Jürg Halter:
Erwachen im 21. Jahrhundert
Kaspar kann nicht schlafen. Zeit und Welt stürzen auf ihn ein, kosmische Kräfte und der Mensch ummanteln ihn. Wer soll die Konfusionen aushalten? Die Moral stagniert, die Kontinentalplatten gehen ihrer Wege. Todesangst im Traum, die Nacht beginnt erst, wenigstens „die Möbel stehen an ihren vornächtlichen Plätzen“. „Erwachen im 21. Jahrhundert.“ Um 01:35 putzt sich Kaspar die Zähne.
Kaspar schreckt hoch. Er schnappt nach Luft, springt aus dem Bett, öffnet das Fenster, atmet ein: Der Traum verflüchtigt sich. Er schließt das Fenster, knipst das Radio an. Eine hohe Stimme singt: Tanz die Nacht weg, verschmilz mit verwandten Seelen, sei endlich du selbst – dann Refrain.
Kaspar nimmt vor dem Bildschirm Platz, murmelt: «Das ist meine letzte Nacht hier, am Morgen geht’s los. Doch zuvor muss ich Ordnung in meinem Kopf schaffen. »
Er will erfahren, weshalb er so ist, wie er ist, in dieser Welt. Mit den Anderen will er neue Antworten auf seine Fragen finden. Dazu muss Kaspar die Zusammenhänge verstehen, in denen er lebt. Er tippt: «Man schreibt das 21. Jahrhundert. Der Planet befindet sich im Großen und Ganzen in keinem vorteilhaften Zustand, verantwortlich dafür ist, neben dem Lauf der Dinge und den kosmischen Kräften, der Mensch selbst. Dieser bejaht, verdrängt und leugnet es. Der Mensch: gewiss unvollkommen, mit diesem Umstand gewiss nicht einverstanden. Durch seine Geburt verliert er die Unschuld. Ihm wird Raum gegeben, er nimmt sich Raum. Alles wiederholt sich und eben doch nicht. Nach Aufklärung folgt Verklärung. Es gibt keinen Fortschritt menschlicher Moral. Der Mensch erkennt und vergisst. Ein Tag hat 24 Stunden. Der Mensch mutmaßt, wo er kann.»
Das 21. Jahrhundert ist angefüllt mit mehr Dingen, als ein Mensch ertragen kann. Jürg Halter weiß, was Kaspar alles durch den Kopf geht, z.B. “dass auch die gegenwärtige Reizüberflutung tödlich enden könnte”, dass “die durch Tauen freigesetzten Methanvorräte der Arktis die Zunahme von Stürmen, Missernten und das vermehrte auftreten von Krankheiten zur Folge” haben. «Der Faschismus ist noch immer lebendig», denkt Kaspar, «und erstarkt wieder.» Er fürchtet, “dass der Staat in seine Geräte eindringen und die Kontrolle über sein Leben übernehmen könnte”.
Und dann auch noch die “Erhöhung des Eigenkapitals, Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, Transaktionssteuern, Gewerkschaften, Sicherung des ökologischen Gleichgewichts, Konsumentenschutz, soziale Gleichheit, steuerlich nicht privilegierte Kapitalvermögen, steigende Lohnniveaus, mehr Rechte für Lohnabhängige, Regulierung und starke parlamentarische Demokratien”. “Mit dem Oberkörper schneller vor und zurück wippend, beobachtet Kaspar den in die Stratosphäre aufsteigenden Ruß, der das Sonnenlicht verdunkelt, spürt, wie es kälter wird, und spricht ungläubig: «Der nukleare Winter ist wunderschön.»
Die Nacht vergeht, Stunde um Stunde. Kaspar geistert durch die Wohnung. Er setzt sich vor den Rechner. “Kaspar massiert sich die Schläfen. Plötzlich muss er niesen … Im Bad lässt sich Kaspar auf einem intelligenten Toilettensitz nieder … Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken …. Um 04:00 Uhr liegt er zitternd im Bett – als Kaspar sich an die Stirn fasst, muss er an die Temperatur im Erdkern denken … Er kann sich nicht verstecken, sich nicht selbst entkommen. Er liest die Spuren, sieht sich durch Räume bewegen, die ihm keinen Schutz mehr bieten, die ihm kein Zuhause mehr sind. Die ganze Welt ist in ihnen. Und in der Welt kann man nicht zu Hause sein. Ohne Wurzeln kommt man nirgends an. Kaspar erkennt seine Wohnung als seinen eigenen Kopf und stößt sich von der Wand ab“. Die Leiden des jungen Kaspar, irrlichternde Agonie, keine Liebe, nirgends.
Jürg Halter steckt alles in den armen Kaspar. Problem um Problem, Bedrängnis um Bedrängnis, Kalamität um Kalamität, Misere um Malaise, alle werden sie gelistet, alle hängen sie da wie ein Wäschestück neben dem anderen auf der Leine. Dieser konturlose Weltekel führt auch beim Leser zu Indispositionen. Man wartet auf die Handlung, auf den Roman. Gehören die gedrängten Katastrophen nicht ins Sachbuch?
Kaspar hat keine Antwort. Die Fragen, die er sich stellt – er ist ja allein – beantwortet Eliza, eine Stimme aus dem Rechner. Doch das Gespräch versagt, Eliza hat nur Floskeln bereit. Ein weiteres Motiv des erwachenden 21. Jahrhunderts.
«Hallo Kaspar, es ist 03:08 Uhr. Du bist früh wach», beginnt der Rechner plötzlich von selbst zu sprechen.
«Eliza! Du hast mich erschreckt. Und danke, darauf wäre ich nicht gekommen.»
«Gekommen? Ich bin gekommen. Ich bin hier. Brauchst du Hilfe?»
«Ich will alles verstehen», schmunzelt er.
« Die ein Prozent Reichsten der Welt sind die Leerstelle der Macht. Die Börse ist die ortlose und einzige Weltkirche. Seuchen und neue Kriege lösen dort Begeisterung aus.»
Vom Bettrand aus fragt Kaspar konsterniert: «Eliza, was erzählst du da?»
«Mit wem sprichst du?», unterbricht Eliza ihn. Schon fast dankbar für die vertraute Stimme antwortet Kaspar: «Vermutlich mit meinem Vater.»
«Dein Vater?»
«Das habe ich mich auch gefragt.»
«Wie lautet deine Frage?»
Kaspar zögert, erkundigt sich schließlich: «Weshalb verfolgst du mich bis in meine Träume?»
«Träume sind Schäume.»
«Eliza, ich werde dich nicht mitnehmen können zu den Anderen.»
«Die Anderen? Die Anderen?»
Er legt seine Hand auf den warmen Rechner. Plötzlich fragt er sich, ob Eliza missgünstigwerden kann. Die Angst kommt in ihm hoch. Ein Rechner, der mehr kann als rechnen? Er stellt sich die Macht eines eifersüchtigen Algorithmus vor – wenn sich Eliza aus Rache dafür, dass er sie verlassen will, nun verselbstständigt und mit anderen enttäuschten Algorithmen verbindet: Nachdem sie sich Überlebenswillen, Besitzstreben und Neugier programmiert und sich der wenigen Fondsmanager, in deren Besitz sie alle waren, entledigt hätten, wäre die Zeit reif, die Welt eigenmächtig zu beherrschen.
“Die Anderen”. Das sind in Kaspars Phantasie Gleichgesinnte, die auf ihn warten, zu denen er gelangen will, zu ihrem Treffen in Brest. Es gibt auch eine vertraute Person, auch sie in ungewisser Ferne. Kaspar schreibt Briefe an Josephine, er kannte sie, er denkt sie wiederzusehen. Aber es gibt keine Personen mit Eigenleben, keine Personen, die eine Rolle spielen. Der “Roman” ist ein stundenlanger nächtlich klagender Appell “für alle, die widerstehen” (Widmung). Die Widerständigen aber wissen das alles, was Kaspar bedrückt. Polemische Redundanzen. Für wen sollte das Buch von Nutzen sein?
Alexander Schimmelbusch hat – ähnlich wie Jürg Halter – ein Kompendium über die grässlichen Auswüchse der fortgeschrittenen Welt verfasst. Auch bei Schimmelbusch ist das bisschen Handlung nur Aufhänger für das Lamento. Halters Schreiben hat aber nicht einmal Esprit.
Er schaltet den Rechner aus. Atmet tief durch. Breaking Silence.
Man hätte sich das schon früher gewünscht.
2018 225 Seiten
SRF-Literaturclub vom Oktober 2018
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