Annie Ernaux:
Erinnerung eines Mädchens

Annie Ernaux’ „Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biographie des französischen Mädchens in den 40er/50er Jahren. (Le singulier universel) In der „Erinnerung eines Mädchens“ wechselt Ernaux in ihren Singular. „Die Jahre“ waren natürlich auch die Jahre der Annie Ernaux, die „Erinnerung“ ist allein ihre, auch wenn sie weiß, dass die Identität nur in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der Umgebung der Zeit gefunden werden kann.
Ich bin ein wenig irritiert vom Titel des Buches. Das französische „Mémoire de fille“ ist korrekt übersetzt, „fille“ bedeutet aber auch „Tochter“. Ob man eine 18-Jährige in Frankreich als „fille“ = „Mädchen“ bezeichnet, weiß ich nicht. Vielleicht mag es 1958, als Annie Duchesne (ihr „Mädchenname“ !) 18 wurde, noch so gewesen sein. Oder Annie sieht sich – auch im Rückblick – als Mädchen; das subjektive Empfinden der Konvention ist hier entscheidend, aber seinerseits bezeichnend.
Im Französischen fehlt der Artikel, auch der unbestimmte. In Deutschland war und ist man mit 18 kein „Mädchen“ mehr, man kann aber mit der Bezeichung spielen – oder kokettieren -, die Verballhornung „Mädel“ hat ihre eigene Geschichte. Das Alter mag eine Rolle spielen, die entscheidende spielt aber das Geschlecht. Auch hier hat das Französische eine divergierende Übersetzung.
Annie D stammt aus kleinbürgerlicher Familie und wurde in der streng-katholischen Klosterschule erzogen/geprägt. Über dem Bett der Eltern hing ein Bild der Hl. Thérèse von Lisieux. Sie „kennt kein Lied, in dem es nicht um Gott geht“. Mit 18 lebt sie in völliger Unwissenheit und Unerfahrenheit. „Sie hat kaum Kontakt zu Jungen, ihre Mutter hält sie von ihnen fern wie vom Teufel. Sie träumt von ihnen, seit sie dreizehn ist. Sie weiß nicht, wie man mit ihnen spricht.” „Wie ihre völlige Unwissenheit rekonstruieren, ihre Erwartung an das, was für sie das absolut Fremde und zugleich Wunderbare der Existenz ist – das Geheimnis, über das seit ihrer Kindheit getuschelt, das damals aber nirgendwo beschrieben oder dargestellt wird? “ Da müsste die Tür aufgehen, auf dass man hineintreten könnte ins Erwachsenensein. Ins Frau-Werden. „In dem Moment, als Annie Duchesne an diesem 14. August 1958 durch das Tor treten soll”, der “Tür zum Festsaal des Lebens”, und “diesmal tritt sie durch das Tor”, geöffnet in der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin eingestellt ist.
Drei Motive treiben Annies Initiation an, drei Motive, die sie ausgiebig wiederholt:
– das Bedürfnis, dazuzugehören in einer Gemeinschaft jenseits von Eltern, sozialer Schicht und Kirche. Sie sieht sich als „ein von der Koppel entlaufenes Fohlen, zum ersten Mal allein und frei, ein wenig scheu. Begierig darauf, ihresgleichen zu treffen, diejenigen, die sie für ihresgleichen hält. Die sie als ihresgleichen anerkennen werden”. Ihr “Bedürfnis, dazuzugehören, (…) weil das Glück der Gruppe größer ist als die Erniedrigung, will sie weiterhin dazugehören. Ich sehe sie, wie sie den anderen gleichen will, bis zur vollständigen Anpassung. (…) Sie ist neidisch auf den stolzen, solidarischen Korps, zu dem sie sich gruppieren, Jungen und Mädchen.”
– das Wissen, eine Grenze überschreiten zu müssen, d.h. sich hinzugeben. „Sie empfindet eine wohlige Angst und kann ihm nicht in die Augen sehen. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht.” Sie erinnert “die Lust, von ihm, H, entjungfert und besessen zu werden. Er sagt – Frage oder Befehl? -, sie solle ihm auf sein Zimmer folgen. Alles fügt sich ihrem Begehren, (…) sie überkommt ein irrsinniges Glück. Eine unglaubliche Verzückung. (…) Ihr Geliebter für alle Ewigkeit. Glück, Frieden, vollzogene Hingabe. Himmel und Erde werden vergehen, aber diese Nacht wird nicht vergehen. Die Nacht der Erweckung”. Mehr religiöses Vokabular, religiöses Empfinden geht nicht.
– die orale Ersatz-Befriedigung: vom übermäßigen Essen bis hin zur Fellatio, „nachdem sie ihm freiwillig einen geblasen hat”, (…) er ist ihr immer einen Schritt voraus. Er schiebt sie nach unten, in Richtung seines Bauchs, steckt ihr seinen Schwanz in den Mund, (…) er allein ist Herr der Situation” Unausgesprochen: die Aufnahme des Leibes des Herrn. „Ich war nicht von dem Bett aufgestanden, auf dem ich mich nackt ausgestreckt hatte, zitternd, nur um im nächsten Moment von dem Glied eines Mannes geknebelt zu werden, dem ich vom nächsten Tag an eine abgöttische Liebe entgegenbringen würde.” Sie spürt „ein immenses, unaussprechbares Begehren, (in) der Erwartung einer heiligen Erfahrung und der Angst, (…) den verzweifelten Drang nach Haut.” „Sie isst immer mehr, genießt hemmungslos den Überfluss an Nahrung, die freie Verfügbarkeit, empfindet dabei eine Lust, von der sie nicht mehr loskommt.”
Aber alles, das Begehren, die „Erfüllung“ (!), das Glück ist unsicher. Annie Ernaux muss sich dessen vergewissern, die Traumata verarbeiten, selbstständig werden, aufsteigen. Leichter als im realen Leben geht das im Ersatz: der Aneignung von Wissen und des (literarischen) Kanons, dem Lesen, der Mehrung der Klugheit: die Beste werden. Bücher schreiben. „Ich bin es, die schreibt.“ Die Scham aber bleibt.
Schluss mit dem dilettantischen Psychologisieren über Korporationen und Inkorporierungen. In der Diskussion wurde „Erinnerung eines Mädchens“ oft heruntergezogen auf MeToo-Niveau. Aber zum einen ist das Thema (versuchte? erduldete?) Vergewaltigung hier als Teil der Identitätssuche zu sehen. Das Interesse liegt auf der Verstörung des unvorbereiteten Mädchens, das sich mit mannstypischem Gebaren konfrontiert sieht, „dem universalen Gesetz der wilden Männlichkeit„, sich dem aber auch – aus anderen Motiven – selbst aussetzt. Die Jungfräulichkeit ist nur ein mystisch-religiös konnotierter Nebenaspekt. Zum anderen wird das Thema von breiten Erzählungen über Freund*innen und über die Spurensuche gerahmt. Für mich ist das eher langweilig.
Die Methode Ernaux’ erscheint ambivalent. Einerseits ermöglicht die reflektierte Präzision der Erinnerung verbunden mit dem ständigen Infragestellen der Gedanken verblüffende Einblicke in die sozial formierte Psyche der Frau als Mädchen. Andererseits nimmt sie dem Leser das Selbstdenken ab, betreut ihn beim Mitdenken, aber seine/ihre Phantasie wird unterlaufen. Das Private im Sozialen zu suchen, kann interessant sein, zuvörderst für die Suchende selbst. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.” Zu der 18-jährigen Annie D schafft sie Distanz, indem sie von ihr in der 3. Person spricht: „sie“. Nur so kann sie sie kontrollieren, nur so kann sie die geknebelte Scham ertragen und verarbeiten. Nur so kann sie ihr Erwachsenwerden beenden, kann sie zum „Ich“ werden. „Die Jahre“ suchen stärker im Sozialen, befriedigen aber wegen ihrer Tendenz und Möglichkeit zur Verallgemeinerung verständlicherweise meine Neugier nachhaltiger.

P.S. Das Coverfoto präsentiert das Mädchen mit den Augen zwischen Selbstbewusstsein – Das bin ich! – und distanzierender Scheu. Das Changieren lässt mich an Mona Lisa denken. Frappant ist das danebengelegte Bild der Thérèse von Lisieux.
2018 165 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Diskussion im SRF-Literaturclub 0:52 – 15 Minuten
Lucy Fricke: Töchter
Wenn man sich finden, zu sich kommen will, muss man möglichst weit weg. Die beiden Protagonistinnen sind als „Töchter“ schon um die Vierzig, haben aber, wir sind im 21. Jahrhundert, noch keinen Lebens- und Sinnmittelpunkt für sich gefunden. Vorgezeichnete Berufswege gibt’s nicht, die Herkunft verliert sich im Familien-Patchwork, was noch zu erwarten ist, bleibt eine Leerstelle. Das Wünschen hilft auch nicht mehr, man weiß ja nicht einmal, was man sich wünschen soll.
Die Töchter sind Martha und Betty. Betty erzählt und fährt den Golf, mit dem sie Marthas lange absenten Vater Kurt auf dessen Begehr zur finalen Entsorgung in die Schweiz bringen sollen. Das Motiv ist noch für einige Zeit relativ neu im deutschen Erzählen und liefert Lucy Fricke manch schnurrige Situation in dieser Road-Novel. In den saloppen Formulierungen stecken genaue Kenntnis der menschlichen Psyche und ihrer Macken und viele Reflexionen über das lamentable Leben von Vierzigern zwischen sehnlich erwünschter Verankerung und Hinübergleiten ins Jetzt-ist-es-schon-zu spät.
Martha hatte immer gedacht, das würde sie machen, wenn sie alt sei. Nach Italien kannst du auch als Krüppel noch fahren, habe sie sich gesagt. Jetzt waren wir also so weit.
Sie wischte wieder über ihr iPhone und entschied, dass wir zuallererst nach Genua fahren und dort übernachten würden, dann weiter über Florenz nach Bellegra.
«Ehrlich», sagte sie, «nach Genua wollte ich schon immer. Obwohl ich bis gestern nicht gewusst habe, dass mein Vater dort seinen ersten Liebeskummer ertränkt hat.»
Mir war nicht ganz klar, wer hier wen wohin fuhr. Zu wessen Abschieden und Erinnerungen wir auf dem Weg waren.«Was soll das eigentlich werden?», fragte ich. «Thelma und Louise?»
«Die waren jung, sexy und unterdrückt», sagte Martha. «Guck uns an, wir sind nicht mal unterdrückt.»
«Tschick?», probierte ich weiter.
«Das waren Jungs. Wir sind Frauen kurz vor den Wechseljahren. Ich hoffe, das willst du nicht vergleichen.»
Die Landschaft um uns herum wurde ruhiger, wir fuhren durch ein aufgeräumtes Norditalien, vorbei an Abzweigungen nach Mailand und Turin, dem Meer entgegen, und Martha lehnte sich zurück.
Wie leicht man glauben konnte, seine Eltern zu kennen, und dabei vergaß, dass auch sie einmal jung und verzweifelt gewesen waren, selbst wenn sie damit viel früher hatten aufhören müssen, weil wir dann kamen, was nicht die Verzweiflung beendet hatte, wohl aber das, was wir unter jungsein verstanden. Zwei Dinge waren es, die einen erwachsen werden ließen, die Geburt des ersten Kindes und der Tod der Eltern. Martha stand ganz kurz davor.
Die erste Wende: Der todgeweihte Kurt entscheidet sich um und lässt sich an den Lago Maggiore chauffieren zu Francesca, einer früheren Beziehung. So tragisch das alles ist, so stark sind die beiden Frauen mit den Unbilden des Weges und ihrer eigenen Zielunsicherheit beschäftigt – fahren heißt auch verdrängen.
«Ich weiß nicht», sagte Kurt, «es ist so lange her. Das ist ja das Schlimme. Ständig denkt man an die Zeit zurück, in der man jung war. An die Momente, in denen man die falsche Entscheidung getroffen hat, in denen das Leben eine andere Richtung nahm, während man selbst unfähig war, sich zu bewegen.»
Martha und ich nickten nur traurig, vielleicht nahmen wir uns in diesem Moment vor, am Ende unseres Lebens weniger zu bereuen. (…)Dass ihm erst spät klargeworden sei, dass man seiner Herkunft nicht entkommen könne, sagte Kurt, dass man nur die Fehler seiner Eltern variiere und im Grunde jede Generation geschickter darin werde, Mist zu bauen und sich das Leben zu versauen. Man solle dabei so wenig Schaden wie möglich hinterlassen, das sei das Einzige, was er uns raten könne. «Macht euch nicht schuldig», sagte er und trank sein Bier aus. (…) Dass ihm erst spät klargeworden sei, dass man seiner Herkunft nicht entkommen könne, sagte Kurt, dass man nur die Fehler seiner Eltern variiere und im Grunde jede Generation geschickter darin werde, Mist zu bauen und sich das Leben zu versauen. Man solle dabei so wenig Schaden wie möglich hinterlassen, das sei das Einzige, was er uns raten könne. «Macht euch nicht schuldig», sagte er und trank sein Bier aus.
Martha und Betty fahren weiter nach Bellagra, denn “der Name stand seit fast zehn Jahren in (Bettys) Kopf. Erst hatte (sie) von Adoption geträumt, später von Heirat.”: Ernesto Carletti, gestorben am 12.4.2007. “Vielleicht war es gut, dass du verschwunden bist, bevor ich erwachsen wurde. Was hätte aus uns werden sollen? Und doch: Was hätte aus uns werden können? Warum ich vierzig werden musste, um das zu begreifen, war unerklärlich. Ein anständiger Therapeut hätte mir das am Ende der ersten Sitzung sagen können.”
Jetzt ist Betty an der Reihe, ihre Vergangenheit zu finden. Trotz des Grabsteins in Bellagra spürt sie ihrem Ziehvater Ernesto nach und fährt, der Golf ist inzwischen geschrottet, in die Ägäis, auf eine kleine Insel; es gab eine “hypnotische” Spur. Das letzte, lange Kapitel der “Töchter” heißt “Abschied von den Vätern”. Betty sucht jetzt allein.
Ich zog meine Schuhe an und lief los, weg von der Bucht, die Hügel hinauf, wusste nicht, wo ich suchen sollte, wonach genau ich suchte, nur die diffuse Idee, dass es Spuren geben müsste, hatte ich im Kopf. (…)Ohne Ziel und Sinn war ich umhergestreift, war ausschließlich meinen eigenen Erinnerungen begegnet und einer gewissen Unheimlichkeit, die sich in mir festsetzte. Ich gehörte nicht zu jenen, die alles spürten. Ich war zutiefst gegen jeden Spürterror. Ich sah, was ich sah, hörte, was ich hörte, Geister, Übersinnliches, Vorahnungen, Wiedergänger gehörten definitiv nicht dazu. Schon die Astrologie widerte mich an. Aber etwas war unheimlich auf der Insel.
Griechenland ist natürlich stark mythologisch belastet, auch wenn sich die Neugriechen als gegenwartsnah zeigen. Die Story wird zusehends mysteriös, an die Stelle des schnoddrigen Humors tritt eine Räuberpistole,Waffe eingeschlossen. Im letzten Drittel fehlt die Widerpartin, in der man sich spiegeln und wiederentdecken kann, „solidarischen Spott“ nent das Jan Brandt (taz). Es tropft zu viel Ernsthaftigkeit aus den Zeilen, das Pathos wird – trotz der virulenten Selbstironie – nicht mehr ausreichend unterlaufen. Lucy Frickes “Töchter” erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis. “In diesem Roman kreuzen sich Thelma & Luise mit der Tiefe eines Peter Weiss (‚Abschied von den Eltern‘): Ein grandios erzähltes Buch über die ganz großen Themen der Existenz“ (Svenja Flaßpöhler, Jurorin) Dennis Scheck trieb es Lachtränen in die Augen. Trotzdem lesenwert.
Vielleicht war es das Alter. Mit vierzig waren wir nicht mehr so heiß auf Überraschungen. Wir waren zu müde, das Abenteuer zu suchen. Wir hatten in der Vergangenheit Abenteuer gehabt, die uns in Katastrophen, Armut, manchmal sogar für einen Moment ins Glück gestürzt hatten, nichts davon bereuten wir, aber gar so vieles mussten wir nicht mehr tun, nur um es getan zu haben. Wir hatten uns an die kleine Trauer gewöhnt, die mit dieser Müdigkeit einherging. Wir fuhren einfach weiter und tankten zwischendurch. So war das Leben. Das Tanken war für die meisten ein Pauschalurlaub, eine Kreuzfahrt, ein Verlieben. Am Ende starb man vielleicht während einer Ayurvedakur an einem Schlangenbiss, in London durch einen Verkehrsunfall, bei einem Terroranschlag an einem paradiesischen Strand und hatte nichts im Leben so richtig falsch gemacht.
2018 240 Seiten
Dennis Scheck im Gespräch mit Lucy Fricke (ARD Druckfrisch)
Diskussion im SRF-Literaturclub
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Colm Tóibín: Nora Webster
Ende der 1960er Jahre, Irland, Kleinstadt. Nora Webster, Mitte 40, zwei erwachsene Töchter, zwei minderjährige Söhne, ihr Mann Maurice ist gestorben. Sie trauert, über Jahre, ist unfähig, Maurices Kleider wegzugeben, sie steht allein im Leben, muss und will üben, sich selbst zu definieren, erwartet Hilfe und heißt sie nicht willkommen.
»Sie meinen es gut. Die Leute meinen es gut«, sagte sie.
»Abend fürAbend«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, wie Sie das aushalten.«
Sie fragte sich, ob sie wohl ins Haus zurückgehen konnte, ohne ihm noch einmal antworten zu müssen. Er sprach in einem neuen Ton zu ihr, einem Ton, den er sich vorher nie herausgenommen hätte. Er sprach so, als sei sie ihm irgendwie Rechenschaft schuldig.
»Die Leute meinen es gut«, wiederholte sie, aber diesmal machte es sie traurig, das zu sagen, sie musste sich auf die Lippe beißen, um die Tränen zurückzuhalten. Als sie Tom O’Connors Blick sah, begriff sie, dass sie niedergeschlagen, ja besiegt gewirkt haben musste. Sieging ins Haus.
Es war schon beinahe acht Uhr abends, als es klopfte. Im Hinter zimmer brannte der Ofen, und die zwei Jungs machten am Tisch ihre Hausaufgaben.
»Du gehst aufmachen«, sagte Donal zu Conor. »Nein, du.«
»Einer von euch geht«, sagte sie.
Nora war immer schon querköpfig.
»Sie war ein richtiger Teufel«, sagte Catherine. »Mehr habe ich über sie nicht zu sagen.«
»Tatsächlich?«, fragte Phyllis.
»Und dann hat sie Maurice kennengelernt. Vom ersten Mal an, wo sie mit ihm ausging, war sie ein anderer Mensch. Ich meine, direkt lammfromm wurde sie nicht. Aber sie änderte sich.«
»Ich nehme an, sie war glücklich«, sagte Una.
»Maurice war die Liebe ihres Lebens«, sagte Catherine. »Ah, das ist allerdings wahr«, warf Josie ein.
»Sie konnte aber nach wie vor ein Teufel sein«, sagte Una.
Nun ist es nicht schwer, im tiefkatholischen Irland als teuflisch zu gelten. Da reicht es schon, ein Recht auf sich selbst zu beanspruchen, auf eine Privatsphäre, auf selbst zu treffende Entscheidungen. Als Maurice tot ist, will sie für ihn und in seinem Sinn weiterleben, ohne sich von Verwandten und Bekannten bevormunden zu lassen. Maurice war geachteter Lehrer, Nora muss etwas (aus sich) machen. Colm Tóibín begleitet sie – fast – abstandslos auf ihrem Weg.
Da sind die beiden Töchter Aine und Fiona, die dabei sind, sich „abzunabeln“, von Kindern zu Partnern zu werden, Ratschläge nicht mehr zu nehmen, sondern zu geben. Die beiden Kleinen leiden unter dem Verlust des Vaters. Donal beginnt zu stottern, Connor wird überkorrekt, stellt alles in Frage. Beide sind noch zu jung, um die vakante Rolle in der Familie zu übernehmen, beide suchen ihre Rolle, werden unleidlich, ziehen sich in ihre Hobbies zurück. Nora will sie verstehen, sie behüten, sie nicht vor den Kopf stoßen, auf ihre Bedürfnisse eingehen, die sie selbst nicht formulieren können. Allein das ist schon ein Zeichen gegen die oft aufdringlichen Normen der Irishness. Jeder Schritt verlangt eine Überlegung, der Alltag von Nora setzt sich aus solchen Szenen zusammen: der Umgang mit den Kindern, die Besuche von Schwestern, Tanten und Nachbarn, Einkäufe, kleine Ausflüge. Nichts davon ist banal. Immer wieder ragen Ereignisse heraus. Soll man das Ferienhaus verkaufen, lohnt sich die Renovierung eines Zimmers im eigenen Haus, hat man genug Geld für einen Urlaub an der See? Ist die neue Frisur nicht zu jugendlich? Nora entschließt sich, eine ungeliebte Arbeit bei missgünstigen Vorgesetzten und Kollegen anzunehmen, es besteht schließlich Bedarf an Geld, Nora nimmt Gesangsunterricht, um in einen Chor eintreten zu können, sie tritt in die Gewerkschaft ein. Als Leser erlebe ich alles sehr nahe mit, Nora Webster ist das Zentrum des Romans. In Irland schwebt die Konfessionalität als „Überwachungskatholizismus“ (Ijoma Mangold) stets mit, in der Strukturierung des Alltags wie in der Schule. Dass alle sofort von Noras Handlungen und Problemen unterrichtet sind, macht es nicht leichter, die Erwartungen sind nicht zu erfüllen.
Wir haben ältere Verwandte auf dem Land, die Sippschaft drüben in Kiltealy, und die Ryans in Cork, und die würden das einfach merkwürdig finden, Nora. Sie hätten alle gern einen schlichten Totenzettel in Erinnerung an Maurice.«
»Würden sie denn nicht glauben, wir hätten uns zerstritten, wenn wir getrennte Totenzettel drucken?«
»Sie wissen, wie nahe wir uns alle stehen, Nora, ganz besonders in dieser Zeit.«
»Das ist vielleicht die beste Lösung«, sagte Jim.
Da war für Nora klar, dass er und Margaret die Angelegenheit bereits ausführlich durchgesprochen hatten. Sie war mit dem Kompromiss zufrieden und froh darüber, dass sie nicht vor ihnen eingeknickt war, als sie schlichte Totenzettel mit den ewig selben alten Gebeten gefordert hatten.
Der Nordirlandkonflikt („The Troubles“) ist Thema der Fernsehnachrichten und – mit deutlichem, aber verhalten vorgetragenem Standpunkt – Inhalt der Familiengespräche. Schon die Frage, ob man Derry (irisch) oder Londonderry (GB-Unionisten) sagen soll, führt zu Auseinandersetzungen. Also meidet man das Thema in der Öffentlichkeit, allein Noras Tochter Aine politisiert sich.
Ein leiser, behutsamer, autobiographisch grundierter Roman mit viel Verständnis für die Hauptperson. Kein Urteil, subtile Aufmerksamkeit. „Mehr noch als aus dem, was gesagt wird, entfaltet der Roman seine Wirkung aus dem, was verschwiegen wird. Das Innehalten tritt an die Stelle des Dramas, die katastrophischen Emotionen laufen verdeckt ab.“ (Sandra Kegel, FAZ) „Individualgeschichte als Chronik einer Region, meisterhaft umgesetzt“, findet Christopher Schmidt (SZ). Man sollte die erwartete Geduld beim Lesen mitbringen.
2014 385 Seiten
dtv-Material für Lesekreise (pdf)
Das Lesenswert-Quartett vom vom 13.10.2016 („Ein Meisterwerk“)
Literarischer Feminismus – Rezension von Regina Roßbach (literaturkritik.de)
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Angelika Klüssendorf: Jahre später
Angelika Klüssendorf erzählt die Geschichte vom „Mädchen“ weiter. Aufgewachsen bei hilflos saufenden und prügelnden Eltern, kam sie in ein Heim und wurde, wie viele, die in der DDR nichts wurden, „Rinderzüchterin“. (Grüße an Gregor Gysi.) Übers Lesen suchte sie ihren miserablen Bedingungen zu entkommen. Jetzt, „Jahre später“, findet April zum Schreiben, aber was
ihr im Leben nicht gelingt, gelingt ihr auch im Schreiben nicht: die genauen Worte zu finden für das, was sie zu wissen glaubt. Wieder der Vorschlag des Verlegers, sie solle über ihr Leben schreiben. Doch sie hat Angst, die Räume zu betreten, in denen die Gespenster lauern. (…)
Sie träumt den Traum seit Jahren. Kinder, acht-, neunjährig, Mädchen und Jungen, werden von Uniformierten aufgefordert, sich auf eine Bühne zu stellen, um dort eine Erschießung zu spielen. Die Kinder lassen sich von den Erwachsenen überzeugen und gehen frohgemut nach vorn. Sie summen und stellen sich nebeneinander. Die Männer beginnen zu schießen – es sind echte Patronen, die Kinder werden getroffen, knicken ein, fallen zu Boden. Aber sie richten sich wieder auf, ungläubig, versuchen weiter gerade zu stehen: Es ist doch nur ein Spiel. Erst als die nächste Salve kommt, zeichnet sich das Begreifen langsam auf ihren Gesichtern ab. Sie stürzen, noch immer ungläubig, und sterben.
April wünscht sich, der Traum wäre endlich ausgeträumt.”
April hat aus einer früheren Beziehung einen Jungen, Julius. Durchs Schreiben gerät sie an einen Mann, einen landesweit gerühmten Chirurgen, der sich im Verlauf des Romans als exzentrisches Arschloch erweist. Zunächst hofft sie in der Beziehung Geborgenheit zu finden, doch schon die „Heirat. Das ist Ludwigs nächster Plan“ wird zum Menetekel: “Als sie unterschreiben soll, hat April ihren neuen Namen vergessen und unterschreibt mit einem kunstvollen Gekrakel. Danach frühstücken sie in einem Cafe, nicht weit vom Standesamt. April fühlt sich wie eine Fremde. (…) Auf der Straße überkommt sie ein Glücksgefühl, sie ist eine verheiratete Frau und nichts hat sich verändert. Kurz denkt sie, ich kann abhauen, wenn es schiefläuft, ich kann immer noch abhauen.” Man wünscht ihr Beruhigung, weiß aber, anders als April selbst, dass es für sie nur den Falschen geben kann.
Sie ist in ihrer seelischen Depravation wenig für ein Zusammenleben präpariert, in der aufgeblasenen Lebens- und Berufswelt ihres Mannes Ludwig fühlt sie sich fremd. Ludwig kennt Rücksicht nur als Selbstgefälligkeit. “Beide erfinden sich Rollen, denen sie kaum noch entkommen.“ (Jens Bisky, SZ) Beide sind nicht autark. Keine tragfähige Basis für eine Familie, der gemeinsame Sohn Samuel darf als Betriebsunfall gelten. Zutraulicher sind die Hunde. Die Ehe scheitert, was sonst.
Vor zwei Monaten ist Ludwig ausgezogen. Er hat am Vorabend angerufen, um über die Aufteilung der Wohnung zu sprechen. April will ein Satz nicht aus dem Kopf gehen: Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt. Nach einem kurzen Auflachen wurde ihr klar, dass er es ernst meint.
Im Zentrum des kurzen Romans steht die “Anatomie einer toxischen Partnerschaft” (Klappentext) Was danach kommt, sind Anhängsel. Angelika Klüssendorf nähert sich den Personen und ihren Aufeinandertreffen distanziert, doch aus der Perspektive der Frau. April ist eine schwierige, gehandicapte Person, ein “beschädigter Mensch”, doch kennt man sie besser als den Mann, erfährt über ihre Vergangenheit und ihre Heimsuchungen, man möchte sie verstehen. Ludwig bleibt der Fremde, seine Handlungen und Worte erscheinen sachgrundlos, beide, Mann und Frau, sind hilflos.
Der Stil ist nüchtern, ernüchtert, lakonisch, fast unbeholfen und dabei doch unmittelbar präsent, sezierend. Ausschmückungen wären unangemessen. Das Grauen lauert in den Hauptsätzen.
Das sind bloß sie, zwei Menschen, Mann und Frau. Sein Gesicht schrumpft, wird kalt. April streckt die Hand aus, doch sie kann ihn nicht mehr erreichen. Nächte später sieht sie ein Mädchen vor sich, in einem Mietshaus am geöffneten Fenster, sie erkennt einen dünnen Kinderarm, der Arm holt aus, und dann fliegt Scheiße durch die Luft. Das Mädchen ist noch namenlos und ohne Schutz. Das wird mein erster Satz sein, denkt sie. Scheiße fliegt durch die Luft. (So beginnt der erste Roman über “Das Mädchen”.)
2018 160 Seiten
Leseprobe und Lesungsvideo beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
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Annie Ernaux: Die Jahre

„Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biografie einer 1940 geborenen Französin. Der „totale Roman“ sichtet die Jahre der Erinnerung und modelliert sie in den nationalen (und globalen) Wandel der Traditionen ein.“ In dem, was sie als unpersönliche Autobiografie begreift, gibt es kein »ich«, sondern nur ein »man« oder »wir«”. Annie Ernaux’ Buch-Ich stammt aus niedrigen sozialen Verhältnissen, kommt aus der normannischen Provinz nach Paris, sie studiert und wird Lehrerin, sie betont sich als Frau, weitet ihr Subjekt in die Geschichte. Als Leserin erkennt man sich wieder. Nostalgie – aber mehr.
Annie Ernaux erinnert sich an die Lieder, die man hörte und sang, an Fernseh- und Radiosendungen und deren Personal, an Schule und Familie, immer wieder an die Familienessen mit ihren Tischgesprächen, sie rekapituliert Wünsche und Träume, Sorgen und Sex. Auf Fotos sieht sie sich selbst oder ihr ähnliche Mädchen und Frauen und sie liest aus der Kleidung, den Frisuren, Körperhaltungen oder Gruppierungen die Zeichen der Zeiten. “Man wusste genau, was sich gehörte und was nicht, was gut war und was böse, man las es in den Blicken der anderen.”
Die Mädchen der vorderen Reihe sitzen auf Stühlen, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie sittsam geschlossen, die Füße fest auf dem Boden oder unter dem Stuhl, nur eine hat die Beine übereinandergeschlagen. Die Schülerinnen der mittleren Reihe stehen, die der hinteren sind auf eine Turnbank gestiegen. Von ihnen sind bloß die Oberkörper sichtbar. Die Tatsache, dass nur sechs von ihnen die Hände in den Taschen haben, was damals als Zeichen schlechter Erziehung galt, ist ein Hinweis darauf, dass das Gymnasium hauptsächlich von Bürgerstöchtern besucht wird. Alle bis auf vier Mädchen blicken mit einem leichten Lächeln in die Kamera. Das, was sie sehen – den Fotografen, eine Mauer, andere Schülerinnen? – ist für immer verloren.
Es gibt Zeiten des sanften Wandels, die in der Jugend viel zu langsam vergehen, und Sprünge, die Generationen leben ihr eigenes Leben, der “Fortschritt” ist nicht offensichtlich und nicht stetig. Die Tradition entlässt die Mädchen, ohne aber eine klare Perspektive zu öffnen.
Gefangen in der unendlich langsamen Schulzeit, bestimmt vom regelmäßigen Läuten der Glocke, den Klassenarbeiten nach jedem Trimester, den endlosen Interpretationen von Corneilles Cinna und Racines Iphigenie und der Übersetzung von Ciceros Pro Milone, hatten die wenigen Jugendlichen, die weiter zur Schule gehen durften, den Eindruck, dass nie etwas Bedeutungsvolles passierte. Man schrieb Sätze von Schriftstellern über das Leben in ein Heft und entdeckte, wie berauschend es war, sich in Wörtern wiederzuerkennen, »existieren ist trinken ohne Durst.« Man war überwältigt von einem Gefühl des Absurden und des Ekels. Unsere klebrigen Körper trafen auf das »Geworfensein« des Existenzialismus. Man klebte Fotos von Brigitte Bardot in Und immer lockt das Weib in ein Heft und schnitzte James Deans Initialen in sein Pult. Schrieb Gedichte von Prevert und Chansons von Brassens ab, je suis un voyou und La Premiere Fille, die nicht im Radio laufen durften. Las heimlich Bonjour Tristesse und Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Das Feld des Begehrens und der Verbote wurde immer größer. Es eröffnete sich die Möglichkeit einer Welt ohne Sünden. Die Erwachsenen argwöhnten, dass uns die modernen Schriftsteller »verderben« würden und wir nichts mehr »respektieren« würden.
Aber: “Ihr Leben nach dem Abitur ist eine Treppe, die in den Wolken verschwindet.”
„Die Jahre“ sind französische Jahre. Die erinnerten Namen sind in Deutschland (weitgehend) unbekannt. Es gibt andere Lieder, andere Filme, in der Schule wird eine andere Literatur besprochen, mit dem gleichen Ernst wie in anderen Ländern die jeweils nationale. Man sucht nach Parallelen und fragt nach Gemeinsamkeiten. Dadurch wird das Buch auch für deutsche Leser interessant. Deutschland erzeugt in Frankreich so wenig Spuren wie umgekehrt, sobald die Jahre der Weltkriege verblasst sind. Viel präsenter ist Algerien, sind die Präsidentenwahlen, welche die (fortschrittlich gesinnten) Franzosen in kleine Hoffnungen oder Resignation stürzen. Die Freiheit nimmt zu, gerade auch für Frauen, aber sie zeitigt andere Zwänge.
Erst in den 1950er Jahren bricht in Frankreich auch die Welt ein: Auf dem Plattenspieler drehen sich Bill Haley und Elvis Presley. Einen weiteren Einschnitt sieht Ernaux im Walkman (in Frankreich: balladeur) symbolisiert. „Mit dem Walkman drang die Musik zum ersten Mal in den Körper ein, man konnte in ihr leben, und die Welt blieb außen vor.” Die jungen Leute, also die eigenen Kinder, “befanden sich in einer ironischen Distanz zur Welt. Man bewunderte ihre Schlagfertigkeit und Redegewandtheit und fühlte sich minderwertig, weil man Angst hatte, im Vergleich zu ihnen langsam und beschränkt zu wirken. Im Kontakt mit ihnen konnte man seinen Wortschatz erweitern, man hörte sich den richtigen Gebrauch der Jugendsprache ab und ergänzte sein Vokabular um Ausdrücke wie »geil« und »abgefahren«, sodass man die Dinge auf dieselbe Weise benennen konnte wie sie.”
“Die Ereignisse verschwanden, bevor sie zu einer Erzählung werden konnten. Die Gleichgültigkeit wurde größer.” Annie Ernaux will die Welt vor dem Vergessen retten, weil sie zunehmend in den Erinnerungen lebt. Sie will “etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.” Sie will “ihren Aufenthalt auf der Erde dokumentieren, in einer gegebenen Epoche, die Jahre, die sie durchdrungen haben, die Welt, die sie allein dadurch, dass sie gelebt hat, in sich abgespeichert hat.”
Vor Jahrzehnten, als sie in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim das Bedürfnis zu schreiben verspürte, hatte sie gehofft, eine unbekannte Sprache zu entdecken, durch die sie mysteriöse Dinge würde ausdrücken können, wie eine Wahrsagerin. Das fertige Buch würde, so dachte sie, anderen ihr geheimstes Wesen enthüllen, es würde eine Glanzleistung werden, die ihr Ruhm brächte – was hätte sie nicht darum gegeben, Schriftstellerin zu sein, so wie sie als Kind davon geträumt hatte, eines Morgens als Scarlett O’Hara aufzuwachen. Später, als sie vor erbarmungslosen Schulklassen mit vierzig Schülern stand, als sie einen Einkaufswagen durch den Supermarkt schob, als sie auf einer Parkbank neben dem Kinderwagen saß, kamen ihr diese Träume abhanden. Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wundersamerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kommen würde, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller, sie war das einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte sein.
“Die Jahre” ist, ähnlich wie Didier Eribons “Rückkehr nach Reims”, eine Soziografie, nicht so vordergründig politisch, die Person verbirgt sich im “man” der Gesellschaft. Man entwickelt sich ja nie allein, nicht in Frankreich und nicht in Deutschland. Die “Jahre” verliefen in Deutschland sehr ähnlich. Sonja Finck hat das sehr schön übersetzt. Man muss nicht 1940 geboren sein, man muss auch keine Frau sein, um “Die Jahre” interessant zu finden, vor allem die erste Hälfte.
2008 255 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag

Lucia Berlin:
Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin war Tochter eines Bergbauingenieurs und lebte in wechselnden Minenstaaten der USA. Mit zehn Jahren erkrankte sie an Skoliose, was sie später zwang, ein Korsett zu tragen und ihre Atmung stark beeinträchtigte. Sie zog mit ihrer Familie und ihren Männern nach Mexico und Chile. Nach 1968 arbeitete sie kurze Zeit als Aushilfslehrerin an der University of New Mexico und schlug sich dann lange Jahre in Berkeley und Oakland in schlecht bezahlten Jobs als Telefonistin, Krankenhauspflegerin, Putzfrau, Arzthelferin und Lehrerin durch, zog alleinerziehend ihre vier Kinder groß und wurde zusätzlich zu ihren Gesundheitsproblemen noch alkoholabhängig. (nach Wikipedia)
Ihre Geschichten folgen diesem Leben an die Stationen, folgen ihm auch in die persönlichen Beeinträchtigungen, folgen ihm in die Abgründe zwischen selbstbestimmtem Leben und gesellschaftlicher Deprivation. Lucia Berlin hat wohl viel erlebt und kann deshalb so nahe und wirklich, so hart erzählen. Wobei: Die meisten Stories sind eher Beobachtungen. Voller Leid, voller Einsicht in die Gegebenheit der Lasten, voller Verständnis für Krankheit, Drogen, zerstörte Beziehungen. Das „Schicksal“ meint es nicht gut mit ihren Personen, die Personen nehmen das ihnen Zugemutete aber an, Lucia Berlin schreibt, als wäre das Stigma das Normale. Die Ich-Erzählerin ist immer mittendrin. Es wird auch viel geweint.
Als ich anfing, hier zu arbeiten, dachte ich, es sei eine riesige Verschwendung von Steuergeldern, zehn, zwölf OPs an Crack-Babys durchzuführen, die merkwürdige Anomalien hatten, nur um sie mit ihren Behinderungen am Leben zu halten und nach einem Jahr im Krankenhaus von einem Heim ins nächste zu schieben. So viele waren ohne Mütter, noch mehr ohne Väter. Die meisten Adoptiveltern sind großartig, aber manche machen einem Angst. So viele Kinder mit Einschränkungen oder Gehirnschäden, Patienten, die nie älter werden als ein paar Jahre.
Viele Patienten mit Downsyndrom. Ich glaubte, dass ich nie ein solches Kind haben könnte.
Jetzt mache ich die Tür zum Wartezimmer auf, und Toby, der entstellt ist und zittert, Toby, der nicht reden kann, ist da. Toby, der in Beutel pinkelt und scheißt, der durch ein Loch im Bauch ernährt wird. Toby kommt und umarmt mich, lachend, mit offenen Armen.
Wenn ich hinausgehe, stelle ich meine Augen gewissermaßen unscharf, und wenn ich die Namen der Patienten aufrufe, lächele ich der Mutter, Großmutter oder Pflegemutter zu, schaue aber auf ein drittes Auge in ihrer Stirn. Das habe ich in der Notaufnahme gelernt. Es ist die einzige Möglichkeit, wie man hier arbeiten kann, bei den vielen Crack-Babys und Aids- und krebskranken Säuglingen. Babys, die nur wenige Jahre vor sich haben. Wenn du den Eltern in die Augen siehst, dann wirst du ihre ganze Angst, ihre Erschöpfung und den Schmerz mit ihnen teilen, sie darin bestätigen. Andererseits, wenn du sie erst einmal kennengelernt hast, kannst du manchmal nichts weiter tun, als ihnen in die Augen zu sehen mit all der Hoffnung und der Traurigkeit, die sich anders nicht ausdrücken lassen. (…) Es ist eine lohnende Arbeit, anders als in einem normalen Büro. Sie hat auf jeden Fall meine Wahrnehmung der Dinge verändert.
Lucia Berlin hat den Vorteil, durch ihre Bildung außerhalb der Personen stehen zu können, über ihnen, genau hinzusehen und die Wörter für die Beschreibung zu haben. Oft wird zwischen Englisch und Spanisch vermittelt, sie kehrt das nie hervor, betont aber stets ihre Erkenntnisse. Die Geschichten treten auf der Stelle, sind aber doch strukturiert, leben von einem nüchternen, einfühlsamen, lakonischen Schlusssatz, wie in der Geschichte von „El Tim“, dem renitenten Schüler:
Seine dunklen Augen suchten mein Gesicht. Für einen Augenblick war der Schleier verschwunden. »Ich schätze, dann sind wir quitt«, sagte er. »Ja«, sagte ich, »lass uns zum Unterricht gehen.« Ich ging mit Tim den Flur entlang und gab mir Mühe, mich nicht dem Rhythmus seiner Schritte anzupassen.
Oder “Carmen”: »Wo ist mein Baby? Wo ist sie?« Die Schwester verließ das Zimmer. Ich war an die Seiten des Bettes gefesselt. Ein Arzt kam herein. »Bitte binden Sie mich los.« Er tat es und war so liebevoll, dass ich Angst bekam. »Was ist los?«
»Sie wurde zu früh geboren«, sagte er, »wog nur wenige Pfund. Sie hat nicht gelebt. Es tut mir leid.« Er streichelte meinen Arm, so unbeholfen, als würde er ein Kissen streicheln. Er sah sich mein Krankenblatt an. »Ist das Ihre Telefonnummer? Soll ich Ihren Mann anrufen?«
»Nein«, sagte ich. »Es ist niemand zu Hause.« – Ende. Keine weiteren Aussichten.
Antje Rávic Strubel hat 30 Stories aus den Jahren 1977 – 1999 ausgewählt und treffsicher übersetzt in ein sachliches Deutsch. Die meisten Geschichten kreisen um Krankendienste, Putzhilfen, Alkohol, Familiendesaster, es ergeben sich viele Ähnlichkeiten, Überlagerungen und Verknüpfungen, auch Ermüdungen. Mit der Hälfte der Texte hätte man ein ebenso gutes Bild vom Schreiben Lucia Berlins. Sie ergeben ein Kaleidoskop, den Schritt zum Roman hat Lucia Berlin nicht geschafft. Nur wenige Geschichten durchbrechen die Thematik, etwa “Toda Luna, Todo Año” vom Tauch-Erleben auf “La Isla”, eine der wenigen Stories, die nicht in Ich-Form geschrieben sind. Ein Buch, auf dessen heitere Härte man nicht gefasst ist. Ein Buch auch über Leben in Amerika (“Wie Heroin die amerikanische Mittelschicht zerstört – Eine nie da gewesene Drogenepidemie hat die ländliche US-Bevölkerung erfasst”, schreibt der Spiegel im August 2017). Vom allgemeinen Rezensentenjubel lassen sich die Kritiker gerne anstecken: „Man muss sie einfach mögen “ (Susanne Mayer, ZEIT)
Erwischte er das Ende einer Geschichte, dachte er sich aus, was vorher passiert war, oder versuchte, es aus anderen Seiten in der Hütte zusammenzustückeln. Sobald er den gesamten Raum durchgelesen hatte, lief er tagelang hin und her und fing dann wieder von vorn an. Ich war nicht dabei, als mein Vater dann im Frühjahr zum ersten Mal hochging und den alten Mann tot auffand. Auch die Ziegen und der Hund waren tot, alle in seinem Bett. »Wenn mir kalt wird, hol ich mir einfach noch eine Ziege dazu«, hatte Hancock immer gesagt. (“Phantomschmerz”)
Ich weiß nicht, wie ich überhaupt darauf komme. Elstern blitzen jetzt blau und grün vor dem Weiß des Schnees auf. Sie haben ein ähnliches herrisches Kreischen. Natürlich könnte ich in einem Buch nachsehen oder jemanden anrufen und nach den Nistgewohnheiten von Krähen fragen. Aber was mich stört, ist, dass ich sie nur zufällig bemerkt habe. Was habe ich sonst noch verpasst? Wie oft war ich in meinem Leben gewissermaßen auf der hinteren Veranda statt auf der vorderen? Was hat man mir gesagt, ohne dass ich es hörte? Welche Liebe mag es gegeben haben, die ich nicht spürte?
2015 380 Seiten
Das Literarische Quartett vom Juni 2016 (0:17)
SRF-Literaturclub vom Mai 2016
Kritik von Christopher Schmidt in der SZ
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Niña Weijers: Die Konsequenzen
Minnie Panis wird als „Star in der niederländischen Kunstszene“ vorgestellt. Gerade hatte sie mit einer Fotoserie in der Vogue Aufsehen erregt, in der sie sich schlafen ablichten ließ und wo ein „blauseidenes Lanvin-Hemdchen eine zentrale Rolle“ spielte. In „Minnie sleeping“ zeigt sie sich „als vollkommen eigenwillige Antikünstlerin, die sich über die ganze Idee von Subversivität erhebt und genau dort, im Herzen des Kommerzes, einen ‚dritten Raum’ des Widerstands findet“. Zuvor verfolgte sie ein „Projekt“, das „exakt 2095 Fotos von ihrem eigenen Abfall“ ergeben sollte. Ende 2007 hatte Minnie, „mehr oder weniger von einem Tag auf den anderen, beschlossen, alles, was sie besaß, zu verkaufen. Es hatte mit ihrer gefakten Versace-Couch begonnen; ein grässliches Ding – blauer Satin mit aufgedruckten französischen Lilien – von unglaublichen Ausmaßen, das sie einmal in einer Anwandlung bei eBay gekauft hatte. Sie war vernarrt darin gewesen, in seine protzige Dekadenz, die ausgesprochene Hässlichkeit, die zum Geschmack einer bestimmten, rasch reich gewordenen Klasse gehörte, für die dieser neu erlangte Reichtum gleichbedeutend mit allem war, was groß, glänzend und weich war – und schnell natürlich, soweit es Fahrzeuge betraf. Die Couch war, alles in allem, ein durch und durch ironisches Objekt. Alle hatten angesichts des Teils grinsen müssen; man begriff, wie die Hässlichkeit vom Kontext aufgehoben wurde, so dass jetzt sogar Schönheit von ihm ausging, auch wenn es die unprätentiöse Schönheit eines plumpen alten Hundes war”. “Nothing personal” war unerwartet erfolgreich. Pressestimme: “In erster Linie ist es ein extrem intimes und raues Selbstporträt einer Frau auf der Suche nach den äußersten Konsequenzen ihres Liebeskummers. Am Tag nach dem Verschwinden ihres Liebsten fragt sie sich, ob es gelingen könnte, ihr ‘ganzes Leben zum Verkauf anzubieten’, um ‘in der gespiegelten Leere gleichzeitig den ganzen Mistkrempel aufzulösen’. (…) Anhand ihres Besitzes rekonstruiert und dekonstruiert Panis ihr Leben.”
Und jetzt, 2012, schließt sie vor Notar Specht einen Vertrag mit einem befreundeten Fotografen: “Ab einem von [dem Fotografen] genauer zu bestimmenden Datum im Februar wird er der Unterzeichneten, Minnie Panis, an einundzwanzig aufeinanderfolgenden Tagen mit seiner Kamera folgen. Er wird mit der größtmöglichen Diskretion vorgehen und unter keinen Umständen in gleich welche Situation eingreifen. Keine der beiden Parteien wird während des Zeitraums zwischen dem 1. Februar und dem 21. März 2012 Kontakt zur anderen aufnehmen. Die Unterzeichnete wird in diesem Zeitraum Amsterdam nicht verlassen. Das einzige ihr gestattete Transportmittel ist ein Fahrrad.” “Das laut Klappentext “vielleicht riskanteste Experiment ihrer Karriere”.
Das alles ist nicht originell, aber es greift doch den Diskurs über die rasend verzweifelten Zwickmühlen von kommerzialisierter Kunst auf. Niña Weijers schreibt sich durch Namen und Aktionen, von Marina Abramović über Andy Warhol bis zu einer Barfrau, die “Dissertationen in Plastikmappen [hatte] rahmen lassen und sie als Readymades an die Wände einer Galerie im East Village gehängt. »Science 1-15«, hatte sie die Serie genannt”.
Am 15. Januar erhält sie einen rätselhaften Brief von Dr. J. Johnstone, Direktor einer Institution namens C B T H. Der Brief sollte Minnie Panis’ Leben verändern – und er verändert vor allem den Roman. Dr. Johnstone war der Arzt, der dem Frühchen Minnie ins Leben half, sie mit eigenartigen Methoden aus ihren seltsamen Absenzen lockte, und er tritt wieder in ihr Leben, als Minnie Panis “zum dritten Mal aus ihrem eigenen Leben verschwand. Es war der 11. Februar 2012, der Tag war klar und kalt, aber nicht kalt genug.” Minnie bricht beim Eislaufen ein und wird gerade noch gerettet. Es geschah im Zusammenhang mit ihrem Kunstprojekt, doch die Kunst spielt im weiteren Verlauf des Romans kaum noch eine Rolle.
In Rückblenden erzählt Niña Weijers vom Verschwinden des kleinen Mädchens, von ihrer fremden Familie, von den Therapien des esoterisch angehauchten Doktors. „Menschen, die ihr gesamtes Leben hinter sich lassen, spurlos verschwinden, ganz neu beginnen. Die Möglichkeit hat ihren Reiz: ein Leben auf rewind, alles in umgekehrter Reihenfolge, so dass es sich selbst löscht, bis man wieder ein sauberes Baby ist oder sogar noch weniger als das, ein Embryo ohne Oberhaut, ohne Fett, ohne Skelett, ohne Hirnwindungen. Ein Wesen, das sich noch für nichts entschieden hat, noch nichts unterlassen hat, noch nicht von purem Pech und ebenso irrsinnigen Momenten des Glücks überfallen worden ist. Von dort aus neu beginnen. Ohne Eltern, die einen falsch erziehen, ohne kindliche Ängste, ohne Navigationsfehler. Selbst einen Namen aussuchen, nicht langsam zu dem werden, der man ist, sondern es schon sein, ein Bausatz ohne fehlende Teile, falsche Berechnungen oder Konstruktionsfehler. Keine Willkür. Keine Verpflichtungen. Niemand sein, nirgends sein. Das Einzige, was der Fisch zu tun braucht, ist sich im Wasser zu verlieren.”
Mir gelingt es nur in Ansätzen, Minnie Panis’ Künstler-Sein mit den Verwerfungen ihres Lebens in Verbindung zu bringen, die Spuren ihrer Selbstentfremdung sind zu subjektiv, verzwirlen sich mit Esoterik und Maya-Kalender-Zyklen. Selbst der Titel, „Die Konsequenzen“, ist vieldeutig und erschließt sich nicht auf Anhieb. Für die These des Buches, die Künstlerin gehe für ihre Kunst an die Grenzen, bleiben die Belege aus, die Werke wirken wie Abziehbilder aus einer Anthologie der Gegenwartskunst, Minnie Panis’ Projekte sind nicht eigenständig und schon gar keine lebensverschlingenden Grenzfälle. Die Gedanken darüber, wo die Grenzen zwischen Kunst und Leben sind und ob Leben und Kunst verschmelzen können, verlieren sich im überhobenen Anspruch von Niña Weijers. Beide Teile des Romans sind in ihrer Subjektivität interessant, sie finden nicht zusammen.
2014 360 Seiten
Das Original-Cover zeigt die junge Frau in ihrer Nackheit. Weshalb greift man das in Deutschland nicht auf?
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Hiromi Kawakami:
Bis nächstes Jahr im Frühling
Hiromi Kawakami lässt das Personal ihrer Romane viel, besser: oft essen. Auch Frauen gehen, wenn sie nicht kochen, gern in Restaurants und lassen den Leser an der speziellen Vielfalt der japanischen Küche teilhaben.
»Was darf ich Ihnen bringen?«, fragte sie und verneigte sich im gleichen Winkel wie die erste.
»Haifischflossen, Morcheln und gemischte gedämpfte Pilze. Eine gebratene Languste. Und dann noch von der Pekingente und zum Schluss eine Portion kalte Soba mit Brühe. Und zum Nachtisch etwas mit Kokosmilch«, bestellte Satomi. Noyuri sah sprachlos zu. Sie hätte Satomi gern Einhalt geboten, war aber unfähig, ihren Redefluss zu unterbrechen.
Für Noyuri ist es nicht leicht, ihrem Mann ins Gesicht zu sehen, obwohl sie dringend mit ihm sprechen muss, denn sie hat erfahren, dass er eine Geliebte hat. Vielleicht auch zwei. Noyuri ist eine kleine, ganz wenig selbstsichere Frau, sie sucht die Fehler eher bei sich als bei anderen, “Ich bin noch immer wie ein Kind, dachte sie und umschloss ihren Körper mit beiden Armen”. »Was habe ich eigentlich vom Leben?«, fragte sich Noyuri immer wieder. Schon bevor Takuya ihr seine Trennungsabsicht eröffnete hatte, war die Zeit ebenso unaufhaltsam verstrichen. Auch wenn sie bewusst in ihrem Gedächtnis forschte, stieß sie auf keine richtigen Erinnerungen.
Abermals seufzte Noyuri.
Warum hatte Takuya sie geheiratet? Sie hatte es immer vermieden, darüber nachzudenken, aber nun stellte Noyuri sich diese Frage mit voller Absicht.
»Und vor allem, warum habe ich ihn geheiratet?« Das sollte ich mir vielleicht zuerst überlegen, dachte sie. Aber sie kam zu keinem Ergebnis.
Das gemeinsame Essen ist auch Ort und Anlass für Gespräche, wobei es nicht selbstverständlich ist, dass man sich beim Essen gegenüber sitzt.
“Es kam selten vor, dass sie nebeneinander an der Theke saßen. Die Restaurants, die Takuya in letzter Zeit ausgesucht hatte, servierten meist westliche Speisen, und sie saßen einander stets am Tisch gegenüber.
»Irgendwie gemütlicher, wenn man sich nicht ins Gesicht sieht«, murmelte Noyuri.” Sie muss ihren Man zur Rede stellen, vor allem, seit immer öfters die anonymen Anrufe kommen.
Als sie aus der kleinen Kanne einschenkte, vergoss sie etwas Tee.
»Entschuldige«, sagte sie. Takuya nickte nur stumm.
Kaum hatte er sich an den Esstisch gesetzt, als aus dem Fernseher lautes Gelächter ertönte. Er wandte seine Aufmerksamkeit kurz dem Fernseher zu, richtete den Blick aber dann sofort wieder auf seine Teeschale.
»Also«, sagte Noyuri.
Takuya schwieg und blickte auch nicht auf. Noyuri unterdrückte das Gefühl, abgewiesen zu werden, und fuhr fort.
»Also, es gibt etwas, das ich dich fragen möchte, Taku.«
Takuya blieb weiter stumm. Noyuri starrte auf seinen gesenkten Kopf. Er hatte zwei Wirbel. Menschen mit zwei Wirbeln seien stur, hatte Makoto einmal gesagt.
»Schon die ganze Zeit will ich dich das fragen.«
Takuya schaute immer noch nicht auf. Wenn er sich den Kopf gewaschen hatte, wirkten seine Haare weich und verstrubbelt, aber wenn er wie jetzt aus der Firma kam, waren sie hart und störrisch.
»Wann hättest du es mir gesagt?«
Takuya hob seinen Kopf wie etwas sehr Schweres. Er öffnete halb den Mund. Aber er sprach nicht. Dann blickte er kurz wieder nach unten.
Noyuri hat kaum Bekannte, sie fühlt sich Takuya zugehörig und da der nicht spricht, muss sie mit sich allein reden, ihre Gedanken sind so eindeutig, dass sie sie über sie erschrickt und sie ungedacht machen will. Eiji ist ein ebenso unsicherer Studienkollege, Tamoko, eine Bekannte aus der Studienzeit, ist älter und viel robuster, was sich auch im Essen zeigt, Noyuri isst wenig, trinkt fast nichts. Nur ihr Onkel Makoto wirkt abgeklärt, hört sich Noyuri an und spricht ihr gut zu; seine Frau hat ihn gerade rasugeschmissen.
Hiromi Kawakami unterteilt ihren Roman in Jahreszeiten- und Wetterkapitel. Es passiert nicht viel, Noyuri ist ausgefüllt mit ihren suchenden und ängstlichen Gedanken, sie weiß, dass sie selbständig werden muss, will das auch, aber das scheint auch in Japan nicht so einfach zu sein, auch und vor allem für Frauen nicht. Traditionelles Denken und Rituale engen ein, aber die Personen merken das und leiden darunter, auch wenn sie keine einfachen Lösungen kennen. Steffen Gnam nennt es “Schwellenängste der Modernisierung“ (FAZ). „Er hat nur geduscht. Er will nicht das gleiche Badewasser benutzen wie ich. Tränen stiegen ihr in die Augen.“
Hiromi Kawakami ist ganz nah bei Noyuri, erzählt aber nüchtern, unaufgeregt, ohne Einfühlung, sie lässt die junge Frau allein mit ihrer Verzweiflung. Das macht das Buch lesenswert. Dennis Scheck, der mir den Roman im Fernsehen als „eine der unvergesslichsten Liebesgeschichten der Gegenwartsliteratur“ empfohlen hat, übertreibt, ich vertrau ihm immer weniger.
2008 220 Seiten
Miranda July: Der erste fiese Typ
Wie’s so kommt. Man ist schon ein wenig älter und hat sich aufs Träumen verlegt. Da tritt eine Person ins Leben, anfangs gar nicht so sympathisch, aber man rauft sich zusammen. Nach gar nicht so langer Zeit kommt das Kind. Wie soll man mit ihm umgehen? Wendet sich mit ihm das eigene Leben? Man lebt sich wieder auseinander, die Vorstellungen waren doch nicht kompatibel. The same old story.
Miranda July erzählt sie – aber anders. Rough, denn die Verhältnisse, die sind nicht mehr so. Vieles hat sich aufgelöst im 21. Jahrhundert. Cheryl Glickman phantasiert sich Philipp herbei, Arbeitskollege, sie ist Mitte vierzig, er 20 Jahre älter. Spielt keine Rolle. Ihr Haus hat sie als Schutzraum des schwachen Ich eingerichtet, reduziert und rationalisiert. Da zieht plötzlich Clee ein. Das heißt, sie zieht nicht ein, sie macht sich breit. Eine ungepflegte 20-Jährige mit stinkendem Fußpilz, nachlässig in allem, interessiert nur an TV, Tiefkühlgerichten, Cup-Noodles und Pepsilight literweise, zum Abgewöhnen. „Der erste fiese Typ“.
Der Rest des Hauses war tadellos, wie immer, dank meinem System.
Es hat keinen Namen – ich nenne es einfach mein System. Sagen wir zum Beispiel, jemand ist total am Boden, oder auch einfach nur faul, und kümmert sich nicht mehr um den Abwasch. Bald stapeln sich die Teller bis zum Himmel und es scheint unmöglich, auch nur eine Gabel zu spülen. Also isst derjenige bald mit schmutzigen Gabeln von schmutzigen Tellern und kommt sich vor wie ein Obdachloser. Folglich duscht er nicht mehr. Was es schwer macht, das Haus zu verlassen. Bald beginnt er oder sie, seinen Müll überall hinzuwerfen und in Gläser zu pinkeln, weil er dazu nicht aus dem Bett aufstehen muss. Es ist uns allen schon so ergangen, Verurteilungen sind also fehl am Platze, aber die Lösung ist simpel:
Weniger Teller.
Was man nicht hat, kann sich nicht aufstapeln. Das ist das Wichtigste, aber auch:
Lassen Sie alles, wo es ist.
Wie viel Zeit verbringen wir damit, Gegenstände von A nach B zu tragen? Entsorgen Sie Ihren Wäschekorb und legen Sie die schmutzige Kleidung direkt in die Waschmaschine. Die Trommel ist Ihr Wäschekorb. Bevor Sie einen Gegenstand weit von seinem angestammten Platz entfernen, denken Sie daran, dass Sie ihn auch wieder dorthin zurückbringen müssen – ist es das wirklich wert? Können Sie das Buch nicht auch lesen, während Sie neben dem Regal stehen und den Finger in der Lücke halten, in die Sie es danach wieder schieben werden? Oder noch besser: Lesen Sie es gar nicht erst ….
Gegen Abend fragte ich Clee, ob sie Hühnchen und Grünkohl auf Toast mitessen wolle. Falls sie sich wunderte, dass es Toast zum Abendessen gab, würde ich ihr erklären, dass das weniger aufwendig ist als Reis oder Pasta, aber trotzdem als Getreide durchgeht. Ich würde ihr nicht mein ganzes System auf einmal erklären, nur Stück für Stück. Sie sagte, sie hätte sich etwas zu essen mitgebracht.
»Brauchst du einen Teller?«
»Ich kann aus dem Ding essen.«
»Eine Gabel?«
»Okay.«
Ich reichte ihr die Gabel und stellte mein Telefon auf volle Lautstärke. »Ich erwarte einen wichtigen Anruf«, erklärte ich. Sie sah hinter sich, so als suchte sie denjenigen, den das interessierte.
So leicht wird Cheryl sie nicht wieder los, denn Clee ist die Tochter ihrer Chefs, in der Firma stellen sie DVDs mit „Selbstverteidigung zu Fitnesszwecken“ her. Cheryl und Clee raufen sich zusamen, der feminine Fight-Club, es geht zur Sache, das Vorspiel zum Sex. Cheryl lässt sich drangsalieren, aber das ist besser als gar keine Nähe, besser als nur obsessive Visionen.
Nicht eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, ihr gewachsen zu sein. Nach einer guten halben Stunde machten wir eine kurze Verschnaufpause; ich trank ein Glas Wasser. Als wir wieder anfingen, war meine Haut ganz weich, die ersten blauen Flecke zeigten sich und jeder Muskel zitterte. Es war schön, tiefer und fokussierter. Mein Gesicht wurde von einem Hass verzerrt, der mir ganz neu war; er schien mir überproportional für meine Spezies. Das war das Gegenteil eines Raubüberfalls. Ich war jeden Tag meines Lebens überfallen und ausgeraubt worden, das war der erste Tag, an dem ich mich wehrte. Am Ende drückte sie mir zweimal schnell hintereinander die Hand: gutes Spiel.
Clee kriegt ein Kind, wer der Vater ist, ist weder bekannt noch relevant. Cheryl steht als Ersatz bereit. In anrührenden Szenen aus dem Brutkasten erzählt Miranda July von der strapaziösen Ankunft des Babys auf der Welt. Jack. (Cheryl hatte immer schon eine unerwiderte Neigung zu kleinen Kindern, Kubelko Bondy nennt sie ihren Schicksalsgenossen.)
Irgendetwas Riesiges wurde in seinen winzigen Hals geschoben. In seinen wunden Bauchnabel wurde ein dünner Schlauch gesteckt. Er wurde mit weißen Aufklebern bedeckt. Ein Netz aus Kabeln und Schläuchen wurde zwischen ihm und vielen lauten, piepsenden Maschinen gewebt. Es war kaum genügend Baby vorhanden, um alles Nötige daran unterzubringen.
»Meinst du, sie wissen es?«, flüsterte Clee aus ihrem Rollstuhl.
Zwischen den Falten unserer weißen Krankenhauskittel nahmen wir einander an der Hand und drückten sie fest – ein kleines, hartes Gehirn aus den weißen Knöcheln unser ineinander verschränkten Finger. Ich sah die Krankenschwestern um uns herum an. Alle hier wussten, dass dieses Baby zur Adoption freigegeben war.
»Das ist egal. Solange er es nicht weiß.«
»Das Baby?«
»Das Baby.«
Aber es gab keinen schrecklicheren Gedanken als den, dass dieses Baby dort um sein Leben kämpfte und nicht wusste, dass es ganz allein auf der Welt war. Er hatte keine Familie, noch nicht – rein rechtlich betrachtet, hätten wir zur Tür hinausgehen und nie wiederkommen können. Wie gebannt standen wir da, wie zwei Verbrecher, die vergessen hatten, vom Tatort zu fliehen.
Clee bleibt lethargisch auf dem Sofa, findet jedoch vorübergehend Erfüllung im Abpumpen der Milch aus großen Brüsten in kleine Flaschen. Man lebt sich wieder auseinander, mit der Liebe ist’s nichts geworden, der Sex ist unergiebig. Nicht nur der Altersunterschied, aber auch der.
Mann oder Frau. Spielt keine Rolle. Familie war im letzten Jahrhundert. Lebensplanung, nur eine vage Phantasie. Das Kind. Naja. Die Mama/Der Papa/Die Bezugsperson wird’s schon richten. Adoption ist angedacht. Miranda July hat keine Fixpunkte, keine Koordinaten, „alle Geschlechterklischees entsorgt“ (Lars Weisbrod, ZEIT) Und doch: Es kommen Gefühle ins rohe Spiel, die Geschichte kippt in Kitschnähe. Miranda July holt sie wieder raus, ein Happy-End verspräche kein Glück.
„July begegnet ihrer Figur Cheryl mit Empathie, aber nicht mit übermäßiger Sympathie. Ihr geht es nicht um gut und schlecht und schon gar nicht um Schuld, sondern darum, die eigentümliche Dynamik menschlicher Beziehungen in Handlungen zu übersetzen. Der Leser muss so selbst ausloten, wie er Cheryl gegenübertritt: Ob er es sich also einfach macht und diese Frau für ziemlich hinüber erklärt. Oder ob er eben doch diese bequeme Position verlässt und überlegt, an welchen Stellen er ihre Bedürfnisse verstehen, sie womöglich sogar in sich selbst wiederfinden kann.“ (Eva Thöne, SPIEGEL) Der weiche Kern will sich im rohen Spiel verbergen, es ist aber schön, wenn man ihn entdeckt. Die Pschotherapeutin ist Inventar des modernen Romans, auch sie ist aber gebrochen, Halt ist nicht mehr zu erwarten. 21. Jahrhundert.
2015 333 Seiten
Zur Inszenierung des Romans an den Münchner Kammerspielen 2017
Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch
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Stephan Thome: Gegenspiel
Jetzt reden sie wieder. Führen noch einmal die Gespräche, die sie schon drei Jahre zuvor zu keinem Ende brachten. Die Dialoge kreisen, sollen retten, was sich als gmemeinsamer Wunsch oder Lebensplan der Partner nicht zusammenlegen lässt. Je weiter die Lebensentwürfe auseinanderliegen, desto mehr soll geredet werden, aber je mehr man redet, desto deutlicher wird, dass sich die Vorstellungen nicht fügen lassen.
2012 hat Stephan Thome die Diskrepanzen und Missverständnisse in seinem Roman „Fliehkräfte“ ausgebreitet, 2015 erschien die Fortschreibung, die aber keine Fortsetzung ist, denn Thome beginnt noch einmal. Nicht unbedingt von vorne, denn es gibt keine durchgehaltene Chronologie, doch die Perspektive wechselt. Stand in den „Fliehkräfte“n Hartmut im Mittelpunkt, gibt Thome jetzt dem Leser ausführlich Gelegenheit, Maria und ihre Sicht der Dinge näher kennzulernen. Wer „Fliehkräfte“ gelesen hat, kann sich an manche Episoden, Streitpunkte, eigenheiten erinnern, das „Gegenspiel“ kann aber auch für sich stehen – bzw. man kann die „Fliehkräfte“ nachlesen – wenn man will.
Marias Bio ist interessanter als die ihre Mannes, weniger geradlinig, emotional gebeutelt. Sie stammt aus Portugal, fühlt sich beengt von der normierenden Nähe ihrer Familie, angeregt auch von den Versprechungen der „Nelkenrevolution“. Sie will ins Ausland, nach Norden,und landet mitte der 70-er Jahre im Berlin-Kreuzberg der Hausbesetzerszene, lernt dort den irrlichternden Theatermacher Falk Merlinger kennen, erlebt viel in kurzer Zeit. Dann gerät sie in die Sackgasse ihres Lebens. Sie heiratet Hartmut Hainbach, Professor für Sozialphilosophie, kaum erwartet tritt Tochter Philippa wie ein Schlag des Schicksals ins Leben. Was Maria den Rest gibt: Fürs Leben in der Großstadt reicht das Geld nicht, sie ziehen nach Bergkamen. Nach ihrem Berlin-Abenteuer erscheint das Maria als die tiefste deutsche Provinz mit penetrant neugierigen Nachbarn, Spießigkeit, ausweglos.
Wenn sie an die Zukunft dachte, lautete die erste Einsicht, dass sie abhängig von der Karriere ihres Mannes war. Zwar besprachen sie eingehend, wo er sich bewerben sollte, was aber nichts daran änderte, dass er gezwungen war, sich überall zu bewerben, und sie dorthin mitgehen würde, wo er genommen wurde. Grundsätzlich mochte auch sie den Gedanken, dass das Leben sich nicht planen ließ, aber die Ungewissheit, ob sie je wieder in einer Stadt leben würde, in der sie sich wohl fühlte, war nur schwer zu ertragen.
Maria muss leidend (Kindbettdepression – eines dieser hözernen deutschen Wörter) warten, bis die Tochter älter ist, dann aber nichts wie weg, wieder nach Berlin, wo ihr der inzwischen erfolgreiche gewesene Heiner-Müller-Adept Falk eine Stelle als persönliche Assistentin anbietet. Hartmut schwankt, ob er seine Professur gegen einen schlecht dotierten und unsicheren Job bei einem Berliner Kleinverlag annehmen soll, Maria hat ihn vermittelt, was er aber nicht weiß. Aber das Zusammenleben hat keine Stütze, die „Liebe“ ist nicht tragfähig. Das weiß man schon aus den „Fliehkräfte“n.
Marias Weg vom warm-katholischen Portugal ins liberal verkniffene Deutschland ist weiter, als sie es sich vorstellen konnte, sie kann sich nicht von ihrer Herkunft lösen, sie entwickelt keine Perspektive für ihre Freiheitsgedanken, sie kompensiert ihre Kapriolen mit Versteifungen. Hartmut toleriert sie als Flausen. Maria wird dem Leser zunehmend fremd, ja unangenehm, Hartmut mutiert mehr und mehr zum isolierten Dulder. Stephan Thome reitet das Beziehungsthema zu Tode, will gerettet wissen, was nicht zu kitten ist. Der konservative Ansatz wirkt im 21. Jahrhundert obsolet. “ ‚Wir passen eigentlich nicht zusammen, eine Dating-Seite im Internet würde uns einander niemals zuordnen. (…) Uns beide verbindet nichts außer Liebe, und das klingt romantischer, als es ist‘, sagt Maria einmal.“ Thome will das nicht auf sich beruhen lassen.
Man erfährt, immer aus subjektivierter Perspektive, manches über die „Gegenkultur“ im geteilten Berlin, darf Mäuslein spielen in der billigen Welt des neuen Regiethaters, fährt mit nach Portugal und zurück. Immer wieder. Was aber zunehmend nicht nur die Protagonisten erschöpft, sind die endlosen Gespräche, exakt protokolliert, die ein Thema auch ein drittes und viertes Mal wiederkäuen. Soll Hartmut mit nach Berlin gehen? Seitenlang diskutiert Maria diese Vision mit dem Verleger, seitenlang nahezu gleichlautend mit ihrem Mann, eine Lösung kommt nicht in Sicht, weil sie nicht in Frage kommt. Tochter Philippa ist lesbisch geworden. Na und? Weshalb gelingt es ihr nicht, das ihrem Vater zu erzählen, der doch für alles Verständnis aufbringt? Weshalb lässt Thoma das Thema nicht los?
Beide Romane hätten in einen Band gepasst ohne Thomes Passion, auch noch das letzte Wort der Gespräche getreulich aufzuzeichnen. Hoffentlich plant er keine Synthese.
Dass sie trotz ihrer Anspannung keine Lust auf eine Zigarette hatte, war neu. In dem alten Versteck lag die halb aufgebrauchte Packung Gauloises, aber sie hatte Angst vor schlechtem Atem, vor Spuren jeder Art, die einen Hinweis auf Dinge gaben, die sie lieber für sich behielt. So angestrengt sie auch horchte, außer dem eigenen Pulsschlag hörte sie nichts. Philippa hielt ihren Mittagsschlaf, und auf dem Arbeitstisch lagen Lätzchen, Hosen und bunte Handtücher. Sie hatte alles ausgebreitet und sortierte nach Farben und Temperatur, dreißig, sechzig und neunzig. Das Merkwürdige war, dass es ihr eigentlich besserging, seit längerer Zeit schon. Sie las wieder, und zurzeit gefiel ihr Ibsen, den sie als Studentin noch zu schwülstig gefunden hatte. >Ich muss selber über die Dinge nachdenken und mir meine eigene Klarheit verschaffen<, sagte Nora, bevor sie ihren Mann verließ. Nur in der Version, die man dem Autor für die deutsche Erstaufführung aufgezwungen hatte, besann sie sich in der letzten Zeile anders, natürlich der Kinder wegen, und Maria wüsste gern, ob das Wort >Mutterlos< im Norwegischen denselben Doppelsinn besaß wie im Deutschen. Den Winter über hatte Philippa gekränkelt, aber seit es wärmer wurde, war sie gesund und munter. Der Garten blieb sich selbst überlassen, und wenn Herr Löscher es nicht mehr aushielt und Unkraut jäten wollte, ließ Maria ihn gewähren.
Warum also?
Vielleicht gab es zu jedem Zeitpunkt nur eine begrenzte Anzahl von Dingen, gegen die man sich erfolgreich wehren konnte.
2015 470 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp Verlag
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Julia Deck: Viviane Élisabeth Fauville
Ihr Mann, Julien Antoine Hermant, ein Bauingenieur, wurde vor dreiundvierzig Jahren in Nevers geboren. Am 30. September hat er einer zweijährigen Ehehölle ein Ende gesetzt. (…) Sie haben mit vollkommener Gelassenheit den Schlag eingesteckt, der Ihnen die Rippen zertrümmerte. (…)Sie haben geantwortet Nein, ich bin es, die geht. Behalte alles, ich nehme das Kind, Unterhalt brauchen wir nicht. Sie sind am 15. Oktober ausgezogen, haben eine Kinderfrau gefunden, Ihren Mutterschaftsurlaub aus gesundheitlichen Gründen verlängert, und am 16. November, also gestern, haben Sie Ihren Psychoanalytiker umgebracht. Sie haben ihn nicht symbolisch umgebracht, wie man irgendwann den Vater umbringt. Sie haben ihn mit einem Messer der Marke Henckels Zwilling, Serie Twin Profection, Modell Santoku, umgebracht. »Die einmalige Geometrie der Schneide bietet eine optimale Stabilität und ermöglicht ein leichtes Schneiden«, präzisierte die Broschüre, die Sie in den Galeries Lafayette studiert haben, während Ihre Mutter das Scheckheft zückte.
Wer ist es, der Viviane anspricht? Wer weiß so viel und so Genaues von ihr? Genaueres, als sie selbst weiß. Genaueres, als sie selbst wissen will.
Sie sind nicht ganz sicher, aber Sie haben das Gefühl, vor vier oder fünf‘ Stunden etwas getan zu haben, was Sie nicht hätten tun sollen. Sie versuchen, sich die Abfolge Ihrer Gesten in Erinnerung zu rufen, deren Faden wiederaufzunehmen, aber jedesmal, wenn Sie eine zu fassen bekommen, fällt sie, statt automatisch die Erinnerung der nächsten nach sich zu ziehen, wie ein Stein auf den Grund jenes Loches, das nun Ihr Gedächtnis ist.
Offen gestanden sind Sie nicht einmal mehr sicher, vorhin in jene Wohnung zurückgekehrt zu sein, die Sie seit Jahren heimlich aufsuchen. Konturen und Mengen, Farben und Stil verschmelzen in der Ferne. Hat es diesen Mann, der Sie dort empfing, überhaupt gegeben? Außerdem, wenn Sie sich etwas vorzuwerfen hätten, säßen Sie doch jetzt nicht untätig da. Sie würden umherirren, Ihre Fingernägel unter die Lupe nehmen, und die Schuldgefühle würden Ihre Entscheidungsfähigkeit lähmen. Doch davon keine Spur. Trotz jener Unschärfe, die in Ihren Erinnerungen herrscht, fühlen Sie sich sehr frei.
Weshalb sind Vivianes Erinnerungen nicht zuverlässig? Weshalb fällt sie mitsamt ihrer Gedanken in ein Loch? Läuft sie jetzt durch Paris, um sich selbst zu verstecken oder doch eher um sich wiederzufinden? – Julia Decks Roman changiert, stellt neben die überpräzisen Beschreibungen und Ortsangaben – “Viviane, die an der Station Michel-Bizot ausgestiegen ist, geht die Rue de Toul, dann die Rue Louis-Braille hinunter. Die Nummer 35 ist ein durchschnittliches, irgendwann in den siebziger Jahren errichtetes Gebäude” – die verlaufenden Konturen der biografischen Sicherheit, die Versuche der Frau, sich mit Verletzungen zu spüren, sich aufzuspüren, Halt zu finden in “diesem Körper, den ich nur für so kurze Zwischenzeiten bewohne“. Sie hat nicht nur ihren Mann verloren, ist nicht darauf vorbereitet, jetzt alleinerziehende Mutter zu sein, fühlt sich durch das Baby festgezurrt. Der Roman gibt keine Sicherheiten, auch nicht für den Leser, enttäuscht dessen Erwartungen. Vielleicht ist das ein Weg, der Frau nahezukommen, näher zumindest. Leicht macht Julia Deck es dem Leser damit nicht. “Die geistige Verwirrung der jungen Frau wird stilistisch dadurch umgesetzt, dass die Perspektiven von Erzählerin, Protagonistin und Leser sich verschieben und im Verlaufe des Buches verschwimmen.“ (Sebastian Riemann, belletristik-couch.de) Wenn es einen Mord gab, wird er nicht aufgeklärt, trotz polizeilicher Ermittlungen, den Kriminalfall unterläuft Viviane und ihre Autorin steht bei ihr, steht ihr bei, “Julia Deck bildet eine psychische Erkrankung ab“ (Mara Giese, buzzaldrins.de). Ein “überweit getriebenes Vexierspiel” (Niklas Bender, FAZ)
Man kann sich darauf einlassen, weiß aber am Ende doch nichts, spekuliert über die Psyche der Heldin. Ist man einer multiplen Person aufgesessen? Treibt Julia Deck doch bloß ihr modisches Spiel? “In ihren Wahrnehmungen und Fantasien gärt das Dilemma der Großstadtfrauen von heute, dieses explosive Gemisch aus überzogenen Selbstansprüchen und dem langen Arm der Traditionen, der männlichen Gängelungen.“ (Christoph Vormweg, Deutschlandfunk) Ist damit Viviane Élisabeth Fauville gemeint – oder Julia Deck?
2012 140 Seiten
Übersetzt hat den Roman Anne Weber, mit deren Roman „Tal der Herrlichkeiten“ ich nichts anfangen kann.
Siri Hustvedt: Die gleißende Welt
«Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien, schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein Paar Eier ausmachen kann.» Der erste Satz des Romans.
Harriet Burden (!), die Witwe des stinkreichen Kunstvermittlers Felix Lord (!), ist selbt künstlerisch amnitioniert, kommt aber in der „insularen Welt“ der New Yorker Kunstszene nicht an. Sie erklärt sich, dass es an ihrem Geschlecht liegt, dass sie nicht wahrgenomen wird. Der Beweis gibt ihr recht, denn als sie ihre Arbeiten als die von Männern – ihren „Vehikeln“, „Strohmännern“ – präsentieren lässt, ist die Aufmerksamkeit da – sogar wenn die Männer Neulinge im Geschäft sind.
Siri Hustvedt spielt mit diesen Gender-Rollen und –zuordnungen. Harriet ist groß wie ein Mann, durch den „umfangreichen Busen“ als Frau festglegt, ihre Bekannten nennen sie „Harry“. „Sie hatte nicht viel am Hut mit den konventionellen Arten, die Welt aufzuteilen – schwarz/weiß, männlich/weiblich, schwul/hetero, abnorm/normal -, keine dieser Grenzen überzeugte sie. Das waren aufgezwungene, definierende Kategorien, außerstande, das Kuddelmuddel zu erklären.” «[…] die Geschlechtsidentität erweist sich also als performativ, d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat vorangeht.» (Judith Butler – in einer der vielen Anmerkungen zu Identität, Wahrnehmung, Kunst u.a.) Harry/Harriet bringt ihre Identitäten nicht in eins, immer muss sie sich spielend spiegeln im anderen, sich selbst gegenübertreten, ein ständiger Kampf um Wahrnehmung. „Wir sind alle Spiegel und Hallräume voneinander. Was passiert eigentlich zwischen Menschen? Bei Schizophrenie verlieren Menschen ihre Grenzen. Warum?” „Die kulturelle Konstruktion von Rasse und Geschlecht und Ambiguität als ultimative Subversion, faszinierend.”
Auch in ihren Installationen spielt sie mit der Wahrnehmung, mit den Mehrdeutigkeiten (der Bool’schen Logik), mit “Maskierungen”, „ambisexuellen virtuellen Identitäten”: „Kunst lebt nur durch ihre Wahrnehmung.”
“Wir entwarfen kleinere Raumkuben mit winzigen Figuren und etwas größere. Keiner erzählte eindeutige Geschichten. Sie waren alle so unergründlich wie Träume. Ich dachte mir eine aus mit dem Titel Pistolen und Busen für einen ein Meter mal ein Meter zwanzig großen Raum. Wir verwendeten Stückchen und Teile von Bildern aus Kung-Fu- und Blaxploitation-Filmen sowie alten Western. (…) Einige der Fragmente waren so klein geschnitten, dass sie abstrakt wirkten.”
Die “Erstickungsräume“: „Es war ihre Idee, dass die Betrachter jedes Mal, wenn sie eine Tür öffneten und einen neuen Raum betraten, schrumpfen sollten. Die Räume waren fast identisch, der gleiche trostlos aussehende Tisch und zwei Stühle mit PVC-Sitzen, auf dem Tisch das gleiche Frühstücksgedeck, die gleiche Tapete mit Harrys und meiner Handschrift und ein paar Kritzeleien (ich hatte hier freie Hand, alle meine Geheimbotschaften unterzubringen) und die gleichen zwei Metamorphe in jedem Raum. Zu Beginn der Tour hatten die Möbel das passende Format für Erwachsene mittlerer Größe – wir legten uns auf 1,73 m fest -, aber mit jedem folgenden Raum wurden Tisch und Stühle, Tasse, Teller, Schalen und Löffel, die Schrift auf der Tapete so viel größer, dass, wenn man den siebten Raum erreichte, der Maßstab der Möbel einen in ein Kleinkind verwandelt hatte. Die ausgestopften, weichen Metamorphe wuchsen ebenfalls und wurden zunehmend heißer. Der siebte Raum fühlte sich an wie eine finnische Sauna. Nach einer Diskussion entschieden wir, dass das eine zweiflügelige Fenster in jedem Raum ein Spiegel sein sollte – so wirkte es noch klaustrophobischer.”
Harrys “dissoziative Identitätsstörung” Warum bin ich nicht wie sie? Warum bin ich eine Fremde? Warum bin ich immer außen vor gewesen, ausgestoßen, nie eine von ihnen? Was ist das? Warum spähe ich immer durchs Fenster hinein? Ich spürte die Bruchlinie in meinem Körper, bereit zum Bersten.”
Harrys obsessive Träume: “Meine Zeit ist gekommen, und was sie auch sagen – die meist mittelmäßigen Kleingeister -, es kommt nicht darauf an. WIE SIE SEHEN ist das einzig Wichtige, und sie werden mich nicht sehen.” – “Bis ich vortrete.” – I”ch werde aufwärts schweben wie meine maskierte Tänzerin, von der Erde aufsteigen wie ein Phönix.” – “Es ist Zeit, dass ich zur Blüte komme, mein Glück finde.” – „Es ist Zeit, es allen zu sagen.”
“Ich bin nicht Penelope, dieser Ausbund an Tugend, die auf Odysseus wartet und die Freier abweist.
Ich bin Odysseus.
Aber das habe ich zu spät herausgefunden.”
“Irgendwie interessiert meine Geschichte sie nicht. “ Siri Hustvedt erläutert in einer – einem Professor I:V. Hess zugeschriebenen – “Einführung” ihr methodisches Vorgehen. Sie mischt die Einträge in die nach ihrem Tod gefundenen Notizbücher Harriet Burdens mit Aufzeichnungen oder Interviews von Personen, die ihr nahestanden, ihren Kindern Maisie und Ethan, oder die mit ihr arbeiteten, ihren “Strohmännern”, ihrem Freund Bruno Kleinfeld, sich selbst ironisch entlarvenden Kunstkritikern, Sweet Autum Pinkney, einer plappernden Esoterikerin, die zur letzten ihrer Bezugspersonen wird – und, seltsam, die quälende Hyperintellektualität lindert und vesöhnt. Die Beobachtungen und Beschreibungen kontrastiert Siri Hustvedt mit den suchenden, resignierten, suchenden Selbstwahrnehmnugen Harriets, wobei zunehmend die gelehrten Täuschungen erkennbar werden. Der Roman ist auch hier Spiel.
“Die gleißende Welt” (im Original: The Blazing World) ist ein ungemein dichter, verschlungener, gelehrter, engagierter Roman über – vordergründig – den New Yorker “Kunstszenescheiß”, im Grund über die Brüche in den Biographien der Menschen, speziell der Frauen, ein Roman voller Psychologie und Neurophilosophie, über Metamorphosen und Mythen, über Wahrnehmung. Viele der Bezugsthemen belegt und erläutert Siri Husvedt in Fußnoten. Man muss nicht allen Anspielungen nachspüren, man darf den Roman auch überfrachtet finden, man muss sich nicht persönlich für Harriet Burden und ihre Beschwernisse interessieren. Die “Gefahr, sich vor lauter überreflektierter Selbstreferentialität blind in den Schwanz zu beißen.“(Katharina Granzin, taz) ist nicht von der Hand zu weisen. Nicht leicht zu lesen, aber reizvoll.
* „Die gleißende Welt“ ist der Titel eines utopischen Romans von Margaret Cavendish, die im 17. Jahrhundert als eine der ersten Frauen überhaupt unter ihrem eigenen Namen publizierte. Als frühe Universalgelehrte ist sie Vorbild und Idol von Harriet Burden.
2014 490 Seiten
Gespräch über “Die gleißende Welt” im Literaturclub des SRF (Video 11 Minuten)
Ergänzung: Kulturpalast vom 26.09.15 zum Thema FRAUEN in der Kunst
Karen Köhler:
Wir haben Raketen geangelt
(Erzählungen)
„Ich suche meine Koordinaten.” – Wer täte das nicht. Die Koordinaten der Frauen aus Karen Köhlers Erzählungen liegen außerhalb ihrer selbst. Sie gehen weit, oft an den Rand der Welt, an den Rand der Existenz, ins Nirgendwo. “Reach out and touch faith” fordern Depeche Mode und Karen Köhler nimmt sich die Songzeile zum Motto. Aber das Schicksal wartet nicht.
Es sind starke, anlehnungsselige junge Frauen. Frauen, die an Krankheiten (Sick Lit), Liebe, Verlassenwordensein, Einsamkeit leiden und die so stark sind,sich den Malaisen bewusst zu stellen. Frauen, die sich aber auch auf verständnisvolle Partner einlassen, Partner aber meist nur für kurze Lebensabschnitte. „Il Comandante“ verleiht der Krebspatientin neuen „Kampfgeist“ . Er wirkt wie ein Paradiesvogel in der realistisch und derb beschriebenen Klinikwelt.
Ein älterer Mann kurvt im Rollstuhl herein. Eine Wollmütze thront auf seinem Kopf, unter der sich seine schwarzen Locken beulen, seine Augen verdeckt eine große Designer-Sonnenbrille. Er rollert ungeübt, aber zielstrebig auf einen Fenstertisch zu, ein Lächeln findet den Weg durch seinen grauen Rauschevollbart. Was lächelt der, er ist in einem Krankenhaus, warum hat der so gute Laune. Er überstrahlt alles, was ich in den letzten Wochen hier gesehen habe, ach Quatsch, er überstrahlt auch vieles außerhalb dieses Krankenhauses. Kann mich gar nicht Sattsehen. Der kann doch gar nicht krank sein.
»Hello, my friend«, ruft ihm der Cafe Bistro-Chef zu. »Buenos dias, amigo«, sagt er, schiebt umständlich einen Stuhl zur Seite und platziert sich aufwendig am Fensterplatz des Tisches. Rückwärts Einparken in siebenundzwanzig Zügen. »What can you offer me today?« Seine Stimme ist wie ein Instrument, laut und tief.
»Fish and Pommes mit Salad?«, stümpert der Bistro-Chef. »Pescado y patatas fritas, muy bien, Dankeschön«, sagt er und legt sein Smartphone auf den Tisch.
Tom und ich biegen um die Kurve. Er hält meine Hand. Keiner da. Das ist gut. Ich ziehe mir die Perücke vom Kopf, nehme gleich alle Steine aus der Schale, und befülle die Perücke damit, steige auf die runde Holzbühne, hocke mich vor den Altar und lege den Perückensteinbeutel vor mich hin. Nicht nur ein Stein, sondern ein ganzes Nest der Schwere. Hole mein Telefon raus und fotografiere das Nest mit einer Polaroid-App. Ich klicke: Nachrichten. Klicke: Cesar. Klicke auf das kleine Fotosymbol. Lade das Bild und schreibe: I even did my hair for you. I hope they serve Banana Split in heaven. Klicke: Senden. Mache dann Musik an. Interpret: Buena Vista Social Club. Volle Lautstärke Hasta Siempre Comandante. Für immer. Augen zu.
(Il Comandante)
Der Indianer Bill ist der Begleiter für ein paar Tage auf der USA-Tour der Erzählerin. Er sieht aus und verhält sich wie der Klischee-Indianer aus der Kindheit der Erzählerin. Der Indianer ist der Gute. Er tut einem nichts, man kann sich anlehnen. Das taffe Mädchen und ihr Seelenverwandter. Der Stellertreter für den zurückgelassenen oder noch nicht gefundenen Freund. Realität und Traum in einem. Zudem gibt es die Songs (Enter Sandman) und die Smartphones (KlickKlickKlick). Karen Köhlers Frauen sind von heute.
Vor mir steht ein Indianer. Ich bin nicht in der Einkaufsstraße einer mittelgroßen deutschen Stadt. Ich höre auch keine Panflöten, kein El Condor Pasa. Ich bin im Death Valley und sitze auf einem Stein neben einer Tankstelle, der einzigen an diesem Highwayabschnitt, und vor mir steht ein Indianer. Er trägt eine Federhaube, ein Gewand mit einem Brustschmuck aus Knochenstäbchen, die ein Muster ergeben, er trägt perlenbestickte Mokassins und eine Pilotensonnenbrille, in der ich mich spiegeln kann. Ich denke, dass ich spinne, ich denke, dass der Indianer nur in meinem Kopf ist. Ich schließe meine vom Wüstenstaub wunden Augen. Verschwinde, Indianer, sage ich, du bist nur in meinem Kopf. Aber der Indianer verschwindet nicht, der Indianer spricht. Er sagt, dass mein Kopf krank von der Sonne ist, und dass ich trinken soll. Ich öffne die Augen und der Indianer hebt seine Hand, ich erwarte ein Howgh, aber er reicht mir nur eine kleine, halbvolle Wasserflasche.
Trink es langsam, sagt der Indianer.
Okay, sage ich.
Wo willst du hin?, fragt der Indianer.
Nach Hause, sage ich.
Wo ist das?, fragt der Indianer.
Das wüsste ich auch gerne, sage ich.
Bist du allein hier?, fragt der Indianer.
Ja, sage ich.
Dann schweigen wir. Ich im Sitzen, langsam trinkend, der Indianer im Stehen, schauend. Heißer Wind weht. Ein Dornengestrüpp wird über die Ebene gerollt. Kakteen stehen in der Landschaft. Irgendwo schreit ein Raubvogel. Der Highway kommt zu uns ins Tal gekrochen wie eine flimmernde Schlange. Ich habe mit ihr gerungen und bin ihrem Würgegriff entkommen.
(Cowboy und Indianer)
Die Erzählerin will ihre Gefühle für den Ex-Freund loswerden und arbeitet als Animateuse auf einem Nordmeer-Kreuzfahrtschiff. Sie verliert sich im Grau des Inselgestrüpps. “Ein Regenbogen spannt sich auf. Ich schlage meine Wurzeln in den Boden. Ich bin Unkraut.
Drei Mal tutet das deutsche Schiff. Und fährt.” Der Stil ist nicht ohne Attitude. Weiß ich auch nicht mehr weiter, so bin ich doch nicht so wie die Masse: “Verwöhnte, meist übergewichtige, weiße Menschen, die alles in sich reinstopfen, weil es hier auf dem Schiff all inclusive ist.”
(Starcode Red)
Einige der Ezählungen sind Einträge in das Tagebuch, Texte auf Postkarten, meist muss man auf Reisen sein, um ankommen zu können. Die Themen sind natürlich nicht ganz neu, die Schreibweisen frisch. „Weit entfernt von aufgesetzt lakonischer Befindlichkeitsprosa sind ihre Erzählungen emanzipatorisch engagiert und verteidigen die Idee der romantischen Liebe.“ (Jochen Rack, SWR2) „Das Ungeheure kann noch in der allergrößten Schwere befreiend wirken.“ (Peter Czoik, Literaturportal Bayern) Die Rezensionen loben das „Debut“ hoch, man wird abwarten. Karen Köhler ist immerhin schon 40.
Karen Köhler liest auf zehnseiten.de
Schöne Rezension mit Textproben von caterina
Alice Munro: Tricks (Geschichten)
Alice Munros Geschichten wirken altmodisch. Das liegt zum einen an ihrer Erzählweise. Munro folgt ihren Personen penibel in die Schlingen ihrer Gedanken und Stimmungen, bewahrt sie nicht vor Verirrungen, hat Geduld und gönnt ihnen am Ende doch ein kleines Glück. Diese Art von Betulichkeit ist heute selten geworden, der Leser braucht Geduld für Nuancen.
Auch die Figuren sind nicht aus unserer Zeit, obwohl das Geschehen nicht so weit zurückliegt. Es ist noch nicht üblich, unverheiratet zusammenzuleben und Kinder zu haben, der Gedanke daran verunsichert, blockiert, die Traditionen wehren sich dagegen, aufgebrochen zu werden. Es sind junge Frauen, “späte Mädchen”, die den Winkel im Leben suchen, der für sie gemacht sein könnte, in den sie mit ihren Eigenheiten, ihren Biografien, ihrem Ballast, ihren verschämten Träumen hineinpassen. Das Glück, die Zufriedenheit zumindest, scheint kurz greifbar, schwindet aber so unerwartet, wie es gekommen scheint. Die Frauen sind gebildet, haben einen Beruf oder Job, was fehlt, ist der Partner, der die eigene Existenz teilen und schützen könnte. (Alice Munro wagt durchaus den Gedanken an eine Partnerin.) Die Chancen verflüchtigen sich, wenn man zu lange zögert.
In der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, wurde ihre Art von Intelligenz in dieselbe Kategorie gesteckt wie ein lahmes Bein oder ein zusätzlicher Daumen, und alle Nachbarn waren immer schnell damit bei der Hand, auf die unvermeidlichen Nachteile hinzuweisen – ihre Unfähigkeit, mit einer Nähmaschine umzugehen oder ein Paket ordentlich zu verschnüren oder zu merken, dass ihr Unterrock hervorguckte. Was sollte nur aus ihr werden, war die Frage.
Eine Frage, die sich sogar ihre Mutter und ihr Vater stellten, die stolz auf sie waren. Ihre Mutter wollte, dass sie beliebt war, und hatte sie zu diesem Zweck gedrängt, das Schlittschuhlaufen und das Klavierspielen zu erlernen. Sie tat beides weder gern noch gut. Ihr Vater wollte nur, dass sie hineinpasste. Du musst hineinpassen, sagte er ihr immer, sonst wird man dir das Leben zur Hölle machen. (Dabei verschwieg er die Tatsache, dass er und namentlich Juliets Mutter selbst nicht sonderlich gut hineinpassten und keineswegs unglücklich waren. Vielleicht bezweifelte er, dass Juliet ebensolches Glück haben konnte.)
Die Frauen haben nicht gelernt zuzugreifen, selbstbewusst ja zu sagen. Sie stehen vor Entscheidungen und zwei Wahlmöglichkeiten sind oft schon zu viel, um das Richtige zu tun oder sich überhaupt entscheiden zu können. Die Umgebung behindert das Selbstwerden, das sowieso bloß schüchtern angelegt ist, zusätzlich. Freundinnen, Eltern, Männer, Geschwister, Kinder schnüren die Freiheit zur Entscheidung ein. Fluchten (Originaltitel der Sammlung: Runaways) werden zurückgenommen, Emanzipation könnte es schon geben, doch auch hier zeigen sich Munros Frauen zu traditionell, zu altmodisch, zu gestrig.
Carla hielt den Kopf gesenkt, bis der Bus die Stadt verlassen hatte. Die Fensterscheiben waren getönt, niemand konnte hineinschauen, aber sie musste sich davor in Acht nehmen, hinauszuschauen. Für den Fall, dass Clark plötzlich auftauchte. Aus einem Laden kam oder an einer Kreuzung wartete, ohne jede Ahnung, dass sie ihn verlassen hatte, überzeugt, dies sei ein ganz normaler Nachmittag. Nein, überzeugt, dies sei der Nachmittag, an dem der Plan – sein Plan – in die Tat umgesetzt wurde, neugierig darauf, wie weit sie damit vorangekommen war.
Sobald der Bus das Umland erreicht hatte, schaute sie auf, holte tief Luft und nahm die Wiesen und Felder wahr, durch die violetten Scheiben leicht eingefärbt. Mrs. Jamiesons Fürsorge hatte ihr ein Gefühl von völlig neuer Sicherheit und Klarsicht gegeben, sodass ihr die Flucht als das Vernünftigste erschienen war, das sich denken ließ, sogar das Einzige, was jemand in ihrer Lage tun konnte, um sich die Selbstachtung zu bewahren. Carla hatte sich fähig gefühlt, ein ungewohntes Vertrauen aufzubringen, sogar einen reifen Sinn für Humor, als sie Mrs. Jamieson ihr Leben auf eine Weise geschildert hatte, die ihr Sympathie eintragen musste und doch ironisch und wahrheitsgemäß war. Und angepasst an Mrs. Jamiesons – Sylvias – Erwartungen, soweit sie die erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, dass es möglich war, Mrs. Jamieson, die ihr wie ein ungemein feinfühliger und anspruchsvoller Mensch vorkam, zu enttäuschen, aber ihrer Meinung nach war sie nicht in Gefahr, das zu tun.
Ein Leben, ein Ort, genau aus diesem Grunde gewählt – dass Clark nicht darin vorkam.
Das Seltsame und Schreckliche, das ihr über diese Welt der Zukunft klar wurde, so wie sie ihr jetzt vor Augen stand, war, dass sie dort nicht existieren würde. Sie würde nur umhergehen, den Mund aufmachen und sprechen, dies und jenes tun. Sie würde nicht wirklich dort sein. Und das Seltsame daran war, dass sie all das tat, dass sie in diesem Bus mitfuhr in der Hoffnung, wieder zu sich selbst zu finden. Wie Mrs. Jamieson sagen würde – und wie sie selbst vielleicht voll Genugtuung gesagt hätte: ihr Leben in die eigenen Hände nehmen. Ohne dass jemand ständig ein finsteres Gesicht zog, ohne dass jemand sie mit seiner schlechten Laune ansteckte.
Aber was würde ihr am Herzen liegen? Woher würde sie wissen, dass sie am Leben war?Während sie von ihm weglief, behauptete Clark immer noch seinen Platz in ihrem Leben. Aber wenn sie das Weglaufen hinter sich hatte, wenn sie einfach ihres Weges ging, was würde sie an seine Stelle setzen? Was sonst – oder wer sonst – konnte sie je so intensiv herausfordern?
(Ausreißer)
Die Geschichten sind nicht verzeitet. Die Personen leben im Rahmen des ihnen Gegebenen, auch “Ausreißer” bleiben in diesem Rahmen, Kritik weitet sich in keinem Fall auf soziale, politische, historische Konstellationen.
Das Leben ist immer so vollgestopft. Erwerbend und ausgebend erschöpfen wir unsere Kräfte. Warum sind wir nur immer so geschäftig und versäumen es darüber, die Dinge zu tun, die wir lieber hätten tun sollen oder lieber getan hätten? Weißt Du noch, wie wir die Butter mit den alten hölzernen Kochlöffeln geklopft haben? Mir hat das Spaß gemacht. Das war der Tag, an dem ich Ollie mitgenommen habe, damit er Dich kennenlernt, und ich hoffe, Du bedauerst es nicht.
Die Geschichten spielen am Rande der Zeit. Sie sind aber nicht zeitlos, sondern – schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens – veraltet, altmodisch, bieder in ihrer detailllierten Genauigkeit. Vielleicht wollen sie genau das zeigen. Munro versteht es, „aus der schieren Enge kleinbürgerlicher Verhältnisse großes Drama zu destillieren“ (NZZ). Das Drama spielt sich in der Frau ab.
Jonathan Franzen gibt eine Inhaltsangabe für alle 8 Geschichten: HERE’S the story that Munro keeps telling: A bright, sexually avid girl grows up in rural Ontario without much money, her mother is sickly or dead, her father is a schoolteacher whose second wife is problematic, and the girl, as soon as she can, escapes from the hinterland by way of a scholarship or some decisive self-interested act. She marries young, moves to British Columbia, raises kids, and is far from blameless in the breakup of her marriage. She may have success as an actress or a writer or a TV personality; she has romantic adventures. When, inevitably, she returns to Ontario, she finds the landscape of her youth unsettlingly altered. Although she was the one who abandoned the place, it’s a great blow to her narcissism that she isn’t warmly welcomed back — that the world of her youth, with its older-fashioned manners and mores, now sits in judgment on the modern choices she has made. Simply by trying to survive as a whole and independent person, she has incurred painful losses and dislocations; she has caused harm.
Sie müssen in die Welt hinaus, hatten sie gesagt. Als wäre sie bisher im Nirgendwo gewesen.
Trotzdem war sie in dem Zug glücklich.
Den Literaturnobelpreis 2013 habe sie bekommen “für uns als Frauen“ (Munro).
2004 380 Seiten
Monique Schwitter:
Wenn’s schneit beim Krokodil
(Geschichten)
Oft ist es ja in den Kurzgeschichten so, dass die Kommunikation nicht gelingt. In Monique Schwitters Erzählungen kommt es dazu gar nicht. Die Personen, meist Frauen, stellen sich zwar noch Situationen vor, setzen sich auch in Bewegung, werden aber von den gedachten Möglichkeiten überfordert, analytisch gelähmt. Eine Stufe weiter auf dem Weg zum Vereinzeln. Schwitter hält oft in der Handlung inne und schaltet in den Kopf der jungen Frau.
Ich kann mir nicht vorstellen, ihn zur Begrüßung zu küssen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, von ihm zur Begrüßung geküßt zu werden. Ich kann mir auch keine andere Begrüßung vorstellen. Ein Händedruck wäre schön. Aber undenkbar. Wahrscheinlich wird es dann doch so was wie ein Kuß werden, so ein Kuß, den ich mir jetzt gar nicht vorstellen kann. Aber wir werden uns küssen, weil wir denken, das sei passend. Passender als ein Händedruck. Wir werden uns küssen, um so zu tun, als kennten wir uns. Um keine Unklarheit aufkommen zu lassen über den Grund unserer Verabredung, über den Zweck unserer Verabredung. Wir werden uns küssen, um die Kluft zwischen uns zu vertuschen. Ein Händedruck schließt einen Blick ein, beim Küssen braucht man sich nicht anzuschauen. Ein Händedruck wäre uns wahrscheinlich peinlich. Hier bin ich, da bist du, das ist ein Händedruck. Hier bin ich, um nicht lang zu fackeln, nimm dies, das ist ein Kuß. (Ein Anflug)
Sie wartet in der Ankunftshalle, nervös und sehnsüchtig, sie ist zu früh dran, natürlich, sie setzt sich zu einem Fremden an den Tisch, all ihre Lebenskraft wird aufgesogen von dieser Situation. Als der Erwartete schließlich kommt, verschwindet sie. Ähnlich in der Geschichte “Wenn’s schneit beim Krokodil”:
Ich mag Tierparks nicht. Ich mag keine zoologischen Gärten.
Da ist ein Brief für dich gekommen, sagte meine Mutter am Telefon.
Mach ihn auf, sagte ich. Meine Mutter zögerte. Ich weiß ja nicht, was drinsteht, und von wem.
Eben, antwortete ich gereizt, deshalb sollst du ihn ja öffnen.
Also ich weiß nicht, sagte meine Mutter, und ich hörte es rascheln. Schweigen.
Und, fragte ich barsch. Schweigen.
Hallo, rief ich, hörst du mich? H ö r s t d u m i c h?
Ich bin sicher dort. Zoo, 1. Januar, neun Uhr. Wenn’s schneit beim Krokodil, sonst beim Kamel.
Und weiter, fragte ich.
Nichts weiter, sagte meine Mutter. Kommst du an Weihnachten?
Seit elf Tagen mache ich Weihnachtsurlaub in meiner Heimatstadt.
Vor elf Tagen, zu Winterbeginn, am 21. Dezember, dem dunkelsten Tag des Jahres, stand ich neben dem Eingang zum Zoo und erkundigte mich an der Kasse nach dem Eintrittspreis.
Erwachsene, Tageskarte, 22 Franken, sagte die Kassenfrau.
Gibt es ein Krokodil, fragte ich. Sie schob mir ein Faltblatt entgegen. Hier, sagte sie.
Und ein Kamel, gibt es das auch, fragte ich, während ich nach dem Faltblatt griff.
Wollen Sie rein oder nicht, fragte die Kassenfrau.
Ich glaube nicht, sagte ich.
Den großen Stein neben dem Eingang gibt es nicht mehr. Ich setzte mich auf die Stufen vor der Kasse und schlug das Faltblatt auf. Die Stufen waren kalt.
Jeden Tag geht sie zum Zoo, hypernervös, und dann, kurz vor Schluss: “Es war mir plötzlich egal, wer mir den Brief geschickt hatte. Ich hatte keine Lust mehr, mühsam eine Fährte aufzuspüren, um eine Spur zu verfolgen, die in meine Vergangenheit führt. Mir reichte mein Erinnerungspaket vollständig.” Auch die Mutter hat aufgegeben: „Ich mag nicht mehr, sagte meine Mutter. Ich weiß nicht, ob sie den Sekt meinte, oder alles andere. Bald darauf hat sie sich schlafen gelegt.
Ich weiß nicht, ob das Typisch für die Zeit ist, ob Monique Schwitter geneigte Leserinnen findet. Man könnte denken, dass auch das nicht mehr wichtig ist. Das Leben ist Suche, vor dem Finden hat man Angst. Man schreckt davor zurück, verkleidet sich, um nicht womöglich dorch erkannt zu werden. “Vom Scheitern des Nichtstuns“ überschreibt der STERN ein Interview mit Monique Schwitter.
Alles nie so wie gedacht, alles immer anders und irgendwie und verunsichert und mal schauen, was das wird. Und doch nie neu. Doch nie jetzt geht’s los, doch immer abwarten, kommen lassen, reagieren. Versuchen, richtig zu reagieren. Versuchen, die richtige Entscheidung zu treffen, wenn das Angebot sich längst schon wieder verändert hat und der Favorit nicht mehr zur Wahl steht. Sich wieder eine Entscheidung abringen müssen, weil die beherzte Entscheidung nicht mehr möglich ist. Eingeschränkte Wahl, Vorteile, Nachteile, immer auch Nachteile, vor allem Nachteile. Abwägen. Also nicht die Frage: Was will ich. Immer nur die Frage: Was ist am wenigsten schlimm. Immer nur die Frage: Womit kann ich leben. Kann ich damit leben. Und das ist genau die Frage, die mal einer beantworten soll. Kann ich damit leben. Womit kann ich leben. Das soll mal einer beantworten. Mehr als ein irgendwie kommt da nicht raus. Irgendwie damit leben. Und das soll dann eine Entscheidung sein. Ha.
Spieltheorie. Lakonisches Hyperventilieren. Die Hauptperson der schönsten Geschichte ist ein Mann: „Wendel wartet“. Das sagt alles.
2005 177 Seiten