Michela Murgia: Accabadora
Maria trägt zwar ein Mal Jeans, aber sonst scheint dieser Roman aus den 1950er-Jahren zeitlos. Als viertes Kind findet Maria keinen Platz in der eigenen Familie und so wird sie, ungefragt, weggegeben zu einer Ersatzmutter, als fill’e anima, Kind der Seele/des Herzens der alten, selbst kinderlosen Bonaria Urrai. Äußerlich nimmt Maria das hin, doch es braucht Zeit, bis sich das kluge sechsjährige Mädchen in die neue Situation findet.
Die Entscheidung, eine fill’e anima zu sich zu nehmen, wurde Bonaria jedoch weniger durch die Sensationslust der Leute erschwert als vielmehr durch das anfängliche Verhalten des Mädchens, das sie sich ins Haus geholt hatte. Nachdem sie sechs Jahre lang die Nächte in einem Zimmer mit drei Schwestern verbracht hatte, war Maria daran gewöhnt, nur den Raum um sich herum als den ihren zu begreifen, der nicht mehr als eine Armeslänge von ihr entfernt lag. Die Ankunft im Hause Bonaria Urrais stellte Marias Raumvorstellung auf den Kopf. In diesen Mauern war so viel Platz, dass es einige Wochen dauerte, bis sie begriff, dass aus den Türen der vielen Zimmer niemand heraustreten und sie zurechtweisen würde: »Nicht anfassen, das gehört mir.« Bonaria Urrai machte nicht den Fehler, ihr zu sagen, sie solle sich ganz wie zu Hause fühlen, und gab auch keine anderen der üblichen Banalitäten von sich, die zu nichts anderem dienen als den Gast daran zu erinnern, dass er eben nicht zu Hause ist. Sie wartete einfach ab, bis die Räume, die jahrelang leergestanden hatten, nach und nach die Form des Mädchens annehmen würden, und als nach einem Monat alle Türen der Zimmer geöffnet worden und offen stehen geblieben waren, hatte sie den Eindruck, dass es richtig gewesen sei, auf die Kraft des Hauses zu setzen. Nachdem Maria Vertrauen zu den neuen Wänden gefasst hatte, die sie umgaben, öffnete sie sich Stück für Stück auch der Frau, die sie zu sich genommen hatte.
Maria ahnt, dass ihre neue Mutter nicht nur Schneiderin ist, sondern ein geheimnisvolles Leben führt, aber es dauert lang, bis sie herausfindet, was der Grund der nächtlichen Ausflüge Bonaria Urrais ist. Die alte Frau ist eine Accabadora, eine „Frau, die Sterbenden in Agonie zum Tode verhilft“ (Glossar zum Roman). Ob sardische Legende oder Mythos, im ländlichen Sardinien gelten die alten, ungeschriebenen Konventionen, die Totenklage, die Ordnung der Familie, die helfen – sollen -, wo die Vernunft oder der Glaube versagt. Auch der Pfarrer wird eher geduldet als gesucht, die Religion ist zu weit oben, es ist eher die Erde, von der man lebt.
In dieser bitteren Schule der Wirklichkeit lernte die Tochter Taniei Urrais das ungeschriebene Gesetz, dass nichts so sehr zu fürchten war wie das einsame Sterben und die einsame Geburt. Sie begriff, obwohl an diesem Tag ihre einzige Aufgabe war, zuzuschauen. Mit fünfzehn Jahren erfasste Bonaria bereits, dass man bei bestimmten Dingen dasselbe Ausmaß an Schuld auf sich lud, ganz gleich, ob man sie tat oder nur dabei zusah. Und niemals seit dieser Zeit waren ihr Zweifel gekommen, nicht zwischen Barmherzigkeit und Verbrechen unterscheiden zu können. Niemals vor diesem Abend, als sie in den Augen Nicola Bastíus eine Entschlossenheit gelesen hatte, die sie spüren ließ, dass er nicht Frieden suchte, sondern einen Komplizen.
Die Lehrerin hilft Maria dabei abzuhauen, weil ihr Verstand der bäurischen Archaik zwar überlegen, aber nicht gewachsen ist. Weggehen heißt für Sarden das Schiff zum „Festland“ nehmen, für Maria nach Turin, doch die Fremde ist noch fremder, undurchschaubarer als die verlassene Heimat.
Signora Gentili hatte ihr die merkwürdige Geschichte von den quadratisch angelegten Straßen Turins erzählt, die anscheinend geplant worden waren, bevor man die Gebäude errichtet hatte, zu denen sie führen sollten. Die Vorstellung, dass die Turiner zuvörderst über den Weg entschieden und erst in einem zweiten Schritt als Ziel die Häuser gebaut hatten, schien ihr derart abwegig, dass sie in ihren ersten Briefen an die Schwestern immer wieder davon erzählte, als handele es sich um eine amüsante Neuigkeit. Diese millimetergenaue Ordnung war für sie unvereinbar mit dem gesunden Menschenverstand, sie war überzeugt, dass die einzig richtige Art, Straßen anzulegen, die von Soreni war, wo sie aus den Häusern selbst entstanden waren, wie Stoffreste beim Zuschneiden eines Kleides. Krumm und schief, zusammengesetzt aus den einzelnen Stücken, die zufällig übrig geblieben waren zwischen den planlos hervorschießenden Behausungen, die sich gegenseitig stützten, wie zwei betrunkene Alte nach der Feier zum Namenstag. Marta Gentili hatte ihr erklärt, dass das gleichförmige Straßenschema Turins der Sicherheit gedient hatte, denn eine Residenzstadt durfte den Rebellen und Feinden keine Winkel bieten, um sich zu verstecken. Diese Erklärung bestärkte Maria in ihrer Meinung, dass Dinge, die allzu geradlinig waren, in Wirklichkeit ein Eingeständnis von Schwäche bedeuteten: Niemand hätte sich die Mühe gemacht, so gerade Straßen zu entwerfen, es sei denn, er hatte große Angst.
„Das archaische Milieu in einem sardinischen Dorf trägt zu der dichten, düsteren, manchmal unheimlichen Atmosphäre des Romans bei. Entscheidend ist dabei allerdings die ebenso wortkarge wie harte und vitale Sprache der sardischen Schriftstellerin.“ (Dieter Wunderlich) Wortkarg heißt nur, dass nichts unnötig ausgeschmückt und beschönigt ist, es heißt nicht ungenau. Michela Murgia kennt die Gefühle und hat die Bilder und sie versetzt sich damit in ihre Personen. Am stärksten in das Mädchen und die junge Frau Maria, denn allein sie hätte das Potenzial auszubrechen, sie ist die einzige, die länger in die Schule geht, der die Rituale Rätsel aufgeben. Dennoch hängt sie und hängt mit ihr die Autorin an der Inselheimat, die uns vor zu viel Rationalität bewahrt – und das ist heute wieder sehr gefragt.
Viele von den Dingen, die sie glaubte an dem Ufer zurückgelassen zu haben, von dem damals das Schiff nach Genua abgelegt hatte, kamen eins nach dem anderen zu ihr zurück, wie Treibholz, das nach einer Sturmflut an den Strand gespült wird.
2009 170 Seiten
Michela Murgia betreibt auch eine umfangreiche Webseite zu allen möglichen Themen, Naturschutz, Sardinien, Politik – natürlich auf italienisch.
![]() |
Auch aus Sardininen: Milena Agus: Die Frau im Mond
Erzählt wird von der Großmutter, einer schönen Bauerntochter, die aber ihre Liebhaber vertreibt und so zur Schande für ihre Familie wird, die sie für besessen oder verrückt erklärt. „Laut Mama muss in einer Familie zwangsläufig jemand die Unordnung auf sich nehmen, denn so ist das Leben nun mal, ein Hin- und Herpendeln zwischen Ordnung und Unordnung, ansonsten würde die Welt erstarren und stehen bleiben.“
Aus „Vernunft“gründen heiratet sie schließlich einen Witwer, doch liegen sie im Ehebett so weit am Rand, dass sie abwechselnd hinausfallen. Erst als sie wegen ihrer Nierensteine zur Kur weilt, findet sie im „Reduce“ ihre große Liebe. Ein Roman zwischen großen Gefühlen und großer Zurückhaltung, zwischen Leiden des Weltkriegs und Liebe im Thermalbad, zwischen Märchen und Sardinien, ein bisschen ironisch und ein bisschen pervers. Liest sich schön und soll ein großer Erfolg gewesen sein.
2006 135 Seiten
Salvatore Niffoi: Die barfüßige Witwe
Auch ein Roman aus der archaischen Bergwelt Sardiniens. Die Männer haben nichts gelernt, außer mit dicken Eiern durch die Welt zu protzen, den Frauen bleibt die tägliche Arbeit, sie plagen sich durchs Leben, angezogen und abgestoßen von den Kerlen, stets vergebens bemüht, sich gegen ihre Mütter auzulehnen, damit sie nicht genauso werden wie sie. Mintonia hat lesen gelernt, was ihr Momente der Analyse erlaubt, die ihr in der wilden Abgeschiedenheit aber nicht weiterhelfen. Das Festland ist bis zuletzt nur ein Gedanke.
Salvatore Niffoi lässt Mintonia ihr Leben erzählen und spickt die Geschichte mit Stein-und-Blut-Metaphern und mit vielen Worten, Sätzen und Redewendungen aus dem Sardischen. Das lässt den Bericht authentisch erscheinen, neben dem Lauf des Lebens vermisst man aber die subtile Spannung, unter der Michela Murgia Maria groß werden lässt.
In Taculè und Laranei graben Illusionen tiefe Furchen ins Fleisch der Menschen, das vom ständigen Bellen der Hunde und von der sengenden Sonne gequält ist. Tiefe Furchen, wie sie der Pflug in der tonhaltigen Ebene von Murtedu hinterließ. Die Gesichter der an Feiertagen und Beerdigungen schwarzgekleideten Frauen sehen aus wie aus Stein, den das Leiden abgeschliffen hat. Beim Sonnenuntergang kehren sie in Scharen von der Abendmesse zu ihren Häusern zurück, reden vom Krieg, von Krankheiten, Wundern, Schwangerschaften und betrunkenen Ehemännern. … Die ersten Tropfen kamen herunter und strömten wie Ochsenpisse auf die staubige Straße. Predu und Costanzu hatten gerade noch Zeit, heftig mit den Augen zu zwinkern und mit einem wilden Schrei die Tiere zu schlagen:
»Truuuuu! Ajò, voe porporì, ca si no di seco sas costas! Los, Brauner sonst hau ich dir auf die Rippen!«
Nacht legte sich auf die Nacht, und der Donnerschlag ließ die Trommelfelle platzen. Eine dunkle Wolke, die wie eine große Blase ihren Bauch öffnete, fing an, am Himmel Regen wie Maschinengewehrfeuer zu verschießen: tata, ta, tata, tata. Ratatata. Schmerzhafte Salven, die die verzweifelten Worte von Predu übertönten:
»Curre, curre! Curre a bidda ca istanotte Deus l’ata chin nois! Lauf? Lauf nach Hause, denn heute Nacht ist Gott auf uns böse!«
2006 200 Seiten
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar