Nachrichten vom Höllenhund


McCarten
14. November 2009, 19:11
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Anthony McCarten: Hand aufs Herz

Vor 20 Jahren verfasste Anthony McCarten das Theaterstück „Ladies Night“, nach dem der Film „The Full Monty / Ganz oder gar nicht“ entstand. Das Lexikon des internationalen Films schreibt darüber: Eine warmherzige, nuancenreiche Komödie voller Witz, Humor und leisen sozialkritischen Tönen, die mit bewundernswertem Respekt und großer Sympathie ihre Figuren nie für derbe Scherze mißbraucht, sondern ihr komisches Potential aus der aufmerksamen Beobachtung von Widersprüchen schöpft. Amüsant und kurzweilig handelt das Erstlingswerk von der Kraft schlitzohriger Leichtigkeit ebenso wie von heilsamen Änderungen im männlichen Selbstbild. Das gilt auch für „Hand aufs Herz“, das eigentlich „Hand aufs Blech“ heißen müsste.

Die Idee stammt wohl von Tanzmarathons in den USA der Weltwirtschaftskrise – „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuß“ ist der Film dazu von Sidney Pollack mit Jane Fonda von 1969. Da der Wettbewerb primär Reklame für ein verkrachtes Autohaus sein soll, gibt es auch Öffentlichkeit dafür und McCarten kann den Radiomoderator Lee Lerner kommentieren lassen:

Bei dem Wettbewerb kann man ein Auto gewinnen, und das Auto bekommt derjenige, der am längsten die Hand daran halten kann… Wie man hört, sind die Teilnehmerjetzt bald den dritten Tag ohne Schlaf dabei. Ich wollte von der ganzen Sache nichts wissen, doch heute Morgen schlug ich die Zeitung auf, und da war sie, wenn auch ziemlich weit hinten. Eine Geschichte. Mit einem hübschen großen Foto. Und da habe ich den Artikel gelesen. Offenbar sind Leute aus allen Schichten dabei, stehen in diesem Augenblick dort draußen im strömenden Regen. Einige sind befragt worden, und man bekommt die Art von Geschichten zu hören, die man erwarten würde – jemand, dem das Geld ausgegangen ist, jemand, der einen Zweitwagen braucht, Harvey Bingham aus Dorset, der seine Freundin beeindrucken möchte, viel Glück, Harvey, und so weiter und so weiter. Doch dann kam ich zur Geschichte der Frau, die auf dem Foto zu sehen ist. Jess Podorowski heißt sie, und sie ist Politesse. Buuuh, höre ich Sie rufen. Tststs. Aber bevor Sie jetzt alle auf sie losgehen oder hier anrufen und Ihren liebsten Politessenwitz erzählen wollen, da muss ich sagen … ihre Geschichte, die hat mich wirklich gerührt. Wirklich gerührt. Sie erzählt, dass sie diesen Geländewagen gewinnen will, damit sie hintenrein einen Rollstuhl stellen kann, für ihre kleine gelähmte Tochter.

Schon im ersten Kapitel stellt McCarten „Die Kandidaten“ vor, die auch in der Qual des Wettbewerbs im Mittelpunkt des Interesses stehen: den gebildeten, aber auch eingebildeten Tom Shrift und eben Jess. Es soll nicht verraten werden, dass sie sich befehden und beschimpfen und am Ende doch. Nachdem viele Kandidaten ihre Hand unfreiwillig zurückziehen, verlagert sich die Beobachtung mehr zu den drei/zwei Verbleibenden und der Frage, ob der Guiness-Rekord im Nicht-Schlafen übertroffen werden kann. Gedanken der Solidarität blitzen auf, soll man gleichzeitig aufgeben?, doch natürlich gewinnt das Privatinteresse die Oberhand:

Das Leiden der anderen.
Es war unglaublich, wie einen das aufbaute. Sie war verblüfft, wie sehr sie innerlich jubilierte, wenn ein anderer aufgab, davonwankte, nicht mehr an den Wagen zurückkam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, doch die Wirkung blieb. Nach Mitternacht, als der Fischhändler aus Norfolk einfach zusammensackte und auf den Fersen hockenblieb, fühlte sie sich prächtig. Alle hatten mitfühlende Worte, als der Mann in Tränen ausbrach und dann von dannen schlurfte, doch Jess konnte nicht leugnen, dass ihr das Weitermachen danach ein ganzes Stück leichter fiel, dass es überhaupt viel einfacher schien – und nicht nur für sie. Nach jedem Ausscheiden kam Partystimmung auf. Zuerst dachte sie, es ginge nur ihr so, und schämte sich, doch dann sah sie, dass auch alle anderen nach dem Zusammenbruch des Fischhändlers auflebten. Wo andere untergingen, stieg man selbst auf. So einfach war das. Und je weiter die Nacht fortschritt, desto häufiger kamen diese Muntermacher – stets auf Kosten eines anderen – und waren immer willkommener.
Um zwei der nächste Energiestoß. Gerade als allen wieder so richtig flau wurde, sorgte die Hebamme für Rettung, indem sie im Toilettenhäuschen einschlief und erst durch Schläge an die Tür wiederbelebt werden konnte. Die Frau hatte sich großer Beliebtheit erfreut, weil sie jedem, der fragte, medizinische Ratschläge gab, und allenthalben wurde beteuert, wie sehr man sie vermissen werde usw. usw., doch …

Der Roman hat ein interessantes Thema, das gerade in England immer wieder gerne aufgegriffen wird, vielleicht weil dort die sozialen Deprivationen noch augenfälliger sind als sonstwo. Da der Wettbewerb als solcher letztlich doch keine 300 Seiten trägt, werden sozial-psychologische (Selbst-)Deutungen eingefügt, die aber auch keine neuen Gedanken enthalten. So zieht sich das Lesen für mich – vielleicht auch, weil die Spannung durch die Sympathie des Autors für die Personen und durch das absehbare und zudem angekündigte Ende nicht durchgehalten oder gar gesteigert wird. Ganz nett.

2009      320 Seiten 

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Die Bücher des Diogenes-Verlags haben hinten immer ganz viele Tipps zum Weiterlesen und oft liegt auch ein Ex-Libris bei, die mich schon öfter dazu gebracht haben, ein Buch zu kaufen und zu lesen. Werbungen übertreiben natürlich – meist. Warum machen das nicht alle Verlage?


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