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Peter Köpf: Hilfe, ich werde konservativ
2007
»Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit«, schrieb Jean-Jacques Rousseau in Du Contrat social. Selbst der deutsche Nationalliberale Heinrich von Treitschke erklärte in Politik 1: »Das Übermaß der Freiheit wird Sklaverei, denn wenn es keine Autorität mehr gibt, so ist der Starke unumschränkt, und der Schwache verfällt dem Recht der Faust. Die Überspannung der Freiheit führt nicht allein zur Knechtschaft, sondern ist selbst schon Knechtschaft.«
Nicht Köpf hat sich verändert. Sagt er. Sondern die Welt, die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Menschen. Und deshalb mag es scheinen, dass Meinungen (Überzeugungen), die gleich bleiben, jetzt als konservativ gelten.
Köpf lässt sich über Eltern und die Jugend, die Schule und die Erziehung, Frauen und Männer, Werte und Patriotismus, Staat und Solidarität aus. Seine Thesen sind gut begründet, enthalten auch subjektive Elemente, sie beanspruchen Gültigkeit und werden durch die Entwicklungen nach 2007 bekräftigt. Gut zu lesen, auch wenn man das meiste schon weiß oder kennt.
Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals
2011
Joseph Vogl beschreibt, wie sich die Wirtschaft Theorien fand, die ihr immer komplexeres Wirkungsgeflecht erklären und in den gesellschaftlichen Kontext einordnen konnten. Er stellt die Versuche vor, auch den Finanzmarkt nicht nur als ausgebaute Form eines sich – mit der „unsichtbaren Hand“ – selbst regulierenden Wirtschafts-Systems zu beschreiben, sondern als Modell sozialen Handelns schlechthin.
Es geht um die Vitalstandards von Populationen und daher noch einmal um die prokreative Kraft von Familie, Haushalt und häuslichem Wesen. Heiratsmärkte und Scheidungen, häusliche und geschlechtliche Arbeitsteilung, Zeugungsverhalten, der Einsatz von altruistischen oder selbstsüchtigen Neigungen, die Relationen zwischen Qualität und Quantität von Kindern, Geburten- und Sterberaten, Generationsfolgen und Reproduktionszyklen, Familienplanung und Familienpolitik – all diese Faktoren werden mit der Frage nach ihrer Bepreisung, nach ihrem Grenznutzen, d.h. nach den optimierbaren Verhältnissen zwischen Investitionskosten und erwartbaren Erträgen durchmustert.
Allerdings greife dieser theoretische Ansatz der „Oikodizee“, der „Erzählung“ von einer Welt, die gerecht und damit die beste, weil ökonomisch bestimmt sei, zu kurz. Der Rückgriff auf chaostheoretische Ansätze zeige, dass kein überkomplexes System „vernünftig“, rational sein kann, dass es Errata immer nur durch Erweiterungen bekämpfen könne, welche aber selbst die Stabilisierungen auflösen.
Man hat auf eine endlos fortsetzbare Zukunft gesetzt, gleichzeitig aber ihre Ressourcen verbraucht, und die gegenwärtige Nutzung der Zukunft hat den Vorrat an gegenwärtig verfügbarer Zeit ausgeschöpft. Gerade weil hier die Gegenwart von einer Zukunft abhängt, die sich wiederum nach ihr richtet, weil sich die Gegenwart als Wirkung einer Zukunft manifestiert, die sie selbst anstößt, hat sich die darin akkumulierte Macht der Zukunft auf paradoxe Weise artikuliert. Der Reichtum künftiger Zeiten hat sich in gegenwärtigen Profiten verwirklicht. […]
Prozyklische Prozesse und Resonanzkatastrophen sind systemkonform, und der jüngste Zusammenbruch des amerikanischen Hypothekenmarkts war darum wohl nur ein Auslöser, aber kein hinreichender Grund für den späteren weltweiten Kollaps. […]
Der Princetoner Ökonom Huyn Song Shin hat in Wechselwirkungen dieser Art eine Analogie zu den Effekten jener Feedback-Katastrophen erkannt, wie sie die Londoner »Millenium Bridge« – als Fußgängerbrücke zwischen Tate Modern und St. Paul’s Cathedral über die Themse gespannt – bei ihrer Eröffnung im Jahr 2000 heimsuchten. So hatte die leichte horizontale Eigenschwingung der Brücke von einem Hertz die beliebigen Tritte hunderter Fußgänger darauf zu leichten lateralen Ausgleichsbewegungen veranlasst. Während es die Diversifikation von massenhaften und unkoordinierten Einzelbewegungen höchst unwahrscheinlich macht, dass daraus eine einheitliche Bewegungsrichtung erwächst (auf Brücken marschieren selbst Soldaten nicht), hatte die winzige und zufällige Oszillation des Brückenbaus die einzelnen zivilen Füße zur Anpassung daran und zur Anpassung an Anpassungen gebracht. Unmerklich wurden die diffusen Fortbewegungsarten synchronisiert, es wurde Bewegungsordnung hergestellt und verstärkt. Und gerade die Zufälligkeit unterschiedlicher Bewegungsprofile hat sich selbst amplifizierende Muster erzeugt, die von den Ingenieuren synchronous lateral excitation, synchrone Lateralerregung genannt wurde: Die kritische Schwelle lag bei 156 Fußpaaren; über dieser Schwelle geriet die Brücke in eine gefährliche Schwingung. Sie wurde geschlossen, der elegante Bau mit Stoßdämpfern versehen. Auf ähnliche Weise, so lautet die Schlussfolgerung, führen Preisschwankungen auf Finanzmärkten zu vernünftigen Anpassungsreaktionen, diese zu kohärenten Ordnungsfiguren und diese über positive Rückkopplung zu einem »perfekten Sturm«. Wie die verwackelte Brücke sind »Finanzmärkte das beste Beispiel für eine Umgebung, in der Individuen auf das, was um sie herum geschieht, reagieren, und in der die individuellen Aktionen die Resultate selbst wiederum affizieren.« Oder: »Die Fußgänger auf der Brücke reagieren wie Banken, die Bewegungen der Brücke gleichen Preisschwankungen. Man wünscht sich Diversität, aber der Markt ist ein Ableiter, der Uniformität verhängt.«“
Vogl ist Literaturwissenschaftler, was einerseits dazu führt, dass er ,anders als die meisten Wirtschafts-“Wissenschaftler”, sein Thema überblickt. Andererseits gerät mir angesichts seiner am “Poststrukturalismus” orientierten Darstellung die Aussage immer wieder aus dem Blick. Die Sprachverliebheit generiert Ornamente, klare Benennmung wäre auch ein Wert. Die Weizenkornlegende (Josephspfennig !) sagt’s verständlich, auch Schneebälle erläutern das gleiche.
Ein Beispiel für Wortgeklingel: Sofern Finanzmärkte als Systeme zur Produktion von Finanzierungspreisen operieren, lassen sie sich als Mechanismen zur autopoietischen Herstellung von Doxa begreifen, in der rationale Erwartungen und Präferenzen nur dann wirklich vernünftig sind, wenn sie direkt mit konventionellen koinzidieren und Übereinstimmung in Normalideen finden. Finanzökonomische Wahrheiten sind auf Konventionen gegründet, Konventionalismus prägt die Episteme des Markts, und jede theoretische Begründung ratifiziert nur dieses doxologische Substrat. Gerade als Subjekt all dessen, was gewusst werden kann, macht der Markt die Unterscheidung von Wissen und Meinen obsolet. Regierungstechnisch könnte die Forderung nach einer Deregulierung von Finanzmärkten demnach nichts anderes bedeuten als das Verlangen nach einer Symbiose aus ökonomischen und intellektuellen Konformismen, nach einer Maschine zur Erzeugung normalisierender Trends. Darin liegt auch der Grund für die Quantifizierbarkeit ökonomischer Prozesse; sie werden, wie schon Gabriel Tarde einmal bemerkte, durch die »Übereinstimmung kollektiver Urteile«, durch die Mechanismen der großen Zahl und ihr konformistisches Meinen und Glauben bestimmt.
Rezension von Steffen Richter im Tagesspiegel
Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden?
2011
Neid und Versagensangst, Missgunst und Habgier trieben den Antisemitismus der Deutschen an – Gewalten des Bösen, die der Mensch seit Urzeiten fürchtet und zivilisatorisch einzuhegen versucht. Die an christliche und juridische Traditionen durchaus gebundenen Deutschen waren sich der niederen Beweggründe ihrer Judenfeindschaft bewusst. Sie schämten sich dafür. Das machte sie für die Rassentheorie empfänglich. Die biopolitische Wissenschaft veredelte den Hass zur Erkenntnis, das eigene Manko zum Vorzug und begründete gesetzliche Maßnahmen. Auf diese Weise delegierten Millionen Deutsche ihre verschämten, aus Minderwertigkeitsgefühlen herrührenden Aggressionen an den Staat. So konnten staatliche Akteure jeden Einzelnen entlasten und individuelle Bosheit in die überpersönliche Notwendigkeit zur »Endlösung der Judenfrage« verwandeln.
Aly beantwortet „die Frage aller Fragen“ im Kern sozialpsychologisch, sieht den zentralen Antriebsgrund des deutschen Antisemitismus in der „menschlichen Disposition“ Neid, der „Ohnmacht“, der Schwäche: „Die Schwachen sind die Gefährlichen“. Solche Zusammenhänge sind weder unbekannt noch erklären sie, weshalb gerade die Deutschen so anfällig für den Antisemitismus waren und diesen „Volkshass“ so dumpf und derb auslebten. Aly zeigt außer einem knappen Blick auf den italienischen Faschismus keine anderen Länder zum Vergleich und zu abgrenzendem Verstehen. Diskutiert werden natürlich – auch das ist nicht neu – die Ingredienzen deutscher Sonderwege: „Die Einheit blieb für lange Zeit Wunschtraum, und deshalb mussten die Vorkämpfer für die Freiheit auch Vorkämpfer der Einheit sein.“ Gerade die Juden hätten von der verspäteten Industrialisierung, der verspäteten Nationalstaatsbildung mehr profitiert, weil sie die neuen Möglichkeiten der städtischen Arbeitswelt dank ihrer Offenheit für die notwendigen Bildungsprozesse viel aktiver ergriffen als die viel stärker in der ländlichen Welt und deren Traditionalität verwurzelten Christen, speziell die Katholiken. Folge waren Bildungs- und Lohnvorsprünge, Folge war Sozialneid, die „krankhafte Ohnmacht der Dümmeren“.
Das ist stark vereinfacht. Aly zitiert viele weitere deutsche Spezialitäten: Die Ausbreitung des Finanz-Kapitalismus, die verspätete Ausrufung des neuen, aber dem alten gleichenden Staates, die von oben verfügten Sozialreformen, natürlich den Weltkrieg und die für die Entwicklung verheerenden Folgen des Versailler Vertrags, die Agonien der Weimarer Republik, die gerade unter extrem ungünstigen Rahmenbedingungen in Deutschland die Demokratie erproben sollte, die Entwicklung der „Rassenkunde“ als pseudowissenschaftliche und pseudorationale Erklärung von Unterschieden zwischen Menschengruppen.
Wichtig sind Aly die entscheidenden Unterschiede und Konflikte zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Individuum und Kollektiv, zwischen Etatismus und Liberalismus, und er sieht in der spezifisch deutschen Überbetonung des Staates, des Volkes, der Gemeinschaft, welche die individuellen Unsicherheiten kompensieren sollte, einen der wesentlichen Gründe für die deutsche Barbarei. Dass Aly für den Liberalismus spricht, ist angesichts des Themas verständlich, müsste aber angesichts der aktuellen Deutungen des Begriffs stärker in Frage gestellt werden.
Interessant sind die scheinbaren Paradoxien, auf die Aly hinweist. So etwa die Hoffnung von Sozialdemokraten, ihre Kritik am Kapitalismus sei der Kritik am „Finanzjudentum“ nicht generell entgegengesetzt:
In seiner Rede »Sozialdemokratie und Antisemitismus« im November i893 folgte August Bebel demselben Gedanken. […] Eben weil die unappetitliche Hetze soziale Not anspreche, so führte Bebel aus, letztlich aber keine Lösung biete, würden die sozialdemokratischen Lehren am Ende bei den Antisemiten auf »fruchtbaren Boden« fallen, werde die SPD dann die Ernte einfahren und neuen Anhang gewinnen. Marxisten nannten das »die List der Geschichte«, folglich fand Wilhelm Liebknecht den Antisemitismus »keineswegs unwillkommen«.
Nach Bebels Rede 1893 verabschiedete der Parteitag ohne Diskussion eine Resolution. Demgemäß richteten die Antisemiten ihren Kampf gegen eine Teilerscheinung des Kapitalismus, nämlich »das jüdische Ausbeutertum«, und sie würden »zu der Erkenntnis kommen müssen, dass nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind« sei. Im Vorwärts konnten die SPD-Leute lesen: »So kulturwidrig (der Antisemitismus) ist, so ist er doch Kulturträger wider Willen – im wahrsten Sinn des Wortes Kulturdünger für die Sozialdemokratie.«
Aufklärend auch Alys Erkenntnis, dass die nachholende Aufstiegsmobilität nichtjüdischer Deutscher den Neid nicht beschwichtigt, sondern ihn gerade noch angestachelt habe.
Die starke, nachholende soziale Aufwärtsmobilisierung der Deutschen während der Weimarer Jahre lenkt den Blick auf einen in der Rückschau besonders beklemmenden Faktor: die erfolgreiche Bildungspolitik der ersten deutschen Republik. Sie förderte, auch wenn es paradox erscheinen mag, den Zulauf zu Hitlers Partei, stabilisierte deren Funktionärsstruktur und ermöglichte 1933 den schnellen Elitenwechsel im Staatsapparat. Zwischen 1919 und 1929 schufen demokratische Politiker die Voraussetzungen dafür, dass die Zahl der Abiturienten und Absolventen nichtakademischer gehobener Ausbildungsgänge stark anstieg – besonders deutlich zwischen 1928 und 1931. Die Bildungspolitiker der Republik machten das System durchlässiger, auch für Mädchen und junge Frauen; sie schufen neue Berufsprofile, anspruchsvolle Lehrerbildungsanstalten, Fachschulen, Fachhochschulen und Berufsakademien aller Art. Aber seit 1930 standen diese vergleichsweise gut ausgebildeten jungen Leute vor dem beruflichen Nichts. Chancenlos drängten sie in Massen auf den Markt. Die Jahrgänge 1908 bis 1914 waren die geburtenstärksten der deutschen Bevölkerungsgeschichte überhaupt.
Aly schreibt auch, dass die “Nivellierung” der sozialen Unterschiede zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung ab 1910 “keinen Rückgang der Judenfeindschaft bewirkte” […] “Im Gegenteil. Die soziale Stagnation der Juden einerseits und das Nachrücken der Nichtjuden anderseits erhöhten die ohnehin vorhandene Spannung enorm. Der Grund für den paradox erscheinenden Effekt liegt auf der Hand: Zwischen materiell ähnlich gestellten, benachbarten Gruppen oder Personen, deren Erfolgskurven nur mäßig differieren, findet man häufig sehr viel aggressiveren Neid als zwischen sozial stärker unterschiedenen und daher meist räumlich getrennten Menschengruppen. Erst die Nähe ermöglicht den ständigen Vergleich, sei es in Familien, unter Arbeitskollegen oder in größeren sozialen Einheiten. Der populäre Antisemitismus des Neides richtete sich nicht vorzugsweise gegen jüdische Bankiers, Revolutionäre, Warenhausbesitzer, Rassen- oder Religionsfeinde, sondern sehr konkret gegen zumindest scheinbar bessergestellte jüdische Nachbarn, Mitschüler, Kommilitonen, Kollegen oder Vereinskameraden.
Es gibt viele Aspekte, die zu aktuellen Gedanken anregen. Neben der Rolle der Bildung sind das etwa die Rolle des Liberalismus speziell in Deutschland oder die Rolle des Staates bei der Gestaltung der Ökonomie oder der Kontrolle wirtschaftlicher Entgleisungen.
Die “Frage aller Fragen” beantwortet Götz Aly für mich nicht. Aber es sind wohl auch zu viele Widersprüchlichkeiten und Potenzierungen, so dass es die eindeutige Antwort nicht gibt. Aly bietet viele Belege und Nachweise und bezieht dabei auch seine Familiengeschichte als Quelle mit ein.
Christian Geulen: Geschichte des Rassismus
2007
Geulen gibt einen Überblick über gesellschaftliche Ausgrenzungen von den Sklaven über die Barbaren und Häretiker bis zu (oft pseudo)wissenschaftlich begründeten Zuweisungen von „Rasse“-Merkmalen seit der spanischen Reconquista. Er legt dar, wie Aufklärung und Evolutionslehre als Stimulans fortschrittlicher Entwicklungen auch zu Ausdifferenzierungen der Menschheit beitrugen und diese als Begründung politischer und kultureller Zugehörigkeiten und Abwertungen herangezogen wurden. Die neuen Tendenzen der Genetik und der Globalisierung schließt er an den Rassismus-Diskurs an. Biopolitik und rassistischer Antisemitismus bilden eine grausame Episode in der langen Geschichte des Konstrukts von menschlichen Rassen.
Der Rassismus ist kein Essentialismus. Er beruft sich niemals auf die Natur an sich, sondern grundsätzlich auf ein sich selber veränderndes Wissen von der Natur. Dieses Wissen in Gestalt eines gewünschten Idealszustands (der fixen Ordnung oder aber des ewigen Kampfes) ist für den Rassismus das Maß, nach dem er die gegebene Natur (des Menschen, der Gesellschaft) gestalten will. Daher ist auch der Rassenbegriff selbst kein essentialistisches Konzept, das Unveränderlichkeit betont. Vielmehr beruhen Angst vor Überfremdung und der Wille zur praktischen Herstellung von Rassenordnungen (im Extremfall zur Rassenerzeugung) auf dem Wissen von der Veränderbarkeit der Rassen. Spätestens seit der Aufgabe der naturgeschichtlichen Auffassungen des 18. Jahrhunderts ist der Rassismus daher auch kein statisches Weltbild, sondern eines der Veränderlichkeit und eingreifenden Manipulierbarkeit von Rassenordnungen.
Der Rassismus ist nie nur eine Form der Herabsetzung, Diskriminierung oder Verfolgung bestimmter Gruppen, sondern immer auch eine Form der Welterklärung. Er setzt ein bestimmtes Bild der Welt, ihrer Rassenreinheit, ihres Rassenantagonismus oder ihres ewigen Rassenkampfs, als Naturgesetz voraus und ruft dazu auf, die gegebenen Verhältnisse diesem Naturgesetz anzupassen – die Reinheit herzustellen, den Antagonismus auszutragen, den Kampf zu Ende zu führen. Genau darin liegt die eingangs erwähnte strukturelle Übertreibung, die den Rassismus auszeichnet. Es geht ihm nie allein um die Abwertung anderer, sondern immer auch um die Korrektur des Ganzen. In diesem Sinne beginnt Rassismus dort, wo Menschen der Ansicht sind, daß die Bekämpfung bestimmter Gruppen anderer Menschen die Welt besser mache.
Albrecht Müller: Die Reformlüge
Das Buch ist von 2005, aber trotz Finanzcrash – oder gerade deswegen bleibend aktuell. Müller entlarvt von seinem keynesianischen Standpunkt aus „40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren“ (Untertitel).
Themen sind u.a. die „demographische Frage“, Produktivität und Wachstum, globale Wettbewerbsfähigkeit, Löhne, Sozialleistungen, Arbeitsverhältnisse, Steurn und Schulden – das ganze Spektrum.
Es wird auch gesagt, wer die Lügner, Falschdenker und Mythologen sind.
Grundlegend.
Edgar Hösch: Geschichte des Balkans
2004/2007
Der Balkan liegt für uns abseits, er taucht mal in einem Roman oder Film als exotischer Schauplatz auf oder als Problem, wenn es auch heute noch zu Kriegen oder Misswirtschaften kommt. Die Balkanhalbinsel ist zu kleinräumig und zu gebirgig, als dass hier große und selbstmächtige Reiche hätten entstehen können. So blieben die Regionen abseits der Küsten agrarisch geprägt, verkehrsungünstig und ohne moderne Infrastruktur. Seit der Antike ist der Raum Interessengebiet fremder Mächte, von den Osmanen über die Venezianer bis heute zur EU.
Das ergibt ein heterogenes und labiles Geflecht von Volksgruppen und Kolonisatoren, unterschiedlich in Sprache, Kultur, Religion, Bevölkerung. Hösch beschreibt den Balkan „zwischen Fremdherrschaft und Selbstbestimmung“, schreibt über die „Anpassungsprobleme einer nachholenden Modernisierung“ und zeigt die Schwierigkeiten, die Region als europäische Kultur- und Wirtschaftslandschaft zu verstehen. Es ist viel Neues und Fremdes zu lesen, was man aber wissen müsste, wenn man sich z.B. mit Serbien oder Griechenland befasst.
Man findet Passagen, die eigentümlich aktuell erscheinen, aber, wie die folgende Darstellung, über die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts berichten:
Oder über den Versuch von 1934, den Balkan zu einem „Wirtschaftsergänzungsgebiet“ von Nazi-Deutschland zu machen:
Die Bücher der Reihe BECK WISSEN bieten eine Menge Information auf wenig Seiten.
Josef H. Reichholf: Der Tanz ums goldene Kalb
2004/2011
Reichholf befasst sich in seinem „zentralen Werk“ mit der Flächenproduktivität der Landwirtschaft und sieht in der modernen Hochleistungslandwirtschaft den wirksamsten Beiträger zum Rückgang der Biodiversität und zum Klimawandel.
Er stellt Zusammenhänge her zwischen der natürlichen Tragfähigkeit von Ökoräumen und dem ökonomisch begründeten Zwang der Massenproduktion, vor allem bei der Tiermast, vor allem bei der Rinderhaltung. In der Umwandlung von Regenwald in Weideland sieht er das Prinzip der Nachhaltigkeit am heftigsten verletzt, das „vergötterte Rind“ setzt Kreisläufe in Gang, die zu vermehrtem CO2– und Methanausstoß, zu großflächigen Abbrennungen, zu irreversiblen Zerstörungen labiler Ökosysteme führen – alles in unglaublichen Maßstäben.
Die falsche Landbewirtschaftung mit ihrer Überdüngung sei zudem verantwortlich für den Artenrückgang in ländlichen Gebieten; inzwischen trifft man in den Städten mehr Tier- und Pflanzenarten an als auf dem Land. Ein – durchaus verhalten zorniges – und natürlich fatalistisches – Plädoyer gegen bisherige Agrarpolitik und Agrarlobby. Die Hoffnung richtet sich auf „irgendwann„, „irgendwie“ und „irgendjemand„. Wichtig.
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