Philip Roth: Empörung
Empörungen. Mehrere.
Marcus Messners Mutter hält es mit ihrem Mann nicht mehr aus, weil der mit seinen zunehmenden Angstneurosen die Familie tyrannisiert, aber sie nimmt den Gedanken an Scheidung zurück, sie setzt auf die nächste Generation.
Ich weiß, du bist stark. Du hast deinem Vater die Stirn geboten, und der ist kein Schwächling. Und du hast recht daran getan, ihm die Stirn zu bieten; unter uns gesagt, ich war stolz auf dich, weil du ihm die Stirn geboten hast.
[…]
Du bist ein Messner wie alle Messners. Früher war dein Vater der Vernünftige, der Denker, der einzige, der einen Kopf auf den Schultern hatte. Jetzt ist er aus irgendwelchen Gründen genauso verrückt wie die anderen. Die Messners sind nicht bloß eine Familie von Metzgern. Sie sind eine Familie von Schreihälsen und eine Familie von Polterern und eine Familie von Leuten, die mit der Faust auf den Tisch hauen und mit dem Kopf durch die Wand wollen, und jetzt ist dein Vater aus heiterem Himmel plötzlich genauso schlimm wie alle anderen. Sei du es nicht. Sei du größer als deine Gefühle. Nicht ich verlange das von dir – das Leben verlangt es. Denn sonst wirst du von deinen Gefühlen weggeschwemmt werden. Du wirst ins Meer gespült und nie mehr gesehen werden. Gefühle können das größte Problem des Lebens sein.
Ihre Gefühle kann auch Olivia, eine Mitstudentin, die Marcus begehrt, nicht in den Griff kriegen. Sie richtet ihre Empörung gegen sich selbst und fügt sich Wunden bei, um am Leben bleiben zu können. Auf andere Weise setzt sich die Empörung der männlichen Studenten frei; sie überfallen im Rausch einer pubertären Schneeballschlacht das Mädchenwohnheim und klauen die weißen Höschen.
Vater, Eltern, Rektoren, Konventionen, Sexualmoral, gegen vieles muss man sich empören, um ein eigener Mensch zu werden, doch es gibt keine Wege, keine erprobten Mittel, keine probaten Vorbilder für die Rebellion. Sie läuft ins Leere, richtet sich gegen die eigene Person, endet im besten Fall im Schlag auf den Tisch, der von den Autoritäten milde verklärt wird.
Marcus Messner ist ein guter und strebender Student, der nur an einem guten Abschluss interessiert ist. Er will den Pressionen aus dem Weg gehen. Vor den pathologischen Ängsten seines Vaters flieht er aus der jüdischen Gemeinde Newarks in den Bible Belt, weit genug weg, um den Konventionen zu entkommen. Meint Marcus, doch er wird von neuen und härteren Regeln eingefangen. Weil er mit seinen lästigen Zimmergenossen nicht auskommt und in ein neues Zimmer zieht, auch weil er sich nicht in der Gesellschaft des Colleges engagieren will, wird er vom Rektor zum Verhör bestellt. Sogar seine Treffen mit einer Freundin werden protokolliert.
Aufgewühlt von meinem heimlichen Gesang, platzte ich heraus: »Wie wär’s denn mal mit etwas Toleranz mir gegenüber? Entschuldigen Sie, Sir, ich möchte nicht frech oder unverschämt werden. Aber«, und zu meiner eigenen Verblüffung beugte ich mich vor und schlug mit der Faust auf seinen Schreibtisch, »worin genau besteht das Verbrechen, das ich begangen habe? Ich bin zweimal umgezogen, ich bin von einem Zimmer in ein anderes gezogen – ist das am Winesburger College ein Verbrechen? Macht mich das zum Angeklagten hier?«
Und er (Messner bzw. Roth) bestreitet seine Argumentation mit seitenlangen Zitaten aus Bertrand Russells Essay „Warum ich kein Christ bin“. Aber die Vernunft ist es ja gerade nicht, womit die Vorhaltungen diktiert werden.
Man wird mich aus dem College werfen, dachte ich Weil ich zu oft umgezogen bin, wird man mich auffordern, Winesburg zu verlassen. Darauf läuft das hier hinaus. Rausgeworfen, eingezogen, nach Korea geschickt und dort getötet.
Der Anlass für seine Deportation in den Koreakrieg ist noch banaler. Marcus Messner erzählt seine Geschichte als Toter, Roth verrät es schon nach 50 Seiten. Messners Ahnungen haben sich erfüllt. Sie haben eine kleine Unaufmerksamkeit ausgenutzt, und dagegen ist Bertrand Russell keine Hilfe.
Die Verhältnisse ändern sich nicht, sind – noch, sagt Philip Roth in der nachgelegten „Historischen Anmerkung“ – zu mächtig. Erst die Studentenproteste von 1969 hätten zu Traditionsbrüchen geführt, die Restriktionen – wie die aus der Ferne lächerlich erscheinende Pflicht, 40 Gottesdienstbesuche (auch für Juden) nachzuweisen, abgeschafft.
Aus der zeitlichen Ferne betrachtet, hat sich für mich das bigotte Amerika nicht so sehr gewandelt. Ein schwarzer Präsident wird geduldet, weil er die abgewirtschaftete Nation aus dem Dreck ziehen soll, damit die „Elite“ wieder an die von ihr rekrutierten Fleischtöpfe kommt. Die Konservativen aller Löcher veranstalten wieder „Tea-Partys“, um sämtliche Rebelliönchen im Keim zu ersticken und zu den Gehörigkeiten zurückzuheucheln.
Man liest diese Novelle wohl auch mit heuchlerischen Überlegenheitsgefühlen (deutsch/europäisch), man echauffiert sich über die amerikanische Bigotterie von Gottes Gnaden, die eingeforderte pathetische Vaterlandsneurose der Amerikaner. Weil es bei uns so anders ist ;-), ist „Empörung“ nicht nur Roman, sondern auch Geschichtsbuch. Und wieder der Kampf des Helden gegen die unerfüllbaren Konventionen der (jüdischen) Familie, der letztlich doch nur damit enden kann, dass man selbst so wird, wie Vater – oder Mutter – oder patriotisch.
2008 200 Seiten
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