Nachrichten vom Höllenhund


Friedrich
23. August 2015, 19:01
Filed under: - Belletristik

Franz Friedrich: Die Meisen
von Uusimaa singen nicht mehr

friedrichmeisenErnst blickt Franz Friedrich aus seinem Bild und traurig und müde. Es ist nicht leicht, in den Randzonen zu leben, den Schauplätzen von „Die Meisen von Uusimaa singen nicht mehr“,einem Roman, der vielleicht in der Zukunft angesiedelt ist, die aber auch die Gegenwart sein könnte. Berlin oder die – fiktive – finnische Insel Uusimaa sind keine Orte zum Wohlfühlen, zum Glücklichsein, aber Überleben ist mehr als man erwarten darf. Es herrscht Endzeitstimmung.

Monika, die Studentin aus Amerika, schiebt sich durch Berlin, íhre Wohnung im Hansa-Viertel wird sie aufgeben müssen, sie wird mit ihrer Arbeit nicht fertig, könnte abgeschoben werden, lebt zuletzt von Eiern und Avocados. Eine Gruppe finnischer Musiker motiviert sie zum Weiterleben. Der junge Filmemacher zieht sich mit Freundin Marta in eine kleine Hütte in den Wäldern bei Stockholm zurück.

Sie hatten keinen Strom und auch kein fließendes Wasser. Um sich zu waschen, gingen sie zum Brunnen und befüllten einen Kanister. Anfangs war es ihnen lästig, das Wasser auf dem Herd zu erhitzen und sich im Stehen, gebeugt über eine kleine Waschschüssel, zu reinigen. Doch schnell wurde ihnen das Waschen zum Ritual. Marta schob die Vorhänge zu und schaltete das Radio ein. Sie hörten BBC, eine Sendung des Nachtprogramms, die sich nicht mit Europa und den politischen Umwälzungen befasste.

Die Umwälzungen, die Katastrophen, die politischen Entwicklungen sind fern und dringen doch in die Nischen der abseits gelegenen Hütten. Die Dokumentarfilmerin Susanne Sendler erkundet 1997 die Insel Uusimaa. Auf der die Meisen, eine endemische Art, aufgehört haben zu singen, weshalb, bleibt lange unklar, es muss wohl etwas mit einer Umweltkatastrophe zu tun haben.

»Die Meise flog hoch zu den Wolken, sie flog höher, als es ihr zustand, so erklärt es der Liedtext, sie flog zu den Sternen. Und um dorthin zu gelangen, opferte sie ihr Liebstes: ihren Gesang. Doch ohne den Vogelgesang konnte sich die Insel nicht auf dem Wasser halten, und so ist sie untergegangen, versunken im Meer. Das Lied soll die Meisen daran erinnern, wieder auf die Erde zurückzukehren. Das erzählen sich die Bewohner der Insel.«
»Und ihr wart schon mal dort, auf der Insel? Ich meine, bevor sie untergegangen ist?«
»Die Insel ist nicht wirklich untergegangen. Sie wurde evakuiert, weil die Meisen dort nicht mehr sangen und sie Angst hatten, etwas in der Natur kaputtgemacht zu haben. Meine Mutter leitet die Forschungsstation auf Uusimaa. Schon in ein paar Jahren, wenn die Vögel wieder singen, werden wir da leben, mein Papa, meine Mama und ich. Von der Insel aus hat man eine klare Sicht auf die Sterne, nicht wie hier in der Stadt.«
Durch die angekippte Balkontür war das ferne Lärmen von Polizeisirenen in der warmen, anbrechenden Nacht zu hören. Ein erster Abendstern war aufgegangen. Was ist das für ein Tag, dachte Monika, sie wollte schlafen. Paul griff nach dem Fernrohr und richtete es auf den Himmel.

Susanne Sendler verschwindet ohne Spuren, ihre Szenen zum Film über die Lapplandmeisen wurden vernichtet. Im ersten Teil des Romans beschreibt sie ihren Aufenthalt auf Uusimaa, sie beglaubigt ihre Beobachtungen in vielen Fußnoten. Franz Friedrich studierte “Experimentalfilm”, der Roman orientiert sich an der Methode des Genres. Lange verfolgt er Personen, ohne sie scharf zu stellen, sie geraten aus dem Blick, finden sich in neuen Konstellationen wieder. Der Blick ist hyperrealistisch, doch die Ränder fransen aus, die Handlung bleibt in den Personen stecken. Die Figuren sind heimatlos, Natalia, Nancy, Svanhild, Marta, Monika, die Welt scheint unbewohnbar zu sein, auch in ihren Ecken und Nischen.

Nie sprachen sie über Geld, hin und wieder phantasierten sie über Filme, die sie drehen wollten. Dann schrieben sie an einem Drehbuchmanuskript für einen Film, den sie Über das Leben in den Wäldern nannten. An den Nachmittagen an der Badestelle notierten sie die Textfragmente auf gelbe Bögen, die, weil sie nicht blendeten, sich zum Schreiben in der Sonne besser eigneten als weißes Papier. Natürlich setzte er hin und wieder ab und fragte sich, wer diesen Film sehen wollte, doch allein wegen seiner unleserlichen Handschrift verlor er die Angewohnheit, zurückliegende Abschnitte wieder und wieder zu überarbeiten. … Erschöpft von der schweren Last ihrer Einkäufe legten sie sich schlafen, in der Hoffnung, den nächsten Tag auf die gleiche Weise beginnen zu können wie all die guten Tage zuvor, mit dem Baden in ihrer abgeschiedenen Bucht, mit dem Pflücken von Beeren, mit der Arbeit an ihrem Drehbuch Über das Leben in den Wäldern. Doch im Grunde wussten sie damals schon, dass sie sich etwas vormachten. … Nicht einmal das Drehbuch, an dem sie arbeiteten, würden sie verfilmen, denn in der Fiktion darf nicht gelingen, was in der Realität scheitert.

friedrichmeisen2Experimentalfilme erzählen keine Geschichte. Der Roman fordert die Geduld zu sehr langen Einstellungen. Es bleibt dem Leser überlassen, Zusammenhänge und Sinn herzustellen, wenn er diese Geduld mitbringt. Überraschend fällt der Lärm der aufgeregten Zeit in die geträumte Idylle und stört den getragenen Rhythmus der altmodischen, poetischen, fast romantischen Sprache.

In einigen Kilometern Entfernung verlief die Autobahn nach Süden, vorbei an Golfplätzen, Reiterhöfen, Paintballanlagen. Eingeschlossen von Wald erhoben sich die Wohnblöcke der Satellitenstädte, die Vororte der Einwanderer, in denen regelmäßig schwere Unruhen ausbrachen, Bürgerwehren patrouillierten, Polizeiwachen in Flammen aufgingen.

Ein Roman in Fragmenten, ein Roman von großem Ernst, mit müde werdenden Personen, voll Trauer über den Verlust des ungetrübten Gesanges. Franz Friedrich erklärt ihn zur Hoffnung.“Wenn ich einen Wunsch hätte an Literatur der Zukunft, dann ist es der Wunsch, dass die Literatur die Funktion von Wegbeschreibungen, von Seekarten erfüllt zu Inseln der Zukunft.“

Tiere mögen es, umworben zu werden, sie schätzen Höflichkeit, davon war ich überzeugt. Bei der Begegnung zwischen Vogel und Mensch handelt es sich um ein Ereignis, das beide Seiten in Aufregung versetzt. Der Ornithologe, so glaubte ich, sollte dafür keine Kriegsmontur wählen, sondern seine schönsten Kleider. Die Amsel, die von der Spitze eines Baumes ihr Lied vorträgt, will gesehen und gehört werden. Wie unnötig und falsch ist es, sich vor einem solchen Vogel zu verstecken, um ihn aus dem Hinterhalt zu beobachten. Das sich Anschleichen und Tarnen, stammt es nicht aus den dunkleren Kapiteln der Ornithologie, aus einer Zeit, in der Zoologen sich mit ihrem Jagdinstinkt brüsteten, als das Taxidermieren, das Ausstopfen erlegter Tiere, zum Handwerkszeug gehörte und Kaltblütigkeit eine Sekundärtugend der Wissenschaft war?
»Meine Gummistiefel habe ich vergessen«, sagte ich, und es entsprach der Wahrheit.
»Dann ab in die Materialkammer, da finden wir etwas Schönes für dich«, sagte Jöns, der sich in der Vorfreude darüber, mich einkleiden zu dürfen, die Hände rieb. Teemu dagegen gab ein affektiertes Stöhnen ab und schlug so heftig auf den Tisch, dass seine Müslischale in ein schwungvolles Scheppern versetzt wurde.
»Aber schnell, hopp hoppk, mahnte er, »wir sind hier nicht beim Kostümfilm.«
Ich wollte die Lapplandmeisen sehen, jedoch nicht in Begleitung dieser Männer.
»Ich bin mit Nancy verabredet«, sagte ich, und dieses Mal log ich.

2014          315 Seiten

Leseprobe beim S. Fischer Verlag

Franz Friedrich: Seekarten zu den Inseln der Zukunft (Gespräche und Video)
Bei HUNDERTVIERZEHN, dem literarischen Online-Magazin des S. Fischer Verlags

3-

3-

 

Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: