Nachrichten vom Höllenhund


Fioretos
27. Oktober 2015, 19:39
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Aris Fioretos: Der letzte Grieche

fioretosAris Fioretos kann bei seinem Roman auf bewährte Helfer zurückgreifen: Clio, die Muse der Geschichtsschreiber. Seine „Gehilfinnen Clios“, einem Kreis älterer griechischer Damen, sind am Werke einer „Enzyklopädie der Auslandsgriechen“. Daraus bedient sich Fioretos und verwebt die „losen Enden zu einem Faden“. Der Autor erläutert seine Methode im Vorwort, er mischt sich ständig ordnend ins Erzählen ein. „WIESO DAS? Es ist nicht ganz einfach, den Menschen zu beschreiben, der Jannis gegenüber saß. Dennoch müssen wir es versuchen.” Fioretos kann so auch die Chronologie aufbrechen, weil ja die Schicksale einer anderen Logik gehorchen. “Wunderbar raffiniert und kühn konstruiert” nennt das Dennis Scheck, doch führt das bei mir zu Schwierigkeiten, die Personen und ihre Erlebnisse in einen Zusammenhang zu bringen. (Ein Stammbaum ist mit abgedruckt.) In der zweiten Hälfte des Romans macht es mir Fioretos leichter, er konzentriert sich stärker auf Jannis’ Leben in Schweden als “Gastarbeiter”.

LEKTION: GLÜCK. Unser Jannis, der immer noch in Familie Florinos‘ Keller schläft, war überzeugt, dass ein Mensch nicht nur durch die Gefühle und Ereignisse beschrieben werden sollte, die er erlebt, sondern auch durch die Personen, aus denen er besteht – ganz oder teilweise, manchmal oder stets. Sonst treten Phantomschmerzen auf. (Vergleiche hierzu »Diese Jämmerliche Sache«.) Er war nicht der erste, dem dieser Gedanke gekommen war. Aber seit er seinen Vater verloren und die Großmutter ihn zu trösten versucht hatte, indem sie ihm erzählte, was vorgefallen war, als ihr eigener Vater starb, stellte er sich vor, dass ein lebendiger Mensch nicht bei Nagelrändern oder Haarspitzen aufhörte. Mal endete er bei der Ader, die sich über den zwiebelförmigen Fußknöchel eines anderen Menschen schlängelte, mal in der klebrigen Falte hinter den Ohren eines weiteren. »Sieh mal«, hatte Despina zu dem Siebenjährigen gesagt und die Kiefer aufgesperrt. »Ich dachte, der Mund wäre da, um mir zu ermöglichen, von meinem Vater Abschied zu nehmen. Aber es stellte sich heraus, dass er wie dafür geschaffen war, deinen Vater an der Hand zu halten.« Daraufhin erzählte sie, als die Hasenscharte noch ein Kind gewesen sei, habe seine ganze Faust Platz in ihrem Mund gefunden. Die Großmutter meinte, es gebe Teile von Jannis, die in ähnlicher Weise mit Personen zusammengehörten, die geboren worden waren, bevor er selbst an einem Vormittag während der Besatzungszeit um ein Haar in einer Mülltonne ertrunken wäre, aber sie bezweifelte nicht eine Sekunde, dass er auch Organe in sich trug, die ihren rechtmäßigen Besitzer erst in ein oder zwei Generationen finden würden. Vielleicht sogar noch später. »Bis dahin kümmerst du dich um sie. Wie ich meinen Mund für deinen Vater aufhob. Vergiss das nicht. Menschen bestehen aus anderen Menschen.«

Die Griechen tragen ihr Griechentum in und mit sich, wo sie sich auch aufhalten mögen. Das ist eine drückende Bürde und sie ist dem Erreichen des Glücks nicht unbedingt dienlich. Dabei sind die Mitglieder von Jannis’ Familie selbst Eingewanderte, stammen zum Teil aus Smyrna in Kleinasien (heute Izmir), aber man lebt in Makedonien (wie schon Alexander der Große), in Neochóri, in Áno Potamiá. Schon das Wort “Auslandsgrieche” ist bezeichnend. Jannis Georgiadis geht nach Schweden, getrieben von der heimatlichen Enge und Not, ein wenig auch von der Militärdiktatur (1967 – 1974), gezogen von der Aufnahmebreitschaft Schwedens und bereits im Norden lebenden Landleuten. Fürs Erste kommt Jannis bei der Familie des Arztes Manolis Florinos unter, die „Integration“ ist nicht einfach, nicht nur die Syntax ist verdreht, sondern auch die Vorstellungen von Ehe. Jannis’ Beziehungsglück zerbricht am griechischen Erbe, „ weder hier noch dort zu Hause, ein Wanderer und Migrant, ein zäher Träumer”.

So sah das Leben aus. Lauter Übergänge. Erst wenn man seine Erlebnisse anderen vermittelte, verwandelten sie sich. Denn wenn man ein Ereignis wiedergab, wie Jannis es am ersten Abend auf dem Weg nach Balslöv getan hatte, verwandelte sich das Leben in eine Geschichte. Und Geschichten, das wusste er, bestanden aus lauter entscheidenden Augenblicken: Herzinfarkten, Militärputschen und Blitzeinschlägen, seltener aus dem Parfümtropfen hinter einem frisch gewaschenen Ohr, struppigen Ziegen oder quakenden Gummistiefeln, und praktisch nie aus nichtigen Anlässen zur Freude oder stechender Scham, trockenen, hilflosen Winden oder heißen Nächten so eng wie Schuhkartons. Geschichten waren das, was übrigblieb, wenn man das Leben entfernt hatte. Sie verwandelten Zufälle in Furchen auf dem Handteller.

Tatsache war, dachte Jannis, dass er auch jenseits dieser Tage andauerte und man in mehrere Richtungen gleichzeitig geboren wurde und sich entwickelte, vorwärts und rückwärts, und manchmal sogar seitwärts. Das Leben war wie ein Gewässer, das in alle Richtungen expandierte. Ein Tag wurde zum nächsten gelegt und dort gelagert, wohin die Zeit gelangte, nachdem sie stattgefunden hatte, eine schwerelose, stetig wachsende Ansammlung von Nichtigkeiten, die den meisten trist und in ihrer Einförmigkeit womöglich erdrückend erscheinen würde – wenn sie denn an sie dächten. Was sie aber niemals taten.

Jannis’ Leben ist voller solcher “entscheidenden” Augenblicke, doch kann auch der Leser oft nicht erkennen, was eine “Nichtigkeit” ist, eine Abschweifung des Autors, der zu viele Geschichten für wichtig hält, zu wenig weglassen kann. Ich habe öfter überlegt, das Buch wegzulegen, weil mir die Hauptperson fremd blieb, unter zu vielen Episoden verborgen, weil ich sie nur für eine Personifizierung hielt. Und das liegt nicht nur daran, dass der Roman ein “postmodernes Spiel” ist (Sandra Kegel, FAZ), sondern daran, dass sich der Autor nicht entscheiden kann zwischen Sprachverliebtheit mit“phantastischen Mückenschwärmen“ von Ideen,überfüllten Zettelkästen, auktorialen Einschüben und – über weite Strecken – auch konventionellem Erzählen – mit einer kunstvollen Metaphorik.

2009              415 Seiten (TaBu)

Leseprobe beim Hanser Verlag

Dennis Scheck im Gespräch mit Aris Fioretos in “Druckfrisch”

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