Fridolin Schley:
Die Verteidigung

Als Kempner den Vater einmal fragte, wie er diese Mordsachen bloß mitzeichnen konnte, hat er geantwortet: Ich bezeichne sie so nicht. Statt von Ermordung der Juden sprach er von Eingriff in ihr Leben.
Der SPIEGEL nennt Ernst von Weizsäcker in einer Geschichte aus dem Jahr 2010 „Diplomat des Teufels“. Auf dem Cover des Romans ist ein ins Unscharfe vergrößertes Bild zu sehen, das zwei Männer zeigt: ein jüngeren, stehend, und einen älteren, der sitzt. Richard von Weizsäcker, Student des Rechts, und seinen Vater Ernst. Der Vater ist als Kriegsverbrecher angeklagt, Richard assistiert der Verteidigung. Nürnberg, 1947-49, die Kriegsverbrecherprozesse, speziell der „Wilhelmstraßen-Prozess“. das Urteil: sieben Jahren Haft wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit.
Fridolin Schley hat all die Recherchen und Quellen studiert und als solche vermerkt. Ihm geht es aber um mehr als die Fakten, um die Atmosphäre, um die Signaturen, um persönliche Unschärfen.
Kempner lächelt. Er schaut den Vater nicht direkt an, als er fortfährt. Beide fixieren den jeweils anderen bloß, wenn dieser spricht, so dass sich ihre Blicke nie treffen oder nur, um sich gleich wieder abzustoßen, wie bei der kurzen Entladung einer statischen Spannung. Ein belauerndes Umkreisen nach fester, aber undurchsichtiger Schrittfolge. Gestikuliert der eine, erstarrt der andere, spricht Kempner plötzlich schneller, antwortet der Vater sogleich langsamer, und wird er dabei zu ausschweifend, sieht Kempner auffällig auf seine Armbanduhr. Die Zeiger stehen auf 17.01 Uhr, und Kempner unterbricht den Vater ungeduldig, sie stehen auf 17.09 Uhr, und der Vater spricht jetzt trotzig leise und einsilbig. Bereits als Richard noch ein Kind war, denkt er, war es nie ein gutes Zeichen, wenn der Vater immer leiser wurde. Es ist ein ungleiches Duell, schon weil Kempner steht und der Vater sitzt — etwas seitlich gerückt, wie um nicht die volle Breitseite zu bieten. Er versinkt im Zeugenstand, anstatt dahinter Deckung zu finden. Stünden sie sich aufrecht gegenüber, würde er, der hochgewachsen ist, seinen Gegner deutlich überragen. Doch selbst so erniedrigt weiß der Vater sich noch zu wehren. Oft zögert er lange, bevor er auf eine Frage eingeht, als müsste er überlegen, wie er das diesem begriffsstutzigen diplomatischen Laien nun verständlich machen soll, antwortet dann aber doch in gewählten und vielleicht noch umso vornehmer verwinkelten Sätzen, als Kempners Deutsch sich nach all den Jahren in Amerika den geradlinigen Formen des Englischen und seinem vergurgelten Klang hörbar angenähert hat. Gelegentlich vermischt Kempner die Sprachen, er sagt: übers Weekend oder das lag noch far away.
Genaue Beobachtung, Blick auf Details, die Körper, das Sprechen, die Reaktionen auf Vorhaltungen, die Taktiken von Anklage und Verteidigung. Alles mit dem Hinweis, dass es so gewesen sein könnte, dass das Wissen so unscharf ist wie das Coverfoto, alles in der Perspektive Richards. Der Sohn, der nicht neutral sein kann, weil er Familie ist, weil ihm der Vater Dostojewski vorgelesen hat. Er will nicht glauben können, was er an Vorwürfen hört, er kann nicht glauben, was der Vater abstreitet oder verschleiert. „Grundsätzlich war ich nur Briefträger in all den scheußlichen Angelegenheiten.“ „Das Auffällige an ihm war weniger, dass er versuchte, seinen Opportunismus und Antisemitismus hinter der Maske des stillen, pflichtbewussten Helden zu verbergen. Sondern dass er vor sich selbst so tat, als sei „Widerstand“ im Grunde eine Frage der Innerlichkeit, nach außen nur erkennbar in guten Manieren und kultivierter Wortwahl.“ (Marianne Lieder, ZEIT) „Als Robert Kempner vor Beginn des Prozesses Marianne von Weizsäcker in Kressbronn besuchte, um sich einen Eindruck von der familiären Atmosphäre zu verschaffen, sagte sie über die abgezeichneten Deportationen: Sehen Sie sich die Hände meines Mannes an. Es ist ausgeschlossen, dass diese Finger so etwas unterzeichnet haben. Aber das war später.“
Prozesse sind vertrackt. Welche Strategie verfolgt die Anklage, geht die Überlegung der Verteidigung auf? Wie sind die Codes der Diplomatensprache zu entschlüsseln? Können die Aussagen überhaupt angemessen übersetzt werden? Finessen, aber sie können entscheidend sein. Schley lässt das alles miterleben, Sicherheit gibt es nicht.
Entscheidend vor Gericht, auch und besonders, wenn es ein Sondergericht ist und wenn es um „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ geht, ist die Frage nach der SCHULD. Schley spricht kein Urteil, er macht sich das gesprochene auch nicht zu eigen. Er versorgt den Leser mit Beobachtungen, Gehörtem, Gesehenem, macht ihn vertraut mit Richard von Weizsäckers Hilflosigkeit. Er zitiert auch Gutachten, was für einen Roman ja schon viel Faktizität bedeutet.
Niemals würde er Dokumente fälschen, um im Handstreich Tausende Juden zu schützen, er beschafft einzelne Visa für bedrohte Familien, rettet, wo es sich in seinem Amtsverständnis verordnen lässt, hier ein Dr. Eckstein, dort die Frau Simonson. Als ginge es um die Improvisation kurzer Tonfolgen, so schrieb es die Boveri. Statt Aktennotizen habe er sich in diesen Fällen einen Knoten ins Taschentuch gemacht. Er sei ein Fremdling in unserer Welt der Unordnung. Ein vornehmer Geist, noch im Geiste Bismarcks, mit einer Haltung aus dem letzten Jahrhundert und Erfolgen, die die Geschichte unsichtbar feiern muss, um sie aufzunehmen. Stilles Glätten, Kalmieren, noch bevor nationaler Unmut entsteht, Alarmieren nur, um friedenswillige Kräfte zu wecken.
Für Ernst von Weizsäcker gab es keine diskutable Alternative zu seinem Verhalten als Diplomat. Er kann die Kritik, er kann auch das Urteil nicht verstehen, es liegt außerhalb seiner Denkwelt. Das Vaterland, das deutsche, war für ihn sakrosankt. Er hatte Kontakte zum George-Kreis und zu Claus von Stauffenberg. Ernst von Weizsäcker kam nicht aus dieser Hypostasierung heraus, Widerstand gegen das Höchste, das „Heilige“, kam für ihn nicht in Frage. Schleys Darstellung legt einen Schuldspruch nahe, er schreibt und ich lese aber aus dem 21. Jahrhundert.
Ähnlich wie in „Die Ungesichter“ leben die Figuren unmittelbar auf, man kommt ihnen sehr nahe. Was aber auch zum Problem einer möglichen Identifikation führt. Was bei der jungen Flüchtigen Amal zum Miterleben existenzieller Strapazen führen soll und darf, weil das Mitgefühl der Schwachen gilt, darf das Urteil über einen potentiellen Nazi-Verbrecher nicht moralisch begründet sein, sich auch nicht an etwaiger menschlicher Sympathie orientieren.
Am Gitter hat der Vater zu Richard gesagt, dass sie die Kriegsjahre in Berlin vielleicht ganz weglassen sollten. Sie seien nicht allzu rühmlich. Er hätte wohl früher und stärker auf einen Tyrannenmord drängen müssen oder ihn selbst begehen, sich notfalls opfern, denn auch wenn er gescheitert wäre, hätte es doch das packendere Vorbild gesetzt, und Richard hat geantwortet, das kann man aber von niemandem verlangen, und gedacht, schon weil wir sonst wahrscheinlich hier nicht mehr miteinander sprechen könnten. Vielleicht fragt sich Richard, ob er deshalb sogar froh darüber sein darf. Dass der Vater immer zauderte, allmählich resignierte und dass alles, was sie für den Vater jetzt noch in die Waagschale legen könnten, zugleich einen Einspruch gegen sich zu erheben scheint. Vom Westfeldzug hat er abgeraten, leugnete aber gegenüber ausländischen Diplomaten die Einmarschpläne und war dann angetan von den glänzenden Siegen. Er sprach sich dafür aus, von Maßnahmen gegen ausländische Juden im diplomatischen Korps abzusehen, nicht jedoch gegen deren jüdische Angestellte. Er setzte Vertraute auf Posten im Ausland, und als Ribbentrop eine Reihe Männer aus dem Amt entfernen wollte, hat der Vater ihm seinen Rücktritt angeboten und blieb dann doch wieder, möglicherweise weil er dachte, zu einem milden Waffenstillstand beitragen zu können, möglicherweise weil er einfach noch da sein wollte, wenn Hitler abgesetzt wäre. Er erwartete, gebraucht zu werden. Er blieb, bis nur noch das Bleiben übrig war. Gegen die Invasion in Skandinavien protestierte er, indem er sich zwei Tage krank meldete.
„‚Die Verteidigung‘ ist ein Balanceakt zwischen Fakten und Fiktion, ein Justizdrama als Docufiction, ein Vater-Sohn-Szenario als Kammerspiel, das jede besserwisserische, anmaßende Geste vermeidet, das Fakten anbietet, aber eine gültige Wahrheit nie behauptet, Aufklärung im besten Sinne, in einer Zeit, in der es kaum noch Zeitzeugen gibt, von einem Autor der Urenkelgeneration, ein Generationenbuch also, ein Zwiegespräch zwischen den Generationen. Großartig!“ (Cornelia Zetzsche, BR) Ein Buch, das man nicht flott wegliest, das in Inhalt und Komposition das Mitdenken verlangt und befördert.
2021 – 260 Seiten

Fridolin Schley im Gespräch über den Roman „Die Verteidigung“ (Vorwärts, 0:30)
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Fridolin Schley:
Die Ungesichter

Fridolin Schley stellt seinem Text eine „editorische Notiz“ bei, die knappe Inhaltsangabe, mehr muss man nicht wissen.
„Die vorliegende Erzählung berichtet — literarisch gestaltet — eine wahre Geschichte und beruht auf Gesprächen mit Amal, die in Wirklichkeit anders heißt. Ihre Flucht hat sich 2009/10 zugetragen und führte Amal von So,alia über die Ukraine schließlich nach München, wo sie — ebenso wie ihr Bruder Cariim — nach wie vor lebt. Ihre Mutter und Geschwister, die vor den Milizen in Somalia nach Äthiopien fliehen konnten, hat sie seitdem nicht wiedergesehen.
Noch immer ist sie körperlich und seelisch von den beschriebenen Ereignissen gezeichnet. Sie ist heute zwanzig Jahre alt und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester.“
Die Raffinesse besteht in der Erzählweise. Schley versucht, Amals Getriebenheit, ihre Ruhelosigkeit, ihren Angststrom im Erzählfluss abzubilden. Die Belastung Amals hört nicht auf, auch wenn sie tagelang nur im Bett liegt, weil sie nicht vorankommt, weil sie nirgendwo Geborgenheit findet, wenn sie sich nur noch verbergen will. Ihre Hilfe, ihre Antriebskraft ist ihr Bruder Cariim –
er sitzt neben Amal, blickt hinaus, um sie nicht anzusehen, keiner spricht, der Wagen holpert über schlaglöchrige Straßen, und sie wackeln und wippen auf der Rückbank wie wirre Marionetten, einmal lachen sie kurz darüber, aber sprechen noch nichts und fragen sich beide, ob sie sich trauen können, während vorne Hanad in die Hände klatscht und weiter Balladen singt, vom Wind, der mit dem Regen auch den Segen Allahs bringt und selbst den kleinsten Ort noch bedenkt, und davon, wie er Amal und Cariim von Ort zu Ort bringen wird, nach Abu Dhabi, nach Dschibuti, in kleinen Schritten näher ans Paradies, in billigen Flügen und immer Last Minute, und wie er stets ihre Pässe verwahrt, die schwedischen Pässe, die er nie aus der Hand gibt, und wie er, als sie in Mogadischu die Flughafenhalle betreten, plötzlich mehr Geld von ihnen will, angeblich sind hinter der nächsten Schiebetür noch Beamte zu bezahlen und das Personal am Schalter und bei der Passkontrolle, und er singt davon, wie Gesichter sie ansehen, Männer in wechselnden Uniformen sie mustern und lauter als nötig in den schwedischen Pässen blättern und ihre immer gleiche Geschichte hören wollen und auf ihre Monitore blicken und wieder hoch, bis sich schließlich ihre Münder zu einem Grinsen verziehen
liegt Amal ganze Tage und Wochen nur auf ihrem Bett und blickt zur Decke — man muss sich verbünden, sagt Cariim zu ihr, alleine kommt man hier nicht durch, aber Amal ist damit beschäftigt, auf ihrem Bett zu liegen, die Augen zusammenzukneifen und an ihr Geld zu denken, immerzu denkt sie an das letzte Geld ihrer Mutter, das sie nicht mehr auf der Haut spüren kann, sie fragt sich, ob es noch in dem Büro in dem Regal in dem Karton in der Schachtel liegt oder längst verdaut ist — so
konzentriert muss sie an das Geld denken, dass sie kaum einmal zum Beten kommt, auch die Stimmen im Raum klingen bald wie sehr weit entfernt, sie stören sie nicht mehr, sondern vermischen sich zu einem gedämpft dahintreibenden Singsang, der Amal an das sanfte Rufen des Muezzin erinnert, das sie früher so gemocht hat — nur Cariim klettert manchmal zwei Stufen der Bettleiter zu ihr hinauf und hält ihr eine Schale mit Brei hin, du musst essen, sagt er und versucht, ihr etwas einzulöffeln, aber Amal weiß, sie darf sich nicht ablenken lassen von ihren Gedanken an das Geld, das dort in dem Büro in dem Regal in dem Karton in der Schachtel liegt und genau in diesem Augenblick leise schmatzend Schein für Schein verzehrt wird, und Cariim, der auch Wochen später noch auf der Leiter des Stockbetts steht, erzählt ihr flüsternd von den Tagen, die sie hier im Bett versäumt
bisder Automat räuspernd zwei Fahrkarten für sie auswirft, bis
sie im Abseits auf einer Bank warten, schweigend verfolgen, wie die Halle sich langsam füllt, der Geräuschpegel steigt, bisMenschen ratternd Koffer an ihnen vorbeiziehen, bis
Fahrstuhltüren auf- und zugehen, ganze Familien verschlingen, bisMonitore flackern mit blauen und gelben Zeichen und Nummern von Zügen nach Trnava, Zvolen, Budapest, Zagreb und Ostava, bisRolltreppen anfahren und wieder anhalten, bis Menschen sich begrüßen und verabschieden, bisDurchsagen ertönen, Pfiffe schrillen, der Saum eines Sommerkleides aufweht, bisCariim aufsteht, um von einem Bäckereistand Kaffee und Brote zu holen, bis
Amal sich fragt, ob all diese scheinbar willkürlich und auf mehreren Ebenen durcheinanderlaufenden Reisenden in Wahrheit einer geheimen Losung folgen, sich wie Insekten lautlos nach einer bestimmten Ordnung verständigen und sie selbst nur hoch genug aufschweben müsste, bis
unter das Dach der Halle, wo das stärker werdende Tageslicht sich zu einer Art Staubglitzern verdichtet, um von dort in dem planlosen Wuseln unter sich das Schwanken eines großen Schattenwesens zu erkennen, das einen Ausweg sucht aus diesem Verlies, oder auch nur ein waberndes, in sich verschlungenes und immer wieder neu sich fügendes Muster von vollendeter Eleganz, bissie sich im Zug zwei freie Sitze suchen, Vierergruppen meiden, damit keine Ungesichter sie ansehen können, bis
Wien sind es nur eineinhalb Stunden, in denen sie tief in die Sitze sinken, beklommen ihr Ticket einem Uniformmann reichen, der aber sonst nichts von ihnen wissen will, nichts von den Nachbarn und Witwen, den Patronenmännern und Pässen, und Amal überlegt, ob sie jemals ein schöneres, festeres Geräusch gehört hat als das Stanzen, mit dem er ihren Fahrschein stempelt,
„Schleys feinsinniges Erzählen ist durchaus artifiziell, er arbeitet mit Zeilenumbrüchen, mit Sprüngen und Rhythmisierungen. Nie aber überschreibt das Literarische die realen Erfahrungen der Protagonistin, stattdessen verleiht Schley der jungen Frau, die sich die Fingerkuppen versengte, um nicht kenntlich zu sein, ein Gesicht. Und er vermag der jungen Frau zumindest einen Teil der Würde zurückzugeben, die ihr die Umstände genommen haben, indem er dem Geschehen denkbar nahekommt, aber zugleich in einer respektvollen Distanz verbleibt, indem er zeigt, ohne zu entblößen.“ (Wiebke Porombka, FAZ)
Der Leser erschöpft sich mit der Flüchtenden, wird mit ihr durch den Roman wie sie durchs Leben gezogen. Gut, dass das Buch nur 100 Seiten hat.
2016 – 100 Seiten
1 Kommentar so far
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Danke für den Hinweis!
Kommentar von tinderness 12. Januar 2022 @ 16:38