Nachrichten vom Höllenhund


Ernaux
7. Dezember 2017, 19:12
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Annie Ernaux: Die Jahre

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„Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biografie einer 1940 geborenen Französin. Der „totale Roman“ sichtet die Jahre der Erinnerung und modelliert sie in den nationalen (und globalen) Wandel der Traditionen ein.“ In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir«”. Annie Ernaux’ Buch-Ich stammt aus niedrigen sozialen Verhältnissen, kommt aus der normannischen Provinz nach Paris, sie studiert und wird Lehrerin, sie betont sich als Frau, weitet ihr Subjekt in die Geschichte. Als Leserin erkennt man sich wieder. Nostalgie – aber mehr.

Annie Ernaux erinnert sich an die Lieder, die man hörte und sang, an Fernseh- und Radiosendungen und deren Personal, an Schule und Familie, immer wieder an die Familienessen mit ihren Tischgesprächen, sie rekapituliert Wünsche und Träume, Sorgen und Sex. Auf Fotos sieht sie sich selbst oder ihr ähnliche Mädchen und Frauen und sie liest aus der Kleidung, den Frisuren, Körperhaltungen oder Gruppierungen die Zeichen der Zeiten. “Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der ande­ren.”

Die Mädchen der vorderen Reihe sitzen auf Stühlen, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie sittsam geschlossen, die Füße fest auf dem Boden oder unter dem Stuhl, nur eine hat die Beine übereinandergeschlagen. Die Schülerinnen der mittleren Reihe stehen, die der hinteren sind auf eine Turnbank gestiegen. Von ihnen sind bloß die Oberkörper sichtbar. Die Tatsache, dass nur sechs von ihnen die Hände in den Taschen haben, was damals als Zeichen schlechter Erziehung galt, ist ein Hinweis darauf, dass das Gymna­sium hauptsächlich von Bürgerstöchtern besucht wird. Alle bis auf vier Mädchen blicken mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Das, was sie sehen – den Fotografen, eine Mauer, andere Schülerinnen? – ist für immer verloren.

Es gibt Zeiten des sanften Wandels, die in der Jugend viel zu langsam vergehen, und Sprünge, die Generationen leben ihr eigenes Leben, der “Fortschritt” ist nicht offensichtlich und nicht stetig. Die Tradition entlässt die Mädchen, ohne aber eine klare Perspektive zu öffnen.

Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit, bestimmt vom regelmäßigen Läuten der Glocke, den Klassenarbeiten nach jedem Trimester, den endlosen Interpretationen von Corneilles Cinna und Racines Iphigenie und der Überset­zung von Ciceros Pro Milone, hatten die wenigen Jugend­lichen, die weiter zur Schule gehen durften, den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte. Man schrieb Sät­ze von Schriftstellern über das Leben in ein Heft und ent­deckte, wie berauschend es war, sich in Wörtern wieder­zuerkennen, »existieren ist trinken ohne Durst.« Man war überwältigt von einem Gefühl des Absurden und des Ekels. Unsere klebrigen Körper trafen auf das »Geworfen­sein« des Existenzialismus. Man klebte Fotos von Brigitte Bardot in Und immer lockt das Weib in ein Heft und schnitz­te James Deans Initialen in sein Pult. Schrieb Gedichte von Prevert und Chansons von Brassens ab, je suis un voyou und La Premiere Fille, die nicht im Radio laufen durften. Las heimlich Bonjour Tristesse und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Das Feld des Begehrens und der Verbote wurde immer größer. Es eröffnete sich die Möglichkeit einer Welt ohne Sünden. Die Erwachsenen argwöhnten, dass uns die modernen Schriftsteller »verderben« würden und wir nichts mehr »respektieren« würden.

Aber: “Ihr Leben nach dem Abitur ist eine Treppe, die in den Wolken verschwindet.

„Die Jahre“ sind französische Jahre. Die erinnerten Namen sind in Deutschland (weitgehend) unbekannt. Es gibt andere Lieder, andere Filme, in der Schule wird eine andere Literatur besprochen, mit dem gleichen Ernst wie in anderen Ländern die jeweils nationale. Man sucht nach Parallelen und fragt nach Gemeinsamkeiten. Dadurch wird das Buch auch für deutsche Leser interessant. Deutschland erzeugt in Frankreich so wenig Spuren wie umgekehrt, sobald die Jahre der Weltkriege verblasst sind. Viel präsenter ist Algerien, sind die Präsidentenwahlen, welche die (fortschrittlich gesinnten) Franzosen in kleine Hoffnungen oder Resignation stürzen. Die Freiheit nimmt zu, gerade auch für Frauen, aber sie zeitigt andere Zwänge.

Erst in den 1950er Jahren bricht in Frankreich auch die Welt ein: Auf dem Plattenspieler drehen sich Bill Haley und Elvis Presley. Einen weiteren Einschnitt sieht Ernaux im Walkman (in Frankreich: balladeur) symbolisiert. „Mit dem Walkman drang die Musik zum ersten Mal in den Körper ein, man konnte in ihr leben, und die Welt blieb außen vor.” Die jungen Leute, also die eigenen Kinder, “befanden sich in einer ironischen Distanz zur Welt. Man be­wunderte ihre Schlagfertigkeit und Redegewandtheit und fühlte sich minderwertig, weil man Angst hatte, im Vergleich zu ihnen langsam und beschränkt zu wirken. Im Kontakt mit ihnen konnte man seinen Wortschatz erweitern, man hörte sich den richtigen Gebrauch der Jugendsprache ab und ergänzte sein Vokabular um Ausdrücke wie »geil« und »abgefahren«, sodass man die Dinge auf dieselbe Weise be­nennen konnte wie sie.”

“Die Ereignisse verschwanden, bevor sie zu einer Erzählung werden konnten. Die Gleichgültigkeit wurde größer.” Annie Ernaux will die Welt vor dem Vergessen retten, weil sie zunehmend in den Erinnerungen lebt. Sie will “etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.” Sie will “ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.”

Vor Jahrzehnten, als sie in ihrem Zimmer im Studenten­wohnheim das Bedürfnis zu schreiben verspürte, hatte sie gehofft, eine unbekannte Sprache zu entdecken, durch die sie mysteriöse Dinge würde ausdrücken können, wie eine Wahrsagerin. Das fertige Buch würde, so dachte sie, ande­ren ihr geheimstes Wesen enthüllen, es würde eine Glanz­leistung werden, die ihr Ruhm brächte – was hätte sie nicht darum gegeben, Schriftstellerin zu sein, so wie sie als Kind davon geträumt hatte, eines Morgens als Scarlett O’Hara aufzuwachen. Später, als sie vor erbarmungslosen Schul­klassen mit vierzig Schülern stand, als sie einen Einkaufswa­gen durch den Supermarkt schob, als sie auf einer Parkbank neben dem Kinderwagen saß, kamen ihr diese Träume ab­handen. Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wunder­samerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kommen würde, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Ver­fügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein.

“Die Jahre” ist, ähnlich wie Didier Eribons “Rückkehr nach Reims”, eine Soziografie, nicht so vordergründig politisch, die Person verbirgt sich im “man” der Gesellschaft. Man entwickelt sich ja nie allein, nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Die “Jahre” verliefen in Deutschland sehr ähnlich. Sonja Finck hat das sehr schön übersetzt. Man muss nicht 1940 geboren sein, man muss auch keine Frau sein, um “Die Jahre” interessant zu finden, vor allem die erste Hälfte.

2008             255 Seiten

Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

 

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