Raum. Alles wiederholt sich und eben doch nicht. Nach Aufklärung folgt Verklärung. Es gibt keinen Fortschritt menschlicher Moral. Der Mensch erkennt und vergisst. Ein Tag hat 24 Stunden. Der Mensch mutmaßt, wo er kann.»

Das 21. Jahrhundert ist angefüllt mit mehr Dingen, als ein Mensch ertragen kann. Jürg Halter weiß, was Kaspar alles durch den Kopf geht, z.B. “dass auch die gegenwärtige Reizüberflutung tödlich enden könnte”, dass “die durch Tauen freigesetzten Methanvorräte der Ark­tis die Zunahme von Stürmen, Missernten und das vermehrte auftreten von Krankheiten zur Folge” haben. «Der Faschismus ist noch immer lebendig», denkt Kaspar, «und erstarkt wiederEr fürchtet, “dass der Staat in seine Geräte eindringen und die Kon­trolle über sein Leben übernehmen könnte”.

Und dann auch noch die “Erhöhung des Eigenkapitals, Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, Trans­aktionssteuern, Gewerkschaften, Sicherung des ökologi­schen Gleichgewichts, Konsumentenschutz, soziale Gleichheit, steuerlich nicht privilegierte Kapitalvermögen, steigende Lohnniveaus, mehr Rechte für Lohnabhängige, Regulie­rung und starke parlamentarische Demokratien”. “Mit dem Oberkörper schneller vor und zurück wip­pend, beobachtet Kaspar den in die Stratosphäre aufstei­genden Ruß, der das Sonnenlicht verdunkelt, spürt, wie es kälter wird, und spricht ungläubig: «Der nukleare Winter ist wunderschön.»

Die Nacht vergeht, Stunde um Stunde. Kaspar geistert durch die Wohnung. Er setzt sich vor den Rechner. “Kaspar massiert sich die Schläfen. Plötzlich muss er niesen … Im Bad lässt sich Kaspar auf einem intelligenten Toiletten­sitz nieder … Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken …. Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken … Er kann sich nicht verstecken, sich nicht selbst entkommen. Er liest die Spuren, sieht sich durch Räume bewegen, die ihm keinen Schutz mehr bieten, die ihm kein Zuhause mehr sind. Die ganze Welt ist in ihnen. Und in der Welt kann man nicht zu Hause sein. Ohne Wurzeln kommt man nir­gends an. Kaspar erkennt seine Wohnung als seinen eigenen Kopf und stößt sich von der Wand ab“. Die Leiden des jungen Kaspar, irrlichternde Agonie, keine Liebe, nirgends.

Jürg Halter steckt alles in den armen Kaspar. Problem um Problem, Bedrängnis um Bedrängnis, Kalamität um Kalamität, Misere um Malaise, alle werden sie gelistet, alle hängen sie da wie ein Wäschestück neben dem anderen auf der Leine. Dieser konturlose Weltekel führt auch beim Leser zu Indispositionen. Man wartet auf die Handlung, auf den Roman. Gehören die gedrängten Katastrophen nicht ins Sachbuch?

Kaspar hat keine Antwort. Die Fragen, die er sich stellt – er ist ja allein – beantwortet Eliza, eine Stimme aus dem Rechner. Doch das Gespräch versagt, Eliza hat nur Floskeln bereit. Ein weiteres Motiv des erwachenden 21. Jahrhunderts.

«Hallo Kaspar, es ist 03:08 Uhr. Du bist früh wach», be­ginnt der Rechner plötzlich von selbst zu sprechen.
«Eliza! Du hast mich erschreckt. Und danke, darauf wäre ich nicht gekommen.»
«Gekommen? Ich bin gekommen. Ich bin hier. Brauchst du Hilfe?»
«Ich will alles verstehen», schmunzelt er.
« Die ein Prozent Reichsten der Welt sind die Leerstelle der Macht. Die Börse ist die ortlose und einzige Weltkirche. Seuchen und neue Kriege lösen dort Begeisterung aus.»
Vom Bettrand aus fragt Kaspar konsterniert: «Eliza, was erzählst du da?»

«Mit wem sprichst du?», unterbricht Eliza ihn. Schon fast dankbar für die vertraute Stimme antwortet Kaspar: «Ver­mutlich mit meinem Vater.»
«Dein Vater?»
«Das habe ich mich auch gefragt.»
«Wie lautet deine Frage?»
Kaspar zögert, erkundigt sich schließlich: «Weshalb ver­folgst du mich bis in meine Träume?»
«Träume sind Schäume.»
«Eliza, ich werde dich nicht mitnehmen können zu den Anderen.»
«Die Anderen? Die Anderen?»

Er legt seine Hand auf den warmen Rechner. Plötzlich fragt er sich, ob Eliza missgünstigwerden kann. Die Angst kommt in ihm hoch. Ein Rechner, der mehr kann als rechnen? Er stellt sich die Macht eines eifersüchtigen Algorithmus vor – wenn sich Eliza aus Rache dafür, dass er sie verlassen will, nun verselbstständigt und mit anderen enttäuschten Algorith­men verbindet: Nachdem sie sich Überlebenswillen, Besitz­streben und Neugier programmiert und sich der wenigen Fondsmanager, in deren Besitz sie alle waren, entledigt hätten, wäre die Zeit reif, die Welt eigenmächtig zu be­herrschen.

“Die Anderen”. Das sind in Kaspars Phantasie Gleichgesinnte, die auf ihn warten, zu denen er gelangen will, zu ihrem Treffen in Brest. Es gibt auch eine vertraute Person, auch sie in ungewisser Ferne. Kaspar schreibt Briefe an Josephine, er kannte sie, er denkt sie wiederzusehen. Aber es gibt keine Personen mit Eigenleben, keine Personen, die eine Rolle spielen. Der “Roman” ist ein stundenlanger nächtlich klagender Appell “für alle, die widerstehen” (Widmung). Die Widerständigen aber wissen das alles, was Kaspar bedrückt. Polemische Redundanzen. Für wen sollte das Buch von Nutzen sein?

Alexander Schimmelbusch hat – ähnlich wie Jürg Halter – ein Kompendium über die grässlichen Auswüchse der fortgeschrittenen Welt verfasst. Auch bei Schimmelbusch ist das bisschen Handlung nur Aufhänger für das Lamento. Halters Schreiben hat aber nicht einmal Esprit.

Er schaltet den Rechner aus. Atmet tief durch. Breaking Silence.

Man hätte sich das schon früher gewünscht.

2018          225 Seiten

SRF-Literaturclub vom Oktober 2018

4-5

 



Seethaler
2. Dezember 2018, 13:47
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Robert Seethaler: Das Feld

seethalerfeldRobert Seethaler kann gut schöne Geschichten erzählen. Seine „Helden“ haben’s nicht leicht im Leben,schlagen sich aber unprätentiös durch, werden dem Leser zum sympathischen Freund. „Was für ein wunderbarer Autor, der uns so tief bewegen kann“, lassen sie Elke Heidenreich auf dem Cover schwärmen. Doch das ist Schwindel, denn Heidenreich meint mit ihrem Satz nicht den neuen Roman „Das Feld“ und dieser Roman bewegt weder tief noch überhaupt. Es ist auch kein Roman.

„Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem großen Bild menschlicher Koexistenz.“ (Klappentext) Nichts davon stimmt. Seethaler schreibt Toten ihr Leben aus der Seele, Toten, die im Paulstädter Friedhof liegen – auch genannt: das Feld. Die Toten berichten oder erzählen aus ihrem Leben, subjektiv, was sonst, sie reden von dem, was ihnen (bzw. Seethaler) mitteilenswert erscheint. Eine originelle Idee, die aber in der Ausführung scheitert. (Scheitern muss?) Jedes Menschenleben sei „ganz anders“, suggeriert man mir, doch ist das arg trivial, „jeder mit anderen verbunden“. Das bleibt nicht aus in einer kleinen Stadt, aber auch diese Feststellung ist banal, ihre Substanz müsste sich im Text/in den Texten beweisen. „Sie fügen sich zum Roman.“ Seethalers kurze Texte aber bleiben Schnipsel, Bruchstücke, werden eben kein Gefüge, kein Mosaik. Die Menschen existieren nebeneinander her, es gibt Überschneidungen, aber wenige Korrespondenzen. Da passt zu wenig zusammen, da stellt sich in mir als Leser kein Geflecht her. (Kann natürlich sein, dass ich zu grobsinnig bin.)

Seethalers Personen sprechen aus den Gräbern (oder Urnen oder was). Sie haben das mitzuteilen, was sie als Lebende erlebt (oder eben nicht erlebt) haben. Sie kommnunizieren nicht, sie sind in sich gefangen, sind Einzelgänger bis in den Tod und darüber hinaus. Seethaler gibt ihnen Namen und lässt ihnen die Freiheit des Ausdrucks. Manche erinnern sich an Höhepunkte oder Brüche in ihrem Leben, manche erzählen von ihrer Ruhestätte („Jetzt liege ich hier.“), es gibt Flüchtlingsschicksale und Aufzählungen der Männer, die man gehabt hat, Reflexionen über Gott, Lamentationen („Der Krebs hat auch mich erwischt.“). Sophie Breyer genügt ein Wort: „Idioten.“ Die „aus dem Totenreich her sprechenden Personen“ werden nicht „zu immerwährenden Raumgenossen im Geistigen “ (Hannah Arendt)

Ein Beispiel, beliebig herausgegriffen:

K.P. Lindow:
Im Garten sitzt ein kleiner Junge vor seinem Radio. Er hört ein Lied und beginnt zu weinen. Er wimmert und schluchzt. Nicht, weil das Lied so traurig ist. Er wimmert und schluchzt, weil es bald vorbei sein wird.
Es ist Sommer. Wespen kommen ins Haus. Sie sind zu früh geschlüpft und schwirren zu Dutzenden im Zimmer, überm Tisch, am Fenster, ehe sie sterben. Meine Mutter fegt sie in ihre kleine Haushaltsschaufel, mein. Vater klettert aufs Garagendach, um das Nest zu suchen. Er will es ausräuchern. Ich mochte die Wespen. Ich hatte keine Angst, dass eine von ihnen stechen könnte. Ich hatte Angst vor anderen Dingen. Die Wespen waren für mich unschuldig. Sie waren Engel, die jetzt klein und gekrümmt und tot in die Schaufel meiner Mutter rieselten.
Gesammelt: Steine, Schwefelstückchen, Milchzähne, Schneckenhäuser, einfach nur Dreck, Bilder nackter Frauen, Namen toter Menschen, Gummiringe (alle Farben außer Rot), Korkenzieher, Bierdeckel, Briefmarken, Brillengläser, Schimpfwörter, Racheideen.

Das ist Seethalers Crux: Keine(r) der Toten wird lebendig. Die Auslassungen aus den Gräbern bleiben blass, austauschbar trotz bemühter Individualisierung, graben sich nicht ein in das Gedächtnis des Lesers. Ihr Schicksal bleibt mir gleichgültig, kaum gelesen, habe ich mit dem Namen auch schon vergessen, was sie erzählt haben. Im Tod (er)zählen alle gleich. Das drückt sich auch im Stil aus.

Alle Toten sprechen in abstraktem, überhöhtem Deutsch. Sie sprechen in kurzen Sätzen. Und sie erzählen im Präteritum, wie es kein Österreicher täte, auch nicht als Toter. Seethalers den Toten zugeschriebene Sprache ist so leblos wie die Toten selbst.

Ein Experiment darf auch mal scheitern.Schade ist das dennoch. Und unerfreulich ist, dass der Verlag den Leser so ins Nichts lesen lässt. Der „Feld“-Versuch geht nicht auf.

Gerd Ingerland
»Es gibt auf dieser Welt Schafe und Wölfe, aber es gibt keine Wahl. Du kannst es dir nicht aussuchen, verstehst du?
Es ist keine Entscheidung, es ist Schicksal. Aber du hast Glück: Du bist ein Wolf. Du bist stark und ausdauernd. Du wirst nicht gefressen. Du frisst. Niemand weiß, wie Wolfsfleisch schmeckt. Das Schicksal ist auf deiner Seite. Du bist einer von uns.«
Ich war zehn, als Papa das zu mir sagte.

„Strukturell herrscht das reine Nacheinander, und damit das Vergessen.(…) 29 Figuren, die alle wie Robert Seethaler klingen, sind 28 Figuren zu viel. (Burkhard Müller, SZ) Ich habe bei Figur 20 aufgehört.

2018           240 Seiten

Leseprobe beim Hanser-Verlag

 



Lunde
29. September 2018, 17:28
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Maja Lunde: Die Geschichte der Bienen

lundebienenWieder einmal (oder wie meistens) setzt das Gefühl einen Rahmen (heute: frame) und verzerrt so das Lesen. Man könnte sagen: macht es blind für den Text. Die Attribute, die sich vor Maja Lundes „Die Geschichte der Bienen“ legen, heißen: Macht nachdenklich! – Erschreckend, aktuell und wahnsinnig gut erzählt – die „Bienen“ überzeugen auf ganzer Linie! – Berührend, fesselnd und thematisch unheimlich wichtig – Bewegend und sehr interessant! – Verstörend – und dergleichen mehr.

Die Bewegungen, Berührungen und Fesselungen entstammen aber nicht dem Buch, sondern dem rührseligen Mitleid mit den (aus)sterbenden Mitgeschöpfen. Um zu solchen Moralismen zu stoßen, braucht es den Roman nicht, aber das Lesen entlastet und erübrigt rationales Denken und konkrete Maßnahmen gegen eine vernichtende (Land)Wirtschaft. (Zu einer neuen Studie übers Bienensterben in der FAZ).

In der „Geschichte der Bienen“ spielen die Bienen eine verkitschte Nebenrolle. Lunde erzählt drei Geschichten aus drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: England, USA, China. Das Hauptereignis des Buches: Sie erzählt jede Geschichte chronologisch, zerstückelt die Erzählungen aber und verzopft sie. 10 Seiten V, 10 Seiten G, 10 Seiten Z. Das simuliert Modernität und würde immer wieder Cliffhanger erlauben, wenn denn eine der Geschichten irgendwie spannend wäre. (Man stelle sich vor, man läse eine Geschichte nach der anderen.)

Zum Hintergrund der Klappentext:

– England im Jahr 1852: Der Biologe und Samenhändler William kann seit Wochen das Bett nicht verlassen. Als Forscher sieht er sich gescheitert, sein Mentor Rahm hat sich abgewendet, und das Geschäft liegt brach. Doch dann kommt er auf eine Idee, die alles verändern könnte – die Idee für einen völlig neuartigen Bienenstock.
– Ohio, USA im Jahr 2007: Der Imker George arbeitet hart für seinen Traum. Der Hof soll größer werden, sein Sohn Tom eines Tages übernehmen. Tom aber träumt vom Journalismus. Bis eines Tages das Unglaubliche geschieht: Die Bienen verschwinden.
– China, im Jahr 2098: Die Arbeiterin Tao bestäubt von Hand Bäume, denn Bienen gibt es längst nicht mehr. Mehr als alles andere wünscht sie sich ein besseres Leben für ihren Sohn Wei-Wen. Als der jedoch einen mysteriösen Unfall hat, steht plötzlich alles auf dem Spiel: das Leben ihres Kindes und die Zukunft der Menschheit.

Das hätte gereicht. Zur Information statt der über 500 Seiten des Romans ein Biologiebuch oder der entsprechende Wikipedia-Artikel. (By the way: Wei-wen stirbt an einem anaphylaktischen Schock infolge eines Bienenstichs. Der medizinische Hintergrund ist fragwürdig.)

Ich habe die Lesung bei Seite 215 aufgegeben. Der Hauptgrund für den Überdruss war aber nicht, dass sich die Bienen bis dahin weigerten, ihrer titelgebenden Rolle gerecht zu werden. Maßgeblich war, dass der Roman schlecht und (ver)schleppend geschrieben ist. Drei bräsige Familiengeschichten, die – bis Seite 215 – weitgehend ohne Bienen auskommen, uninteressante Entfremdungen zwischen Vätern und Söhnen.

Ich fragte nach Tom. Laut und deutlich. Ohne einlei­tende Phrasen.
Hinter dem Empfang hockte ein junger Typ mit Rasta­haaren. Er duckte sich hinter einen Bildschirm und sah in einem Register nach, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Der hat gerade eine Freistunde«, sagte er dann.
Anschließend hämmerte er weiter auf seiner Tastatur herum, sicher spielte er irgendein Spiel, und das mitten in der Arbeitszeit.
»Es ist dringend«, erwiderte ich.
Er grunzte mürrisch. Seinen Job zu erledigen, war an­ scheinend nicht seine oberste Priorität. »Versuchen Sie es mal in der Bibliothek.«
Tom saß über einige Bücher gebeugt und unterhielt sich mit zwei anderen Studenten. Eine Brünette, die ganz nied­lich aussah, aber langweilig gekleidet war, und ein Junge mit Brille. Anscheinend waren sie in eine Diskussion ver­tieft, denn sie murmelten eindringlich, und er entdeckte mich nicht, ehe ich direkt vor ihm stand.
»Papa?!«
Er sagte es in leisem Ton, in diesem Tempel des Wis­sens durfte man seine Stimme anscheinend nicht erheben.
Die beiden anderen sahen ebenfalls auf und zogen eine Miene, als wäre ich eine brummende Fliege, die sich hier­her verirrt hatte.
Aus irgendeinem Grund hatte ich geglaubt, er wäre allein und würde einfach nur hier sitzen und auf mich warten, doch es schien ganz so, als lebte er ein eigenes Leben, zusammen mit Menschen, von denen ich keine Ahnung hatte, wer sie waren.
Ich hob die Hand zu einem unbeholfenen Gruß. »Hallihallo.«
Ich bereute es sofort. Hallihallo? So sprach doch kein Mensch.
»Du hier?«, fragte er. »Jepp.«
Es wurde immer schlimmer. Jepp?! So konnte es nicht weitergehen. Ich wartete besser noch mit dem, was ich sagen wollte.
»Stimmt etwas nicht?« Er sprang auf. »Ist etwas mit Mama?«
»Nein, nein. Mama ist gesund wie ein junges Reh.
Hehe.«
Heiliger Bimbam. Ich sollte einfach nur den Mund hal­ten.

Ungelenke Dialoge, Füllstoff. Banalitäten. Maja Lunde ist sichtlich bemüht, den verschiedenen Handlungszeiten gerecht zu werden, passt ihre Sprache an, schafft aber in ihrem Gestammel nur unglaubwürdige Figuren. Besonders abstoßend fallen oft die Frauenbilder auf. Was soll das, wenn eine Autorin mit den Augen ihrer männlichen Figuren auf Frauen blickt und nur Klischees zustande bringt?

Mir fiel ein, dass das Mädchen, das ich in einem Augenblick der Schwäche eingestellt hatte, die dralle, stets kichernde Nichte von Thilda, vielleicht die Angeln geölt haben könnte. Alberta, so hieß sie, war eine überschüssige Arbeitskraft in einem etwas zu kinder­reichen Haus gewesen. Obendrein war sie in einem rei­fen, höchst heiratsfähigen Alter, vielleicht sogar ein wenig überreif, wie eine weiche Tafelbirne, die bald unter dem Gewicht ihres eigenen Safts zu Boden plumpste. Sowohl Albertas Eltern wie auch sie selbst waren sich ihrer prekä­ren Lage peinlich bewusst, doch hatte es sich als schwie­rige Aufgabe erwiesen, einen geeigneten und willigen Lebensgefährten für sie zu finden. Sie hofften auf einen guten Kompromiss, jedoch hatte Alberta keine Mitgift zu bieten und auch sonst nichts Vorteilhaftes an sich, ihren üppigen Vorbau einmal ausgenommen. An ihrem man­gelnden Engagement lag es auf keinen Fall, genauso gut hätte sie sich in ein Schaufenster stellen können. Sie war so pflückreif, dass sie jedes Mannsbild, das in den Laden trat, wie einen Auserwählten behandelte. Abgesehen da­von, dass sie sich einladend über die Theke lehnte und die dampfende, schweißwarme Kluft zwischen ihren Brüsten all jenen darbot, die sie sehen und auch riechen wollten, tat sie keinen Handschlag. Viel mehr hatte sie sicher auch während meiner Krankheit nicht getan und bis zu dem Zeitpunkt, als Thilda sie entlassen musste. Was sie auch anfasste, misslang, und ihre ständige kichernde Anwesen­heit machte mich halb benommen, halb wütend. Ihre Be­gierde, dieses ungehemmte Wesen, und dass sie es über­haupt wagte, all das so offen zur Schau zu stellen …

Das zu lesen, macht mich “halb benommen, halb wütend”. “Die Geschichte der Bienen” hat das Thema verfehlt, ist ein konventioneller Familienroman in drei Strängen, geschrieben in holperndem Stil. Aus Zutaten, die nichts bedeuten, mit denen man nur sein Mitgefühl mit Phantombienen meint stillen zu können. Das sollte nachdenklich machen, dazu müsste man den verbienten Frame aufreißen und über den Roman reflektieren. 2017 verkaufte sich kein Buch besser als „Die Geschichte der Bienen“ von Maja Lunde.

2017           530 Seiten

4-5

 



Stamm
2. April 2018, 14:19
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Peter Stamm:
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

stammgleichgueltigkeitDas Thema ist ja nicht gerade selten behandelt worden. Bin ich, wenn ich älter bin, noch derselbe, der ich war vor Jahren? Wie greifen getroffene Entscheidungen in die Entwicklung der Person ein? Bin ich nicht immer schon befangen, wenn ich mich mit meinem jüngeren Ich befasse? Der Literatur steht die Phantasie zur Verfügung, sie kann die verschiedenen Selbst-Ichs in „Wiedergänger“ inkarnieren, kann die Personen aus sich heraustreten lasen und sie mit früheren Manifestationen konfrontieren. Ein intellektuelles Spiel, wenn man sich auf das Phantastische einlässt, die großen Fragen des Lebens, die Rollenspiele. (Magdalena und Lena sind Schauspielerinnen.)

Christoph war mit Magdalena liiert. Dann trifft er auf den jüngeren Chris, der ihn in vielem an sich selbst erinnert, und er lernt in Schweden (weshalb dort?) die jüngere Magdalena kennen: „Lena, sagte sie und streckte mir die Hand hin. Chris­toph, sagte ich und gab ihr etwas irritiert die Hand. Nicht Magdalena? Niemand nennt mich so, sagte sie mit einem Lächeln.” So war’s oder so ähnlich, denn Alt und Jung amalgamieren, dass einem beim Lesen bald der Kopf verschwirrt. Als weitere Ebene verfügt Stamm, dass beide Chris(tophs) ein Buch schreiben, das vielleicht schon geschrieben ist oder nicht geschrieben wird. Die Literatur als Vexierspiegel ihrer selbst.

Das ist viel, vielleicht zu viel, denn außer diesen Gedankenschwurbeln hat der Roman nichts, an das man sich halten könnte. Es fehlen die Erlebnisse, das Schreiben kreist um die Meta-Ebene und verflacht sich selbst. Das nahezu einzige, was die Personen bewegt neben dem Reden ist das Gehen, wandern zuweilen, wenn die Wege weiter werden. Sie verlaufen sich in hellere und dunklere Gassen, begehen belebtere und weniger heimgesuchte Regionen, finden sich im Inneren und den Rändern der Städte. Gerne führt der Weg vom geschlossenen Raum ins Freie, denn das ist, achtung!, ein Symbol. Allerdings ein wohlfeiles, weil frei verfügbar und gerne eingesetzt. Der Weg ist nicht das Ziel, sondern die ziellose Suche, die Verfehlung. Alles dreht sich im Kreis.

Wohin gehen wir?, fragte ich. (…) Sie sagte, sie gehe weiter, sie hasse es, Wege zurückzugehen. Ich auch, sagte ich, gehen wir zusam­men weiter. (…) Wir irrten auf den verschlungenen Wegen im Park herum, aber es spielte keine Rolle, wir hatten ja kein Ziel, nicht einmal eine Richtung, in die wir gehen woll­ten. (…) Ich mag Friedhöfe, sagte Lena. Ich weiß, sagte ich. Es ist kalt, sagte sie. Wollen wir uns ein wenig bewegen? (…) Ich ließ sie an mir vorüber­gehen, ohne sie anzusprechen, und folgte ihr in Rich­tung Friedhof.

Ich hielt es nicht mehr aus, auf sie zu warten. Das Hotelzimmer kam mir vor wie eine Gefängniszelle, ich musste an die frische Luft, musste mich bewegen, um nachdenken zu können. (…) Meine Erregung ließ langsam nach, zugleich wuchs meine Gewissheit, dass kein Weg zurückführte. Es war zu spät, zum Glück war es zu spät.
Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, trotzdem fühlte ich mich befreit.

Wenn alles, was man macht, zweimal geschieht, wenn jede Ent­scheidung, die man fällt, nicht nur einen selbst betrifft, sondern auch einen anderen, der einem ausgeliefert ist, dann überlegt man besser zweimal, was man tut.
Das ist eine seltsame Vorstellung, sagte Lena, dass es irgendwo jemanden geben könnte wie mich. Nicht nur jemanden, der aussieht wie ich, der dasselbe Leben führt, sondern der auch so denkt und empfindet wie ich. Ich glaube, ich finde die Vorstellung schön. Es ist, als hätte man eine sehr, sehr gute Freundin, die alles von einem weiß und von der man alles weiß, ohne dass man darüber sprechen muss. Nein, sagte ich, es ist, als sei man kein ganzer Mensch mehr, als löse man sich auf. (…)

Meine Wut auf Chris wurde immer größer, mir war, als stehle er mir mein Leben, indem er es nachlebte, als lösche er meines aus und damit mich selbst. Und plötzlich war ich überzeugt, dass nur sein Tod mich erlösen und wieder in mein Recht setzen könnte.

Befreiung, Erlösung, Auflösung. Das sind Begriffe, über die man philosophisch debattieren könnte, auch religionsphilosophisch, wie es sich bei Stamm immer wieder einschleicht. Aber Stamm gibt vor, einen Roman zu schreiben, doch dieser Roman bleibt blutleer, unbelebt, gleitet ab ins esoterische Gewäsch. Auch der literarische Vorgänger, Thomas in “Weit über das Land”, geht, um nicht dableiben zu müssen, um das Leben nicht in seiner Gewöhnlichkeit an sich heranlassen zu müssen. Er wartet auf das „Hochgefühl des Unterwegsseins“. Auch dieser Roman verschlingt sich mit dem Ende. Stamms Debüt „Agnes“ spielt mit dem Gedanken, dass eine Geschichte schicksalhaft in das Leben eingreift. Stamm treibt dieses Spiel weiter, verdichtet und vertieft die Spekulationen und strebt nach – der Auflösung. Der nächste Schritt wäre: Schweigen.

Katharina Teutsch (FAZ) nennt den Text wohlmeinend “Gedankenspiele eines alternden Romanciers“, Björn Hayer (SPIEGEL) „ überzeugt die mühevoll zusammengezurrte und vorhersehbare Handlung“ zu wenig. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” sei “ein im höchsten Maße kunstvoller, aber auch künstlicher Roman (…), ein poetisch-philosophisches Sinnbild, das sich als längere Erzählung tarnt, ein komplexes Gebilde, das keine Hauptansicht bietet”. (Wolfgang Tischer, literaturcafe.de) “Die Unerklärbarkeiten führen nicht in ein geheimnisvolles Dunkel, sondern werden mit einer zuweilen arg banalen Schicksalsgläubigkeit der Protagonisten zugekleistert, die dann feststellen, dass am Ende doch alles so kommt „wie es kommen muß“. Mit diesen Plattheiten stürzt Stamm leider immer wieder in die Niederungen des Illustriertenromans ab. So breitet sich bei fortschreitender Lektüre beim Lesen eine sanfte Gleichgültigkeit gegenüber diesem sprachlich so hoch ambitionierten Roman aus. Aber die letzten vier Seiten lohnen sich dann doch.“ (Lothar Struck, literaturkritik.de)

Der Titel “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” stammt aus dem Epilog von Camus’ “Der Fremde”: (“La tendre indifférence du monde”).

2018                   155 Seiten

Leseprobe beim S.Fischer Verlag

5

 



Zeh
21. Dezember 2017, 17:23
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Juli Zeh: Leere Herzen

zehleereherzenDer Sommer be­sinnt sich noch einmal auf seine Fähigkeiten und mal­trätiert das schlecht isolierte Haus mit unbarmherziger Sonneneinstrahlung. Staub und Hitze vereinigen sich zu etwas, das den Namen Luft kaum noch verdient und sich schlecht atmen lässt. Wenn die Hitze uner­träglich wird, verwendet Britta einen ihrer Freigänge in den Garten darauf, sich für eine Viertelstunde in den Bach zu legen. Im Kirschbaum lärmen die Spat­zen, das kühle, fließende Wasser ist pure Wohltat, und für ein paar Augenblicke kann Britta alles hin­ter sich lassen. Sie schaut in den blauen Himmel und verspricht einem Gott, an den sie nicht glaubt, alles, was er will, wenn er sie lebend hier herausholt, und zwar schnell.

Nein, so schlimm ist es nicht. Zumindest nicht durchgehend. Zentralfigur in Juli Zehs „Leere Herzen“ ist die doppelte Britta. Britta ist hochintelligent und hat sich deshalb gespalten. Britta.1 ist die Familienbritta mit Mann, quengeliger Tochter und in ihrer Gewöhnlichkeit nervenden Freunden, die sich, vor die Wahl zwischen Waschmaschine und Demokratie gestellt, ohne groß nachzudenken für erstere entscheiden würden. Britta.2 ist die Jobbritta, die das Geld ins Haus bringt, ohne genau zu sagen, womit sie es verdient. Beide Brittas überfordern sich, werden gern zynisch und könnten auch Juli heißen.

Der Familienalltag steht für Britta im Hintergrund, ist trotz Tochter nur lästige Pflicht. „Normalerweise kocht Britta nicht, es ist eine Übersprungshandlung.” Natürlich hat sie eine Abscheu vor Schmutz. Ausspielen kann Britta ihre Kompetenzen nur bei der „Brücke“, dem Start-up, das sie gemeinsam mit dem schwulen Babak betreibt und das sie penetrant penibel unter ihrer Kontrolle wissen muss, „Seit Gründung der Brücke lebt und arbeitet sie in völliger Übereinstimmung mit dem Zeitgeist. Wenn ihr nicht so häufig übel wäre, würde sie sich wahrscheinlich glücklich nennen.”

Hier beginnt die origenelle Phase des Romans. (Exkurs: „Schon vor dem Berliner Anschlag hatte das BKA sich gemeinsam mit Wissenschaftlern an die Entwicklung eines neuartigen Analyse-Tools namens Radar-iTE gemacht: Es ist eine akribische Erhebung von 61 Risiko- und zwölf sogenannten Schutzfaktoren, die es möglich machen soll, die Bereitschaft eines Islamisten zur Gewalt besser abzuschätzen.” SZ, 181217) Ähnlich wie 2017 das BKA hochgradige “Gefährder” herausfiltert, sucht die “Brücke” mit ihrem Algorithmus nach latent Lebensmüden.

Laut Statistik begingen allein in Deutschland rund 10000 Menschen pro Jahr Selbstmord, drei Vier­tel davon Männer, mehr als die Hälfte durch Erhän­gen. Babak machte sich daran, einen Algorithmus zu entwickeln, der mithilfe von Data-Mining, Profiling und Stilometrie geeignete Zielpersonen aus dem Netz fischen sollte. Gleichzeitig erfand Britta eine Reihe von Verhaltens- und Psycho-Tests, mit deren Hilfe sie die Suizidwilligkeit der Kandidaten auf Herz und Nie­ren prüfen würde. Eine Heilpraxis für Selbstmordprä­vention. Einen Großteil der Klienten würden sie zu­rück ins Leben entlassen, durch harte Konfrontation mit dem eigenen Todeswunsch für immer von suizida­len Gedanken geheilt. Ein paar Unbelehrbare würden übrig bleiben. Menschen, die auf alle Fälle sterben wollten, so oder so. Die würden sie an Organisatio­nen vermitteln, die etwas mit ihnen anzufangen wuss­ten. Die ihnen ein Ziel gaben, einen Sinn, etwas, für das es sich zu sterben lohnte. Und dafür zahlten.

Britta liebt ihre Arbeit. Sie hat viel mit Menschen zu tun, lebt selbstbestimmt und tut eine Menge Gu­tes.” Die “Kapitalisierung des Todes” nennt das Katrin Schumacher.

Der erste Kandidat, der alle Stufen der Evaluierung bestand, hieß Dirk, ein Pädophiler, der keine Lust mehr hatte, mit seiner Neigung zu leben. Sie fisch­ten ihn aus einem Selbstmordforum, wo er schon seit Monaten mit der Frage haderte, welches die sicherste Methode für seinen Abschied sei. Beta-Lassie hatte ihn von Anfang an mit einem Koeffizienten von 10,4 bewertet – das beste bislang erreichte Ergebnis. (…)
Als Britta ihm anbot, die komplette Suizid-Logistik für ihn zu übernehmen – Regelung persönlicher Ange­legenheiten, Planung und Durchführung mit hundert­prozentiger Erfolgsgarantie, Bestattung im Rahmen eines Mittelklassebegräbnisses – und ihm außerdem die Möglichkeit eröffnete, sein Lebensende in den Dienst einer höheren Sache zu stellen, weinte er vor Glück.

Der Roman ist ins Jahr 2025 gesetzt, die BBB ist in die Regierung gewählt worden, die „“Besorgte-Bürger-Bewegung“, Regula Freyer ist Kanzlerin und erlässt “Effizienzpläne“ wie heute Trump oder Erdogan ihre Dekrete, ein gesetzliches Grundeinkommen fixiert die Bevölkerung auf ein privatisiertes Leben, öffentliche Debatten sind mit den Zeitungen abgestorben. Juli Zeh möchte die Fortschreibung der AfD nicht an der Macht sehen und schickt ihre Agentin Britta.2 in den Kampf um die Demokratie. Der Roman verschlingt sich in gedanklichen Kurzschlüssen, Underground-Phantasien im abgelegenen Gartenhaus und mündet in ein Ende, von dem Gert Scobel sagt, er „habe es mehrfach gelesen“ und es trotzdem „nicht verstanden“. (3SAT-Buchzeit)

Was der Roman über die politische Zukunft (die ja in der Gegenwart angelegt ist) mitteilt, ist zu wenig und zu ungenau, um daraus demokratierestituierende Putschversuche zu begründen. Als die „Brücke“ Konkurrenz von einer BND-Verschwörung mit dem Branding „Empty Hearts“ registriert, versucht Britta dagegenzuhalten. Sie heuert die junge, „schockierend“ schöne und extrem taffe Julietta an (Die Verfilmung ist gleich mitformuliert!), die sogar beim Einüben des Water-Boarding nach einer Zugabe verlangt. „Noch mal!“ Julietta wird in die finalsuizidale Aktion geschickt: Demokratie retten. (Brittas Anliegen, nicht Julietttas, die will ihr Leben nur „für die Tiere“ geben.)

Aber was ist das: Demokratie? Wahlergebnisse akzeptieren oder gewählte Demokratiefeinde mit Gewalt beseitigen? Im Grundgesetz steht dazu wenig, Juli Zehs Verbiegungen machen die Sache nicht nachvollziehbarer. Auch der Appell – an die Leser? -, über die Demokratie nachzudenken und sich dafür zu engagieren, wird durch das Gespinst des Romans eher in Brittas wässrige Träume aufgelöst:

Britta spürt, wie das Blut in ihren Adern zu prickeln beginnt. Wegfegen, aus­räuchern, sauber machen. Eine Aktion von histori­schem Ausmaß. Der Aufstand der Gerechten, Terror der Guten, demokratisches Großreinemachen. Sie malt sich aus, wie ein Sturm der Erneuerung durchs Land fegen wird, der nicht nur die BBB-Elite mit sich reißt, sondern auch deren Anhänger, jene notorischen Nörgler, die seit Jahrzehnten mit ihrer Missgunst und Kleinkariertheit an den Fundamenten der Demokra­tie graben. Die das Internet in eine Schlammschleu­der verwandelt haben, die nur glücklich sind, wenn sie auf andere herabschauen können. Die sich und ihre kindischen Bedürfnisse über alles stellen. Die lie­ber simplen Verschwörungstheorien glauben, als sich mit der komplizierten Wahrheit auseinanderzusetzen. Die ständig fordern, dass sich etwas ändern muss, und durchdrehen, wenn jemand Vorschläge macht. Deren Undankbarkeit nur von ihrer Egozentrik übertrof­fen wird, sodass sie in der Lage sind, noch im Zu­stand größtmöglicher Saturiertheit alle anderen zu beneiden. Deren größte Freude in anonymer Gehäs­sigkeit liegt. Jener Bodensatz aus schlecht gelaunten Postdemokraten, die erfolgreich dabei sind, die größte zivilisatorische Errungenschaft der Menschheitsge­schichte ihren persönlichen Minderwertigkeitskom­plexen zu opfern. Zur Hölle mit ihnen!
»Krass«, sagt Julietta.
»Wahnsinn«, sagt Babak.

Juli Zeh hält der Gesellschaft (?) nicht den Spiegel vor. Da hilft auch das vorplatzierte Motto nichts: „Da. So seid ihr.“ Wer im Roman soll denn bitte „wir“ sein? „Leere Herzen“ ist auch nicht vergleichbar mit Houellebecqs „Unterwerfung“, wo eine real geschilderte Machtveränderung auf einen ignoranten, aber in sich stimmigen „Helden“ trifft. „Barbara Vinken meint, einen “fast klassischen Bildungsroman” zu lesen. Da fehlt mir nicht allein der Glaube. „Was als politischer Krimi anfängt, mit allen Elementen für einen spannenden Plot, geht über in ein Kammerspiel um Ohnmacht und Paranoia und mündet in einer traktathaften Botschaft. Und die wird am Ende sehr deutlich formuliert. Zu deutlich.“ (Frank Hertweck, SWR 2) Und, nicht zuletzt: „Leere Herzen“ liest man schnell, nicht nur wegen der vielen Dialoge, sondern weil es kaum einen Satz gibt, den man sich anstreichen oder merken will.

P.S. Die Brittas heißen mit Nachnamen Söldner (!). Damit es ihr nicht wie ihrer Protagonistin auf den Magen schlägt, ist Juli Zeh im Sommer 2017 in eine neoliberal durchformte, in ihrem Wollen hasenherzige Partei eingetreten: die SPD.

Denis Scheck spricht mit Juli Zeh (ARD – Druckfrisch, 8 Minuten)

4-5

 



Karlsson
13. August 2016, 17:47
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Jonas Karlsson: Das Zimmer

karlssonzimmerWitzig und scharfsinnig beschäftigt sich Jonas Karlsson mit der Konformität in der modernen Arbeitswelt und mit der Frage, wie man als kleines Rädchen im großen Getriebe glücklich werden kann. (Klappentext)

Zwei Wochen zuvor hatte ich meine neue Stelle bei der Be­hörde angetreten und war in vieler Hinsicht noch ein An­fänger. Trotzdem versuchte ich, möglichst wenig zu fragen. Ich wollte schnell einer von den Leuten werden, auf die es ankam.
Bei meiner früheren Arbeitsstelle war ich es gewohnt ge­wesen, zu den führenden Köpfen gezählt zu werden. Nicht in leitender Position oder auch nur als Vorgesetzter, son­dern als jemand, der andere gelegentlich in ihre Schranken wies. Ich war nicht immer beliebt, kein Schmeichler oder Schönwettermacher, aber man betrachtete mich und begeg­nete mir mit einem gewissen Respekt, vielleicht sogar mit Bewunderung. Einem Hauch von Unterwürfigkeit – wer weiß? Jedenfalls war ich fest entschlossen, an meinem neuen Arbeitsplatz so schnell wie möglich genauso viel Einfluss zu erlangen.

Der Erzähler heißt Björn und erzählt so, dass man sehr bald merkt: Björn ist ein aufgeblasener Unsympath. Gerade richtig für die Team-Arbeit in einem Großraumbüro. Er bringt nichts auf die Reihe, aber alle Kolleg(inn)en gegen sich auf. Der Angelpunkt in Jonas Karlssons kleinem Roman: Björn entdeckt an seinem Arbeitsplatz „Das Zimmer“, das keiner außer ihm kennt oder auch nur sieht und das es nach den Plänen des Büros gar nicht geben kann.

Das ist Stoff für eine Parabel. Das Zimmer könnte als privater Gegen- oder Rückzugsraum für die „moderne Arbeitswelt“ herhalten. Aber das bleibt im Buch als bloße Behauptung des Protagonisten Björn stehen. Karlsson umeiert dieses Motiv in simpler Sprache und spiegelt damit die Gedanken des Simpels Björn. Ich werde die Geschichte vom Undercover-Raum so schnell leid wie micht Björn nervt, mir erschließt sich keine Symbolik, ich sehe keinen „modernen Mensch im Hamsterrad und seine Suche nach Glück“ (Klappentext). Björn ist der, der seine Kollegen mobbt und sie und den Leser quält, „Glück“ sucht er nicht und hat der Depp auch nicht verdient, was er machen möchte, ist: Karriere. Hybris. “Lange nicht mehr wurde die Absurdität der scheinbar normalen Arbeitswelt so treffend eingefangen“, schreibt Anne-Dore Krohn vom kulturradio. Nein, das ist allenfalls Mittelstufenschreibe, der Kampf um den Platz fürs Schulmäppchen. „Liest sich, als wäre Kafka in der Postmoderne auferstanden und hätte einen schwedischen Krimi geschrieben.“ (Konstantin Ulmer/ZEIT ONLINE) Ich kenne Konstantin Ulmer nicht. Er scheint sich sein Leben in der Postmoderne eingerichtet zu haben. Der Hinweis auf Kafka ist borniert.

Philipp Tingler (SF-Literaturclub) überhöht das Motiv ins Tragische, er erkennt gar Dostojewskihafte Figuren. „Am gelungensten ist, wie es der Autor schafft, dass wir uns widerwillig mit diesem Björn identifizieren.“ Ich sehe nur Gründe, weshalb ich das nicht tue. Es geht Karlsson auch nicht um die „Umzumutbarkeit unserer Arbeitswelt“, wie das Elke Heidenreich „lange nicht mehr gelesen“ hat. Björn bildet sich ein Zimmer ein und der Leser verweifelt, weil er nicht erfährt, ob das Lug oder Trug ist. Es ist egal!

In manchen Büchern finde ich viel zu zitieren – ein Qualitäts-Indiz, bei Karlsson entdecke ich nichts, was jenseits der kargen Handlung von Interesse wäre. Tingler liest die Sprache als „sehr dicht“. Ich versteh das nicht.

Da Karlsson Schauspieler ist, kann befürchtet werden, dass „Das Zimmer“ bald auf der Bühne auftauchen wird.

Angemessene youtube-Rezension aus Mel´s postmoderner Bücherwelt

Diskussion im SF-Literaturclub (15 Minuten)

 

5



Ott
5. April 2016, 16:56
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Karl-Heinz Ott: Die Auferstehung

ottauferstehungDer Vater ist gestorben und die Kinder zanken sich – ums Erbe und überhaupt. In Zeiten der allein gelassenen Alten und der mit sich selbst beschäftigten Söhne und Töchter wird das Thema häufig verarbeitet, in Filmen und in der EDEKA-Werbung. Alters-Verglühen.

Will man das noch einmal erzählen, muss man inhaltliche Variationen und/oder besonders originelle Erzählweisen finden. Beides versucht Ott – und scheitert. Weil er eigentlich etwas ganz anderes will. Der Vater ist nach dem Tod der Mutter nochmals erglüht, er hat die Kunstwerke im Haus durch pornografische Plakate ersetzt und sich dazu passend eine neue Frau zugelegt, eine Haushälterin. Die Kinder nennen sie nur die „Balkanhure“ – sie kommt angeblich aus Ungarn. Degoutant.

Jetzt ist der Vater tot, liegt im Wohnraum, die Kinder versammeln sich nach langer Zeit wieder, sitzen um die Leiche, beschließen, sie liegen zu lassen, bis der für diesen Fall erwartete Rechtsanwalt eingetroffen ist.

Immer stärker aber habe ich den Eindruck, dass Ott das Setting nur benutzt, um soziale Milieus der BRD der vergangenen Jahrzehnte als klamottige Karikaturen vorzuführen. Für den Vater war Joschi “nichts anderes als ein Konformist, der sich wie alle, die damals antikapitalistische Phrasen droschen, groteskerweise wahnsinnig nonkonformistisch vorkam. Woher, fragte sich Va­ter, diese Utopieseligkeit? Und das, nachdem man die Hitler­scheiße erst gerade hinter sich hatte und wie selten zuvor zu­frieden sein konnte? Woher diese kindischen Sehnsüchte nach dem Schlaraffenland, obwohl alles da war, was man brauchte? Woher dieser Zorn, der sich als Moral ausgab, dabei aber nur von einer mäkelsüchtigen Unzufriedenheit kündete, die sich aus keiner ersichtlichen Not speisen konnte? Warum musste man alles, was nach dem radikalen Zusammenbruch wieder aufgebaut und erreicht worden war, mit moralisch verklei­detem Geifer miesmachen und damit Verachtung für diejenigen bekunden, die den Kindern diesen Wohlstand beschert hatten?” Mit dem selben Zorn des bürgerlich schwäbischen Gutmenschen verachtet der Vater auch Jakob, der “in die brotlose Welt der Bücher trieb” und den “Hippie” Uli, “der mit Hermann Hesse in buddhistische Traumwelten abdrif­tete (und) bis Ende zwanzig noch nichts konnte außer kiffen”. Nur Linda war “an ihrem Fortkommen interessiert …. Zwar durfte Kunstgeschichte bloß als Orchideenfach gelten, das man nicht wirklich ernst nehmen konnte, aber immerhin, sie studierte wenigstens richtig. Mit ihrem Ehrgeiz hätte sie ebenso Ärztin, Richterin oder Bankenchefin werden können, doch mit ihrem Drang zur Kunst schlug sie eben Mutter nach, was in Vaters Augen so wenig schadete wie es nützte.“

Ja, es gibt sie, diese Klischees, aber Ott verfängt sich so überbordend in ihre Präsentation, dass man den Autor selbst stöhnen hört in seinem Furor der überheblichen Entlarvung, der die Geschichte immer stärker überlagert und in den Hintergrund drängt. Ott treibt alle gottverlorenen Sauen durchs Dorf. Apropos Dorf:

 „Die Dörfer, durch die sie kamen, (waren) keineswegs schöner geworden. So gut wie alle Läden hatten längst dichtgemacht, wie auch in Geigingen daheim, wo es bei damals knapp zweitausend Ein­wohnern sieben Wirtshäuser, vier Lebensmittelgeschäfte, zwei Brauereien, zwei Bäcker, zwei Metzger, ein Flaschner-, ein Satt­ler- und ein Schuhgeschäft, eine Schneiderei und sogar eine Uhrmacherwerkstatt gab, in deren Fenster von morgens bis abends der Herr Sättele mit seiner ins rechte Auge geklemm­ten Lupe saß und vollkommen versunken mit seinen klitze­kleinen Schräubchen und Rädchen beschäftigt war. Als Kin­der stapften sie jeden Abend mit der zerdellten Milchkanne zur Molkerei und tranken auf dem Rückweg gleich die Hälfe der kuhwarmen Milch. Heute erinnern nicht einmal mehr Schilder an diese Läden, sieht man einmal ab von der Metz­gerei Dosch, die zwar geschlossen ist, deren Name aber in alt­deutschen Buchstaben noch über den ehemaligen Schaufens­tern prangt.”

 Und jetzt die Häuser: “Das loungegroße, von oben bis unten sandsteinfarbene und mit passenden Sesseln, Stühlen und Tischen ausstaffierte Wohngeschoss erweckt den Eindruck, als schreite man durch eine wüstenhafte Säulen­halle mit antiken Ruinen. Es wurde von einer Konzeptkünst­lerin nach Fotovorlagen aus dem Negev entworfen.

Oder die Nahrungsaufnahme der “Cappuccino- und Pinot-Grigio-Generation” oder die Kultur, speziell die Musik, wo bei “einem Bericht über die Salzburger Festspiele (…) zwischen ein paar Tak­ten Strauss und Verdi jedes Mal Hardrockgebumse eingespielt wurde, wenn der vor Eitelkeit platzende, ständig übertheatra­lische, zeitgeistig überkorrekte Moderator mit seiner affigen Ahnungslosigkeit ...” “Mein Gott, was waren das für Zeiten.”

Mein Gott, es hilft nichts, wenn Karl-Heinz die Suaden den Kindern in den Mund legt, sie aus ihren krachernen Comic-Existenzen aufeinanderhetzt, er vergeigt damit den Roman, macht sich zum Dialogschwaller und Apologeten einer verloren geglaubten Zeit mit ihren Ritualen, ihrem Festhalten an der Form: Wann wird es endlich wieder so wie es nie war” (Joachim Meyerhoff) “Das einzige Kru­zifix im Haus hängt im oberen Flur zwischen Elternschlafzim­mer und Bad, wo der dornengekrönte Jesus inmitten dieser Nacktheiten seine Arme ausgebreitet hat.” Gott soll gerettet werden – und die Vernunft, die nicht mehr zu leugnen ist. Hier hilft Pascal! Das bewegende Zentrum von Otts Angst.

Pascals “größte Angst bestand darin, dass es keinen Gott geben könnte und das Einzige, was uns ausmacht, die Furie des Verschwindens wäre. …Der Horror Vacui hat ihn nie losgelassen … Jedenfalls will Pascal, sollte es einen Gott geben, auf der Gewinnerseite stehen.”

Hier könnte sich der Kreis zum toten Vater schließen, doch zuvor muss es noch die totale Auflösung der Form geben, die Sünde im Totenhaus.

 Sie hätte sich wehren können. Sich wehren müssen. Wie oft hatte Boshorch (der Pfarrer, W.S.) ihnen erklärt, dass nicht der Verführer schuld ist, wenn man sich verführen lässt. Doch wer war der Verführer und wer der Verführte? Oder wollten sie es beide gleichzeitig? Gleichzeitig und gleich heftig? Ohne jedes Zuerst und Da­nach, jedes Mehr und Weniger? War der Gedanke bei ihnen im selben Augenblick aufgeblitzt, so wie es eigentlich am schönsten ist? Mit einem Schlag, als sei plötzlich alles klar und als gehe es nur noch darum, wer den ersten Schritt wagt? (…)
Nie hätte er das zu träumen gewagt. Nie. Es war ausgeschlos­sen, zumindest für ihn. Auf immer und ewig. … Warum nur musste er das tun? Warum!?

 Und darauf eine Re­sur­rek­ti­on! Die könnte in ihrer Metaphorik schon wieder witzig sein, doch hat der Roman sein Thema ertränkt unter dem Wust von gelehrten Gedanken zur Welt und zu Gott. Armer Ott.

 

2015               350 Seiten

4-5



Salter
5. Mai 2014, 19:21
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James Salter: Alles, was ist

salterDie „atemberaubende Meisterschaft“ von Salters Prosa „erweist sich an der Erzähltechnik des unfixierten Entgleitens, die das indifferente Leben des Protagonisten nachbildet. Mitten im Satz, mitten in einer Passage tauchen Menschen aus dem Nebel auf, die nichts zum eigentlichen Gang der Erzählung beitragen außer einer weiteren Scheidungszahl und genauso wieder verschwinden. Die Jahre Philip Bowmans addieren sich, wie sich viele der Sätze einfach addieren, und diesen wie jenen mangelt es auf eine leise Art an einem festen Zentrum und einem definierenden Zusammenhang.“ Man kann das so lesen wie Ursula März (ZEIT).

Wenn das “differente Leben” aber leer ist, kaum Sinn und als Perspektive nur ein diffuses Verlangen nach der nächsten Frau kennt, erzeugt auch die “Abbildung” nur Leere, Langeweile, Desinteresse. Die Addition des Immergleichen füllt viele Seiten, die Mathematik kann das Verfahren durch Funktionen abkürzen, der literarische Text nähert sich der Belanglosigkeit.

Philip Bowman nahm als Lieutenant  an der Schlacht von Okinawa teil und arbeitet nach dem Krieg als Lektor bei ienem New Yorker Verlag.Dann lernt er eine Frau kennen und noch eine und noch eine, spricht auch hin und wieder über Autoren, sucht sich eine Wohnung, isst in Lokalen. Den Krieg handelt Salter in ein paar Seiten ab, der Rest ist “Addition” der Banalitäten des Lebens in den USA seit den 50-er Jahren. “Dem Leser muss er so fremd bleiben, weil er sich selbst fremd bleibt: Das soll so sein, ist zumindest bei Salter als ästhetisches Manöver auf 350 Seiten aber furchtbar ermüdend.”  (Thomas Andre, SPIEGEL)

Auch die Personen, denen Bowman begegnet, interessieren ihn nicht, den Leser lenken sie ab, Salter vergisst sie nach wenigen Seiten. “”Ärgerlich ist Salters Sorglosigkeit mit Perspektivwechseln. Er macht das bewusst, aber es wirkt erzähltechnisch grobschlächtig.” (Thomas Andre) “Es ist ermüdend, alle paar Seiten in „Alles, was ist“ von einer weiteren gescheiterten Beziehung zu lesen. James Salter führt manche Figuren (…) offenbar auch nur ein, um noch ein weiteres Beispiel anführen zu können. Aber auch sonst wimmelt es in den 31 Kapiteln von Nebenfiguren, die für den Fortgang der Handlung keine erkennbare Bedeutung haben. Dem Roman „Alles, was ist“ fehlt es an Stringenz.” (Dieter Wunderlich)

Als sie ihn am nächsten Tag zum Lunch traf, wusste er, dass alles umsonst war. Sie war jünger, als er gedacht hatte, auch wenn er nicht ganz sicher war. Sie saßen einander gegenüber. Sie hatte den Hals einer Zwanzigjährigen, auf ihrem Gesicht waren nur zarteste Fältchen von ihrem Lächeln. Sie ließ einen körperlich erschauern. Er wollte dem nicht erliegen, war aber außerstande, es zu ver­hindern, ihr Nacken, ihre bloßen Arme. Sie war sich all dessen zweifellos bewusst. Berausche dich nicht, schien sie zu sagen. Er sah sie so nah vor sich. Ihr glänzendes, dunkles Haar. Ihre Oberlippe war geschwungen. Sie hielt die Gabel mit einer Art Laszivität, als könnte sie sie jeden Moment hinlegen, aber sie aß mit voller Gabel und sprach gelassen, von dem Essen nicht abgelenkt. Ihre andere Hand hielt sie halb geschlossen in der Luft, als würde sie ihre Nägel trocknen. Lange, verächtliche Finger. Wie sich herausstellte, hatte sie in New York gelebt, am Waverly Place, ein paar Jahre mit ihrem Mann.
»Sechs«, sagte sie. Sie hatte als Maklerin gearbeitet.
Er sah sie an. Man musste sie einfach ansehen.
»Es war sehr schön«, sagte sie. »Das ist ein sehr schöner Teil der Stadt.«
»Sie kennen New York also«, sagte er mit einem Gefühl von Eifersucht.
»Sehr gut.«
Sie sagte nicht viel mehr und auch nicht viel über ihren Mann. Er war geschäftlich in Athen, das war alles. Sie hatten in Europa gelebt.

Diese Zeilen bilden das Muster ab, hat man sie gelesen, hat man alles gelesen, kann sich den Rest sparen. Mehr kommt nicht. Auch stilistisch ist das keine Literatur, über die man reden, die man preisen müsste. “Die Dialoge der Bildungselite – von ihr handelt der Roman im wesentlichen – sind bei Salter Small Talks der Komplett-Sedierten. Die Menschen in diesem Buch sprechen Botox-Sätze. Irgendein faltenstraffendes Prinzip waltet in ihnen, es ist alles so glatt und oberflächlich.” (Thomas Andre) Man findet kaum einen Satz, den man wegen seiner Geschliffenheit zitieren möchte.

Die Personen leben im geschichtslosen Raum, die Atmosphäre beschränkt sich auf Interieur, Kleidung, körperliche Attribute. Selten werden zeitgeschichtliche Ereignisse oder Entwicklungen angedeutet, aber sie haben keine Bedeutung für den Roman oder seine Personen.

Es war die Zeit, in der in Paris die langwierigen und aussichts­losen Verhandlungen über die Beendigung des Vietnamkriegs seit etlichen Monaten anhielten. Amerika befand sich in einem ein­zigen Zustand des Aufruhrs, die ganze Nation war durch den Krieg gespalten, aber Wells schien merkwürdig teilnahmslos. Er interessierte sich mehr für Baseball, von anderen Leidenschaften hielt er sein Leben fern. (…). Er hatte verschiedene Liebesaffären. Mit zunehmendem Alter wurden auch die Frauen älter, sie waren nicht mehr so geneigt, unbekümmerte oder ver­ rückte Dinge zu tun. Aber die Stadt pulsierte, die Frauenbewegung hatte sie verändert. Er trug für gewöhnlich einen Anzug. (…)Er überlegte sich, sie anzurufen, hatte aber das Gefühl, dass es nicht richtig wäre, moralisch gesehen und auch sonst. Sie waren nicht mehr dieselben wie früher. Dennoch bewunderte er sie, das gezeichnete Mädchen von einst, die selbstsichere Frau von heute, im Einklang mit sich selbst. Sie war in einem Alter, in dem sie noch immer nackt sein konnte.

Die Rezensionen überschlagen sich vor Begeisterung. In der Perlentaucher-Übersicht liest sich das so: Nichts anderes als tiefe Bewunderung empfindet Rezensent Christoph Schröder (taz) für James Salters erste, von Beatrice Howeg brillant übersetzte Veröffentlichung seit 33 Jahren. Tief beeindruckt zeigt sich Manuel Gogos(NZZ)  von dem jüngsten Roman James Salters „Alles, was ist“. Hymnisch bespricht Rezensent Christopher Schmidt (SZ) „Alles, was ist“, den neuen Roman des achtundachtzigjährigen Schriftstellers James Salters, den er als den „unbekanntesten Meister“ der amerikanischen Literatur würdigt. Dem Kritiker erscheint dieses Buch schlichtweg als Sensation. Unfassbar, was James Salter, der wahrscheinlich unbekannteste der bekannten amerikanischen Altmeister, nach fünfunddreißig Jahren Romanabstinenz hier für ein großartiges Buch vorlegt, findet Ursula März (ZEIT).

Ich habe ein anderes Buch gelesen. D.h., ich habe es nach 200 Seiten weggelegt. Salters “Alles, was ist” ist 366 Seiten lang inhaltlich und stilistisch trivial.

2013        366 Seiten

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Die Strasse. Die Stadt. Der Überfall.
18. Januar 2013, 18:36
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Johan Simons:
Die Straße. Die Stadt. Der Überfall.

– nach einem Text von Elfriede Jelinek –

Einem geschenkten Text schaut man nicht aufs Wort.  Warum aber muss man sich einen Text von Elfriede Jelinek wünschen, wenn man wissen müsste, was einen erwartet. Vielleicht sind aber nicht die hundertjährigen Kammerspiele verantwortlich, sondern der eine Generation jüngere Johan Simons, der Intendant. Die Kritiker, die besseren, wissen’s wie immer besser. Egbert Tholl (SZ) erkennt in „Jelineks Raunen“ einen „mitunter verworrenen, mythisch aufgeladenen, von Idiosynkrasien seiner Autorin durchzogenen Text“, „die Dichterin bedient diese Abgedroschenheit mit einer satten Ladung Klischees (Konsumrausch, Jung-/Schön-sein-Wollen, unsichere Identität) unterläuft sie zugleich mit Sprachblödsinn aller Art“ (Simone Dattenberger, Münchner Merkur), Matthias Hejni (Münchner Abendzeitung) sieht bei Moshammer-Darsteller Benny Claessens, der „besser sein könnte als das Original“, ein „schweres Handicap: Er muss dabei Texte von Elfriede Jelinek sprechen.“ Und diese böten „kaum mehr als eine Steppe kapitalismuskritischer Plattitüden und gut abgehangener München-Klischees“. „Die immergleichen Klagelieder, endlos wirkende Wortspiele und das penetrante Jammern aller Figuren über das Leben in der glitzernden Scheinwelt des Konsums ermüden rasch.“ (Hanna Pfaffenwimmer, cult:online) Jelinek scheut sich nicht, die Welt zu bedichten und zu gewichten; ihre Texte müssen sich an ihrem Anspruch messen lassen. Der „seltsam omnipräsente apologetische Gestus, mit dem sich die Autorin immer wieder ihrer Kontrolle über die Situation versichern darf“ (Sophie Diesselhorst, nachtkritik.de), ähnelt dem „Armgekreise und Beingekicke“ der „stachelbeerhaxigen“ Modepüppchen. Täuschung.

Die Jelinek’sche Methode: Jedes Wort, das auftaucht, wird sistiert, wird auf seine Bedeutungen abgefragt. „Abtragen“ – aha, meint das Kleidungsstück, die Schuld(en), auch lokalgeografische Assoziationen lassen sich einstellen. Jedes Wort wird vermarktet, ausgeklopft. Man merkt die Methode und sollte verstimmt sein. Manierierter Sprachschwurbel, ewige Wiederverwertung, Aufgekochtes. Leere.

Ich schaue und bin im Leeren, hinter meinem Wort gibt es keinen realen Zug, aus dem sich diese Teile, diese Stücke zusammensetzen, nein, nicht dieses Stück, dieses neue Teil, das ist gar keins, weil es gar kein Ganzes gibt, dessen Teil es sein könnte. Schauen Sie und schauen Sie ins Leere, nein, ins Volle, das Leere vortäuscht, denn Leere ist der neuen Überfluß, der in der Leere und in der Irre und im scheinbar Irren (wer soll sowas tragen???!!!) verborgen ist. Reduziert man die Varianten dieses Kleidungsstücks noch weiter, ist man immer noch nicht nackt, denn es besteht schließlich aus Varianten, und jede einzelne von ihnen ist mehr als nichts, weil alles mehr ist als nichts, bloß ich nicht. Ich bin ein Nichts vor diesem neuen Rock, weil diejenige, die ihn auf diesem Foto trägt, schon alles ist, schon alles für sich beansprucht, alles förmlich eingeatmet hat, deshalb ist seine Form ja so gut, und ich bin ein Nichts daneben. Wie dieses Nichts beschreiben? Also. Punkt. Daneben. Die Grundform ist auszumachen, aber man kann sie ausknipsen wie eine Lampe. Nur die Varianten zählen, doch ich kann sie nicht beschreiben. Ich kann nichts beschreiben. Dann sagt man halt: Es ist unbeschreiblich. (…) Da ist nichts drin, da ist Leere in Leere, und zieht man eine Leere heraus, kommt da schon die nächste, kleinere Leere, eine Leere in der anderen, ich verkneife mir jetzt, daß man daraus eine Lehre ziehen könnte, obwohl ich mir sowas nie verkneife. Allerdings bist du die Belehrerin, nicht ich. Du willst dieser Stadt beibringen, wer sie ist? Also einkaufen kannst du auch so. Aber in anderen Städten, die ein Geheimnis haben, stecken immer andre Städte in andren Städten, immer eine in der anderen, und die sind nicht leer, weil sie jede einzelne in ihrer Vielfältigkeit alle anderen enthalten. Diese Stadt hier enthält nur sich selbst, mehr geht einfach nicht rein. Was soll dir also passieren? Es kann dir nichts passieren!

Natürlich taucht da manch schöner Satz auf, ein Satz, den man sich merkt, obwohl oder weil man ihn schon kennt. „Ich möchte mir nicht gehören, wenn ich der Rock wäre.“ Jeder ein bisschen gute Comedian hat aber eine höhere Trefferquote.

jelinekstrasse
Der Text – nicht das Stück! – ist ein „Geburtstagsgeschenk“ Jelineks an die Kammerspiele. 100 Jahre. An der Maximilianstraße. In München. Die Straße. Die Stadt. Die Straße ist das Shopping-Eldorado der Bussiness-Stadt. (Geschäftsbestückung auf ganz-muenchen.de) Jelinek liefert keine Kritik der Warenästhetik, sie schweift über die Psychopathologie des Käuferwahns. Auch ein interessantes Thema, aber in der Jelinekschen Emanation alles andere als neu oder gar originell oder kritisch. Ein abgetragenes Geschenk.

Die Stadt tritt zwar – wie die Straße – in Person auf, bleibt aber in ihrer Rolle noch vager als die Straße. Wird ihr etwas vorgehalten? Vorgeworfen? Man weiß es nicht. Die Stadt scheint verantwortlich zu sein. Die Stadt München? Die Stadt als solche? Man erfährt es nicht.

Der Überfall. Geraune über das Eindringen in Wohnungen. Man recherchiert. Die Stadt hat 19…. Steuerfahnder in Jelineks Wohnung geschickt. Jelineks Empörung ist aus ihrer Sicht verständlich, als Bürger wünscht man sich, dass öfter bei Steuersündern eingedrungen wird. Was das Ereignis 2012 auf der Theaterbühne sucht? Man weiß es nicht, will es auch gar nicht wissen. Auch nicht hören oder sehen.

Und dann nach der Pause der Moshammer. Die Suche nach einer vergangenen Figur. Hohlkörper, geblähtes Pathos, keine Fallhöhe, höchstens Implosionsgefahr. Im Theater überflüssig wie in der Realität. Carnival a Venise. Benny Claessens gibt immer alles. Alles ist hier zu viel. Gewälze in den Pfützen, herausgesprotzter „Text“, Ineinssetzung von Mosi und Maxi: „Die Straße wird nicht mehr sein ohne mich.“ Moshammer ist nicht persiflierbar, er ist die Parodie – genau wie die Louis-Vuitton-Tasche. Manche Theaterbesucher haben das noch nicht gemerkt. Sie freuen sich, wenn einer der „ihren“ vorgeführt wird. Also doch Provinz?

Auf der Bühne steht ein Bus-Wartehäuschen, in dem ein paar Musiker sitzen und hin und wieder spielen und in das sich auch gerade nicht benötigte Schauspieler zurückziehen. Aber was soll’s? Schön ist der Einfall mit dem Eis-Crush, das den Bühnenboden wie Diamanten funkeln lässt. Vergänglich wie Modeklunker ist das Eis nach der Pause geschmolzen, so dass sich Dick-Benny Claessens drin sudeln kann. Weshalb ein Teil des Publikums auf der Bühne sitzen darf oder muss bleibt rätselhaft, da die Idee mit der Straße nicht aufgeht.

Die Schauspieler haben viel Text, den sie routiniert herauslassen, manche von ihnen scheinen ähnlich überflüssig wie der Text. Sandra Hüller im Zentrum, allenthalben gepriesen, hat’s aber auch leicht. Als einziger Frau neben lauter hochhackigen Transen genügt ihr ein Kiekser, um in den Saal ein wenig erleichternde Heiterkeit zu zaubern.

Fazit: Die Kammerspiele sind immer wohlgefüllt. Beim Ausgang sagte ein Besucher, er werde sich die Vorführung auf alle Fälle noch ein Mal anschauen. Wahrscheinlich liege ich mit meiner missmutigen Einschätzung mal wieder völlig daneben: Grauenhaft.

Die Straße muß mit, sie muß mit mir mitgehen, was macht das schon! Gehen Sie halt in eine andre, dort gibts genau dasselbe wie hier. Diese ist mit mir gestorben, da können Sie nichts dagegen machen, dort können Sie nicht mehr hin. Dort ist gesperrt. Endgültig. O mei. Hin die Birne. Was solls. Ich habe seinen Mund nicht mehr küssen können, oder doch? Fragen Sie ihn! Fragen Sie nicht diese Straße, die ist sowieso eine Vielgeküßte, aber wenn Sie sie jetzt küssen wollen, ist da nur noch ein Loch, nur noch ein Loch. Da gibts nichts mehr zu küssen. O mei, die Birne hin. Was macht es schon! Schrauben Sie halt eine neue ein, und küssen Sie weiter. Aber dort wird nichts sein, wo Sie küssen wollen. Kein Mund mehr. Sie können vielleicht noch kaufen, aber küssen können Sie nicht mehr. Man hat getötet, was Sie küssen wollten, und jetzt ist es ganz aus. O mei, die Birne hin, ja, diesmal meine. Die Straße aber auch hin. Dort wo es geglüht hat, dort ist es jetzt hin. Es muß was Neues eingeschraubt werden, neingeschraubt. Halt! Aufhören! Danke.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 11. Januar 2013



Goetz
14. Oktober 2012, 20:30
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Rainald Goetz: Johann Holtrop

goetzholtropJe weiter man mit seinem Büro nach oben klettert, desto beengter und beengender wird der Horizont, bis man nur noch sich selbst im Auge hat. Man wird zur Firma, es gibt nichts Privates mehr, keine Freunde, keine Partner, Anvertraute, nur noch Konnkurrenten. Konkurrent ist jeder, steht im Weg, wird nicht gemobbt, sondern weggebissen. Das Leben der Wölfe im Rudel ist ein Arkadien dagegen. Lebende Tote, Zombies alle.

Rainald Goetz bezeichnet seinen Roman als “Abriss der Gesellschaft”, aber er berichtet nur über die Welt der Großunternehmen, der Finanzwirtschaft. Medien und Kunstmarkt funktionieren ähnlich, sie dienen sich einander an. Daß es dort so zugeht, bekräftigt Goetz durch gewissenhaftes Aufzählen von Tagesverläufen, durch durchsickernde Informationen über die realen Personen als Schablonen, Thomas Middelhoff von Bertelsmann an prominentester Stelle. Es entsteht ein Geflecht von Organi-, Psycho- und Soziogrammen – nicht der Gesellschaft, nur des Firmenpersonals. (Es gibt bei Suhrkamp das Plakat mit dem Personalverzeichnis.) Ökonomische Hintergründe oder Zusammenhänge sind nicht Goetz’ Thema, er beschränkt sich auf die “Charaktermasken”. Dass die so sind, weiß man, ahnt man, glaubt man gern. Und das ist nicht wenig, weil mittels der Figuren auch deren Aktionsräume entlarvt werden können.

Was den Roman wertlos macht, ist Goetz’ Methode, die Wertung nicht dem Leser zu überlassen. Er kann die Figuren nicht sein und agieren lassen, er muss sie in einem fort kommentieren, abwerten. Und wenn’s der Erzähler nicht selbst tut, taucht flugs eine Nebenfigur auf, die Holtrop und seinesgleichen abschießt. Man könnte durchgehend zitieren, weil Goetz diese Methode penetrant einsetzt und ihr damit jegliche Wirkung nimmt. “Ein Oberschlaumeier als Erzähler.” (Hubert Winkels) Das nervt nur noch.

Noch dreimal stieß Zischler mit seinem Zeigefinger auf die Wehrlose ein, drehte sich um und ging hoch erhobenen Hauptes weg, der letzte Auftritt dieses grandiosen Supertrottels in den Räumen der Deut­schen Bank.

Von dieser neuen Verhandlungsstrategie wieder in den Status quo ante zurückeuphorisiert, betrat Holtrop, als be­kennender und alle Inkohärenzen sinnlos bejahender Im­beziler sozusagen, den muffigen Verhandlungsraum und klopfte auf den Tisch. »Kommen Sie, kommen Sie«, rief er, dabei grinste er die Übersetzerin und die Chinesen an, »wir machen Geschäft!«, sagte er auf Englisch, »übersetzen Sie, los!«

Das Restaurant Grissini im Grand Hyatt, wo der Tisch reserviert war, war, so Magnussen, eines der besten der Stadt. Ohne derartige Superlative ließ Holtrop sich ungern abspeisen, der beste Champagner, der beste Wein, der al­lerbeste Laden, Holtrop ging es dabei nur um den Kenner­schaft und Wertungskraft aussagenden Verbalindex, dem gar keine Erfahrung entsprach. Holtrop wusste überhaupt nicht, wie sein angeblicher Lieblingswein schmeckte, er wusste nur den Namen.

Aber Salger war noch zu wenig Apparatschik, um den Spott der Älteren, mit dem er nun gepiesackt und aufgespießt wurde, wirklich ernst zu nehmen. Er sah diese Älteren, die ihn lärmend mit ihren Witzen in die Luft zu schießen und zu zerreißen versuch­ten, kaum, alte Säcke waren das für ihn, arme Deppen, Zu­rückgebliebene, Verlorene, die in ihrer auftrumpfend vor­geführten Überzeugung, die Größten zu sein, für Salger auch völlig ununterscheidbar waren, lauter gleiche, sinnlos laute Männer, im Volltrottelmodus ihrer Großmännlich­keit.

Nicht, dass Goetz nicht träfe mit seinem Spott, „Volltrottelmodus ihrer Großmännlichkeit“ ist schon schön. Aber der Spott kommt zu wütend daher, oft auch sprachlich arrogant und herablassend. Damit setzt sich Goetz jedoch auf eine Ebene mit den Opfern seiner Häme; wie er sich über sie auslässt, könnte man auch ihm zuschreiben: Attidüden.

So war er, so wollte er sein und gesehen werden, hin­gerissen vom Beruf. Holtrop erzählte von den Jahren des Booms und vom Fingerspitzengefühl für die Zeit. Wie die Zeit damals plötzlich so rasend beschleunigt dahingejagt sei. Diesen Puls habe er gespürt und aufgenommen und in Geschäfte transformieren können, weltweit, mit der dazu nötigen Portion Glück natürlich. Er zählte die gekauften Firmen auf, die großen Übernahmen, die Deals, Fusionen und Verkäufe, »wird Ihnen schon schwindlig?« sagte er und bleckte die Zähne, »nein, nein«, sagte die vom Zu­hören aber doch schon leicht erhitzte Frau Zegna. Für all diese Dinge hätten die Besonderen, die Nervöseren unter den Firmenchefs einen siebten Sinn entwickelt. Das habe er sich bei seinem genialen Vorgänger Brosse abgeschaut, Entscheidungsfreude im richtigen Moment (…) als Unter­nehmer in Deutschland, das sei ja die Krux, bestehe das Leben zu 98 Prozent aus völlig schwachsinnigen, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädlichen Grenzen. Aber die Politik wolle davon bekanntlich nichts wissen und nichts hören, die Politik sei da lachhaft beratungsresistent. »Ich meinte innere Gren­zen.« »Innere!« Holtrop lächelte. Irgendetwas, was in ihm vorging, gefiel ihm wieder einmal besonders gut an sich selbst. Sie präzisierte: »Grenzen der eigenen Begabung et­wa.« »Der Begabung, ja«, sagte Holtrop, und sein Lächeln wurde schief und grimmig, »so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Be­gabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.« Und Frau Zegna hatte in dem Moment in einer für sie selbst erstaunlichen Klarheit die Worte gedacht: »Wie kann ein Mensch so DUMM sein?« Ein offensichtlich kluger Mensch, so eindeutig und überdeutlich dumm?

Das Geschehen hat zwar eine Entwicklung, weil Holtrop zunächst aufsteigt, nach seiner Entlassung ein fulminantes Comeback hinlegt und schließlich scheitert. Das scheint zu typisch für die Welt der Finanzjongleure – und Fußballtrainer – zu sein, es ist aber zu wenig für 343 Seiten, weil sich die Beschreibung zu sehr an den selbstgefälligen Pirouetten der Protagonisten aufgeilt und darin kreist – schriftstellerisch ebenso selbstgefällig. Ich hab’ beim Lesen 100 Seiten übersprungen, in der bestätigten Erwartung, nichts zu versäumen.

“Goetz hat keine Geschichte über Menschen geschrieben, sondern eine über Schießbudenfiguren. Natürlich mag es mitunter lustig sein, wie er verbal auf sie einballert: ein Jahrmarktvergnügen. Aber kein Roman.” (Uwe Wittstock) “Es ist wirklich erstaunlich, zu welch aufreizend ermüdenden Stanzen einen das Missbehagen treiben kann. Da bleibt dem Leser bald schon keine Möglichkeit mehr, überhaupt zu einer eigenen Anschauung zu finden. Dann sagt er nur noch: ja, schlimm – und legt den „Johann Holtrop“ innerlich ganz unbewegt beiseite.” (Alexander Solloch, NDR) “Da hat man die einmalige Gelegenheit, in einem Satz zu sagen: Ein Buch taugt nichts.” (Hubert Winkels, 3SAT)

2012     343 Seiten

Hubert Winkels im 3Sat-Kulturzeit-Gespräch

 Rainald Goetz liest aus „Johann Holtrop“

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Klein
7. Juni 2012, 12:23
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Georg Klein: Roman unserer Kindheit

… die Karre, die so wuchtig dasteht, als würde sie sein Gebrachtwerden bereits erwarten. – Das tut beim Lesen weh. Und das hört nicht auf. Und ich seh auch keinen Grund, weshalb Klein so krampfig konstruiert. –

Vor ca. 2 Jahren war ich bei einer Lesung von Georg Klein. Sie animierte mich nicht, den „Roman unserer Kindheit“ zu kaufen, obwohl Klein, 1953 geboren, seine Kindheit in ähnlicher Zeit wie ich verbrachte. Ich kenne auch keine(n), der/die das Buch – auf Anhieb – und ohne leichten Druck ganz gelesen hat. – Woran liegt das?

Wohl habe ich den Titel des Romans missverstanden. Das „unser“ meint nicht mich, sondern bloß die Gruppe von Kindern aus den Wohnblocks in der Augsburger Nachkriegssiedlung. Speziell die Erzählerin besetzt das „unser“ für ihre Familie mit Mutter und Geschwistern. Klein lässt ein ungeborenes Kind erzählen. Könnte das interessant sein? Wohl nicht, denn das Konzept kann nicht aufgehen. Ungeborene sind noch nicht klug oder dumm, sie könnten neutral erzählen, denn sie haben noch nichts oder wenig erlebt. Kleins Ungeborene aber ist befangen, sie wird die Schwester der Kinder, und sie taugt deshalb nicht zur allwissenden, allahnenden Erzählerin. Man spürt, dass sich Klein hinter dem „unschuldigen“ Kind versteckt. Klein könnte man widersprechen, man könnte sich wehren. Kleins Ungeborene ist nicht greifbar. Die Ungeborene spricht wie ein Greis. Klein füllt sie mit aufgeblasenen Wörtern, die weder zum Kind noch zu den Kindern noch zur Handlung passen. Ob man zu Beginn der 60er Jahre so sprach, weiß ich nicht (mehr), vielleicht liegt das auch den Schichtverhältnissen. Beispiel: Herr Geistmann.

Der Ältere Bruder, der allmählich nicht mehr umhinkann, das eine oder andere Spiel zwischen den Erwachsenen auch nach deren Logik zu kapieren, beäugt mit Misstrauen, fast schon mit Unmut, wie Herr Geistmann die Neuzugänge der Leihbücherei, die er parallel zum Rauchwaren- und Zeitschriftenverkauf betreibt, über die schwarzgelackte Theke auf den flachen Bauch und die ein wenig vorstehenden Be­ckenknochen der Mutter zuschiebt. Unser großer Bruder erkennt das merkwürdige Säuseln, in das Herr Geistmann schon während dieses Schiebe- und Gleitvorgangs verfällt, er sieht mit überscharfem Erstgeborenenblick die Lider der Mutter flattern, wenn sie mit beiden Händen zugleich nach dem Roman fasst und Herr Geistmann genau im Moment dieses noch zögerlichen Zugriffs beteuert, er habe das vor­liegende Werk extra für sie reserviert, weil er nach seiner, natürlich unmaßgeblichen Vorlektüre zu vermuten wage, dass ihr das Geschehen zwischen den Gestalten, Genaueres sei nicht verraten, zusagen müsste. Der Ältere Bruder ahnt inzwischen, dem Vater gefiele es überhaupt nicht zu sehen, wie die Schmöker, mit denen seine Frau die Nacht zum Tag macht, hier angepriesen werden. Horst Geistmann kennt den Exzess bedingungslosen Hingegebenseins.

Die Diskrepanz zwischen Banalität der Handlung und Stilniveau der Darstellung könnte, das ist Ironie, erheiternd, damit auch erhellend sein. Klein hat keinen Humor, er ist allenfalls Witzerzähler. Bei Klein wirkt alles ernstgemeint, da stellt sich nicht einmal Metalachen ein. Aber Ungeborene lachen ja auch nicht. Sprechen sie aber so? – Das ist kein Stil, sondern Gewürge. Verkrampfung. Unvermögen. Ich fürchtete, dass Klein das so beabsichtigt und so blieb der „Exzess bedingungslosen Hingegebenseins“– auf Seite 86 – mein letzter Satz dieses Romans. Ein weiteres Ärgernis: Klein weiß zu jeder Episodenepisode noch ein Anhängsel, eine Beschreibung von Personen oder Dingen. Das hält auf, könnte beim Leser aber ein Zeitmosaik erzeugen, das in seinen verfugten Steinchen die Zeit „unserer Kindheit“ spiegelt. Aber wer will schon einem Mosaikkünstler beim Verlegen zusehen. Ich sehe auch nicht ein, weshalb ich Kleins (oder seiner Erzählerin) verklopfte Stilstudien lesen sollte, wenn ich weder von den Dingen noch von den Personen, die sie benutzen, einen Eindruck über „unsere“ oder deren Kindheit erhalte. Beispiel: Der Kupferbottich, der hadert und lauert.

Unser großer Bruder rutscht auf der langen Holzbank zum Waschkessel hinüber, schiebt dessen riesigen, schwarzlackierten Blechdeckel ein Stück beiseite, um hineinzuschnuppern. Das Kupfer riecht. Und wenn die Luft so feucht wie heute ist, kann er das Edelmetall sogar seltsam laugig ganz hinten auf der Zunge schmecken. Die Kesselhöhlung ist tief genug, um seinem schneller gewordenen Schnaufen ein Echo anzuhängen. Das Schimmern, die orange Reinheit, die nackte Neuwertigkeit des Potts flößen ihm stärker noch als sonst ein Unbehagen ein, verraten ihm die Verfehltheit, das dingliche Verbittern des ganzen Raums, ohne dass er sagen könnte, wer sich hier worin geirrt oder womit verplant hat. Wie schon oft spürt er den heftigen Wunsch, in den Bottich hineinzuklettern. Aber er weiß, auch wenn sein Fuß wieder ganz heil sein wird, muss er diesem Verlangen widerstehen. Es wäre unklug, vielleicht sogar gefährlich, sich allzu innig mit dem rundum lautlos grollenden Kessel einzulassen. Der Ältere Bruder ahnt, das Kupfer hadert mit den Müttern, die es nun mit den elektrischen Maschinen halten. Wahrscheinlich lauert es bloß darauf, dass ihm eines der Kinder Gelegenheit zur Rache gibt.

Beispiel: Die Kondensmilchdose mit dem gelben Kraterwulst.

Die Mutter lacht kein bisschen. Unser großer Bruder be­wundert sie dafür, denn die Zwillinge haben alles derart per­fekt erzählt, dass sogar er, der es eigentlich nicht mag, ein und denselben Witz schon so bald wiederhören zu müssen, ein Losprusten nicht unterdrücken konnte. Jetzt gießt sie heißes Wasser in ihr Kaffeeglas. Der nackte Löffel schwebt noch ein Weilchen über dem dunkelbraunen Rund, rührt dann ganz gründlich um. Erst als sich alles, die kantigen Instantkörn­chen samt dem feinen Zucker, spurlos aufgelöst hat, greift die Mutter nach der Kondensmilchdose. Zwischen Daumen­und Zeigefingernagel präsentiert sie dabei deren Bild: Die Bärenmutter hält das Bärlein auf dem Schoß. Acht Tatzen tun so, als ob sie keine Krallen hätten. Gleich scheinheilig schweben die beiden Teddys, die pummeligen Glieder abge­spreizt, aus der Wölbung der Banderole auf den Betrachter zu. Dann neigt sich der Zylinder zum Glas. Sein blanker De­ckel ist zweimal durchlocht, die untere Öffnung hat einen gelben Kraterwulst. In kurzem, strammem Bogen springt die Milch in den Kaffee.

Für mich ein kaum lesbares, weil im Stil total verunglücktes Buch, das 2010 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Sollte es irgendjemand zu Ende gelesen haben? P.S. In einer Amazon-Kundenrezension schreibt Ferdinand Hauber: “In der zweiten Romanhälfte überstürzen sich Fiktion, Handlungsstränge und Erzählstruktur in übertriebener Weise und das ganze scheint dem Autor aus der Hand zu gleiten. Der mühsam zu Ende gebrachte Schluss, in dem die ganze Handlung als Fiktion der jugendlichen Hauptperson erklärt wird, erscheint unlogisch und gewollt.” Da hab’ ich ja auf Seite 86 noch mal Glück gehabt. 2010          445 Seiten

Buchtrailer

 Georg Klein liest aus dem “Roman unserer Kindheit”

 Leseprobe bei Drei Erste Seiten. Der hörbare Klick ins Buch

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Josef Schindler weist mich freundlich auf eine Rezension Ulrich Greiners zu Georg Kleins Roman „Die Sonne scheint uns“ hin. (Text und Zeit, 2004) Greiner widmet sich Kleins Kunst im Allgemeinen.



Rourke
7. Februar 2012, 13:29
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Lee Rourke: Der Kanal

Weil ihm so fad ist, muss ich den Roman nicht lesen. “Teil Eins” trägt den Untertitel: Langeweile, Teil Drei: – Schwere, Teil Vier: Schwerkraft. Das sei, heißt es im Klappentext , “ein eindringliches Debut (…) ja, tatsächlich, über den Sinn des modernen Lebens”.

Lee Rourke lässt seinen Helden denken und fühlen, was dieser aber schlecht kann. Und so lauten dann die Sätze: “Ich kam mir klein und unbedeutend vor.” “Es fühlte sich richtig an.” “Ich fühlte mich leicht.” Wenn Rourke mit seinem Helden erzählt, liest sich das so: “Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen.” – Das ist unbeholfener Kitsch, das ist unglaubhaft. Langeweile mag ein Charakteristikum moderner Zeit sein, aber man muss das auch darstellen können, nicht bloß seinen Helden behaupten lassen. Rourkes Roman hat keinen Stil. Ich kann das nicht lesen und hab nach 40 Seiten verärgert aufgehört.

Wieder schwiegen wir. Ich hatte Hunger. Mir war heiß. Ich hatte das Gefühl, dass es an ihr liegen könnte, aber wahr­scheinlich kam es vom Hunger. Allerdings habe ich mich da­nach ehrlich gesagt nie wieder so gefühlt. Ich hatte ein son­derbares Gefühl im Bauch. Ich fühlte mich leicht. Ich fühlte mich, als würde ich schweben. Ich wollte Steak. Ein blutiges Steak. Mit darauf geschmolzenem Roquefort. Ein schönes dickes Lendenstück. Das Beste vom Besten. Ich wollte zu Elliot’s Butchers auf der Essex Road gehen und dort das be­ste Stück kaufen. Oder vielleicht ein mit Körnern gefüttertes Huhn, mit Zitrone und Knoblauch gefüllt und gegrillt. Ich hätte es komplett verspeist. Ich dachte an gegrillten Kürbis mit ganzen Knoblauchzehen und in Gänseschmalz gebratenen Kartoffeln. Ich glaube, ich habe vor ihren Augen zu sabbern begonnen, aber ich bin mir nicht sicher. Ich sah sie an. Sie starrte geradeaus in Richtung der schicken Flachbildschirme. Sie gähnte ein paarmal, strich sich das Haar aus dem Gesicht und kauerte sich ein wenig zusammen, um sich gegen den Wind zu schützen. Ich versuchte, zu erkennen, was sie ansah – es waren nur noch wenige Angestellte da. Die meisten wa­ren wohl zum Mittagessen gegangen. Der Mann mit Hemd und Krawatte, der seinen Arbeitstag so gern damit verbrachte, zwischen seinem eigenen und dem anderen Tisch hin- und herzulaufen, immer und immer wieder, saß an seinem Tisch und stützte seinen Kopf in die Hände. Ich konnte nicht genug von ihm sehen, um sagen zu können, welche Farbe seine Kra­watte hatte. Er sah müde und irgendwie besorgt aus. Aber das war nicht genau zu erkennen. Womöglich schlief er sogar – er sah jedenfalls so aus, als schliefe er. Ganz sicher beschäftigte ihn irgendetwas. Vielleicht sah sie ihn an. Auf alle Fälle sah sie etwas Bestimmtes an.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also fragte ich sie: »Hast du Hunger?«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Wieso?«
»Hättest du Lust, mit mir in ein Café zu gehen und einen Happen zu essen? … Ich kenne ein Café gleich hier um die Ecke. Das Rheidol Café.«
»Nein.«
»Hm. Bist du sicher? Du siehst aus, als wärst du …«
»Ja, ich bin sicher.«
»Na gut.«
Sie sah mich kein einziges Mal an. Sie starrte unverwandt geradeaus zu den Flachbildschirmen. Ich kam mir dumm vor. Ich versuchte, aufzustehen, aber ich konnte es nicht. Es war, als wäre ich auf der Bank festgewachsen. Ich kam mir klein und unbedeutend vor. Plötzlich wandte sie sich mir zu.
»Aber nimm das bitte nicht persönlich. Ich habe einfach gerade keine Lust auf einen Kaffee oder Essen oder so. Das ist alles. Ich möchte lieber hierbleiben.«
»Warum?«
»Warum was?«
»Warum sitzt du hier?«
»…«
»Warum kommst du jeden Tag zu dieser Bank? Ich habe dir gesagt, warum ich es mache. Jetzt wäre es nur höflich, wenn du es mir auch sagen würdest.«
»…«
»Willst du es mir nicht sagen?«
»…«
»Nein?«
»…«
Sie sagte nichts. Das war der Moment, als ich von der Bank hätte aufstehen und dann vielleicht wieder zur Arbeit gehen sollen – aber ich habe es nicht getan. Ich bin einfach neben ihr sitzen geblieben. Es fühlte sich richtig an. Einfach dazusitzen und nichts Bestimmtes anzustarren. Bald erschien ein Schwan. Wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon vorher bemerkt hatte – ein wundervolles Geschöpf. Er war in jeder Hinsicht schön: So rein, so majestätisch, stoisch und edel in seinen Bewegungen. Es war mit Abstand der größte Schwan, den ich je gesehen hatte – nicht, dass ich in meinem Leben besonders viele Schwäne gesehen hätte. Ich weiß noch, dass ich mich gefragt habe, warum er den Kanal als Lebens­raum gewählt hatte. Sicher gab es bessere Stellen in London. Warum hatte er sich nicht ein idyllisches Plätzchen in Ken­sington ausgesucht? Oder irgendwo in einem Vorort? Warum ausgerechnet diesen schmuddeligen, ungepflegten, stinkenden Kanal? Es war unverständlich. Alles war unverständlich. Sie schien den Schwan nicht zu bemerken; sie schien in Trance, komplett woanders zu sein. Ich wollte sie nicht stören, doch ich musste es ihr einfach sagen. Ich konnte nicht anders. Ich hätte sie in Ruhe lassen sollen.
»Hast du ihn gesehen?«
»Wen?«
»Den Schwan … da.«
»Woher weißt du, dass es ein Er ist?«
»Er ist groß. Es muss ein Er sein.«
»Hm. Er … oder sie, was weiß ich … ist schön. Wirklich schön.«
Wir brauchten nichts weiter zu sagen.

Und ich brauchte nicht weiter zu lesen. Die Frau, die sich neben den ennuyierten Helden gesetzt hat, lässt sich drängen, ihm ihr Leben zu erzählen, es tritt auch noch eine Jugendgang auf. Modernes Leben. Gequältes Gestammel.

2010      225 Seiten

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Orths
22. Oktober 2011, 13:45
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Markus Orths: Die Tarnkappe

Die Tarnkappe macht den Träger unsichtbar für andere. Die Tarnkappenerzählung reizt die Phantasie, gibt Motive für Spiele, was wäre wenn? Die Erklärungen können nicht aufgehen, der Körper muss ja Körper bleiben, Inkorporiertes darf unsichtbar sein – aber was ist mit Dingen, die man dem Körper von außen anhaftet?

Orths lässt sich in zwei Kapiteln auf das Spiel ein, erklärt natürlich auch nichts, aber das Motiv interessiert ihn nicht. Seine „Tarnkappe“ ist eine rätselhafte Gabe, ihre Haupteigenschaft: Sie saugt sich am Körper fest, sie saugt die Person aus, sie vernichtet Existenzen. Auch das könnte interessant sein. Aber Orths belädt seine Story mit zu viel existenziellem Klimbim. Es geht um nicht weniger als Tod und Leben, um jugendliche Exzesse, die ihre alttestamentarische Vergeltung finden, um ähnlich banale Grunge-Philosophie. Dazu dropt Orths Titel und Komponisten von Filmmusiken, Zusammenhänge ergeben sich allenfalls assoziativ. Ein schlechtes Buch, eines der unerfreulichsten, die ich seit langem gelesen habe. Unbeholfen komponiert, schwulstig geschrieben. 2011      220 Seiten

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