Nachrichten vom Höllenhund


Emmanuelle Bayamack-Tam
22. November 2019, 17:12
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Emmanuelle Bayamack-Tam :Ich komme

bayamacktamEin Drei-Generationen-Missverständnis. Nelly, fast 90, ihre Tochter Gladys, zwischen 50 und 60, und die etwa 20-jährige Charonne erzählen von sich, ihren Leben und von denen, denen sie begegnen. Den Anfang macht Charonne und sie legt gleich richtig los.

Und außerdem weiß ich, wie ich ausse­he. Ich bin fett, ich habe blaue Lippen, Sommersprossen, die meine olivfarbene Haut verhageln, und von ihren Wurzeln an gezwirbelte Haare, die zwanzig Zentimeter von meinem kleinen maurischen Kopf abstehen. Selbst die Marseiller des 21. Jahrhunderts tun sich mit meiner Schnauze schwer, so, wie sie sich auch mit meinem Körper schwer tun, meinen zyklo­pischen Schenkeln, meinem Hottentottenhintern, meinen Trizeps eines Jahrmarktsherkules, meinem junonischen Bauch, und meinen Brüsten, meinen Brüsten vor allem, einem Bug, der die Passantenströme teilt, und mir bald Anzüglich­keiten sondergleichen einbringt, bald Ausrufe oder Nachge­pfeife, das noch schwieriger zu interpretieren ist, und in das höchstwahrscheinlich ebenso viel Bewunderung einfließt wie entsetzte Fassungslosigkeit.

Charonne wurde von Gladys und Régis als Adoptivkind aufgenommen, nachdem es mit eigenem Nachwuchs wegen “Spermaallergie” und allgemeiner Vertrocknung nicht geklappt hatte. (Sie wollten Charonne wieder zurückgeben – ihre “zweite Aussetzung” -,aber auch das misslang.) Charonne stellt ihre Fleischlichkeit selbsbewusst zur Schau. “Sobald meine schwarzen Warzenhöfe unter dem hellen Baumwollstoff eines T-Shirts hindurchschimmern, ein dem Kontrast geschuldeter Effekt, den ich mir nicht versage und den ich ausgesprochen erregend finde. Aber bitte, da haben wir’s, die meisten Leute ertragen keine Erregung.”

Sie stellt bei all ihrer Jugend und Unerfahrenheit klar die Defizite von Gladys, ihrer “Mutter”, und von Nelly fest. Als Leser kann man das für frühreife Überheblichkeit halten, man lernt ja Gladys und Nelly erst später in ihren eigenen Erzählungen kennen.

Gladys stellt sich dabei wirklich als die frustrierte Person heraus, die ihre Wünsche hinter sich gebracht hat, die in Bhutan Erleuchtung suchte und die jetzt vor dem Nichts ihrer Depression steht. Sogar ihr Mann Régis enttäuscht sie, indem er sich kaum von der gewappneten Sinnlichkeit von Charonne distanziert. Ihr ganzes “Leben” war auf Vermeidung und Kompensation aufgebaut: Anstelle der Lebenslust stand die Fetischisierung des Inventars, der ausgesuchten und teuren Ausstattungen. Gladys verdammt Charonnes Fleisch, Charonne erkennt das als Neid.

Ja, das ist genau seine Vorstellung: Dass wir unsere Tage in einem Dzong zu Ende bringen, versunken in Meditation und aller materiellen Güter und Sorgen enthoben, und ich habe immer gesagt, dass ich einverstanden sei, was aber nicht heißt, dass ich es auch damit bin, dass Charonne und ihr Gigolo unter unseren Decken schlafen, wo Regis und ich doch derart viel Zeit darauf verwendet haben, aus unseren durchforsteten Wandschränken oder bei den Antiquitätenhändlern Steppde­cken aus gaufrierter Baumwolle aufzutreiben, Kopfkissenbe­züge mit aufgestickten Disteln, indische Überdecken aus dem 19. Jahrhundert, Daunenbetten aus der Provence, wie man sie schöner nicht bekommt, und Laken in Hülle und Fülle, aus Leinengarn, Hanfgarn, Mischgewebe: Es gibt nicht ein Bett im Haus, dem unsere Funde und Stilsicherheit nicht zugutege­kommen wäre.

Sie wirkt willig, wie man williger nicht wirken kann, mitnich­ten weniger belästigt und noch weniger vergewaltigt, meine Tochter, die meine Tochter nicht ist – zumindest wenn ich dem Lustgestöhne glaube, das ihrem blauen Mund entfährt. Ich komme auch nicht einen Moment lang auf die Idee, kehrtzu­machen, die Tür zu schließen hinter dieser Vision ihrer Körper, die wie die Körper zweier See-Elefanten auf Packeis einer gegen den anderen schlagen. Denn sie sind beide elefantös, und das Schauspiel dieser von den vereinten Anstürmen er­griffenen Fleischwuchten neigt dazu, wen auch immer unan­genehm zu beeindrucken. (…) Ich bin der Meinung, dass die Fetten kein Sexualleben haben sollten.

Charonne durchschaut auch Nellys Lebenslüge. Nelly, 88, träumt immer noch ihrem Glamour und ihrem Ruhm als Schauspielerin in glatten Boulevardkomödien hinterher. Sie versucht ihren Verfall zu überschminken und lügt sich auch ihr Leben zurecht. Ihr erster Mann, Fernand, war viel älter und ein angreifender Liebhaber, der zweite, Charlie, war bloß schön, ansonsten fad und unbedarfter Rassist, jetzt ist er vertrottelt und gehört zum Hausinventar.

»Sie hat das im Blut: Da werden wir nicht dagegen ange­hen können. Schwarze, bei denen ist das so, das, das liebt den Schwanz! Je mehr sie davon kriegen, umso zufriedener sind sie! Und die fangen früh an, ich warne dich: In fünf Jahren wird man ihr eine Leine umlegen müssen, dieser Charon­ne! Ansonsten wird sie uns Krankheiten ins Haus schleppen! Oder von einem kleinen Bimbo schwanger werden. Du wirst schon sehen, und du wirst nicht sagen können, ich hätte dich nicht gewarnt!” Die ganze Familie war immer schon wohlhabend, ihre Häuser standen in vielen Regione, von Arbeit war nie die Rede.

Nelly labt sich durchaus am sichtluchen Aufblühen Charonnes. Der Roman lebt davon, dass sich die drei Lebensbeschreibungen, so unterschiedlich sie auch sind, überlagern und durchdringen. In den Angrenzung von den anderen werden deren Selbsttäuschungen und Verblendungen und Scheitern erst deutlich. Jede stellt sich selbst in den Mittelpunkt ihrer privaten Welt, keine kann ihre Einbildung verlassen, ohne dass ihr Leben implodiert. Das wird von Kapitel zu Kapitel offensichtlicher und deshalb ist auch die – drittplatzierte – Jeremiade von Gladys am interessantesten.

Der Titel “Ich komme bezieht sich eindeutig auf Charonne, nicht nur des Alters wegen. Nellys Leitsatz hieße “Ich will nicht gehen”, der von Gladys: “Ich bin nichts”. Charonne hat an Schluss noch einen furiosen Auftritt.

bayamacktam3Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys
Smashing tits going hot
Tease your daddy driving wild wild nuts Yes, Im a motherfuckingFrench
Kissing Andy Kissing Jack Kissing Johnny Kissing Mike
Smacking chicks and licking faces Snugging ladies slapping boys Smashing tits going hotTease your daddy driving wild wild nuts So kill me, kill me

„Der diskrete Charme der Bourgeoisie, deren Übermaß an Reichtum die Gefühle verkümmern lässt, wird in diesem Roman erbarmungslos bloßgestellt – aber nicht moralisch verurteilt.“ (Dirk Fuhrig, Deutschlandfunk) Eine überspitzte Komödie in drei Leben, spaßhaft böse, selbstbespiegelte Klischees. Das Großbürgertum im Verfall, bei Nelly im eigenen Leben, Gladys ist das Bürgertum schon zu groß und hohl geworden, sie sucht nach Sinn, hat das aber nie gelernt, die Mutter war anderweitig beschäftigt. Charonne ist in diese Familie gefallen, die Umtauschfrist war abgelaufen. Ihr gehört die Zukunft. Aber welche? Emmanuelle Bayamack-Tam ist offen für Andersartiges, will sich aber dessen Karikatur nicht verkneifen. Die Personen sprechen in ihrer eigenen Drastik, Charonne spart sich dabei selbst nicht aus. Im unbenutzten Arbeitszimmer der Villa haust ein „Besucher“, der den drei Frauen in unterschiedlicher Gestalt erscheint, gerade, wie sie ihn brauchen. Großmutter Nelly hat in einem Märchenporno das Dornröschen gespielt und ihre siebenjährige Tochter in die Vorführung mitgenommen. Das wichtigste Märchen ist aber „Petruschka“.

2015         400 Seiten

Diskussion im Literaturclub des SRF (Video 14 Minuten)

google-books-Leseprobe

Julia Amalia Heyer im SPIEGEL über „Ich komme“

2-

 


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